Student Life Is Wonderful

Unnachgiebig prasselt der Regen gegen meinen Schirm, als ich die Ba Yi Lu entlang haste. Eigentlich hätte ich barfuß gehen können,  meine Schuhe waren ohnehin innerhalb von Sekunden völlig durchtränkt. Kein Wunder, denn mangels genügend Abflussmöglichkeiten steht die ganze Straße unter Wasser. Was das Wetter betrifft, kennt man hier keine halben Sachen und wenn es regnet, dann regnet es richtig. Wir machen aus Wuhan das Venedig Chinas – vielleicht hätte der Bürgermeister mit dieser Aussage etwas vorsichtiger sein sollen, denn manchmal befürchte ich wirklich, dass die Stadt demnächst in den Fluten versinkt.

Was vom Haupttor übrig geblieben ist

Als ich am Haupttor der Wuhan University (oder einfach Wu Da) ankomme, stelle ich zwei aufschlussreiche Dinge fest. Erstens, es gibt kein Haupttor mehr. Schade, dabei hat es doch so beeindruckend ausgesehen mit den großen Kalligrafie-Schriftzeichen und den vier weißen Säulen. Nun ist von all der Pracht nur noch ein kümmerlicher Steinhaufen übrig,  aus dem traurig ein paar rostige Stahlstreben hervorstehen. Naja, wenn die Straße breiter gemacht werden soll, muss das Haupttor eben woanders wieder errichtet werden – aber hätten die nicht wenigstens warten können, bis ich mal dran denke, meine Digicam mitzunehmen?

Zweitens bemerke ich, dass ich mir genauso gut den Schirm hätte sparen können, da der Regen mich mittlerweile schlichtweg von allen Seiten geduscht hat. Wären die Chinesisch-Stunden an der Uni nicht so verdammt teuer und meine Kommilitonen nicht so verdammt nett gewesen, hätte ich mein warmes, trockenes Bett heute Mittag immer noch nicht verlassen. Doch stattdessen steige ich in einen der kleinen Busse, die auf dem Campus herum düsen und hoffe, dass es wenigstens darin warm und trocken ist. Denkste. Drängen sich fünfzig triefende Studenten in einem vergleichsweise winzigen Gefährt aneinander, wird es vielleicht irgendwann einmal warm, aber alles andere als trocken,  vor allem wenn der zusammengefaltete Schirm am Arm des Vordermanns fröhlich in meinen Nacken tropft.

Weil es draußen nach wie vor wie aus Eimern schüttet, wollen sich an jeder Haltestelle mehr Leute vor dem Durchweichen in den Bus retten – mit dem Resultat, dass die arme Seele an der Heckscheibe vermutlich demnächst für eine Rolle im neuen 2D-Super-Mario-Spiel vorsprechen darf. Das wird, nebenbei gesagt, vermutlich niemals offiziell in China erscheinen, weil Nintendo es angesichts der Produkt-Piraterie in China aufgegeben hat, sein Elektro-Spielzeug hier zu verkaufen. Plüsch-Pikachus und Marios erfreuen sich dennoch ähnlicher Beliebtheit wie der berüchtigte Longmao.

Die Fremdsprachen-Fakultät

Nur noch eine Haltestelle. Jetzt wird es spannend. Werde ich es schaffen, mir einen Weg durch die Sardinenbüchse zu bahnen oder bleibe ich am Ende im Gedränge stecken? Vorsichtig quetsche ich mich an den anderen Passagieren vorbei. Der Bus hält mit quietschenden Reifen, wodurch sich die im Gang stehenden in bester Michael-Jackson-Manier nach vorne biegen. Jetzt nur nicht von einem Schirm aufspießen lassen! Geschafft, die Tür schwingt zur Seite und wenig später stehe ich endlich vor der Fremdsprachen-Fakultät, in der mein Chinesischkurs stattfindet. Seit fast zwei Monaten suche ich dieses Gebäude an fünf Tagen in der Woche auf, um insgesamt zwanzig Stunden Listening, Speaking und Comprehensive Chinese zu nehmen. Dabei habe ich letztendlich den Unterricht für die ganz unerfahrenen Anfänger gewählt. Selbst der gestaltet sich nämlich ehrlich gesagt trotz meiner in Deutschland angeeigneten Grundkenntnisse als nervenzehrend genug.

Womit fangen wir denn heute an? Oh nein, Comprehensive! Warum mich das so bestürzt? Nun ja, das liegt daran, dass die Bezeichnung Comprehensive meiner Meinung nach ein wenig optimistisch gewählt wurde, wie sich bald zeigen wird.

Als ich das Klassenzimmer betrete, sind beinahe alle Stühle bereits mit Studenten aus aller Herren Länder besetzt. Das verwundert mich ein wenig angesichts der Tatsache, dass heute Donnerstag ist und die Zahl der Anwesenden im Laufe der Woche normalerweise exponentiell abnimmt. Zum Glück jedoch hat mir der Niederländer Thomas netterweise einen Platz freigehalten und so arbeite ich mich, auf Deutsch, Englisch, Französisch, Chinesisch und Japanisch grüßend durch die engen Sitzreihen.

Während ich versuche, es mir auf der engen Bank neben Thomas so bequem wie möglich zu machen, grinsen mich die beiden Deutschen Bita und Nadja angesichts meiner nassen Kleider schadenfroh an. Die zwei Mädels wohnen zusammen mit dem Holländer in einer WG ganz in der Nähe meiner Schule, waren aber mal wieder schlau genug gewesen, bei dem Sauwetter ein Taxi zu nehmen. Dementsprechend machen die drei nun einen eindeutig trockeneren und weniger fröstelnden Eindruck als ich. Egal, dafür habe ich meine ständige Wegbegleiterin, die Plastikteeflasche mitgebracht, die in ähnlicher Ausführung auf einigen weiteren Tischen vor sich hin dampft.

„Shang Ke!“ – Der Unterricht beginnt. Und zwar ziemlich plötzlich. Unsere kleine, pummelige Comprehensive-Lehrerin, die sich bis vor ein paar Sekunden hinter dem Pult versteckt hielt, besitzt die lustige Angewohnheit, meistens erst einmal frohen Mutes auf Chinesisch los zu plappern. In einem mörderischen Tempo und einer Tonlage, die einem die Ohren klingeln lässt. Dazu werden enthusiastisch irgendwelche Wörter und Sätze in verschiedenen Farben in ein Word-Dokument getippt, das über einen Beamer an der Wand für alle sichtbar ist. Am Ende der Vorstellung sollten wir im besten Fall um eine grammatikalische Regel schlauer sein. Sollten.

Nicht, dass die Grammatik sonderlich schwierig wäre  – ganz im Gegenteil, der unproblematischste Teil der chinesischen Sprache besteht vermutlich aus der recht simplen Grammatik. Natürlich gibt es eine festgelegte Satzstruktur, die es zu verstehen gilt. So lästige Dinge wie die verschiedenen Fälle oder Konjugieren von Verben (all die Eigenheiten, die meine armen Deutschschüler verzweifeln lassen) fallen jedoch vollkommen weg. Möchte man beispielsweise sagen, dass etwas in der Vergangenheit passierte, baut man einfach an einer bestimmten Stelle im Satz die Wörtchen „le“ oder „guo“ ein. Das Verb bleibt dabei schlichtweg immer gleich – klingt prima, nicht wahr?

Trotzdem müssen wir in unserem Unterricht meist viel Interpretationsarbeit leisten, um solche Regeln zu verstehen. Denn kommt unsere liebe Miss Mimimi (das entspricht ungefähr dem Geräusch, das ich nach einer gewissen Zeit höre, wenn ich zu lange ihren Ausführungen lausche) einmal in Fahrt, springen wir recht schnell vom einen Thema zum anderen, ohne dass es jemand wirklich begreift. Als Resultat dessen verschiebt sich die Aufmerksamkeit der Kursteilnehmer bald auf diverse andere Tätigkeiten. Bita und Nadja tauschen sich angeregt über ihre neusten Errungenschaften auf dem Nachtmarkt aus, Thomas packt sein Mittagessen aus und die beiden Gabunerinnen wiegen sich zu den Tönen ihres mp3-Players. Ein paar Reihen weiter übt sich der tanzbegabte Österreicher Max eine Runde im Finger Tutting (einer Art „Tanz“, bei dem man nur die Finger benutzt) und die Japaner haben angefangen, ihre Vokabeln zu lernen. Ich persönlich halte das für eine ganz vorzügliche Idee und mache mich daran, die Zeit effektiv zu nutzen, indem ich die neuen Schriftzeichen dutzende Male in meinem Kritzelblock niederschreibe.

Schriftzeichen pauken ist wirklich reine Fleißarbeit, denn jedes einzelne kann man sich vorstellen wie eine Art Bild, das sich aus mehreren kleineren Einheiten zusammensetzt. Insgesamt existieren über 87.000 verschiedene dieser Bildchen. Davon werden allerdings glücklicherweise über 85 Prozent kaum oder nicht mehr benutzt und im Alltag reicht eine Kenntnis von rund 3000 Zeichen zum Überleben. Das liegt daran, dass viele Worte in Kombination  miteinander wiederum ein neues Wort ergeben. So besteht etwa das Adjektiv „billig“ (便宜) aus „angenehm“ (便)  und „passend“ (宜). Auch die kleineren Einheiten innerhalb eines Zeichens ergeben meist eigenständige Worte. Einen Wald (林) erhält man, indem man zwei Bäume (木) hintereinander schreibt. Derart logisch lässt sich aber nur einen Bruchteil aller Zeichen herleiten. Warum zum Beispiel bilden ein Fisch (鱼) und ein Schaf (羊) miteinander „frisch“ (鲜)?

Nicht jedes Wort besitzt demnach sein individuelles Schriftzeichen und übrigens muss auch nicht jeder Chinese eine quadratmetergroße Tastatur mit tausenden Tasten auseinanderfalten, wenn er eine E-Mail tippen möchte.  Zu verdanken haben wir dies dem sogenannten Pinyin, einem Lautschrift-System, mithilfe dessen alle chinesischen Zeichen in Worte aus lateinischen Buchstaben umgeschrieben wurden. Zum Verfassen eines Textes benutzt man also im Regelfall eine ganz normale Tastatur. Weil jedoch extrem viele gleichklingende Wörter (Homonyme) existieren, gibt man ähnlich wie bei T9 auf dem Handy zuerst den  gewünschten Ausdruck ein und wählt dann aus mehreren Vorschlägen das passende Zeichen aus.

Wenn man die Zeichen ebenso gut mit lateinischen Buchstaben darstellen kann, hätte man sie doch gleich ganz abschaffen können!, mag sich da vielleicht der eine oder andere Lernende denken, der beim Vokabeln malen verzweifelt. Drei driftige Gründe sprechen allerdings gegen eine solche Rechtschreib-Revolution. Einmal gibt es da die vielen Homonyme. Die lassen sich zwar in der gesprochenen Sprache natürlich aus dem Zusammenhang herleiten. Würde allerdings jemand Werbeplakate für ein „gōng cè“ aufhängen, wüsste man auf Anhieb nicht, ob da Leute für eine öffentliche Befragung  (公测) oder zum Testen eines öffentlichen Klos (公厕) gesucht werden.

Weiterhin machen die Zeichen einen wichtigen und unersetzbaren Teil der chinesischen Kultur aus und sind fast so alt wie die Geschichte des Landes selbst. Nähme man sie der Bevölkerung einfach ohne Weiteres weg, hätte das vermutlich den gleichen Effekt, als würde man plötzlich das Oktoberfest durch den Wuhaner Nachtmarkt ersetzen.

Der dritte Grund gegen eine Revolution des Schriftsystems liegt schließlich in den zahlreichen Dialekten Chinas. Ein Schwabe, ein Niederbayer und ein Sachse sind noch in der Lage, ein einigermaßen zusammenhängendes Gespräch miteinander zu führen, wie ich spätestens seit dem Vorbereitungsseminar sehr genau weiß. Chinesen aus Wuhan und Honkong hätten da ihre Schwierigkeiten, denn in Wuhan spricht man Mandarin mit Wuhan-Dialekt und in Honkong spricht man Kantonesisch – im Grunde zwei vollkommen unterschiedliche Sprachen. Die Zeichen behalten jedoch in beiden Dialekten ihre Bedeutung bei, sodass man trotz Sprachbarrieren in ganz China problemlos auf schriftlichem Wege kommunizieren kann.

Darum werden wohl auch zukünftige Generationen von Chinesisch Lernenden fleißig die Zeichenfeder schwingen müssen, um irgendwann ihren ersten Brief auf Chinesisch schreiben zu können.  Mir jedenfalls schwirrt nach einer Seite voller zusammenhanglos aneinander gereihten Bildchen ganz schön der Kopf und ich beschließe, mich zur Entspannung ein wenig dem Unterrichtsgeschehen zu widmen. Gerade zur rechten Zeit für eine Runde Lebensweisheiten mit Miss Mimimi –selbstverständlich auf Chinesisch. Um uns einen Interpretationsanstoß zu geben, fließen aber hin und wieder ein paar englische Wortfetzen ein, was dann ungefähr folgendermaßen klingt: „Mimimimi-PERSONALITY-mimimi-FRIENDS-mimi-HEADACHE-mimimi-STUDY HARD-mimimimi-FIND A LOVER-mimimi-SING A SONG!“.

Alles klar? Verständnis- bis fassungslose Gesichter. War wohl nichts. Und plötzlich erfüllt eine glockenhelle Stimme den Raum. Verwirrt schauen selbst die Studenten auf, die eben noch ihren Kopf auf dem Tisch gebettet hatten. Wer ist das denn jetzt? Etwa unsere Lehrerin? Tatsächlich! Kaum zu glauben, aber sie trällert wie eine Nachtigall und macht dabei selbst Miss Singsong harte Konkurrenz. Faszinierend. Vielleicht hätte die Gute anstelle des Lehrerberufs eher über eine Karriere bei „The Voice of China“ nachdenken sollen! Das Blöde an der Sache ist nur, dass sie uns nun auch zum Mitsingen animieren will. Kein Problem, gesungen habe ich ja mittlerweile oft genug vor meinen Schülern. Doch halt, der Songtext, den der Beamer an die Wand wirft, besteht ja nur aus Schriftzeichen! Und diese geben für uns leider keinerlei Aufschluss darüber, wie man das Ganze wohl ausspricht.

Im Grunde muss man in der chinesischen Sprache immer doppelt lernen – zuerst das neue Zeichen und dann seine Aussprache, und bei einem schwindend geringen Wortschatz hat das eine überhaupt nichts mit dem anderen zu tun. Hat man sich erst einmal jedoch ein passables Vokabular angeeignet, sieht die Sache schon anders aus. Viele Zeichen werden nämlich aus zwei Teilen geformt. Der erste Teil geht auf die Bedeutung ein, aus dem zweiten Teil kann man sich die Aussprache herleiten. Demgemäß stellt die linke Hälfte von „mā“ (妈), also Mutter, eine Frau (女) dar, die rechte Hälfte entspricht einem Pferd  (马), welches man „mǎ“ ausspricht. In unserem Fall funktioniert das ausgeklügelte System aber weniger, sodass wir gezwungenermaßen auf gut Glück Töne von uns geben, die Mundbewegungen der Lehrerin nachahmen und hoffen, dass der gesangsbegabte Japaner Yasun uns alle übertönt.

Nach dieser pädagogisch äußerst wertvollen Unterrichtseinheit folgt der ebenfalls sehr nachhaltige Abschluss der Stunde: Bildungsfernsehen auf Chinesisch. Während sich ein Großteil des Publikums wieder seinen privaten Angelegenheiten zuwendet, flimmern die lehrreichen Abenteuer von zwei Kindern über die Wand, die gemeinsam mit einem alten Shifu die Entstehung verschiedener Schriftzeichen erkunden. In den frühesten Anfängen der chinesischen Sprache waren die meisten Zeichen noch sehr bildhaft und komplex. Mit der Zeit und durch viele vereinfachende Reformen des Schriftsystems entwickelten sie sich zu oft hochabstrakten Gebilden, bei denen es viel Fantasie erfordert, ihren tatsächlichen Ursprung zu erkennen. Beispielsweise sieht das Zeichen für Fisch (鱼) meiner Meinung nach wenig fischig aus, dank dem Shifu weiß ich jedoch, dass das oberste Drittel der Kopf, das durchkreuzte Viereck in der Mitte der schuppige Körper und der unterste Strich die Wasseroberfläche sein soll.  Leider bin ich nicht in der Lage, dem bärtigen Lehrmeister soweit zu folgen, dass ich verstehe, wo sich der Bär in dem Zeichen 熊 versteckt. So kann ich nur verwundert einer recht fragwürdigen Animation zusehen, in der sich ein hübsch gezeichneter Tatzenträger unter ganz herzergreifenden Krümmungen zu seinem Schriftäquivalent verformt.

Als es zum Stundenende klingelt, fühle ich mich etwas angewidert, aber gleichzeitig viel gebildeter als zuvor. Beispielsweise weiß ich jetzt, wie man einem Huhn standrechtlich den Kopf abreist und dass alte Männer in China mit ihrem zweiten Augenpaar Laserstrahlen verschießen können – alles nur zu Bildungszwecken, versteht sich. Ein kurzer Blick auf Nickelodeon sollte allerdings genügen, um sich zu vergewissern, dass Kinderfernsehen in anderen Ländern ähnlich verstörend ist. Dennoch bin ich froh, mich vorerst anderen Dingen zuzuwenden – zum Beispiel dem Wiederholen meiner ersten fünf japanischen Sätze, die mir die Studentin Saori geduldig beigebracht hat. Und um das Sprachkauderwelsch perfekt zu machen, lerne ich direkt im Anschluss noch ein bisschen Farci (eine persische Sprache, die man im Iran spricht) mit Bita und kann mich gar nicht entscheiden, welche von beiden Sprachen ich nun schöner finden soll. Das deutsche Mädchen mit iranischen Wurzeln hat übrigens maßgeblich dazu beigetragen, dass ich ihr ursprüngliches Heimatland nicht mehr für eine Mondlandschaft halte und stattdessen gerne einmal eine Reise dorthin unternehmen würde (besser eine späte Erleuchtung als gar keine, nicht wahr, liebe Sophia?).

Tja, man lernt eben nie aus – vor allem nicht, wenn einem noch zwei Stunden Chinese Speaking bevorstehen. Denen blicke ich durchaus beschwingter entgegen, als die junge Miss Wang (man sollte nicht glauben, wie viele Wangs allein in Wuhan herumlaufen) strahlend den Hörsaal betritt. Die Gute erinnert mich mit ihrer offenen und neugierigen Art nicht nur an die Lehrerinnen in meinem heimischen Büro, sondern scheint auch insbesondere die Kasachen Tima und Kana in ihren Bann gezogen zu haben. Doch nicht nur die beiden hängen bei den ersten Ausspracheübungen an Wang Laoshis Lippen, weil von diesen Übungen sogar diejenigen profitieren, die überhaupt nicht verstehen, was genau sie da gerade sagen. Die korrekte Aussprache stellt nämlich den Schlüssel zur erfolgreichen Kommunikation dar.

Im Grunde existieren im Chinesischen gerade einmal um die 450 verschiedene Silben, aus denen man alle Wörter zusammenbastelt, die es gibt. Klingt einfach? Ist es aber nicht, denn jede dieser Silben kann man zusätzlich mit einem von vier Tonzeichen versehen. Und die auseinanderzuhalten, geschweige dem richtig zu auszusprechen, erfordert verdammt viel Übung und Wiederholung (wie auch der Rest dieser verkorksten, faszinierenden Sprache). Wer das nicht ernst nimmt, läuft eben in Gefahr, seinen Angebeteten anstatt als gutaussehend („shuài“) als Trantüte („shuāi“) zu bezeichnen. Aber keine Angst, die meisten Chinesen wissen, wie schwer es uns armen Laowais fällt, die richtige Betonung zu finden.

Für diejenigen, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben, gibt es übrigens zahlreiche lustige Zungenbrecher zum Trainieren der Aussprache. Der Klassiker: Mā mā qí mǎ, mǎ màn, mā mā mà mǎ. („Mama reitet auf dem Pferd, das Pferd ist langsam, Mama verflucht das Pferd“). Ein bisschen seltsam kommt man sich dennoch vor, wenn die ganze Klasse hochkonzentriert versucht, den Spruch fünf Mal nacheinander richtig aufzusagen – denn das versprüht  bei unseren übertrieben genauen Mundbewegungen höchstwahrscheinlich den Charme einer wiederkäuenden Wasserbüffelherde.

Für die Chinesen selbst hat sich das Spiel mit den Betonungen und ähnlich bis gleich klingenden Wörtern allerdings mittlerweile neben den alltäglichen Hupkonzerten zu einer Art Nationalsport entwickelt, der vor allem im Internet fleißig betrieben wird. Dabei sind bereits zahlreiche äußerst, äh, gewitzte Wortkombinationen entstanden. So hat man etwa die Guǎng Diàn Zǒng Jú („State Administration of Radio, Film and Television”) in Guāng Diàn Zhǒng Jú („nackter Hintern und den Rest übersetze ich lieber nicht“) umbenannt. Da war wohl jemand beleidigt, dass die Filmgesellschaft die berüchtigte „Draw me like one of your french girls“-Szene aus der chinesischen Version von Titanic 3D geschnitten hat.

Wir als blutige Anfänger erfreuen uns nach der täglichen Portion Zungenbrecher daran, unseren bisher angeeigneten Wortschatz in kleine, politisch korrekte Dialoge umzusetzen. Währenddessen wird uns zum ersten Mal an diesem Tag klar, wie viel wir nach zwei gestandenen Monaten Intensiv-Sprachkurs bereits gelernt haben, sodass wir zum Glockenläuten zufrieden und mit gestärktem Ego in die Abendplanung übergehen können.

Nach Ende der letzten Stunde eröffnen sich für Studenten nämlich meist zahlreiche Möglichkeiten, den Rest des Tages in Wuhan sinnvoll oder weniger sinnvoll zu nutzen. Beim gemeinsamen Abendessen in der (im Vergleich zu unserer Schule um Längen besseren) Kantine bietet sich dann genug Zeit, über die besten Angebote abzuwägen.

The Emperor is amused!

Das Highlight des vergangenen Monats war definitiv die Halloweenparty, die von der kasachischen Studentenvereinigung in einem exklusiven Club organisiert würde – das durften wir natürlich nicht verpassen. Und wie es sich für Halloween gehört, galt es, sich vorher ordentlich in Schale zu werfen. Zusammen mit Bita, Nadja, Thomas und Max ging ich am Abend des 30. Oktobers auf Kostümjagd, was darin resultierte, dass ich für eine Nacht den Kaiser von China spielen durfte. Während die Mädels luftige Cheerleader-Outfits vorzogen, endete ich in einer knallgelben Robe mit dekorativem Drachenemblem. Da das chinesische Volk in der Mythologie vom Drachen abstammt, ist das traditionelle Symbol des Regenten übrigens seit jeher ein Drache. Das Gegenstück zu jenem stolzen und grundsätzlich männlichen Geschöpf bildet der weibliche Phönix, der sich in den Kleidungsstücken der kaiserlichen Gemahlin wiederfindet.

Bita, Nadja, Akio, Thomas und Saori in voller Montur

Nachdem unser kaiserlicher Hofstaat auf dem Weg zum Club bereits für einiges an Aufsehen gesorgt hatte, waren wir froh, uns unter unseres Gleichen zu mischen. Da gab es einige französische Teufel, japanische Polizistinnen, Yasun als sehr authentischer Oopa Gangnam Style und Geister, Vampire und Zombies aus allen Teilen der Erde. Letzten Endes lohnten sich nicht nur die umgerechnet fünf Euro Eintritt angesichts der Tatsache, dass man den ganzen Abend so viel essen und trinken durfte, wie man konnte. Vielmehr machte es auch wahnsinnigen Spaß, dass plötzlich jeder den anderen als Exoten wahrnahm, ohne dass der eigentliche Herkunftsort im Vordergrund stand.

Max, Tima und Kana im Zentrum der Aufmerksamkeit

Kuppel-Tanz

Ein wenig exotischer fühlten wir uns allerdings, als Max, Tima, Kana und die Japaner Makoto und Akio auf einer Tanzveranstaltung der chinesischen Studenten aufkreuzten. In einer hübsch mit Luftballons dekorierten Sporthalle auf dem Campus hatte man sich mitten in der Woche versammelt, um das Tanzbein zu schwingen. Wie beim in guter Erinnerung gebliebenen Abiball führte hier ein durchgestyltes Studentenpaar munter durch den Abend und sagte uns, was wir denn als nächstes zu tun hatten. Nachdem wir den obligatorischen Gangnam-Style hinter uns gebracht und sich Tima, Max und Kana in die Herzen der Zuschauer gehampelt hatten, stand ein recht simpler wie amüsanter Kuppel-Tanz auf dem Programm. Bei dem stellte man sich in zwei Reihen auf und durfte der Reihe nach im Laufe einer einfachen Schrittfolge mit zahlreichen hysterisch kichernden jungen Damen abklatschen.

Danach widmeten sich die Besucher ausgiebigst den altbekannten Standarttänzen, sodass sich mir die Gelegenheit bot, zu zeigen, was ich in den zwei Jahren Tanzkurs mit meiner Lieblingstanzpartnerin alles gelernt hatte. Fünf langsame Walzer später wurde das Ganze aber ein wenig eintönig, weswegen uns Max stattdessen unseren ersten Breakdance-Move näher brachte. Am Ende der Feier musste ich leider feststellen, dass ich beim Breakdance noch einen ähnlich langen Weg bestreiten musste wie beim Basketball spielen. Dennoch fühlte ich mich bittersüß an den Schulball meines ehemaligen Gymnasiums erinnert, den ich in diesem Jahr erstmals aus offensichtlichen Gründen nicht besuchen kann.

Auch wenn solche Events selbstverständlich nicht jeden Tag stattfinden, bleiben mir immer noch haufenweise andere Optionen, einen interessanten Abend in Wuhan zu verbringen. Wo soll es heute hingehen? Mit Bita, Nadja und Thomas ein bisschen Big Bang Theory in ihrem geräumigen Apartment suchten und dabei eines von Bitas selbstgekochten Spezialitäten genießen? Über den Nachtmarkt streunen und den Mädels beim Hochleistungsshopping zusehen? Mit den anderen Lehrern essen gehen? In Flos Luxuswohnung bei ein paar Flaschen leckerem Zentrumsbier herausfinden, wer da auf dem Dachboden spukt? Dem Club der anonymen Hotpot-Fetischisten beitreten? Ein kostenloses Feuerwerk am Yangtse erleben? Eine spontane Erkundungstour starten? „Feelings?“ – eine kurze SMS von einer weiteren deutschen Studentin nimmt mir mal wieder die Entscheidung über meinen Verbleib ab. Auch gut. Einverstanden.

Dann verbringen wir den Abend also in unserer Stammkneipe. Darum schnell im nach wie vor strömenden Regen zurück zum Dormitory und für die Bar bereit gemacht. Weiter geht’s ins Lehrerzimmer, wo ich Linc, Chang E und Yang Hui frage, ob sie wieder Lust haben, mitzukommen. Da sie sich jedoch noch vom letzten Mal erholen wollen und ganz nebenbei noch arbeiten müssen, ziehe ich schließlich alleine los. Vor dem Schultor sammle ich allerdings noch den Rest unserer Wuhan-Freiwilligen-Crew ein und wir machen uns zusammen auf den Weg zu der gerade einmal fünfhundert Meter entfernten Bar. Memo an mich selbst: heute schaffen wir es nachhause, bevor das Tor schließt. Sicher.

Feeling good?

Als ich von der kalten, unbelebten Straße ins warme, orangefarbene Schummerlicht des Feelings trete, schlägt mir bereits der gewohnte Duftcocktail aus Bratfett, Popcorn, Bier und ein bisschen Zitrone entgegen. Die übliche bunt zusammengewürfelte Playlist, die der Sage nach irgendwann einmal ein ausländischer Student hinterlassen hat, läuft garantiert bereits zum dritten Mal und die heimeligen Holzbänke sind schon ordentlich mit unbekannten Gesichtern besetzt. Ich laufe vorbei an knallbunten Lampions und aufgehängten Länderflaggen, bis ich am Tresen freudig vom Barbesitzer Zhang Ping, dem Barkeeper Tao und der Bedienung Cherry begrüßt werde. Im hintersten Eck des relativ überschaubaren Raums hat man vorsorglich zwei Bänke zusammengeschoben und die drei WG-Bewohner, die Holländerin Astrid, Aileen aus Costa Rica, die Urheberin der SMS Nadine, Elly aus Bayern und der Amerikaner Dash studieren bereits eifrig die Cocktailkarte. Über ihnen prangt an der ohnehin über und über vollgekritzelten Wand in großen blauen Lettern der Schriftzug „LIFE IS WONDERFUL“.

Nehmen wir uns das zu Herzen, denke ich mir und setze mich mit Simon, Philipp und Flo zu den anderen auf die Bank. Was gibt es denn heute für ein Tages-Special? Schade, leider kein Tequila-Abend. Egal, dann fangen wir mit einem Qingdao und einem Mojito an und reflektieren ein wenig über den Alltag an der Einsatzstelle, die Anekdoten im Unterricht und das näher rückende Zwischenseminar in Shanghai, vor dem wir noch eine Reise nach Hangzhou unternehmen wollen.

Ein Tänzchen in Ehren kann niemand verwehren!

Bald darauf lande ich mal wieder mit Nadine am Tresen, wo wir mit der Barbelegschaft um die Wette würfeln und beim Verlieren gerne einen Schluck aus dem gemeinschaftlichen Eimer mit dem undefinierbaren Inhalt nehmen. Ein paar unentbehrliche, mit genüsslich verzerrter Miene geschlürfte Tequilas später lässt sich Nadja zu einem Tänzchen mit einem recht temperamentvollen Marokkaner überreden und die Gesprächsthemen werden, trotz dass Tupac lautstark mitrappt, allmählich philosophischer. Passend dazu wird uns eine Gratisportion Popcorn als Stammkundenbonus bereitgestellt, die bald bis auf das letzte Muggesäggele geleert ist. Nachdem viel getratscht, angestoßen, gelacht und sogar das Bedürfnis, sich ebenfalls an der Wand zu verewigen, in die Tat umgesetzt wurde, löst sich die kleine Partygemeinde langsam auf. Zhang Ping, Tao und Cherry begleiten uns noch winkend bis zur Tür, von der aus jeder auf eigene Faust versucht, den Weg in ein freies Bett zu finden.

Während ich die verhältnismäßig stillgewordene, regennasse Straße im fahlen Licht der Straßenlaternen entlang schlendere, zucken mir mehrere Gedanken durch den Kopf.

Erstens: ich werde garantiert wieder über das bereits seit Stunden geschlossene Schultor klettern müssen.

Zweitens: echt schade, dass mein Sprachkurs in einer Woche schon wieder vorbei ist! Dann beginnt ein neuer Abschnitt in meinem Auslandsaufenthalt, doch ich werde die Leute schon nicht aus den Augen verlieren, denn die nächste „Feelings?“-SMS kommt bestimmt.

Drittens:  yeah, der neue Abschnitt wird immerhin durch eine Reise nach Hangzhou und Shanghai eingeläutet. Das wird sicher ein Abenteuer!

Viertens: wie war das doch gleich – Life Is Wonderful! Und ich habe echt unsägliches Glück, einen Teil dieses Lebens mit so vielen tollen Menschen in China verbringen zu dürfen. So kann es weitergehen!

2 Gedanken zu „Student Life Is Wonderful

  1. Ein Wunder ist geschehen! Schade nur, dass ich diese Überzeugungsarbeit nicht leisten konnte, was womöglich daran liegt, dass ich selbst noch nicht da war…?!

  2. Hallöle lb. Kai,
    das ist ja ganz schön spannend mit der Sprache! Aber: Chinesisch ist doch auch fast ein bissele wie schwäbisch ?!?! Bestes Beispiel: „le“, einfach anhängen ( o.
    einbauen) und schon hat sich der Sinn des Wortes verändert! Oder???
    Macht immer wieder Spaß, deinen Blog zu lesen!
    Grüßle aus dem Schwabenländle!

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