Eine Goldene Woche

Noch etwas schüchtern: Son Wukung, Tripitaka, Pigsy und Sandy

Graue, regenschwere Wolken ziehen träge über das kleine Stückchen Himmel, das man von meinem BBB aus sehen kann. Durch die geöffnete Balkontür dringt entfernt der Verkehrslärm der überfüllten Straßen, auf denen gerade hunderttausende von Urlaubern heimkehren. Ansonsten herrscht eine ungewohnte Stille, die daher rührt, dass die meisten Schüler den letzten Tag ihrer Herbstferien zusammen mit ihren Familien verbringen. Ich selbst hingegen sitze allein an meinem Schreibtisch und reflektiere ein wenig vor mich hin. Doch halt, ganz alleine bin ich nicht. Neben meinem Laptop steht nämlich ein winziges Aquarium, das seit Kurzem vier Goldfischen ein Zuhause bietet. Son Wukong, Tripitaka, Pigsy und Sandy (ja, es hat sich irgendwie angeboten, sie nach den Hauptcharakteren der Reise nach Westen zu benennen) ziehen eifrig ihre Kreise um den Sprudelstein und sorgen dafür, dass sich ihr Besitzer an diesem Nachmittag nicht völlig trist und gelangweilt in seinem Zimmer fühlt.

Trist und langweilig waren die vergangenen Tage nämlich mitnichten, was vermutlich damit zusammenhängt, dass ich nur den kleinsten Teil von ihr in meinem Zimmer sitzend verbrachte. Stattdessen habe ich während der sogenannten Goldenen Woche die Stadt weiter erkundet, eine richtige chinesische Hochzeit besucht, festgestellt das Bai Jiu ein fürchterliches Mischgetränk ist und eine tolle Zeit mit Freiwilligen aus allen Ecken Chinas erlebt. Aber eins nach dem anderen.

 

Den Startschuss für die Herbstferien in Wuhan setzte, nun ja, ein Startschuss. Und zwar der Startschuss zum Sportfestival unserer Schule, auf dessen Kommando die erste fahnenschwingende High-School-Klasse über den Sportplatz der Wuhan University marschierte. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich eigentlich mit einer Flasche Cola und einer Packung Popcorn in den Zuschauerreihen sitzen und die Eröffnungszeremonie bequem von einem schattigen Plätzchen aus genießen. Dummerweise liegt die Betonung hier auf dem Wörtchen „wollte“, denn stattdessen trat ich in der prallen Sonne nervös von einem Fuß auf den anderen und hielt dabei ein großes Schild mit der Aufschrift „9. Klasse Deutsch“ in der Hand. Hinter mir standen in ordentlichen Reihen und breit grinsend die Schüler ebenjener neunten Klasse und warteten gespannt darauf, endlich loslaufen zu dürfen. Der Grund, warum gerade ich die muntere Meute anführen sollte, lag in einem Deal, auf den ich mich zuvor – unvorsichtig, wie ich bin – eingelassen hatte.

Da die Hälfte der neunten Klasse vor den Ferien für zwei Wochen mit Yang Xi nach Deutschland gereist war, hatte es an mir gelegen, den Rest während dieser Zeit bei Laune zu halten. Ich persönlich hielt es für eine ganz fabelhafte Idee, mit der nun überschaubaren Schülerschar das Lied „Ein Kompliment“ einzustudieren, um es dann den anderen nach deren Rückkehr vorzutragen. Leider hatten meine Schützlinge bereits andere Pläne geschmiedet (SPIELEN!!!), weswegen ich hart für mein gar nachhaltiges Unterrichtsziel kämpfen musste. Im Laufe unserer Diskussion (während der die Kleinen zu meiner stillen Freude mehr und hemmungsloser deutsch sprachen als je zuvor) stellte sich jedoch irgendwann heraus, dass man noch verzweifelt nach zusätzlichen Läufern für den Staffellauf am Sportfestival suchte, weil so viele fehlten. Also einigten wir uns darauf, gemeinsam zu singen, wenn ich dafür die Klasse beim Staffellauf unterstützte. Hätte ich gewusst, dass mich im Anschluss etliche Soli hinter dem Lehrerpult erwarteten, hätte ich mir das Ganze vielleicht noch einmal anders überlegt.

Jedenfalls war ich am Freitagnachmittag auf gut Glück zum Sportplatz aufgebrochen, da ich keine Ahnung hatte, wann der Staffellauf stattfand und wurde doch prompt angebettelt, das Klassenschild zu tragen. Als ich aus zwanzig Augenpaaren erwartungsvoll und auffordernd zugleich angeblickt wurde, fiel es mir recht schwer, dieser Bitte zu entsagen und so klammerte ich mich wenig später geehrt, gerührt und ziemlich hilflos an dem Schild fest.  Während ein triumphierend klingendes Instrumentalstück in Endlosschleife über das Gelände schallte, zog eine Gruppe nach der anderen an uns vorüber und ich fragte mich schon, ob wir überhaupt irgendwann –  „Loslaufen!“

Meine ganze Schule auf einem Bild

Okay, klare Ansage. Wohin denn eigentlich? Ah, einfach einmal um den Sportplatz. Aber warum blieben die da vorne denn plötzlich stehen? Wunderbar, um mit dem vorgegebenen Takt ihres Anführers im Gleichschritt an der Jury vorbeizumarschieren. Halt, das stand aber nicht so im Vertrag! Zu spät – da hatten wir’s mal wieder: Improvisieren (oder wohl eher Marschieren) geht über Studieren. Und das funktionierte meiner Meinung nach ganz gut – auch wenn ich Chang E deutlich schadenfroh mit dem Fotoapparat aus der Zuschauermenge hervor lugen sah. Etwas militärisch mutete das ganze Geschehen zugegebenermaßen an, aber als sich nach einigen Minuten tatsächlich die gesamte Schülerschaft in Reih und Glied unter freiem Himmel versammelt hatte, war ich doch ziemlich beeindruckt von dieser riesigen Schulgemeinschaft.

Letztendlich resultierte die Aktion darin, dass falls mich nicht ohne hin schon die ganze Schule kannte,  genau das spätestens nach unserem Aufmarsch der Fall sein musste. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich äußerst sportlich damit, zusammen mit meist weiblichen,  aufgeregt kichernden Jugendlichen in diverse Kameras zu lächeln. Des Weiteren unterrichtete ich einer gespannten Gruppe Unterstufenschülern, die mir durchschnittlich bis zum Bauchnabel reichten, zwischen Hochsprung und Fünfzig-Meter-Lauf ihre ersten Deutschvokabeln. Und zur Feier des Tages durfte ich sogar für einige Kinder deutsche Namen aussuchen und sie dann sozusagen taufen. Vorsorglich hielt ich mich dabei jedoch mit solch kreativen Auswüchsen wie Blödmann, Ei oder Schwabbel zurück und verewigte stattdessen lieber ein paar meiner Freunde aus der Heimat in China.

Als am Abend noch immer jede Spur einer Stafette fehlte, hegte ich schon die Hoffnung, meinen Deal einfach dezent umgehen zu können. Mein nagendes schlechtes Gewissen zwang mich dennoch dazu, am nächsten Tag abermals  auf dem Sportplatz zu erscheinen, wo man sich just bei meiner Ankunft an der Startlinie versammelte. So ein Pech, äh, Zufall aber auch, dass ich wieder einmal genau den richtigen Moment erwischt hatte. Nicht, dass ich fürchterliche Schwierigkeiten mit ein bisschen Rennen gehabt hätte, aber angesichts der Tatsache, dass meine Konkurrenten ungefähr drei Schritte für die Strecke brauchten, die ich mit einem einzigen Schritt zurücklegte, plagten mich doch einige Bedenken, was die Fairness meiner Teilnahme anging. Aber weil meine Klasse andernfalls gar nicht am Staffelauf hätte teilnehmen können, wartete ich brav, bis mir ein atemloses Mädchen den Stab in die Hand drückte und joggte daraufhin so fair wie möglich meine sechzig Meter. In der Zielgeraden wurde ich mit einem Jubel empfangen, als hätte ich gerade erfolgreich einen Marathon absolviert. Meiner Meinung nach gebührte dieser Jubel eher ebenjenen, die mich zuvor mit angestrengt verzerrten Gesichtern überholen wollten und sich schließlich ausgelaugt, aber glücklich ins Gras fallen ließen. Gewonnen haben wir am Ende übrigens nicht, aber immerhin stand meinem kleinen Chorprojekt jetzt nichts mehr im Wege.

 

Um das erfolgreich beendete Sportfest ausklingen zu lassen, hatte mich Chang E dazu eingeladen, den Abend mit ein paar anderen Lehrern bei ein paar Flaschen Bier ausklingen zu lassen. Zuvor wollte ich aber noch kurz ins Dormitory zurückkehren und meine Waschmaschine leeren. Halb bestürzt, halb belustigt musste ich dabei feststellen, dass ich versehentlich eine ganze Packung Tempos mit gewaschen hatte, deren Inhalt sich nun in tausend kleinen Flusen auf meiner Kleidung verteilt hatte. Während ich es daraufhin ein bisschen in meinem Zimmer schneien ließ, klingelte plötzlich mein Handy: „Kai, where are you? All the leaders are already here in the restaurant!“

Sch**** – man hätte mir ja ruhig etwas früher sagen können, dass es sich bei diesem Treffen um etwas „Offizielles“ handelte. Also brach ich mein kleines privates Schneegestöber ab und sprintete so schnell wie nie zuvor zu dem nahegelegenen Restaurant. Dort hatte man sich schon in einem reservierten Raum um einen runden Tisch versammelt, auf dem zahlreiche, unberührte Gerichte verführerisch dampften. Etwas betreten nahm ich auf dem einzigen noch leeren Stuhl neben Chang E Platz. Ansonsten hatten sich noch Linc, der Mathelehrer Qing Xi, Xiao Yu (also Miss Singsong), Direktor Wang, ein Physiklehrer und ein Lehrer, der beim Basketballspielen immer eine Taucherbrille aufsetzte um unsere Tafelrunde versammelt.

Noch ehe ich die Gelegenheit hatte, alle zu grüßen, war mein Bierglas (wie hier üblich) bis zum Rand gefüllt. Biergläser sind in China, was ihre Größe betrifft, nicht mit unseren deutschen Bierkrügen zu vergleichen – dass man deswegen auch weniger trinkt, ist allerdings ein Trugschluss. Um genau zu sein, habe ich glaube ich noch nie zuvor eine Bierflasche so  schnell geleert wie an diesem Abend. Was, aber ein gutes Bier muss man doch genießen!, könnte man jetzt einwerfen. Dazu möchte ich aber lieber nicht mehr sagen, als dass sich die Vorstellungen von einem guten Bier  eventuell von Ort zu Ort unterscheiden.

Einfach am Gläschen zu nippen stellte jedoch keine Option für mich dar. Insbesondere wenn man mit seinem Vorgesetzten trinken geht, gilt es in China einen Haufen Normen zu beachten, die mir Chang E zum Glück immer im richtigen Moment zuflüsterte. Die Prozedur geht dabei meist wie in den folgenden „Fünf SNAPS-Regeln für angemessenes Anstoßen in China“ von statten:

  1. Stehen: Es gehört sich, sobald wie möglich dem höchsten Tier in der Runde klarzumachen, dass wir jetzt mit ihm anstoßen möchten. Dazu suchen wir den Blickkontakt mit ebenjenem und stehen auf (möglichst ohne dabei den Stuhl hinter sich umzukippen, nicht dass mir das beinahe passiert wäre).
  2. Netter Trinkspruch: Wenn sich auch der Trinkpartner erhoben hat, halten wir unser Glas mit beiden Händen hoch und geben den Trinkspruch zum Besten, den wir soeben schnell auswendig gelernt haben. Meist besteht er aus einem guten Wunsch, wie zum Beispiel „Tian tian kai xing!“ (Jeden Tag glücklich sein). Anders als in Deutschland wird dieser Toast nicht zum Anlass genommen, danach einfach die Gläser zu leeren, sondern meist durch einen weiteren Wunsch erwidert.
  3. Anstoßen: Kommen wir nun zum schwierigsten Teil der Prozedur. Da das Gegenüber in der Hierarchie höher steht als wir selbst, achten wir darauf, mit dem eigenen Glasrand unter dem Glasrand des Trinkpartners anzustoßen. Eventuell wird der Trinkpartner daraufhin wiederum versuchen, sein Glas unter das unsere zu bringen, um uns seinen Respekt zu zollen. Das können wir natürlich nicht so stehen lassen und berichtigen die Höhe unseres Trinkgefäßes abermals. Wir bemühen uns jedoch darum, diesen Höflichkeits-Schlagabtausch zu beenden, bevor wir mit unserem Bier in der Suppenschüssel auf dem Tisch landen.
  4. Prost: Nachdem wir dieses amüsante Spielchen überstanden haben, dürfen wir uns endlich einen Schluck Bier genehmigen. Selbstverständlich beobachten wir genauestens, wie weit unser Trinkpartner sein Glas leert und folgen seiner Vorgabe. In den häufigsten Fällen heißt aber es schlicht „Ganbei“, also auf Ex das Ganze.
  5. Setzen: Schließlich passen wir noch auf, dass wir uns erst setzen, nachdem unser Vorgesetzter Platz genommen hat. Zuvorkommenderweise wird man sich schnellstens darum kümmern, unser Glas aufs Neue zu füllen. So können wir unsere eben erlernte Prozedur gleich mit dem Nächsten wiederholen und hoffen darauf, dass uns die Trinksprüche nicht alsbald ausgehen.

Mithilfe der fünf SNAPS-Regeln durfte ich reihum einen Becher nach dem anderen leeren, wodurch die Stimmung ziemlich schnell recht ausgelassen wurde. Dass ich mit deutschem Bier aufgewachsen war, kam mir hierbei eindeutig zugute, da der Alkoholgehalt des chinesischen „Qingdao“-Biers deutlich unter dem gewohnten Level lag. Dennoch musste ich am Ende dem Physiklehrer versprechen, dass ich der Erste sein würde, der sein Kind in den Armen halten darf. Man sagt hier nämlich, dass sich die Eigenschaften jener ersten Person auf das Kind übertragen werden. Ich hatte demnach allen Grund, mich geehrt zu fühlen!

 

Meine persönliche Belohnung für die erbrachten Anstrengungen der letzten Tage folgte bereits am Sonntag, auf den ich mich schon seit einiger Zeit freute. Für die Ferien hatten ein paar Freiwillige geplant, uns in Wuhan zu besuchen und Theresa war bereits aus Zhenjiang eingetroffen, während ich noch meinen Marathon rannte. Wie ich selbst und verdächtig viele andere Kulturweitler stammt Theresa übrigens aus dem Schwabeländle, und um genau zu sein sogar aus Schwäbisch Hall. Nun wohnte sie allerdings einige Tage in Flos bewundernswert geräumigem Apartment auf dem Campus der Wuhaner Bierschule – und da die anderen, des Hochdeutsch Mächtigen erst etwas später ankommen würden, musste der arme Flo fürs Erste allein unser Gschwätz ertragen.

Zusammen quetschten wir uns in einen Bus, der aufgrund der angebrochenen Ferien – man hält es kaum für möglich – noch mehr aus allen Nähten platzte als sonst üblich und besuchten den Guiyuan-Tempel, einen der größten buddhistischen Tempel in der Hubei-Provinz. Auf über 46 900 Quadratmetern konnten dort Touristenströme ihren Glauben beziehungsweise Aberglauben ausleben – selbstverständlich nicht, ohne vorher ein paar Scheine in eine der zahlreichen Geldbüchsen zu stecken. Aufgrund der kommunistischen Prägung des Landes sind zwar die meisten Han-Chinesen offiziell nicht religiös – aber ein bisschen Vorsorge für den Fall der Fälle kann ja bekanntlich nie schaden. Also verneigt man sich fleißig vor goldenen Buddha-Statuen, schlägt für zehn Yuan ein paar Mal mit einem Knüppel gegen eine eindrucksvolle Bronzeglocke oder zündet den Ahnen zuliebe ein Räucherstäbchen an.

Finde den Fehler!

In einem etwas versteckt gelegenen Winkel hatten außerdem Tempelbesucher hunderte von verschiedenen persönlichen Schutzgottheiten (so vermute ich zumindest) hinterlassen, die sich dort in allen Farben und Formen stapelten. Wen überraschte es da noch, dass zwischen Porzellanstatuen des fetten Buddhas, Shiva und verschiedenen Weisen  auch der Weihnachtsmann ein Plätzchen gefunden hatte. Da ich aber dummerweise meine Son Wukong-Pappaufsteller zuhause vergessen hatte, musste ich mich damit begnügen, für mein Seelenheil Münzen in ein dafür vorgesehenes Türmchen zu werfen. Aufgrund meiner phänomenalen Wurffähigkeiten, die ich mir in ganzen zwei Basketballstunden antrainiert hatte, schaffte ich es überraschenderweise sogar, anstatt ins Gesicht eines anderen Geldschmeißenden mitten in das oberste Abteil des Turms zu treffen. Der erfolgreiche Verlauf der Ferien war somit definitiv gesichert.

Zufrieden konnten wir schließlich in die letzte Tempelhalle weiterziehen, wo sich uns ein interessanter Anblick bot. Hinter Glasfenstern blickten fünfhundert goldene Arhats (Erleuchtete, die das Nirwana bereits erreicht haben) auf die Besucher herab, die ein gar seltsames Ritual vollzogen. Während einige wie gewohnt mit dem Fotoapparat von einem Arhat zum nächsten sprinteten, schienen andere langsam an ihnen vorbeizuschreiten, als würden sie irgendetwas zählen. Was sich dahinter verbarg, würden wir allerdings erst im Verlauf der nächsten Woche herausfinden.

 

Vorerst aber lag es an mir, herauszufinden, wie denn eine chinesische Hochzeit abläuft. Chang E hatte mich dazu eingeladen, sie zu einer solchen zu begleiten. Weil ich weder Braut noch Bräutigam je zu vor gesehen hatte, zweifelte ich ein wenig daran, wie gern man mich dort sah, doch wenigstens konnten wir sicher gehen, dass Chang E ein mehr als gerngesehener Gast war – und das nicht nur, weil sie als Brautjungfer auftreten würde. Mein kleiner Dämon feierte nämlich in den Ferien eine Art Namenstag. Am fünfzehnten Tag des achten Monats im chinesischen Mondkalender (dieses Jahr am 30. September) findet in China das sogenannte Mondfest statt, an dem sich die Familien vereinen und das an ein berühmtes chinesisches Märchen erinnert.

Dieses Märchen erzählt die Geschichte von Chang E und ihrem Ehemann Houyi, die als Unsterbliche im Himmel lebten. Eines Tages verwandelten sich die zehn Söhne des himmlischen Jadekaisers in glühende Sonnen und fingen an, die Erde zu niederzubrennen. Selbst der himmlische Jadekaiser selbst war nicht in der Lage, seine feurige Brut zu stoppen und so bat er Houyi um Hilfe. Der erschoss neun der zehn Söhne kurzerhand mit seinem legendären Bogen und ließ einen übrig, um der Welt Wärme zu spenden. Houyis doch eher resolute Lösung des Klimaproblems begeisterte den Kaiser jedoch nicht sonderlich, sodass er den Schützen und seine Frau auf die Erde zu einem Leben als Sterbliche verbannte.

Weil Chang E darüber sehr traurig wurde, zog Houyi los, um die Unsterblichkeit zurückzuerlangen. Die Königin Mutter des Westens hatte glücklicherweise noch eine Unsterblichkeitspille in ihrem Nachtschränkchen für ihn bereit, von der man lediglich eine Hälfte benötigte, um ihre Wirkung zu spüren. So kehrte er mit der Pille heim, verwahrte sie dort sicher in einer Truhe und wies seine Geliebte an, diese nicht zu öffnen, bis er wieder von seiner nächsten Reise zurückkäme.  Ganz im Stil ihrer Englisch unterrichtenden Namensvetterin vermochte es Chang E jedoch irgendwann nicht mehr, ihrer Neugier zu widerstehen und öffnete die Truhe. Als im gleichen Moment ihr Göttergatte heimkam, verschluckte sie vor Schreck die ganze darin liegende Pille und begann von der Überdosis zu schweben.

Houyi wollte sie mit einem Pfeil erschießen, brachte es aber nicht übers Herz, sodass die arme Chang E immer höher stieg, bis sie auf dem Mond landete. Dort spuckte sie eine Hälfte der Pille wieder aus und traf auf einen Jadehasen, der recht gut in Kräuterkunde belesen war. Seit ihrer Ankunft versucht er, die andere Pillenhälfte wieder herzustellen, doch bis heute muss Chang E ein unsterbliches, aber einsames Dasein als Prinzessin des Mondes fristen. Nur einmal im Jahr besucht sie Houyi, um nach dem Rechten zu sehen. In jener Nacht, der Nacht des Mondfests, soll der Vollmond dann besonders hell strahlen. Ende der ausgeuferten Märchenstunde.

Die Geschichte erklärt einerseits, warum die Chinesen in den Kratern des Mondes keinen Mann, sondern einen Hasen erkennen (versucht das ruhig auch mal, ich suche immer noch danach) und andererseits, warum im Kollegium alle so scharf darauf waren, einen Mondkuchen von unserer (also der noch mit beiden Füßen auf der Erde stehenden) Chang E zu erhalten. Wie gesagt – ein bisschen Aberglaube kann ja nie schaden. Die pappigen, mit Bohnenpaste, Eigelb oder sogar Trockenfleisch gefüllten Süßgebäcke verschenkt man hier traditionell in den Wochen vor dem Mondfest (vergleichbar mit unseren Weihnachtsplätzchen) und wer möchte nicht eines davon von der Mondprinzessin persönlich geschenkt zu bekommen! Eine wunderbare Gelegenheit also für Chang E, mal wieder im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit zu stehen.

Heute jedoch, am chinesischen National-Feiertag, richtete sich alle Aufmerksamkeit auf die Braut, zu deren Wohnung wir um halb sieben morgens aufgebrochen waren. Im Apartment herrschte bereits reges Treiben, sodass der fremde Laowai glücklicherweise kaum auffiel. Weil ich, vermutlich zum Wohle aller Beteiligten, keine allzu große Lust hatte, den Brautjungfern beim Schminken der Braut zu helfen, setzte ich mich einfach so unauffällig wie möglich vor den Fernseher, wo gerade „The Voice of China“ ausgestrahlt wurde. Als ich gerade angefangen hatte, ins Gespräch mit Jenny, der kleinen, Kunst studierenden Schwester der Braut zu kommen, brach plötzlich vor dem Haus der Krieg aus. Oder so klang es zumindest, als die Trauzeugen des Bräutigams durch das Entzünden eines Arsenals an Chinaböllern ihre Ankunft unüberhörbar ankündigten. In China herrscht nämlich der Brauch, dass der Bräutigam am Hochzeitsmorgen zum Haus seiner Angebeteten geht, um sie abzuholen. Früher war (und heute ist es immer noch in ländlichen Regionen) ein schwerer Tag für die Familie des Mädchens, da es oft bedeutete, dass  die Eltern ihre Tochter danach für eine sehr lange Zeit nicht wiedersehen konnten.

Für uns jedoch hieß das kleine Explosions-Arrangement lediglich, dass der Spaß nun erst richtig losgehen würde. „Come on, Kai, we will be the doorguards!“, forderte mich ein Cousin auf. Was, ich hatte also auch eine tragende Rolle in der ganzen Prozedur? Also gut, aber was musste ich überhaupt tun? Ganz einfach, im Grunde bestand unsere Aufgabe als Türwächter darin, dem Bräutigam das Leben ein bisschen schwer zu machen. Als er  keuchend und bereits leicht angetrunken die Schwelle zur Wohnung erreichte, hielten wir ihm solange die Tür zu, bis er sich dazu erniedrigte, eine Liebeshymne über seine Auserwählte zu improvisieren.

Die wahre Folter begann für den Armen allerdings erst, als wir ihm und seinen Freunden schließlich widerwillig Einlass gewährten. Denn auch der Zugang zum Zimmer der Braut war ebenfalls vorsorglich verschlossen worden und dahinter freute sich Chang E schon diebisch auf ihren Einsatz. An ihr lag es nun, den zukünftigen Ehemann mit allerlei schmerzhaften Fragen zu quälen, um die Aufrichtigkeit seiner Liebe auf Herz und  zu prüfen. Selbst als er verzweifelt brüllend gestanden hatte, eher seine Angebetete, als seine eigene Mutter vor dem Ertrinken zu retten, gab sich der kleine Dämon nicht zufrieden. Schließlich musste man ja noch herausfinden, ob der Bräutigam überhaupt in der Lage war, der Herzensdame ein angemessenes Leben zu bieten. Um dies zu beweisen, steckte er einen Hong Bao (rote, geldgefüllte Umschläge) nach dem anderen unter der Tür hindurch, bis eine kleine Ewigkeit später endlich das Klicken des Schlüssels im Schloss ertönte.

Ungestüm stieß der Bräutigam die Tür zur Seite und stand zum ersten Mal an diesem Tag seiner Geliebten gegenüber. In ein wallendes weißes Kleid saß sie auf dem roten Bett und versuchte, so ruhig und gelassen wie möglich zu wirken. Das war allerdings gar nicht so einfach, denn auf einmal begann die gesamte Familie, einen Countdown zu zählen, auf den der junge Mann die Braut von ihrer Hand aus den Arm hinauf küsste, bis sich endlich ihre Lippen berührten. Unter allgemeinem Jubel führte er sie dann glücklich ins Wohnzimmer, wo die Eltern des Mädchens auf dem Sofa Platz nahmen. Voller Respekt kniete das Paar vor ihnen nieder und bot ihnen Tee in stilechten Plastikbechern an.  Das Präsentieren von Tee dient in China bis heute dazu, den Eltern, denen man so viel zu verdanken hat, eine Art letzte Ehre zu erweisen, bevor man sich in ein eigenständiges Leben aufmacht. Ich hätte das ganze Ritual zwar noch viel mitreißender gefunden, wenn sich im Hintergrund nicht nach wie vor die Kandidaten von „The Voice of China“ gegenseitig angeplärrt hätten, aber den Rest der Anwesenden schien das nicht sonderlich zu stören.

Der Bräutigam trägt seine hart erkämpfte Geliebte aus dem Haus

Wie dem auch sei, anschließend trug der Bräutigam sein Mädchen auf dem Rücken in das geschmückte Hochzeitsauto, begleitet von Konfettikanonen und einem durchaus professionell wirkenden Kameramann, der sein Objektiv auf den beiden fixiert hielt. Auch ich wurde in ein Auto gestopft und ab ging es zum Elternhaus des Bräutigams. Dort setzten sich unsere beiden Hauptattraktionen auf ein ebenfalls rotes Bett, um sich für die nächste halbe Stunde im Blitzlicht zahlreicher Fotoapparate zu sonnen.

Genug Zeit für Chang E, mir zu erklären, dass meine Kleiderwahl, gelinde gesagt, ein Griff ins Klo war. Tatsächlich war mir bereits aufgefallen, dass ich neben dem Bräutigam so ziemlich als einziger ein Hemd trug. Das stellte eigentlich kein zu großes Problem dar, aber mein schwarzes hätte ich mir besser für eine Beerdigung aufsparen sollen. Dass ich mir daraufhin schnell meine grüne Sweatjacke überwerfen wollte, machte die Sache nicht unbedingt besser. Ein grünes Kleidungsstück könnte nämlich indizieren, dass ich die Heiratenden beneidete. Na prima, das hatte ich ja mal wieder genau zur richtigen Zeit erfahren. Egal, es schien niemanden groß zu stören – bei dem Laowai drückte man eben gern ein Auge zu.

Als man irgendwann oft genug die Auslöser diverser Kameras gedrückt hatte, wiederholte sich die Zeremonie des Tee Präsentierens abermals für die Eltern des Bräutigams. Mit dem feinen Unterschied, dass sich nebenher nicht die Casting-Kandidaten auf dem Flatscreen die Seele aus dem Leib sangen. Stattdessen konnte man die große Militärparade mitverfolgen, die jedes Jahr am Nationalfeiertag auf dem Tiananmen-Platz in Peking abgehalten wird. Gefeiert wurde übrigens die Entstehung der Volksrepublik, die Mao Tse Tung 1949 ebenfalls auf dem Tiananmen ausgerufen hatte.

Ein Grund für zahlreiche Paare, zu diesem besonderen Anlass ihre Liebe zu besiegeln. In dem exquisiten Restaurant, in das wir danach kutschiert wurden, fanden zur selben Zeit noch zwölf weitere Trauungen statt. Dort hatte man einen großen Saal für uns präpariert, wo ich mich mit der Familie der Braut um einen der vielen runden Tische versammelte. Darauf befanden sich sogar, ganz ungewohnt, anstatt der sonst üblichen Papier-Taschentücher richtige Servietten, zu Blüten geformt. Kurz nachdem ich Platz genommen hatte, wuselte eine Bedienung herbei und tauschte meine schöne Serviette gegen die gewohnte Packung Tempos aus. „Die waren nur zur Zierde. Eigentlich sind die eh dreckig.“, erklärte mir Jenny, die meinen perplexen Gesichtsausdruck bemerkt hatte.

Als sich die ganze Hochzeitsgesellschaft versammelt hatte, erschallten plötzlich die berühmten ersten Takte von Wagners Hochzeitsmarsch. Ergriffen verstummte die Menge, als die Braut in ein neues Kleid gehüllt, an der Hand ihres Vaters durch den Mittelgang zur Bühne schritt. Begleitet wurden die beiden von zwei blumenwerfenden Kindern, einer mir unbekannten Brautjungfer und Chang E, die ausnahmsweise ihr schelmisches Grinsen gegen ein andächtiges Lächeln ausgetauscht hatte. Auf der Bühne empfingen sie ein nervöser Bräutigam und eine Art Moderator, der das Geschehen ziemlich leidenschaftlich kommentierte. Während des eher westlich orientierten Teils der Hochzeit übernahm letzerer die Rolle des Pfarrers, indem er ausschweifend über die Wahrhaftigkeit der Liebe zwischen den Heiratenden berichtete. Mit der Zeit kam Jenny, die sich vorgenommen hatte, heute meine Dolmetscherin zu spielen, verständlicherweise ganz schön ins Schwitzen.

Nachdem wir in allen schillernden Details die Entstehungsgeschichte der Beziehung des Paars erfahren hatten, boten die beiden zum dritten Mal an diesem Tag allen verfügbaren Elternteilen eine Tasse Tee an. Der Reihe nach gaben die stolzen Mütter und Väter mit zittriger Stimme ihren Segen – und dann gab der heißer gelaufene Moderator endlich das Kommando zum großen Finale. Die Musik gipfelte sich dramatisch, tausende Seifenblasen glitzerten im rosa Scheinwerfer-Licht, und man schnäuzte gerührt von all dem herrlichen Kitsch in sein Tempo-Taschentuch, als das Paar in einem leidenschaftlichen Kuss den Pakt der Ehe besiegelte.

Champagner für alle!

Eine lange, hingerissene Welle des Applauses später lag es letztlich noch am verdattert dreinblickenden Bräutigam, einen neuen Besitzer für den Brautstrauß zu finden. Und weil es ja furchtbar langweilig gewesen wäre, ihn schlicht in die Menge zu werfen, erhielt ihn am Ende jener, der dem jungen Mann am schnellsten ein Glückwunsch-SMS geschrieben hatte. Anschließend konnte das lang erwartete Festmahl pünktlich um 12.38 Uhr beginnen (die Zahl Acht hat im Chinesischen eine ähnliche Aussprache wie das Wort Reichtum, deswegen bringt es Glück, wenn diese Ziffer in der Uhrzeit enthalten ist).

Eine delikate Speise nach der anderen fand den Weg zu unserem Tisch und ich hätte nie gedacht, das einmal sagen zu können, aber insbesondere an (nein, nicht den Tintenfisch, sondern) die Jakobsmuscheln vergab ich mein neustes Prädikat „Besonders Schmackhaft“. Besonders geschockt war ich allerdings über die Suppe, die man mir eingoss. Leider klärte mich Jenny nämlich erst nach dem letzten Löffel darüber auf, dass ich soeben die teure Spezialität Schildkrötensuppe ausgeschlürft hatte. Dabei hatte ich doch Marie, einer meiner Schildkrötenliebenden Freundinnen, hoch und heilig versprochen, dass ich davon die Finger lassen würde! Zu spät…

Die einzigen, die keinen Bissen dieser grandiosen Gerichte abbekamen, waren der Bräutigam und seine Braut. Die beiden zogen, während wir uns die Bäuche vollschlugen, mit zwei Schnapsflaschen von Tisch zu Tisch und stießen mit allen Gästen an. Die Braut hatte sich dabei in ihr drittes Outfit geworfen, ein klassisches chinesisches Kleid in knalligem Rot, der an diesem Tag allgegenwärtigen Farbe des Glücks. Ziemlich rot leuchtete verständlicherweise auch die Nase des Bräutigams, als Chang E und ich uns nach dem Essen verabschiedeten – die Braut hingegen strahlte noch immer frisch wie eh und je, weil sie sich heimlich Wasser in ihre Flasche gefüllt hatte.

Eigentlich war die Zeremonie noch lange nicht vorbei – am Nachmittag würde man weiterziehen zu neuen Wohnung der frisch Vermählten, um die beiden durch ein paar Hochzeits-Spielchen zu scheuchen. Ein gemeinsames Abendessen im Restaurant sollte das Ganze letztendlich abschließen. Chang E aber musste den Zug in ihre Heimatstadt erwischen und ich selbst wollte die ohnehin phänomenale Gastfreundschaft der Familie nicht noch weiter strapazieren. Dennoch hatte ich einen detaillierten Einblick gewonnen, wie man sich in China heutzutage das Ja-Wort gibt.

 

Die wunderbar wärmenden Sonnenstrahlen des nächsten Morgens nutzte ich zusammen mit Theresa, Flo und Simon, um raus in die Natur zu fahren. Unser Ziel war der Nationalpark am Dong Hu, dem East Lake. Der liegt, um ehrlich zu sein, als größter innenstädtischer See immer noch mitten in Wuhan, aber als wir so im Bus die holprige Straße geradewegs über den Dong Hu entlang zuckelten, hatte man beinahe den Eindruck, es ginge tatsächlich aufs Land hinaus. Die Zivilisation holte uns jedoch angesichts der gesalzenen Eintrittspreise unverhofft wieder ein.

Muss sicher super aussehen, wenn dieser Lotusblütenteich in voller Blüte steht

Sehnsüchtig schauten wir am Eingang dem Fahrzeug hinterher, das die Touristen bequem auf die Spitze des Berges in der Mitte des Nationalparks brachte. Ebenso wie der Zugang zu den Tempeln war eine Freifahrt zum Gipfel natürlich nicht im Preis mit inbegriffen, sodass wir uns zu Fuß auf den Weg machten. Auf diese Weise konnten wir wenigstens den Park in seiner ganzen Pracht genießen. Fernab von dem nerv tötenden Dauerhupkonzert in der Stadt überquerten wir einen großen Teich, der keine Stelle besaß, die nicht von Lotusblättern bedeckt war. Auf engen Pfaden kämpften wir uns durch ein kleines Auenwäldchen, in dessen Bäumen riesige knallbunte Spinnen ihr Netz webten und sogar ein schillernder Eisvogel an einem Weiher fischen ging. Schließlich gelangten wir zum Fuß des Berges, an dem sich eine gewundene Straße hinauf schlängelte. Aber wer will schon auf dem ausgeschilderten Rundweg bleiben, wenn man auch einfach querfeldein beziehungsweise –auf klettern kann! Also nahmen wir eine lange und entbehrungsreiche Klettertour in Angriff und erfreuten uns daran, dass wir daran gedacht hatten, Wanderschuhe und eine Machete mitzunehmen. Oder zumindest hätten wir das tun können.

Endlich oben angekommen!

Zehn (wenn nicht sogar ganze zwölf) Minuten später erreichten wir den Hintereingang des Turms auf dem Gipfel und erklommen schwer atmend die letzten Stufen zur Aussichtsplattform. Mit einem grandiosen Panorama wurde unser kleiner Survival-Trip schließlich belohnt. Vor uns erstreckte sich von einigen sanften, bewaldeten Hügeln eingerahmt der Dong Hu und im Hintergrund verlor sich die Silhouette der Großstadt im Dunst der Mittagshitze. Trotz all dem Augenschmaus freuten wir uns nach all der Anstrengung wahnsinnig über die vier Birnen, die wir uns mitgebracht hatten – und die zahlreichen Touristen freuten sich nicht minder über ihr neues Fotomotiv für das Familienalbum: „Ausländer bei der Fütterung vor malerischem Panorama“ So gewöhnten wir uns immerhin schon einmal daran, dass wir in den kommenden Tagen noch häufiger als sonst abgelichtet werden würden, denn so ein ganzes Rudel Laowais bekommt man eben auch nicht alle Tage vor die Linse. Doch dazu später mehr.

Dieser Bonsai hat eindeutig länger gelebt als die in meinem Zimmer, die näch spätestens zwei Monaten eingingen

Frisch gestärkt machten wir uns daraufhin wieder an den etwas leichter fallenden Abstieg und nahmen auf dem Rückweg zum Ausgang noch einen gut bestückten Bonsai-Garten, einen Haufen Pagoden und einen Holzsteg mit, der gewunden durch den Wald von Lotusblättern führte. Insgesamt hatten wir ein paar recht nette Stunden verbracht, oder wie Theresa das Ganze treffend beurteilte: „Scho schön, aber nich gut genug, dass ich den Eintrittspreis vergessen konnte“.

Weil wir mittlerweile sowieso schon angefangen hatten, unsere Geldbeutel zu entleeren, zeigte ich den anderen daraufhin noch die Tan Hua Lin (Chang E sei Dank, dass wir die richtige Haltestelle erwischten und bereits beim ersten Versuch in die richtige Seitenstraße einbogen). Dort genehmigten wir uns eine heiße Schokolade in meinem Lieblingscafé mit den schwebenden Goldfischgläsern und ließen den Tag anschließend bei Flo ausklingen.

Mit so viel Natur und frischer Luft hätte es ein wirklich entspannter und erholsamer Tag sein können. Hätte – denn das Schlimmste stand mir leider noch bevor. Um halb zwölf wurde mir klar, dass ich nun wirklich besser gehen sollte. Denn während Theresa und Simon bequem bei Flo übernachteten, hatte ich noch einen dreißigminütigen Fußmarsch zum Dormitory zu bestreiten, was eigentlich nicht unbedingt ein Problem darstellte. Erst, als ich wieder einmal vor dem verriegelten Schultor stand, fingen die Dinge an, richtig schief zu laufen. Was nun? Weit und breit keine Jiao Jiao in Sicht, die mit Hu Shifu in Kontakt treten konnte. Kein Problem, klettern wir einfach über den drei Meter hohen Zaun und hoffen, dass uns niemand für einen Einbrecher hält. Gedacht, getan.

Zuversichtlich nestelte ich den Schlüssel zum Eingang des Wohnheims aus dem Geldbeutel. Dummerweise nur wollte der schlichtweg nicht passen! Da fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen – verdammt, welcher Knallkopf hatte denn das Schloss ausgetauscht? Ich hatte ja schon einmal befürchten müssen, dass man mich hier als den Freiwilligen in Erinnerung behalten würde, den man im Wohnheim eingesperrt hatte. Nun würde ich wohl der Freiwillige sein, den man aus dem Wohnheim ausgesperrt hatte.

Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass es ziemlich lebensgefährlich war, an der Dachrinne empor zu kraxeln, blieb mir schließlich nichts anderes übrig, als den armen Linc wach zu klingeln, der über die Feiertage im Dormitory schlief. Verschlafen erklärte er mir, dass nur Hu Shifu den Schlüssel für das Schloss besaß, weil die Lehrer normalerweise nicht so spät heimkehren. Wenig später schallten laute Rufe nach dem Hausmeister durch die Gänge, doch es schien, als habe sich Hu Shifu gerade heute vorgenommen, unauffindbar zu bleiben.

„Übernachte doch einfach im Hotel!“, schlug Linc schließlich von der anderen Seite der Gittertür aus vor. Weil ich in der Tan Hua Lin mein letztes Geld ausgegeben und meine EC-Karte vorsorglich in meinem Zimmer zurückgelassen hatte, musste ich mir jedoch eine andere Lösung aus den Fingern saugen. Die fanden wir auch, aber sie gefiel mir noch weniger, als Hu Shifu mitten in der Nacht anzurufen. Egal, ich hatte keine andere Wahl, als zum Wärterhäuschen zu stiefeln und dort den Nachtwächter aufzuwecken (ziemlich paradox, nicht wahr?). Der erschien nach einigem Gebrummel in Boxershorts an der Tür, woraufhin ich ihm mein Handy ans Ohr drückte. Linc erklärte ihm auf diesem Wege kurz, was er tun sollte und ich folgte ihm über die Basketballfelder zum Bürogebäude. Dessen Türen waren natürlich auch bereits mit dicken Eisenketten verriegelt, aber der Pförtner verständigte per Klopfen am Fenster den Kollegen im Inneren des Gebäudes. Wunderbar, reißen wir doch mal wieder wegen dem Ausländer die ganze Schulbelegschaft aus ihren seligen Träumen!

Wie auch immer, die Ketten rasselten, der Nachtwächter zog kopfschüttelnd von dannen, ich stieg hundemüde die Treppe zum Lehrerzimmer hinauf und machte es mir darin auf Lincs Liege bequem. So bequem zumindest, wie man es sich mit 1,90 Metern auf einer 1,70-Liege machen kann. Wie ich sehr schnell herausfand, teilte ich mir mein neues Schlafgemach mit einer Heerschar blutdurstiger Schnaken – und weil Chang Es Wundermittelchen sicher im Dormitory auf mich wartete, artete der Rest der Nacht in einer gar epischen Schlacht zwischen den Moskitos und ihrer übermüdeten Beute aus.

 

Das Einzige, was mich am nächsten Morgen davon abhielt, den ganzen Tag in meinem richtigen Bett zu verbringen, war die Aussicht, dass heute die restlichen Freiwilligen eintreffen würden. Etwas gerädert traf ich bei Flo ein, wo es sich bereits Sandra und Fanny aus Guangzhou und Maurice und Flo aus Shenzhen auf Flos superbequemen Sofa bequem gemacht hatten. Besser hätte es nicht kommen können: nun bestand unsere Reisegruppe also aus drei Mädels mit langen, blonden Haaren und fünf Jungs, ebenfalls entweder blond und/oder weit über der chinesischen Durchschnittsgröße. Eines stand somit fest – die Kameras würden uns lieben! Daran hatten wir uns mittlerweile alle gewöhnt, doch manche Kommentare der staunenden Chinesen brachten mich immer noch zum Schmunzeln. Insbesondere Fannys wallende, goldene Haare und ihre blauen Augen resultierten ihren Erzählungen zufolge hin und wieder in geradezu anhimmelnden Ausrufen („OH MY GOD, you are so beautiful! I can’t believe it!!!“).

Übrigens hielt sich der Anteil der Süddeutschen trotz Verstärkung mit dem Rest die Waage. Wie Theresa und ich sorgten nämlich auch Sandra und Fanny von Zeit zu Zeit mit ländletypischem Vokabular für verständnislose Gesichter – aber Simon befürchtete ja bereits seit dem Vorbereitungsseminar, dass meine Schüler mein Gebabbel nicht verstehen würden.

Nachdem sich alle vollends häuslich bei Flo eingerichtet hatten, stand unserer Wuhan-Sightseeing-Tour nichts mehr im Wege. Eigentlich hatten wir geplant, zum noch einmal zum Guiyuan-Tempel zu fahren, aber beim Suchen einer geeigneten Bushaltestelle entdeckten wir, dass die große daoistische Tempelanlage heute keinen Eintritt kostete. Dann nichts wie rein ins Gratis-Vergnügen, dachte sich nicht nur der schwäbische Teil unserer Reisegruppe. Sogar für diejenigen, die die Tempelanlage schon einmal besichtigt hatten, lohnte sich der Besuch. Einerseits klärte uns Maurice zu Fannys Missfallen darüber auf, dass es Glück bringe, den Schildkröten im Teich Geld auf den Kopf zu werfen („Des ist gar net so luschtig! Was würdet ihr denn sagen, wenn euch plötzlich jemand nen Stein aufn Kopf schmeißt?“).

Ausblick von der Pagode

Abgesehen davon gab es da noch eine hohe Pagode am Hang, zu deren Besichtigung wir beim letzten Mal zu faul gewesen waren. Es stellte sich bereits am ungefähr 1,70 Meter hohen Eingang heraus, dass uns ein noch abenteuerlicherer Aufstieg bevorstand als im Nationalpark. Man hatte den Turm nämlich konzipiert, ohne daran zu denken, dass vielleicht eines Tages ein paar ungewöhnlich große Touristen dessen Spitze erreichen wollen. Vielleicht hatte sollte es aber auch beim Erreichen eines höheren geistigen Zustands helfen, sich ständig den Schädel anzuschlagen oder auf den engen, glatten Stufen auszurutschen. Wenigstens wurde diese Gehirnzellen gefährdende Klettertour mit einem weiteren spektakulären Ausblick belohnt. Zwar konnten wir uns nicht wieder auf einer großzügigen Aussichtsplattform austoben, sondern mussten uns auf einen beängstigend kleinen und wackeligen Balkon quetschen. Dafür überblickte man den gesamten Tempel mit seinen geschwungenen, orangefarbenen Dächern und vielen wogenden Bäumen sowie die modernen kantigen Hochhäuser der Großstadt, die übergangslos an die Anlage anknüpften.

Nein, das sind keine Steine, sondern Schildkröten, die um einen Platz in der Sonne kämpfen

Unsere Reisegruppe vor dem Schildkrötenteich (von links.: Sandra, Simon, Maurice, Shenzhen-Flo, Wuhan-Flo, Theresa, Fanny, ich)

Auch der Guiyan-Tempel, zu dem wir nach einem leicht lebensgefährlichen Abstieg weiterzogen, hatte noch einiges Neues zu bieten. Zum Beispiel einen Teich, der förmlich von Schildkröten überquoll. Den hatten wir bereits beim letzten Besuch bemerkt, aber damals wussten wir ja noch nicht, dass es Glück brachte, ihre Schädel mit Münzen zu bombardieren. Wer hätte gedacht, dass dies selbst bei einer Rate von ungefähr vierzig Panzerträgern pro Quadratmeter trotzdem gar nicht mal so einfach ist! Was war bloß aus meinen Wurffähigkeiten vom Basketballspielen geworden? Naja, so konnte uns Fanny immerhin nicht weiterhin der Tierquälerei bezichtigen (und auch Marie wird mir hoffentlich zur Begrüßung keinen Stein an den Kopf werfen, wenn ich wieder aus China zurückkomme).

Außerdem hatten wir uns dank Professor Google rechtzeitig informiert, was genau die Leute in der Halle der fünfhundert goldenen Arhats Mysteriöses trieben. Dahinter steckte folgendes Geheimnis: wenn man so viele Statuen abzählte, wie man Jahre alt ist, wird man seinen persönlichen Arhat finden. Männer müssen dabei am Eingangstor nach links gehen, Frauen nach rechts. Selbst Gleichaltrige gelangen meist nicht zum selben Arhat, weil sich der Gang mehrmals verzweigt. Das Schicksal jedoch soll den Zählenden am Ende zu einem vorgesehenen Erleuchteten führen, anhand dessen man den Verlauf der Zukunft ableiten kann. Das klingt doch sehr vielversprechend, nicht wahr?

Mein persönlicher Arhat

Also schwärmten alle alsbald aus, ihren eigenen Arhat kennenzulernen. Ich landete am Ende bei einem besonders breit und schelmisch grinsenden Exemplar, was auch immer das bedeuten mochte. Wenigstens war ich nicht zu dem gelangt, der seine Augenbrauen hüftlang trug. Über den Drachenreiter oder den, der friedlich in seinem Bettchen träumte, hätte ich mich aber ebenfalls nicht beschwert.

Zum Glück konnte ich aber ohne den schlafenden Arhat davon ausgehen, dass ich in naher Zukunft wieder ein richtiges Bett zur Verfügung haben würde. Nach dem unfreiwilligen Abenteuer in der vergangenen Nacht hatte ich nämlich endgültig vor der Schloss-und-Riegel-Politik unserer Schule kapituliert und als achter im Bunde bei Flo Asyl gesucht. Auf diese Weise kam ich am nächsten Morgen in den Genuss eines ungewohnt „deutschen“ gemeinsamen Frühstücks. Entgegen der weit verbreiteten Annahmen kann man in China sehr wohl Brot kaufen, und zwar beim Bäcker um die Ecke. Das hat zwar in keinster Weise etwas mit richtigem Schwarzbrot zu tun, doch es eignet sich durchaus, um mit tonnenweise Butter, Marmelade und Honig beschmiert zu werden. Und wenn man dazu noch ein ordentliches Rührei, ein Glas Milch und ein bisschen Obst genießt, kann der nächste Ferientag beginnen.

 

Als ersten Programmpunkt des Tages setzten wir uns ein bisschen mit Chinas Geschichte auseinander. Eines der wichtigsten Ereignisse der jüngeren Vergangenheit hatte nämlich in Wuchang (das ist der Distrikt, in dem ich wohne) seine Wurzeln. Auf dem damals noch eigenständigen Stadtgebiet formte sich 1911 der Wuchang-Aufstand, der den Auftakt zur Revolution gegen die Qing-Dynastie bildete. Jene Dynastie hatte für viele Jahrhunderte das Reich regiert und wurde schließlich erfolgreich gestürzt. Als Resultat des Umsturzes wurde die erste chinesische Republik ausgerufen und man ernannte den berühmten Revolutionär Sun Yatsen zum Übergangspräsidenten, der den abgedankten, letzten Kaiser ersetzte.

Revolutionäre

Um in allen Details über die Revolution zu erfahren, stellte das Wuhan Revolution Museum definitiv die beste Adresse dar. In dem raumschiffartigen Gebäude konnte man den Verlauf der revolutionären Aktivitäten mitsamt allen Beteiligten genauestens verfolgen. Den größten Spaß hatten wir jedoch glaube ich bereits auf dem großen Platz vor dem Museum. Dort stand ein imposantes Revolutionsdenkmal, das sich perfekt dazu eignete, um nachgestellt zu werden. Wieder einmal ein wunderbares und zugleich pädagogisch wertvolles Fotomotiv für alle Umstehenden: „Ahnungslose Ausländer versuchen, die Geschichte der Republik durch ein Standbild zu verinnerlichen“.

Die Hu Bu Xiang

Chefkoch beim Crêpes-Werfen

Nach so viel nachhaltiger Freizeitgestaltung hatten wir es uns redlich verdient, uns beim Verarbeiten des Informations-Overkills wenigstens ordentlich die Bäuche vollzuschlagen. Und welcher Ort eignete sich dafür besser als meine heißgeliebte Hu Bu Xiang! In der wie immer brechend vollen Fressgasse zerstreuten wir uns erst einmal in alle Himmelsrichtungen und teilten am Ende stolz unsere Errungenschaften miteinander. Dabei stellte ich fest, dass ich beim letzten Mal nur einen Bruchteil des Delikatessen-Angebots ausprobiert hatte. Die Vielfalt unserer Beute reichte von gebackenen Bananen, pikanten Minikartoffeln und Frühlingsrollen über Maurices etwas fragwürdige Sushiröllchen bis hin zu innen hohlen, süßen Reisbällchen und undefinierbaren, nach Karies schreienden Spießchen. Als wäre das nicht genug, gönnten sich alle noch eine Art gefüllten Crêpes, den der Koch recht spektakulär durch die Luft wirbelte, bevor er schließlich in der Pfanne landete. Allerdings hätte man das Spektakel noch viel mehr genießen können, wären da nicht die Bettelfrauen gewesen, die einem unablässig ihre Klingelbüchsen in den Bauch rammten.

Das mag vielleicht ganz amüsant klingen, ist es aber selbstverständlich überhaupt nicht. Weil die Altersvorsorge in China bei Weitem nicht so gut entwickelt ist wie in Deutschland, müssen sich hier einige ältere Leute, die nicht mehr arbeiten können, zum Betteln herablassen. Auf der anderen Seite gibt es viele zwielichte Untergrund-Organisationen, die Bettler aussenden und das gespendete Geld von ihnen einfordern. Eine richtige Verhaltensweise diesen Menschen gegenüber gibt es deshalb meiner Meinung nach nicht. Jedem bleibt selbst überlassen, wie er darauf reagiert, doch in unserem Fall setzte Sandra dem Ganzen zu unserer Erleichterung mit einem energischen „BU YAO!!!“ (Ich will nicht) ein Ende. Seitdem hat sich „Bu Yao“ ähnlich anhaltend in unseren Wortschatz eingebrannt wie unsere Lieblingsvokabeln „Nachhaltigkeit“ und „reflektieren“.

Beim Training für die Weltmeisterschaft im Luftanhalten

Mit bis oben hin gefüllten Bäuchen rollten wir anschließend zum Yangtse-Ufer, um eine Bootsfahrt zu wagen. Über unsere Platzwahl hätten wir dabei vielleicht etwas länger reflektieren sollen, denn sie entpuppte sich als nicht all zu nachhaltig. An der Heckseite der Fähre hatten wir zwar eine passable Aussicht, allerdings wurden wir von unerträglich blechern klingenden Instrumentalstücken beschallt, die einem in den höheren Tonlagen die Haare zu Berge stehen ließen. Als wäre das nicht genug, nebelten uns nach dem Ablegen dauerhaft die Abgase des Schiffs ein, sodass ich bald darüber nachdachte, Jacks berühmte Zeilen „You jump, I jump!“ in die Tat umzusetzen. Angesichts der braunen Brühe unter uns überlegte ich mir mein Vorhaben doch noch einmal anders und stellte mich resigniert auf ein Leben mit Raucherlunge ein. Positiv denken – immerhin sprangen dabei ein paar nette Fotos bei uns heraus: „Freiwillige trainieren vor ChangJiang Bridge für Weltmeisterschaft im Luftanhalten“.

Ein paar mutige Schwimmer

Auf der anderen Seite angekommen, konnten wir endlich wieder durchatmen und staunten nicht schlecht, als wir ein paar Leute sahen, die sich vorgenommen hatten, Fische in der trüben Pampe am Ufer zu angeln. Noch faszinierter waren wir allerdings von den mutigen Schwimmern, die tatsächlich den ganzen Fluss paddelnderweise überquert hatten und nun (ohne ein zusätzliches Set Arme oder ein mutiertes drittes Auge) auf den Strand hinaus watschelten. Da wir allerdings alle darüber einstimmten, es ihnen lieber nicht nachzumachen, genehmigten wir uns stattdessen einen auf der ganzen Welt gleich guten sowie gleich teuren Drink bei Starbucks.

Bitte folgen Sie Ihrer Reiseführerin mit dem gelben Luftballon!

Als der Abend über Wuhan hereinbrach, setzten wir unsere Tour auf dem mir bereits wohlbekannten Nachtmarkt fort. Das einzige, was wir dort letztendlich jedoch kauften, war ein Winnie-Puh-Luftballon für Fanny, damit die Arme nicht versehentlich in der Menge verloren ging. Aufgrund unserer doch eher mangelhaften Kauflust gingen wir dann jedoch bald, mit ein paar Flaschen Bier ausgerüstet, zum interessantesten Teil des Abends über: meiner zweiten Karaoke-Session – und wer hätte gedacht, dass Kulturweit so viele musikalische Nachwuchstalente nach China geschickt hatte! Sandra brachte uns mit einer japanischen Pop-Hymne zum Staunen, Shenzhen-Flo wartete mit einem chinesischen Schlaflied auf und der Rest vergnügte sich mit Linkin Park, Blue, Journey, den Backstreet-Boys und (mein persönlicher Favorit) sogar dem Opening von König der Löwen.

Ehe wir jedoch darüber nachdenken konnten, bei „The Voice of China“ zu landen, mussten wir für kurze Zeit befürchten, wieder auf der Straße zu landen. Maurice war nämlich auf die glorreiche Idee gekommen, eine China-Flagge umgekehrt an einen Luftballon zu hängen. Einer der Mitarbeiter hatte dies mit Schrecken entdeckt und befahl uns nun energisch, diese Beleidung der Volksrepublik schnellstens zu unterlassen. Hier in China besteht eben noch ein anderes Verhältnis zwischen dem Volk und seiner Flagge. Zum Glück beließ er es dabei, uns nicht rauszuwerfen, beobachtete jedoch penibel alle Freiwilligen, die aufs Klo gingen – nicht, dass wieder einer eine Fahne anschleppte.

Gangnam-Style!

Jener unangenehme Zwischenfall vermochte jedoch nicht, unsere Stimmung zu trüben, im Gegenteil – der Abend fand seinen amüsanten Höhepunkt, als alle gemeinsam vor dem Flachbildschirm zu „Gangnam-Style“ tanzten. Der seltsame Koreaner macht mit seinem bizarren Tanz zurzeit in China sogar Adele ordentlich Konkurrenz.

Am Ufer des Yangtse

Erschöpft von all dem albernen Herumgehopse verbrachten wir den Rest des Abends unter hell leuchtenden Sternen auf den Stufen der Uferpromenade am Yangtse. Moment mal – Sternenhimmel in Wuhan? Das ist ja wohl kaum möglich! Richtig, denn das, was über uns leuchtete waren tatsächlich auch keine Sterne, sondern etliche fliegende Lampions, die von den anderen Spaziergängern gen Himmel gesendet wurden. Den Spaß durften wir uns natürlich nicht entgehen lassen und so ersteigerten wir uns kurzerhand ebenfalls zwei Lampions. Nach dem Heißluftballonprinzip musste man im Grunde lediglich einen Brennkörper entzünden, dessen Hitze eine Hülle aus Papier füllte und das Lampion schließlich zum Schweben brachte. Leichter gesagt als geflogen – das erste Lampion ging nach einigen Metern in Flammen auf und das zweite weigerte sich aufgrund eines Lochs in der Papierhülle vehement, in die Lüfte zu steigen. So mussten wir uns damit zufrieden geben, den erfolgreicher gestarteten Glühlichtern andächtig hinterher zu sehen, bis und schließlich die Nachtwächter aus dem Park scheuchten.

 

Ein einsamer Autoputzer auf dem Berggipfel

Leider brach am nächsten Morgen bereits unser letzter gemeinsamer Tag an, in dessen erster Hälfte wir uns auf zwei getrennte Reisegruppen aufteilten. Während Fanny und Theresa sich eine Massage gönnen wollten, wagten wir uns zum  Gui Shan, dem Schildkrötenberg. Vermutlich hätten wir uns allerdings ebenfalls besser ordentlich den Rücken durchwalken lassen sollen, denn zum einen gab es dort gar keine Schildkröten und zum anderen begann es just nach unserer Ankunft zu regnen. Unsere letzte Hoffnung bestand in dem Fernsehturm auf dem Gipfel, den wir zuvor gegoogelt hatten. Dummerweise hatte uns Professor Google nicht verraten, dass der aus irgendeinem Grund seit vier Jahren geschlossen war. So ein Pech aber auch! Das einzig Spannende, das wir dort oben fanden, bestand in einem Mann, der mitten auf der Hügelspitze im strömenden Regen sein Auto wusch. Ob der wohl auch zehn Yuan Eintritt bezahlt hatte?

Wie dem auch sei, nach diesem Schuss in den Ofen ging es etwas durchnässt weiter zum Hubei Museum, wo wir auf unsere beiden beneidenswert entspannten Massage-Kolleginnen trafen. Das Museum hatte ich zwar bereits gesehen, doch ich vertrieb mir dafür die Zeit damit, eine leckere, wärmende Süßkartoffel zu verdrücken. Wenn der erste Hauch von Herbst in der Luft liegt, tauchen hier plötzlich überall Straßenverkäufer auf, die diese Kartoffeln feilbieten. Für gewöhnlich verbrennt man sich beim Versuch, die Knolle zu schälen, erst einmal ordentlich die Finger, aber meiner Meinung nach lohnt sich das angesichts des delikaten, orangefarbenen Inneren durchaus.

Unseren letzten Abend wollten wir noch einmal zusammen in Flos Wohnung genießen. Zuvor allerdings verschwand ich kurz in den riesigen Tiermarkt, den ich zufällig in der Nähe meiner Schule entdeckt hatte. Dort kann man, wie ich herausfand, so ziemlich jegliches vorstellbare Haustier kaufen. In schrecklich kleinen Käfigen drängten sich haufenweise herzerweichend traurig dreinblickende Welpen und Katzen aneinander und eine chinesisch sprechende Krähe begrüßte mich von ihrer Stange aus.  Aus ein paar Terrarien starrten mich Leguane, Geckos und Taranteln mit ihren acht Augen an und in einem großen Becken schwammen sogar die eigentlich geschützten Drachenfische, für deren Haltung man in Deutschland bestimmte Einfuhrpapiere benötigt. Irgendwie schaffte ich es, der Verkäuferin klarzumachen, dass ich hier ein kleines Aquarium kaufen wollte, allerdings nicht für mich selbst, sondern für unseren Gastgeber, der sich ohne uns sicher sehr einsam in seinem großen Apartment fühlen würde.

Mit vier Goldfischen im Schlepptau kehrte ich zur Bierschule zurück, wo wir unser gar grandioses Gastgeschenk überreichten und dann zum entspannteren Teil des Abends übergingen. Naja, so entspannt zumindest, wie ein paar Runden Kings sein können, bei denen man ständig den grauenvollen Bai Jiu herunterwürgen muss. Egal, zu Lachen gab es dabei trotzdem viel, als wir um das Goldfischglas versammelt Kinderlieder zum Besten gaben, Luftgitarre spielten und eine nachhaltig erheiternde Trinkregel nach der anderen erfanden. Außerdem versorgte uns Flo großzügig mit dem „Zentrums-Bier“, das seine Schule nach deutschem Reinheitsgebot herstellte. Weil das eine höhere Stammwürze als das chinesische Bier besitzt (ja, ich hab auch schon was an der Bierschule gelernt), mundete es dementsprechend weniger wässrig als sein Pendant aus Qingdao.

 

Doch alle guten Dinge müssen einmal enden und so nahm ich schweren Herzens Abschied von den anderen Kulturweitlern und zog wieder in meinem eigenen Schlafgemach ein. Immerhin habe ich mir, von Flos Gastgeschenk inspiriert, ein bisschen Gesellschaft verschafft, die mich auch in Zukunft an meine ersten Ferien und eine wahrlich goldene Woche in China erinnern wird. Weil mir Son Wukong und seine schuppigen Freunde allerdings auf Dauer etwas zu schweigsam sind, freue ich mich schon darauf, Yang Xi, Chang E und die anderen Lehrer im Büro und meine lieben Kulturweit-Kollegen spätestens beim Zwischenseminar in Shanghai wiederzusehen.

Schön war’s!

3 Gedanken zu „Eine Goldene Woche

  1. Hallo Kai !
    Deine Artikel sind eine Wucht . Weiter so !!!
    Die Spannung steigt und steigt bis zum nächsten Blog .

    Gruss aus Stuttgart
    Jörgen K.

    • Na, da bin ich ja froh! Und ich kann dir versichern, dass ich in Deutschland keine Gelüste verspüren werde, Pancake und Bonsai in die Pfanne zu hauen :). So doll schmecken die nämlich auch wieder nicht 🙂

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