Journey To The East

Big City Life

Wer plant, nach Rot am See zu ziehen, dem gebe ich ungefähr einen Monat, bis er meinen Heimatort wie seine Westentasche kennt und sich dort einigermaßen zurechtfinden kann. Nach vier Wochen weiß man, dass man seine Brötchen und den Kuchen für den Nachmittag am besten bei der Bäckerei Burkhardt kauft, man hat seine Spazier- und Joggingstrecken am Ortsrand entlang oder um den See herum ausgeklügelt und man hat festgestellt, dass man in ein anderes Städtchen fahren muss, um bei McDonald’s zu schlemmen oder ein Kino zu finden. Wem das in der Zeit nicht gelungen ist, der hat sich entweder in seiner Wohnung eingeschlossen und den Schlüssel verschluckt oder sollte dringend in Betracht ziehen, sich eine Gehhilfe zu beschaffen.

Einen Monat liegt mittlerweile auch meine Ankunft in Wuhan zurück, mit meiner Westentasche hat die Stadt für mich (abgesehen vom Anfangsbuchstaben) aber herzlich wenig gemeinsam. Um ganz ehrlich zu sein, bin ich gerade einmal imstande, mich auf dem riesigen Campus der Universität und ein paar der umliegenden Straßen zurechtzufinden. Das habe ich größtenteils nicht meinem eigenen Erkundungsdrang, sondern meinen Kollegen und ein paar Studenten zu verdanken, die mir fleißig als meine persönlichen wegweisenden Ge(h)hilfen zur Seite standen.

Dennoch gibt es immer noch ständig Neues zu entdecken – insbesondere für ein Dorfkind wie mich. Man steigt einfach in einen Bus oder winkt mit einer ungeduldigen Geste ein Taxi zu sich, stottert dem griesgrämig dreinblickenden Fahrer sein Ziel zu und schon steht einem der Spielplatz Großstadt offen.

 

Das sinnloseste Verkehrsschild in Wuhan

Mit einer Busfahrt begann auch der Grund, warum ich an dem Tag, von dem ich in meinem letzten Eintrag erzählt habe, keine Schwierigkeiten hatte, meinen bis zur Heiserkeit zeternden Handywecker zu ignorieren. Wie gewohnt donnerten wir in der Abenddämmerung beinahe über Fußgänger hinweg, die mit der Gemütsruhe von Schlafwandlern über die Straße schlenderten und auch die zahlreichen „Hupen verboten“-Schilder wurden gekonnt und lautstark ignoriert. Ehrlich gesagt glaube ich, dass diese Schilder nicht nur noch weniger Beachtung finden als Ampeln und Zebrastreifen, sondern eher für das genaue Gegenteil ihrer eigentlichen Bestimmung sorgen: „Ah, richtig, ich hab ja ne Hupe – hauen wir doch einfach mal voll drauf und sehen, was passiert!“ Meistens passiert dann natürlich einfach überhaupt nichts Gewinnbringendes, weil die meisten Autofahrer denselben Gedanken haben und so zwar ein hübsches Hupkonzert veranstalten, aber damit nicht wesentlich schneller vorankommen.

Mit Jiao Jiao und Hui Su an meiner Seite fiel es mir aber sehr leicht, diesen akustischen Vergewaltigungen standzuhalten, insbesondere da unser heutiges Ausflugsziel, die Hu Bu Xiang, wie für mich geschaffen schien. Die Hu Bu Xiang ist nämlich eine lange, recht enge Fußgängerzone, die von zahllosen unterschiedlichen Restaurants und Fressständen gesäumt wird, in denen man allerlei lokale und nationale Spezialitäten verköstigen kann. Der Geruch, der mir beim Passieren des großen Eingangstors entgegenschlug, war allerdings alles andere als appetitanregend. Um genau zu sein, wehte hier das widerlichste Lüftchen, das meiner zarten europäischen Langnase je untergekommen war. „Oh, das ist wohl das erste Mal für dich, dass du mit Stinketofu in Kontakt kommst.“, beurteilte Jiao Jiao amüsiert meinen angewiderten Gesichtsausdruck. „Möchtest du es probieren? Bis zum Stand sind es aber noch hundert Meter.“ „Vielleicht später.“, brachte ich mit einem gequälten Lächeln hervor und konzentrierte mich darauf, die nächsten hundert Meter lieber nicht durch die Nase zu atmen. Während ich mich nach ein bisschen Frischluft sehnte, erklärte mir Hui Su, dass es sich bei Stinketofu um eine Art Tofu handelt, die für eine Woche fermentiert wird, sprich vor sich hin gärt, bis sie dann in heißem Öl frittiert wird. Wie bei einem guten Käse soll das Ganze, wenn einem erst einmal sämtliche Geruchsinneszellen abgestorben sind, ganz vorzüglich schmecken. Trotz dass ich mir vorgenommen hatte, jede neuentdeckte Köstlichkeit zumindest zu probieren und ich mittlerweile wissen sollte, dass Probieren über Studieren geht, habe ich mich bisher nicht an das Stinketofu herangewagt.

Dafür gab es aber genug andere, weniger vergammelt duftende Speisen, die es in der Hu Bu Xiang auszutesten galt. So schlenderten wir von einem hell erleuchteten Restauranteingang zum nächsten, vorbei an brodelnden Kesseln, blubbernden Töpfen, über heißer Flamme schwenkenden Pfannen und einladend dampfenden Essensauslagen. Unter dem Eingang zu einem Restaurant muss man sich in China übrigens häufig keine Tür vorstellen, sondern eher, dass die Wand zur Straße hin einfach komplett weggelassen wurde, sodass jeder sieht, was man dort drin Leckeres ergattern kann. Während über unseren Köpfen Fledermäuse in der warmen Sommernacht Motten hinterherjagten, liefen wir an zahllosen Spaziergängern vorbei, die sich ein Eis gönnten, im Gehen aus ihrem Schälchen löffelten oder an einem gegrillten Ochsenfrosch am Spieß knabberten.

Krabbenbeine – sehr bekömmlich!

Nach einer längeren Auswahlphase hatten wir uns schließlich auf ein Bänkchen in einem überfüllten Nudelrestaurant gequetscht und breiteten unsere Beute vor uns auf dem Tisch aus. Ich hatte mir eine Art Klößchensuppe gekauft und eine Schüssel voller gekochter zerstückelter Flusskrebse. Um diese Tiere zu essen, ist gerade die beste Zeit, denn sie werden zu tausenden aus dem Yangtse gefischt und überall sieht man vor den Essensständen noch lebendige Krabben in ihren Netzen um den hintersten Platz kämpfen. Weiterhin packten Jiao Jiao und Hui Su ein Eimerchen kleiner Muscheln aus sowie etwas, das so aussah wie in Beton schwimmende Spaghetti, pikant gebratene Schnecken und – wie sollte es auch anders sein – einen großen Teller Krakenteile. Wie schön, man hatte demnach nicht vergessen, mit welchem Genuss ich beim Hot Pot die ganzen Tintenfische heruntergewürgt hatte.

Die Klößchensuppe schmeckte, naja, wie Klößchensuppe eben, dafür mundeten die Betonspaghetti überraschend gut, wenn auch etwas fischig und schleimig. Weniger schleimig, sondern eher würzig fühlten sich interessanterweise die Schnecken auf der Zunge an und auch die Flusskrebse waren definitiv deliziös, allerdings musste  man für eine enttäuschend kleine Menge Fleisch übermäßig viel Aufknack- und Ausschleckarbeit leisten. Von den Tintenfischteilen fange ich lieber nicht an, ich kann nur sagen, dass man sie zu allem Überfluss noch furchtbar scharf gebraten hatte. Da es mir nach dem letzten saugnapfbesetzten Krakenarm doch ziemlich feurig zumute wurde, machten wir uns daran, etwas Trinkbares zu finden. Dies bot sich mir in Form einer Kokosnuss, in die man ein Loch gebohrt hatte, um daraus mit einem Strohhalm deren Inneres zu schlürfen. Jenes Innere ist meiner Meinung nach aber eher Geschmackssache. Obwohl Hui Su und Jiao Jiao meinten, es sei doch lecker süß, empfand ich das Ganze eher als weniger erquickend.

Während ich noch überlegte, ob wohl auch Kokosmilch sauer werden konnte, verließen wir die Hu Bu Xiang wieder und erreichten die Uferpromenade des Yangtses, der sich in seiner ganzen imposanten Breite vor uns ausstreckte. Ein paar Frachtschiffe bahnten sich träge ihren Weg durch die eher weniger appetitlich braungefärbten Fluten und direkt neben uns düsten Massen von Fahrzeugen die 1670 Meter lange Wuhan Changjiang Bridge entlang. Den armen gestressten Autofahrern wollten wir uns allerdings nicht anschließen – unser Weg führte uns stattdessen direkt mit der Fähre  über den Fluss.

Die Wuhan Changjiang Bridge – leider etwas verwackelt

Nachdem wir uns vor einer Horde Motorbikefahrern auf dem Oberdeck in Sicherheitgebracht hatten, setzte sich das Boot in Bewegung und tuckerte aufs offene Wasser hinaus. Von dort aus hatten wir eine wunderbare Aussicht auf die nächtliche Skyline der Stadt, die uns in tausend verschiedenen Neonlichtern entgegen blinkte. Ganze Hochhäuser schienen zu riesigen, grellbunten Werbebannern umgestaltet zu sein und ich machte mir ernsthaft Gedanken über deren Bewohner, die Nacht für Nacht eine unfreiwillige Diskobeleuchtung in ihren Zimmern aushalten müssen. Auch der geistige Zustand der Busfahrer bereitete mir unwillkürlich ein wenig Sorgen, als ich sah, dass die Busse teilweise schneller über die vielbefahrene Brücke bretterten, als die Metro, die die ganze untere Brückenhälfte für sich allein beanspruchte. Bei dem angenehm kühlen Wind um die Nase und der netten Aussicht verdrängte ich meine Sorgen allerdings schnell wieder und genoss die Fahrt, bis wir dann auf der anderen Seite anlegten.

Dort bummelten wir noch ein wenig über den großen Nachtmarkt, wo man alle nur erdenklichen Artikel ersteigern kann, die man zwar nicht braucht, aber trotzdem gerne hätte. Mein allzu zufrieden gefüllter Magen verhinderte allerdings heldenhaft, dass ich mich auf irgendeinen nervenzehrenden Handel einließ, sodass wir bald den Bus zurück nachhause nahmen. Hier bestätigte sich wieder einmal, wie leicht es doch ist, in China neue Leute kennen zu lernen. Da erwidert man versehentlich den Blickkontakt mit einem anderen Passagier und schon wird man mit der ersten, neugierigen Frage bedacht. „Hello, where are you from?“, wollte der nette, ältere Herr wissen, der hinter mir saß. Wenn man auf diese Frage, wie in meinem Fall „I’m from Germany.“ antwortet, wird man meistens zuerst darüber aufgeklärt, dass man dort wirklich gute Autos baut und die Deutschen viel besser Fußball spielen können als die Chinesen.

Als ich das jedoch hinter mich gebracht hatte, wurde es allmählich spannender. Es stellte sich nämlich heraus, dass der gute Mann ein pensionierter Architekt war, dem es furchtbar nahe ging, dass in China so viele traditionelle und ältere Gebäude zugunsten von modernen Wolkenkratzern dem Erdboden gleichgemacht werden. Und diese Wolkenkratzer werden, wie ich erfuhr, zu allem Überfluss häufig von Ausländern entworfen, was zur Folge hat, dass vielen chinesischen Architekten die Chance auf eine erfolgreiche Karriere verwehrt bleibt.

Hui Su hatte leider nicht so viel Glück mit ihrem Gesprächspartner. Zufälligerweise traf sie nämlich auf einen ehemaligen Studienkollegen, der ihr, nun ja, etwas zu Leibe rückte. Ach, die Welt ist so klein. Da er sie gleich aufopfernderweise zu ihrem Wohnheim begleiten wollte, stiegen Jiao Jiao und ich ein paar Haltestellen früher aus, um ihm diese Aufgabe abzunehmen. Dass das nicht gerade unsere beste Idee an diesem Abend war, stellten wir fest, als wir nach einem längeren Fußmarsch endlich am Schultor ankamen – das man bereits verriegelt hatte. Nicht schon wieder! Wie sollte es jetzt weitergehen?

Wie sich in nicht allzu ferner Zukunft zeigen sollte, wäre es für mich kein Problem gewesen, einfach über den drei Meter hohen Zaun zu steigen. Jiao Jiao und ihre Pumps hätten damit jedoch ihre Schwierigkeiten gehabt. Also blieb uns nichts anderes übrig als Hu Shifu mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu klingeln. Recht unwohl wurde mir zumute, als ich meine Mit-Ausgeschlossene auf Chinesisch sagen hörte: „Was, du hast keinen Schlüssel?“ Das durfte ja wohl nicht wahr sein.

Auf eine Lösung für unser Problem mussten wir nicht lange warten, sonderlich begeistert war ich davon aber nicht gerade. Hu Shifu wollte nämlich den Pförtner anrufen, der ebenfalls schon selig in seinem Wärterhäuschen träumte. Wenn das so weitergeht, ist bald die halbe Schule wegen uns auf den Beinen, dachte ich, doch zum Glück war der Pförtner auch tatsächlich im Besitz des Schlüssels für das Tor, über das er wachte. Mit reumütigen Minen schlüpften wir schließlich an den schadenfroh blitzenden Augen des Pförtners vorbei aufs Schulgelände. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich zwar viel zu spät, aber erfolgreich in mein Bett stieg. Ob es bei dieser Glückssträhne bleiben wird, wird sich in meinem nächsten Blogeintrag zeigen…

 

Der nächste Programmpunkt auf meiner Wuhan-Erkundungsliste endete dem Himmel sei Dank weniger strapazierend, denn das einzige, was dabei strapaziert wurde, waren meine Stimmbänder. An einem beschaulichen Samstagnachmittag stand mir nämlich mein erster, aber unerlässlicher KTV-Besuch bevor. KTV, also Karaoke singen stellt so ziemlich den Dauerbrenner an Freizeitaktivitäten dar, die man in China genießen (oder ertragen) kann. Da es Karaokegeschäfte hier gibt Baustaub auf den Straßen Wuhans, ist es im Grunde nur eine Frage der Zeit, bis man eines davon betreten darf. So hatte ich mich mit Chang E, Yang Xi und noch einer Freundin der beiden verabredet, ein kleines Privatkonzert zu veranstalten.

Chang E und ich wollten uns gemeinsam auf den Weg machen und die beiden anderen dann beim KTV treffen. Da Chang E ihre Kontaktlinsen in ihrem Zimmer verloren hatte, diese aber ohne die Hilfe derselben nicht finden konnte, verzögerte sich dieses Vorhaben ein wenig. Letztendlich kamen wir zwar mit Verspätung, dafür aber mit Kontaktlinsen am Aufzug an, der uns direkt in das Karaokegeschäft brachte. Dort geleitete uns ein Angestellter durch ein kleines Labyrinth an Gängen vorbei an unzähligen schweren, verschlossenen Türen, die nichts von dem dahinter stattfindenden Vorstellungen durchdringen ließen. Schließlich erreichten wir unsere eigene Karaoke-Kabine. Als die Tür zur Seite schwang, offenbarte sich mir ein geräumiges, spärlich beleuchtetes Zimmer mit einem großen Flachbildfernseher und einer sehr bequemen Couch. Auf dieser saßen bereits Yang Xi und ihrer Freundin und sangen inbrünstig eine chinesische Pop-Ballade in die beiden zur Verfügung stehenden Mikros. Zu meiner unvergleichlichen Freude befanden sich auf dem niedrigen Tisch eine Schale traumhaft überzuckerter Popcorn und – wer hätt’s gedacht – eine Packung getrockneter Tintenfischstreifen. Herrlich.

In unserem Privatkonzertsaal

Weil ich keine Ahnung hatte, wie und wann ich mir denn ein Lied aussuchte, lauschte ich erst einmal beeindruckt den Gesangskünsten der anderen, bis mir ein kleiner Bildschirm auffiel. Auf dem konnte man sich, wie mir Yang Xi zeigte, aus einer gigantischen Bibliothek mit den verschiedensten Liedern aus China, Korea, Amerika und dem Rest der Welt seinen Herzenswunsch auswählen und ihn in eine Warteschlange stellen. Bevor ich recht wusste, wie mir geschah, hatte die Deutschlehrerin schon ein paar englische Stücke für mich ausgewählt und mir das Mikro in die Hand gedrückt. „Das kennst du bestimmt!“. Zwischen Kennen und Können besteht aber ein feiner Unterschied, wollte ich noch anmerken, bevor ich dann bestürzt die ersten Takte erkannte. Adele. Die schon wieder. Dadurch, dass man die Gute beim Einkaufen ungefähr im Fünf-Minuten-Takt ihre Hits schmettern hört, stellte zumindest das Mitlesen des Textes auf dem Fernseher keine große Herausforderung dar. Zum Glück aller Beteiligten aber eilte mir vor dem Refrain Chang E mit dem anderen Mikro zu Hilfe, sodass ich meine Generalprobe im Karaoke singen einigermaßen unbeschädigt überstand.

Chang E übernimmt mal wieder die Kontrolle

Danach ging es fröhlich weiter mit den Backstreet-Boys und Whitney Houston, ich durfte zeigen, dass ich nicht annähernd so gut rappen kann wie Eminem und improvisierte irgendein Lied von Michael Jackson, das ich vorher noch nie gehört hatte. Recht schnell entstand ein regelrechter Kampf um die Mikros, aus dem ich mich allerdings dezent zurückhielt, sobald sich der Bildschirm mit chinesischen Zeichen füllte. Selbst wenn man nicht vorhat, sich während des Singens zu betrinken spielt es übrigens überhaupt keine Rolle, ob man die Töne trifft oder nicht, solange man immer nur schön laut und von Herzen ins Mikro jault. Autotuning sei Dank können die gröbsten musikalischen Ausrutscher meist sogar dezent vertuscht werden.

Den schaurig schönen Höhepunkt fand meine steile Karaoke-Karriere schließlich in Celine Dions „My Heart Will Go On“, bei dem Chang E und ich in ein herz- und hirnerweichendes Duett hinlegten. Nachdem wir die Titanic mit unserer Performance siegreich versenkt und alle Passagiere sich vor lauter Hingebung ertränkt hatten, war unsere Zeit leider bereits abgelaufen und wir mussten schweren Herzens, aber mit dem Versprechen, das Ganze bald zu wiederholen, unsere Runde auflösen.

 

Während KTV-Geschäfte in Wuhan einfacher zu finden sind als eine öffentliche Toilette, weihte mich Chang E am darauf folgenden Wochenende in ein wahres Wuhanner Kleinod ein – die Tan Hua Lin. Obwohl ich mir zuvor nicht wirklich vorstellen konnte, was sich hinter diesem Namen verbarg, stellte ich bei unserer Ankunft dort fest, dass man auch diesen Ort wohl für mich geschaffen haben musste. Im Grunde besteht die Tan Hua Lin aus nichts weiter als einer gepflasterten Straße, die von hübsch anzusehenden Häusern eingefasst ist und von Weitem nicht übermäßig beeindruckend wirkt. Doch diese Häuser haben es im wahrsten Sinne des Wortes in sich.

Eines der Häuser in der Tan Hua Lin

Als wir die Tan Hua Lin entlang flanierten, entdeckten wir Künstlerateliers, in denen beeindruckende Gemälde zur Schau gestellt wurden und man den Meistern bei der Arbeit zusehen konnte. In anderen Gebäuden hatten sich überwiegend junge Pärchen eine kleine Existenz aufgebaut, indem sie allerlei überflüssigen, aber begehrenswerten Firlefanz verkauften. Außerdem fanden wir ein Postamt, bei welchem man einen Brief an sich selbst schreiben konnte und dieser dort zwanzig Jahre lang aufbewahrt wurde. Der nächste Shop hatte sich allein dem Verkauf von Filmpostern verschrieben, was meiner doch immer noch recht kahlen Zimmerwand zugutekam. Noch eine Ladentür weiter standen lustige handgefertigte Tonfiguren zum Verkauf. Die waren mir zwar viel zu teuer, dafür aber durften wir den zutraulichen Nymphensittich des sechsjährigen Verkaufsassistenten auf die Hand nehmen. Insgesamt erinnerte mich das Flair des heimeligen Sträßchens ein bisschen an die Winkelgasse in Harry Potter, insbesondere da das Ganze einen Gegenpol zu den üblichen lauten und einheitlichen Häuserschluchten bildete.

Zwar muggelstämmig, aber ähnlich skurril wie die Bewohner der Winkelgasse muteten dabei auch einige Besucher der Tan Hua Lin an. Grelle Schminke und paradiesvogelartig bunte Kleidung schienen zu deren Grundausstattung zu gehören. Der Verhaltenscode dieser interessanten Menschen verlangte weiterhin, sich ständig vor einen geeigneten Hintergrund zu stellen oder einfach ohne jegliche Vorwarnung stehen zu bleiben und ein Selbstportrait mit dem Smartphone zu schießen. Dass man dabei immer denselben, leicht gleichgültigen Gesichtsausdruck wahrt, ist natürlich selbstverständlich. Ein paar junge Damen hatten dieses Spielchen gar nicht nötig, da sie von einem Schwarm knipswütiger Kunststudenten verfolgt wurden, die unentwegt ihre brandneuen Spiegelreflex-Kameras in alle Himmelsrichtungen reckten.

Im Erdgeschoss des Cafés

Trotz all der spannenden Dinge, die man hier beobachten konnte, hatte ich schließlich mein absolutes Lieblingsplätzchen in der Tan Hua Lin gefunden – und zwar in Form eines Kaffees, dessen Einrichtung so durcheinander gewürfelt war, das es schon wieder stilvoll wirkte. In dem kleinen Eingangshof stand ein altes Klavier umringt von einem Haufen Gartenpflanzen und an der Mauer darüber hing eine Gitarre, aus der ein paar Blümchen sprossen. Innen hatte man beschlossen, jegliches zur Verfügung stehendes Stückchen Wand (die Treppenabsätze eingeschlossen) in ein gigantisches schwarz-weißes Kunstwerk zu verwandeln. Zu allen Seiten stapelten sich Bücher, alte Karten und sonstiger Krimskrams und von der Decke baumelten fleischfressende Kannenpflanzen und vollbesetzte Goldfischgläser. Über eine enge Treppe gelangten wir in den zweiten Stock, der unter seinen Dachschrägen einen Haufen Sitzmöbel versammelte, von denen keines dem anderen glich. Die Gäste, die darauf saßen, kritzelten eifrig in den vom Café zur Verfügung gestellten Zeichenbüchern, schrieben an zukünftigen Bestsellern oder schminkten sich zumindest hektisch für das nächste Selbstportrait. Auf dem winzigen Balkon wiegte sich ein Pärchen in einer Hollywoodschaukel und zwischen den Sesseln stolzierten im Takt der Jazzmusik zwei Siamkatzen mit eisblauen Augen hin und her.

Ein blaues Wunder

Als wir uns auf einer der Sitzgruppen niedergelassen hatten, kam bereits die Kellnerin und stattete uns mit unseren Bestellungen aus: ein wahnsinnig überteuertes, aber aromatisches Kännchen Tee und ein Glas mit einer Flüssigkeit im gleichen Farbton wie die Augen der Siamkatzen. Dies entpuppte sich als hochprozentiger chinesischer Schnaps, den mich Chang E freundlicherweise alleine leeren ließ. Furchtbar lecker, dachte ich und wusste noch nicht, dass ich in ein paar Wochen über jenes Getränk dankbar gewesen wäre. Während ich mich vorsichtig von Schluck zu Schluck hangelte, verfielen wir ebenfalls den Zeichenfreuden.  Das Portrait, das Chang E von mir anfertigte, erwies sich übrigens als erstaunlich treffend – von Lippenstift und Lidschatten abgesehen. Einige gekonnte Bleistiftstriche und ein paar hochphilosophische Gespräche später waren alle Gläser ausgetrunken und ein sehr schöner und außergewöhnlicher Tag neigte sich dem Ende zu.

Gleich am nächsten Morgen ging es aktiv weiter mit einem weiteren Ausflug, diesmal aber in völlig neuer Besetzung. Grace, eine chinesische Studentin, die ich bei unserem spontanen Tanzkurs kennengelernt hatte, hatte mich zum Skating mit ein paar Freunden eingeladen. Ha, mit meinen Inlineskates bin ich ja in Deutschland schon genug herum gedüst, das wird ja nichts Neues, bildete ich mir frohen Mutes ein, als ich mich auf den Weg machte. Als wir uns im altbekannten Pavillon trafen, stellte sich mir einer ihrer beiden Begleiter mit dem Namen Egg vor. Wie jetzt, so wie Hühnerei? Ja genau, wurde ich aufgeklärt, war von der Antwort allerdings nicht sehr überrascht, da ich mich an solch kreative englische Namen bereits gewöhnt hatte. Und was ist schon ein Hühnerei gegen einen meiner Deutschschüler, der doch tatsächlich hartnäckig Adolf Blödmann genannt werden will!

Gemeinsam liefen wir zu dem Unicampus, der direkt gegenüber von unserem eigenen liegt und hielten irgendwann vor einem unscheinbaren Haus an, das von außen so überhaupt nicht nach Skating aussah. Als sich die Aufzugtür auf dem fünften Stock öffnete, dröhnte uns aber urplötzlich der Bass von chinesischer Tanzmusik unter den Füßen und wir betraten einen weitläufigen Raum, dessen Mitte eine Diskokugel zierte. Oh Gott, sind wir jetzt etwa in den Siebzigern angekommen? Moment mal, damals waren Inline-Skates ja noch gar nicht in Mode! Richtig, und aus diesem Grund schnallte ich mir ein paar Minuten später ein paar fesche Rollschuhe unter die wackeligen Beine. Auf das motivierende Zunicken der anderen hin stieß ich mich zu Beginn probeweise von der Wand ab – und legte prompt eine astreine Drehung hin, bei der sogar der vorbeirasende Profi anerkennend zurückschaute. Das hatte ich natürlich so geplant!

Na dann konnte es ja losgehen. Nach einigen Runden im flimmernden Diskolicht fingen die Siebziger langsam an, richtig Spaß zu machen. Trotz dass ich hin und wieder gefährlich nahe an einem Pfeiler vorbeizischte, lernte ich doch schnell, wie man eine Drehung macht, wenn man es auch wirklich vorhat und wie man rückwärts durch den Saal flitzt. Zugegebenermaßen sah ich bei Letzterem wahrscheinlich weniger professionell aus, sondern eher wie eine Ente mit Hexenschuss, aber zu lachen hatte ich dabei definitiv. Zwar hatte ich die größten verfügbaren Rollschuhe ausgeliehen, doch leider schmerzten meine Füße irgendwann trotzdem recht höllisch, dass ich mich nicht beschwerte, als wir unsere kleine Exkursion beendeten.

German Hamburg Steak mit Spaghetti Bolognese und Spiegelei – typisch deutsch eben

Sehr bedächtig stakste ich anschließend zu meiner nächsten Verabredung. Heute wurde mir nämlich das Privileg zuteil, als erster Lehrer unseres Büros Lincs Freundin zu treffen (Chang E, mein kleiner Dämon, hatte mich natürlich zuvor angewiesen, unauffällig ein paar Beweisfotos zu schießen). Und zwar in einem sogenannten europäischen Restaurant. Unter einem europäischen Restaurant darf man sich das Gegenstück zu dem vorstellen, was man bei uns unter einem „Asiaten“ versteht. Da bekommt man Spaghetti, Pizza, Schnitzel, Hamburger und Köttbullar, wenn gewünscht in allen erdenklichen Kombinationen (selbstverständlich auch untereinander) und dazu noch einen Haufen Reis. Stilecht wird natürlich mit Messer und Gabel oder im Notfall mit dem Löffel gegessen und an einem Glas Wein genippt.

Spaghetti mit Tomaten-Ananas-Shrimp-Sauce

Als ich damit fertig war, durchaus amüsiert die Karte zu durchforsten, konnte ich mich endlich darauf konzentrieren, Lincs Freundin kennen zu lernen. Auch sie arbeitet als Englischlehrerin, allerdings an einer Schule in einem anderen Stadtteil, was für die beiden bedeutet, dass sie sich angesichts ihres Arbeitspensums nur am Wochenende sehen. Welch Ehre also für mich, dass sie sich die Zeit dafür nahmen, mit mir essen zu gehen! Jenes Essen bestand für mich übrigens aus einer Portion Spaghetti mit einer Art Tomaten-Ananas-Shrimp-Sauce, die weder europäisch noch chinesisch, aber trotzdem irgendwie ziemlich gut schmeckte.

Nach dem letzten Schlückchen Wein erhoben wir uns aus unseren komfortablen Sesseln und gingen zurück auf den Uni-Campus, den ich am selben Tag bereits besucht hatte. Dort hatten Linc und seine Freundin beide studiert und kannten sich bestens aus. Deshalb wussten sie auch, dass in einem weiteren nichtssagenden Gebäude sonntagabends immer kostenlos aktuelle Kinofilme ausgestrahlt werden. Da ich bisher noch nicht wirklich Zeit gehabt hatte, meiner Filmsucht gerecht zu werden, freute ich mich natürlich bereits seit Tagen auf dieses Event, auch wenn mich nur das meiner Meinung nach eher durchschnittlich unterhaltsame Spiderman-Reboot erwartete. Was soll’s – immerhin gab es Popcorn und die Gelegenheit, meine Englischkenntnisse zu trainieren. Dachte ich zumindest. Auch die beiden anderen waren davon ausgegangen, dass wir den Streifen in englischer Originalausgabe mit chinesischem Untertitel anschauen würden, da dies für Hollywood-Blockbuster normalerweise der Fall ist.

In Wahrheit artete der Film in einer ziemlich nachhaltigen Hardcore-Chinesisch-Lerneinheit aus, da er vollständig in Mandarin synchronisiert gezeigt wurde und keinerlei Untertitel besaß (was mir bei meinem Wortschatz auch herzlich wenig genützt hätte). Zum Glück hatte ich ihn bereits in Deutschland gesehen und da die Handlung nun wirklich nicht sonderlich schwer nachzuvollziehen ist, konnte ich mich jedes Mal freuen, wenn ich ein paar Worte verstand. Als schließlich die Lichter wieder angingen, musste ich allerdings feststellen, dass auch die chinesische Version nichts daran zu rütteln vermochte, dass Spidey ohne seine Fähigkeit, Spinnweben aus der Hand zu verschießen, einfach nicht so cool ist.

Letzten Endes bewiesen diese Erlebnisse für mich, dass es doch manchmal hinter den langweiligsten Straßenbiegungen und nichtssagenden Fassaden immer noch Neues und Interessantes zu entdecken gibt und auch Dinge, die man bereits glaubt zu kennen, beim zweiten Mal ganz anders und nicht unbedingt schlechter sein müssen. Für die heiß ersehnte Woche Ferien am Nationalfeiertag würden sich diese Gebote ein ums andere Mal bestätigen…

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