Alltagsabenteuer

Beim heutigen Blogeintrag habe ich ein kleines Experiment gewagt. Einerseits erzähle ich in zwei beispielhaften Tagen, was ich unter der Woche so erlebe, andererseits könnt ihr hier sehen, was sich in der Zwischenzeit schon verändert hat. Viel Spaß beim Lesen!

 

Am Anfang

Der Handywecker klingelt erbarmungslos. Was, schon acht Uhr? Das darf doch nicht wahr sein, denke ich, während ich im Halbschlaf zur Quelle des unerwünschten Morgenkonzerts greife, um sie abzustellen. Acht Uhr ist eigentlich eine akzeptable Uhrzeit, um unter der Woche aufzustehen, sollte man meinen. Wenn man allerdings aufgrund einer Überdosis Grüntee und einem epischen Kampf mit einer Armee stechwütiger Schnaken erst gegen halb vier morgens das Reich der Träume betreten konnte, wird um acht Uhr aufstehen zu einer Herausforderung der eher unangenehmen Art. Memo an mich selbst: Du hast ein Fliegengitter – also sei nicht leichtsinnig und benutze es auch!

Schlaftrunken richte ich mich auf und setze einen Fuß auf den Boden. Nicht nass. Das ist gut, denn es bedeutet, dass ich bei meinem gestrigen Versuch, die Waschmaschine zu betätigen, immerhin nicht das ganze Zimmer unter Wasser gesetzt habe. Ganz anders hat es da bei meiner ersten Kontaktaufnahme mit ebenjenem Ding ausgesehen. Unvorsichtigerweise bin ich dabei davon ausgegangen, dass die Dichtung zwischen dem Wasserhahn und dem Waschmaschinenschlauch auch das tut, wofür sie ihre Daseinsberechtigung hat – Abdichten eben. Dass meine Annahme sich aber recht schnell als falsch erwiesen hat, kann die Kellerassel beweisen, die bis vor Kurzem bei mir in Untermiete lebte. Sie ist mittlerweile leider ertrunken.

Motiviert von diesem Erfolgserlebnis schaffe ich es daraufhin, mein Bett vollständig zu verlassen und auf den BBB hinauszutreten. Nass. Das ist schlecht. Was soll das denn jetzt? Zum ersten Mal an diesem Morgen öffne ich die Augen und sehe, dass ich mitten in einer kleinen Wasserlache stehe. Somit hat sich meine seit einigen Tagen gehegte Vermutung wohl doch bestätigt – auch Toiletten können von Zeit zu Zeit unter Inkontinenz leiden. Sonderlich große Sorgen erweckt jenes Problemchen allerdings nicht in mir, da ich immer noch dankbar dafür bin, dass ich ein (aus westlicher Sicht) richtiges Klo besitze und kein Loch im Boden mit an den Seiten angebrachten Rillen für mehr Standfestigkeit (wie immer noch üblich in China).

Unbeeindruckt gehe ich also zu der nächsten großen Herausforderung an diesem Morgen über: dem Duschen. Geduscht habe ich nämlich in den vergangenen Tagen grundsätzlich kalt. Auch heute zeigt der Regler klar und deutlich in Richtung des chinesischen Zeichens für „WARM“, aber selbst nach einigem Warten bleibt das kühle Nass, naja, ziemlich kühl. Davon jedoch belebt, kommt mir plötzlich eine revolutionäre Idee – warum nicht mal den Regler in Richtung des Zeichens für „KALT“ drehen? Und siehe da, das Wasser wird warm. So einfach ist das also. Memo an mich selbst: Probieren geht über Studieren – manchmal jedenfalls.

Das Wohnheim vom Dach der Kantine aus abgelichtet

Mit der Genugtuung über gleich zwei Erfolge an einem Morgen schlinge ich in Rekordgeschwindigkeit einen Apfel hinunter, der wegen meinem unzureichendem Zeitmanagement mein Frühstück darstellt und verlasse im Stechschritt mein Apartment. Da ich im ersten Stock des Lehrerwohnheims einquartiert wurde, muss ich zuerst den Außengang zu den Jungenschlafräumen entlang hasten. Hier wohnen die Schüler, die von weiter entfernten Städten angereist sind, um die Middle School zu besuchen. Und zwar zu acht in einem Raum voller Betten, deren Matratzen ungefähr die Dicke eines Taschentuchs besitzen. Das stärkt den Rücken. Während ich noch gedankenverloren darüber nachsinne, welch Frevel ich meinem eigenen Rücken doch bisher angetan habe, kollidiere ich beinahe mit der Gittertür, die den Weg zur Treppe versperrt. Was  ist nun schon wieder los? Aha, abgeschlossen. Mit einem nicht zu übersehenden Eisenschloss. Das ist nicht gut. Wenn die andere Tür ebenfalls verriegelt wurde, werde ich den Lehrern wohl immer als der Freiwillige in Erinnerung bleiben, der einen Tag lang nicht unterrichten konnte, weil er zu spät aufgestanden ist. Nein, so etwas darf nicht passieren. Mit einem recht flauen Gefühl in der Magengrube trete ich den Rückzug an. Sch****, die zweite Tür ist ebenfalls bereits vorsorglich verriegelt worden. Für einen kurzen Moment sehe ich mich schon an der Dachrinne herunterklettern, doch dann bemerke ich Tante Tao, Hu Shifus Gehilfin, die gerade mit einem Wischmopp bewaffnet den Waschraum der Jungs verlässt. Verdattert fuchtle ich mit meinem Zimmerschlüssel vor ihrer Nase herum, um ihr mein Problem irgendwie verständlich zu machen. Daraufhin stellt sie gemächlich ihren Besen in die Ecke, spuckt einmal lautstark aus, kramt ihren eigenen Schlüssel hervor und entlässt mich mitleidig lächelnd in die Freiheit.

Der Geographiepark

Nach dieser morgendlichen Nervenprobe erscheint die Welt draußen gleich viel angenehmer. Die Sonne scheint, die Grillen zirpen und sogar einer der riesigen, fantastisch gefärbten Schmetterlinge flattert über meinen Kopf hinweg. Ob die anderen Insekten hier wohl ebenfalls derart tropische Größen erreichen?, frage ich mich, während ich den Geographiepark der Schule passiere. Dort lassen sich, wenn man nicht gerade ins Büro rennen muss, große steinerne und detailliert geformte Reliefs von verschiedenen Ländern und ein paar hübsche Steinhaufen besichtigen.

Steinhaufen erwarten mich ebenfalls, als ich den Schulhof überquere. Der wurde nämlich kurz vor meiner Ankunft neu gepflastert, aber scheinbar war man mit dem Resultat nicht sehr zufrieden. An aus meiner Sicht ziemlich wahllosen Stellen haben Bauarbeiter nun begonnen, das Ganze wieder aufzureißen und durch neue Pflastersteine zu ersetzen, die sich von den alten für meine Begriffe in keinster Weise unterscheiden. „Des hätt’s in Deutschland so net gegeben!“, würde der pragmatische Schwabe jetzt vielleicht denken. Doch anstatt über das Geschehen zu urteilen, laufe ich lieber schleunigst weiter, denn die Pflastersteine unter mir sehen nicht nur aus wie weiße Badfließen, sondern reflektieren das einfallende Sonnenlicht auch genauso gut. Memo an mich selbst: Sonnenbrille kaufen, sonst erblinde ich im Lauf der nächsten Wochen.

Unser Lehrerzimmer mit Aussicht auf das Pult des Direktors

Der hintere Teil des Lehrerzimmers

Mein eigenes Plätzchen im Büro

Noch immer blinzelnd erreiche ich endlich das Bürogebäude und versuche, so unbemerkt wie möglich ins Lehrerzimmer zu huschen. Daraus wird leider nichts, da die Tür mit einem lauten Knallen hinter mir zu fällt. So, der Deutsche mal wieder am Krawall veranstalten. Breit grinsend rette ich mich auf meinen Stuhl und verschaffe mir vom sicheren Sitzplatz aus erst einmal einen Überblick. Yang Xi, eine der jungen Deutschlehrerinnen,mit der ich mir die Tischgruppe teile, hat ihren Kopf auf ein Kissen gebettet und erholt sich von der bereits vergangenen Lesestunde, die vor dem eigentlichen Unterrichtsbeginn stattfindet. Der Mathelehrer, der unsere Tischgruppe vervollständigt, ist gerade dabei, einem Schüler eine Aufgabe zu erklären. Wie heißt er nochmal? Irgendwas, das so viel wie „attraktiver junger Mann“ bedeutet. Ach ja, Shuai. Das ist fast so gut wie mein eigener Name. „Kai“ heißt, mit der richtigen Betonung versehen, nämlich „Erfolg“ – und bei den Hürden, die ich heute schon überwunden habe, scheint das ja gar nicht so weit hergeholt.

Weniger erfolgreich bin ich allerdings dabei, mich an den Namen der Dame zu erinnern, die hinter mir plötzlich mit voller Stimme ein chinesisches Lied anstimmt. Vorerst werde ich sie wohl provisorisch Miss Singsong nennen, denn das kann sie wirklich ausgesprochen gut. Ebenfalls hinter mir blicken die beiden mir bekannten Englischlehrer hochkonzentriert in ihre Laptops, vermutlich beide dabei, sich kostenlos einen Film zu beschaffen. Ein amerikanischer Präsident und die Mondprinzessin. Ah stimmt, Lincoln und Chang E heißen die beiden. Ich glaube, die sind ganz nett, vielleicht werde ich mit denen mal was unternehmen. Ansonsten sitzt da noch eine Lehrerin, die sich hingerissen eine Folge One Piece ansieht und ja, es gibt auch ein paar Leute, die tatsächlich brav arbeiten und gewissenhaft ihren Unterricht vorbereiten. Denn auf einem erhöhten Podest wacht der Abteilungsdirektor an seinem Schreibtisch unter einem roten Banner über seine zwanzig Schäfchen und achtet darauf, dass wir uns alle ins Zeug legen. Als der etwas ältere, recht schlank gebaute, aber eine Art stille Autorität verbreitende Mann merkt, dass ich ihn anstarre, zeichnen sich Lachfalten um seine Augen, woraufhin ich mich schleunigst daran mache, mein Notebook auszupacken, um beschäftigt zu wirken.

So, was jetzt? Erst mal versuchen, ins Internet zu kommen. Ah, so viele W-Lan-Verbindungen zur Auswahl. Welche nehmen wir denn heute? Die Schnellste natürlich. Geht nicht. Naja, man darf ja nicht gleich zu viel erwarten. Also weiter zur nächsten. „Bitte geben Sie den Registrierungsschlüssel ein.“ Was für einen Registrierungsschlüssel? Den hab ich da doch noch nie gebraucht! Egal, weiter zu Nummer drei. Keine Verbindung. Wie kann das sein? Gestern hat sie doch noch ohne Probleme funktioniert! – „Yang Xi, das Internet geht nicht!“

Verwirrt blinzelnd richtet sich die Deutschlehrerin auf. Ach, unser Nesthäkchen rafft‘s mal wieder nicht, scheint ihr amüsierter Blick zu sagen, mit dem sie mir schließlich den W-Lan-Code verrät. Endlich. Schauen wir doch gleich in Skype vorbei. Niemand da. Welch Überraschung – in Deutschland ist es ja auch gerade drei Uhr nachts. Probieren wir es mit Facebook. Richtig, das geht in China gar nicht so einfach. Da muss der vpn-Tunnel helfen. Tut er aber nicht. Tja, versuchen wir es eben morgen wieder. Noch schnell die E-Mails gecheckt und dann an die Arbeit. Immerhin muss noch eine ganze Stunde Englisch vorbereitet werden. Englisch? Wollte der nicht zum Deutsch Unterrichten nach China? Gut mitgedacht. Aber wenn man auch beim Englischlernen deutsche Kultur vermitteln kann, warum dann nicht diese Chance nutzen? Auf die Weise erfahren sogar die Schüler über Deutschland, die nicht einmal der Landessprache mächtig sind. Naja, und nebenbei findet die Schule zurzeit keinen englischen beziehungsweise amerikanischen Englischlehrer, der die mündlichen Stunden übernimmt.

Welches Thema nehmen wir wohl heute dran? Hach, ich kann mich gar nicht konzentrieren. Ich hätte mehr frühstücken sollen! Oh, wie wär’s mit „Breakfast in Germany“? Geht klar. Und los geht’s. Das wird sicher eine hübsche Powerpoint-Präsentation mit dem all dem Essen und Trinken.

Gerade als ich das letzte Marmeladenglas auf der Folie zurechtgerückt habe, klingelt es bereits zur Pause und ich mache mich mit Lincoln auf den Weg zum Klassenzimmer. Himmel, wo geht es denn heute schon wieder hin? In den vierten Stock. Das werde ich spätestens nach der nächsten Deutschstunde garantiert vergessen haben. Was soll’s, Lincoln weiß ja, wo es langgeht. Wir treten ins Klassenzimmer ein. Umgehend bricht ein ausgelassener Applaus für den Laowai los. Was für eine nette Begrüßung. Beschwingt erklimme ich den Platz hinter dem Lehrerpult. So viele Gesichter. Werde ich mich je daran gewöhnen? „Good morning, students! Nice to see you.“, begrüße ich die Klasse und winke zaghaft in den Raum. „NICE TO SEE YOU, TOO, MR. KAI!!!“, kommt prompt die vierzigstimmige Antwort zurück, die meine Ohren zum Klingen bringt. Weil es den Schülern verständlicherweise etwas schwer fällt, das Wort „Zwettler“ auszusprechen, haben wir uns darauf geeinigt, mich einfach Mr. Kai zu nennen. Ich denke allerdings, mit dem Namen Mr. Erfolgreich kann ich mich ganz gut arrangieren.

Aber warum sehe ich meine Powerpoint noch nicht an der Wand? „Sorry, the Beamer doesn’t work today!“ Langsam glaube ich, dass sich sämtliche technische Geräte gegen mich verschworen haben. Das ist wohl die Strafe dafür, wenn man seinem dickköpfigen Computer gerne mal einen Tritt verpasst hat. Zu spät. Tja, dann lautet wohl die Devise für heute: Improvisieren geht über Studieren.

Meine Englischklasse

Als Resultat dieser Devise ist die Tafel am Ende der Stunde vollgeschmiert mit dutzenden deutschen Frühstücksleckereien und aus irgendeinem Grund haben sich zwischendrin ein Eichhörnchen und ein Long Mao eingeschlichen. Meine Finger sind dadurch weiß vom Kreidestaub und meine Hose sieht aus, als hätte ich beim Waschen zu viel Bleichmittel verwendet. Nebenbei haben die Schüler gelernt, dass man in Deutschland eben nicht eine Schale Ri Gan Mien (eine Wuhanner Nudelspezialität) nach dem Aufstehen verdrückt und dass auch nicht alle Deutschen (aber viele) einen Kaffee brauchen, um wach zu werden. Weiterhin sind sie nun mit dem Geheimtipp vertraut, dass man unbedingt einmal ein Toast-Sandwich mit Nutella auf der oberen und Erdnussbutter auf der unteren Hälfte verspeist haben sollte. Und um den pädagogischen Wert des Ganzen zu steigern, hat jeder mit seinem Partner einen reizenden Dialog über die eigenen Frühstücksgewohnheiten führen dürfen.

Von dem vielen Gelaber über Essen bin ich mittlerweile selbst ganz hungrig geworden, aber zum Glück ist die Kantine nicht weit entfernt und mittlerweile bin ich dort sogar mit einer Dauerkarte ausgestattet. „You really wanna eat in the cantine?“, fragt Linc ungläubig, als ich ebendiese Karte hervorkrame. Was haben nur alle Lehrer gegen die Kantine? Eigentlich ist die doch gar nicht schlecht. Die Auswahl ist groß und bisher hat das Essen noch nicht einmal für Verdauungsprobleme gesorgt. Und letztendlich essen dort auch die meisten anderen Lehrer täglich – Linc eingeschlossen. Kurze Zeit später stehe ich vor der Theke und versuche, der Bedienung klarzumachen, dass ich nicht den kleingehackten Chinakohl, sondern lieber die gekochten Kürbisse hätte. Dazu noch ein bisschen Brathähnchen, etwas Schnittknoblauch (den ich dank meiner Chinesischlehrerin schon in Deutschland genießen durfte) und das Ganze bitte auf einem Haufen Reis zum Mitnehmen. Das klappt übrigens auch super, ohne ein Wort Chinesisch zu sprechen. Ein Glück.

Nachtisch kann man keinen kaufen, darauf steht man hier nicht besonders. Aber das stört mich nicht sonderlich, denn zurück im Büro finde ich eine Ansammlung kleiner Leckereien auf meinem Pult, welche die Bürobelegschaft fast täglich verteilt. Was haben wir wohl heute für eine Ausbeute? Lotusblütenkerne – sehr bekömmlich. Schokokugeln, die die frisch Verheirateten üblicherweise an ihre Freunde verschenken. Oh, und was ist denn das? Alpenliebe Bonbons. Werden die auch nach Deutschland exportiert? Nein, lasse ich mir sagen, die gibt’s nur in China. Schade eigentlich, denn die Sahnebomben mit Aloe-Vera-Extrakt schmecken ziemlich lecker.

Während ich glücklich meine für umgerechnet siebzig Cent äußerst sättigende Essensration in mich hinein schaufle, merke ich plötzlich, dass sich irgendetwas im Lehrerzimmer verändert hat. Das Wasser im Teekocher brodelt, Linc hält ein Mittagsschläfchen auf seiner Klappliege, Miss Singsong trällert herzerweichend vor sich hin – eigentlich alles wie immer, soweit ich das nach vier Tagen beurteilen kann. Aber was ist denn das? Da redet doch jemand französisch! Und tatsächlich, etwas weiter entfernt sitzt eine silberhaarige Dame mit sehr europäisch heroischer Nase und hält Yang Hui, einer der Französischlehrerinnen, einen Vortrag. Mit einem freundlichen „Ah, bonjour!“, werde ich alsbald begrüßt und muss in diesem Moment feststellen, dass ich es nicht mit einer Französin, sondern einem Franzosen zu tun habe. Wie peinlich, das hätte ich auch gleich merken können. An ihrem verhaltenen Lächeln meine ich zu erkennen, dass Yang Hui das gleiche Problem wie ich hatte. Wie auch immer, wir kommen recht schnell ins Gespräch, vor allem, weil es dem Monsieur sehr viel Spaß zu machen scheint, meine grammatischen Missbildungen zu verbessern. Am Ende weiß ich jedenfalls, dass alle Deutschen Französisch lernen, weil sie unbedingt nach Frankreich wollen, um dort zu leben wie „Dieu en France“, also Gott in Frankreich. Richtig, und eigentlich bin ich auch nur in China gelandet, weil ich am Flughafen falsche Gate genommen habe. Trotzdem, ich mag den guten Mann sehr gerne – vielleicht gerade wegen dieser amüsanten, sicher nicht ganz ernst gemeinten Ansichten.

Den Rest des Nachmittags verbringe ich damit, den Unterricht für morgen vorzubereiten und einige Fragen von Schülern zu beantworten, die ständig im Lehrerzimmer ein und ausgehen. Gar nicht mal so stressig heute, denke ich zufrieden, bis dann auf einmal ein Stapel von vierzig Aufsatzheften auf meinem Schreibtisch abgeladen wird. Natürlich zwingt mich niemand, diese zu korrigieren, aber wenn ich damit Yang Xi entlasten kann, die sich auf ihren nahenden Deutschlandaufenthalt vorbereiten muss, mache ich das doch gerne. Außerdem kann es wirklich spannend sein, die Gedanken der Schüler zu lesen, insbesondere da das heutige Thema „Freundschaft“ lautet. Da heißt  es zum Beispiel im Heft einer Schülerin, die ihre Freundin aus Grundschulzeiten vermisst: „Freundschaften sind nicht weit entfernt, wir müssen sie nur suchen. Vielleicht sind sie nahe.“ So viel Weisheit von einem so jungen Mädchen. Ich bin beeindruckt. Und ein bisschen betrübt, denn die meisten meiner Freundschaften sind gerade eher nicht sehr nahe – vor allem aufgrund der Launen des Internets im Lehrerzimmer.

Nach einiger Zeit werde ich plötzlich recht unsanft aus meiner ziemlich sentimentalen Korrekturphase gerissen, denn draußen beginnt Adele, lautstark und blechern aus einem Lautsprecher zu jaulen. Gespannt renne ich zum Fenster, von dem aus ich auf die Basketball- Badminton- und Fußballfelder blicken kann. Gibt es etwa einen Festumzug? „Nein, das ist zur Entspannung.“, klärt mich Chang E auf. Sehr entspannend, finde auch ich und stecke mir die Stöpsel meines mp3-Players in die Ohren.

Als langsam die Dunkelheit über Wuhan hereinbricht, leert sich das Lehrerzimmer zusehends und auch ich mache mich mit Jiao Jiao auf den Weg zum Abendessen. Allerdings nicht in die Kantine, sondern am Haupttor vorbei auf die Straße hinaus. Unmittelbar nach Verlassen des Schultors drängen sich die ersten kleinen Restaurants und Straßenstände dicht aneinander. Im letzten Licht der untergehenden Sonne spazieren dutzende Essenssuchende die Fußgängerzone entlang und lassen sich von den verschiedenen, intensiven Düften verführen. Direkt in Griffweite am Eingang werden Nudeln, Reis, gefüllte Kräuterfladen, Dumplings, Tintenfischarme, Lammspieße und Gemüse gebraten und wenn man jedes interessant aussehende beziehungsweise lecker riechende Gericht probieren würde, müsste man wahrscheinlich nach Hause rollen. Rollen muss ich am Ende zwar nicht, aber als ich mich schließlich ins Bett fallen lasse, fühle ich mich so vollgefressen, dass ich das immer noch geöffnete Fliegengitter einfach ignoriere.

 

Ein paar Wochen später

Erschrocken fahre ich aus dem Schlaf hoch. Wie spät ist es? Halb acht. Gott sei Dank, ich habe nicht verschlafen. Hundemüde fühle ich mich trotzdem. Mittlerweile liegt das wenigstens nicht mehr an mörderischen Mückenschwärmen, denn dank Chang Es Wundermittel bleiben mir die zum Glück vom Leib. Das hilft nebenbei übrigens zu allem Überfluss auch noch gegen Flecken auf der Kleidung. Unglaublich, dieser kleine Zaubertrank. Den Grund, warum ich mich heute lieber einfach wieder auf die Seite gedreht hätte, werde ich vielleicht in einem anderen Blogeintrag verraten. Ich kann nur sagen, dass ich sehr froh war, als ich irgendwann in der vergangenen Nacht in mein Zimmer gestolpert bin. Wie auch immer, selige Träume hätte ich um die Uhrzeit sowieso nicht mehr, da die Sonne hell durch den BBB ins Zimmer strahlt. Memo an mich selbst: ich sollte mich bald mal nach einem Vorhang umsehen.

Da ich meinem Klo mittlerweile (eher unbewusst) Stubenreinheit beigebracht habe, bekomme ich heute nicht einmal nasse Füße, als ich auf den BBB trete, wodurch ich wertvolle Wischsekunden sparen kann. Die nutze ich nach einer wohlig warmen Dusche, um fürstlich eine Schüssel Müsli mit echter Milch aus Australien zu frühstücken. Frisch gestärkt und bereit für den Tag gehe ich schließlich hinaus auf den Außengang und stelle ein paar Meter weiter prompt fest, dass ich die Hälfte meiner Unterrichtsmaterialien im Zimmer vergessen habe. Wunderbar, so merke ich wenigstens, dass mein neuer ständiger Begleiter, die Plastikteeflasche, noch auf meinem Schreibtisch wartet. Jetzt aber los!

Eine Motte mit dem Yin Yang-Symbol auf den Flügeln -zwar nicht sonderlich bunt, aber besser als eine Skorpionswanze

Als ich durch das Jungenwohnheim düse, steckt Tante Tao schon misstrauisch den Kopf aus der Putzkammer. Mit einer ausladenden Handbewegung greife ich in meinen Geldbeutel und zücke triumphierend meinen eigenen, ganz persönlichen Schlüssel für die Gittertür. Beruhigt wendet sich Tante Tao wieder ihrem Tagewerk zu und lässt ihren flügge gewordenen Schützling von dannen ziehen. Draußen ist es angenehm mild, um genau zu sein zu mild. Ich habe mir nämlich sagen lassen, dass in Wuhan zu der Jahreszeit normalerweise noch unerträgliche Temperaturen herrschen. Mir soll’s recht sein, dass ich in den ersten Wochen nicht gleich einen Hitzeschlag erleide. Die vorbeisegelnden Riesenschmetterlinge schillern prächtig wie immer, allerdings wird meine Freude darüber ein wenig davon getrübt, dass sich meine anfängliche Vermutung bestätigt hat. Nicht nur die hübsch anzusehenden Krabbeltiere können hier exorbitante Längen erreichen, wie wir am Sonntag im Dao-Tempel gesehen haben. Dort begegneten wir nämlich einerseits Wespen, vor der selbst unsere europäischen Hornissen Respekt gehabt hätten und fanden darüber hinaus den Kadaver einer Art handtellergroßen Skorpionswanze, die mit recht beeindruckenden Klauen ausgestattet war.

Der Pausenhof

Auf dem Pausenhof angekommen, bietet sich mir das gewohnte Bild: Bauarbeiter meißeln geschäftig an den gleißend hellen Badfließen herum und heben dabei lustig anzusehende Muster aus. Bei ihrer Motivation müssten sie eigentlich längst die ganze Fläche erneuert haben, aber wer weiß, vielleicht haben sie ja aus Versehen den falschen Zement zum Befestigen verwendet. Während ich aufpassen muss, nicht in ein Loch frischen Betons zu treten, laufen ein paar Schüler an mir vorbei und winken mir freudig zu. Hab ich bei denen schon einmal Unterricht gegeben? Naja, egal, langsam hab ich mich daran gewöhnt, dass alle hier den Laowai zu kennen scheinen. Und außerdem ist es ja auch sehr nett, von jedem begrüßt zu werden. Dass manche mir dann aber gleich die Handykamera vor die exotische Nase halten, verwundert mich immer noch ein bisschen. Immerhin traut sich im Büro niemand, ein Foto von mir zu schießen. Dort hält nämlich gerade Herr Wang, der Abteilungsdirektor, eine seiner beschwingten Reden, die das Lehrerzimmer in eine sehr politische Stimmung versetzt. Ehrlich gesagt, habe ich wie immer keine Ahnung, worum es geht, aber angesichts der Tatsache, dass man nebenher problemlos seine Lieblingsserien im Internet schauen kann, wird es wohl nicht all zu wichtig sein – oder aber ich unterschätze mal wieder die Multitaskingfähigkeit anderer Menschen.

Ich nutze jedenfalls die Zeit, um mir endlich die letzten Zettel aus dem Einmachglas anzusehen, das mir Yang Xis Klasse beim Lehrertag hinterlassen hat. An diesem Feiertag ist es üblich, dass man den Lehrern Geschenke überreicht, um sie für die Arbeit zu ehren, die sie jeden Tag leisten. Weil sie so tatkräftig für die Bildung von Chinas Kindern sorgen, stapeln sich seit Kurzem Blumensträuße, hübsche Zimmerpflanzen, Süßigkeiten und Spruchbänder auf den Pulten meiner Kollegen. Ein bisschen Dankbarkeit halte ich bei dem Arbeitspensum, das die Lehrer an der Middle School haben, übrigens durchaus für angemessen. Insbesondere die Klassenlehrer tragen nämlich eine Verantwortung, die weit über das bloße Unterrichten hinaus geht – „Klassenmama“ oder „Klassenpapa“ zu sein, bedeutet hier viel mehr, als nur einen nett gemeinten Spitznamen zu besitzen. Auch wenn jene Bürde nicht auf meinen Schultern lastet, freue ich mich natürlich trotzdem sehr über die lieben Wünsche, die jeder Schüler mir geschrieben hat. „Alles Gute zum Lehrertag! Sie sind ein guter Lehrer!“ Hoffen wir mal, dass das auch so bleibt.

Nachdem die letzten Worte des Direktors nachdrücklich im Raum verhallt sind, wird es wieder etwas lebhafter im Lehrerzimmer. Man füllt seine Teeflasche auf, macht ein paar Dehnübungen oder versammelt sich um den Bildschirm, über den gerade eine Wiederholung der neusten Folge von „The Voice of China“ flimmert. Shuai, der eigentlich mit Vornamen Qing Xi heißt, sieht von seinen Geometrieaufgaben auf und begrüßt mich mit einem sehr liebenswerten „Good morning. How are you doing?“. Dazu sollte angemerkt werden, dass Qing Xi normalerweise überhaupt kein Englisch spricht, da man das im Matheunterricht ja eher selten braucht. Seit Kurzem aber haben einige Lehrer aus dem Büro angefangen, ihre Sprachkenntnisse etwas aufzupolieren, um besser mit mir reden zu können. Einerseits fühle ich mich dadurch sehr geehrt und halte das für äußerst entgegenkommend, denn ich unterhalte mich ja auch gerne mit ihnen. Andererseits wächst mein schlechtes Gewissen, weil meine Chinesischkenntnisse immer noch höchstens für eine angeregte Diskussion über verschiedene Gemüsesorten ausreichen.

Chang E, die logischerweise ziemlich gut Englisch spricht, hat jedenfalls gehört, dass da jemand versucht hat, mit mir in ihrer Lieblingssprache zu kommunizieren und flitzt leichtfüßig zu unserer Tischgruppe hinüber. Breit grinsend macht sie sich daran, Qing Xis aufrichtige Worte systematisch zu entwerten: „Ah, your English is so very beautiful much!“ „Don’t listen to her! She’s evil!“, verteidigt sich der Angegriffene tapfer. „Sssh, leave my little brother alone! Kai Di, just follow me and you will have good future“, wird umgehend verschwörerisch zurückgeschossen. Ja, richtig übersetzt – mittlerweile nennt man mich im Büro gerne Kai Di, also kleiner Bruder Kai, was ich ziemlich putzig finde. Qing Xi und Linc sind demnach meine chinesischen älteren Brüder und Yang Xi und Chang E meine älteren Schwestern. Bis ich allerdings eingeweiht wurde, wie man das richtig sagt, hat mich Chang E natürlich erst einmal dazu gebracht, Yang Xi als meine alte Tante, Qing Xi als meinen Opa und Linc als Vollidioten zu bezeichnen. Tja, dafür muss sie sich jetzt mit dem Spitznamen „Little Demon“ arrangieren.

Um die ganze Situation abzurunden, schaltet sich nun auch noch Yang Xi ein, und zwar in bestem Deutsch: „Kai, ich glaube Chang E möchte wieder einmal mit dir flirten!“ Für kurze Zeit runzelt Chang E perplex die Stirn, ein Gesichtsausdruck, den man hier in letzter Zeit öfter zu sehen bekommt, wenn jemand anfängt, plötzlich in einer unbekannten Sprache zu sprechen. Dann aber hebt sie drohend den Zeigefinger, um ihren Worten mehr Ernsthaftigkeit zu verleihen: „Are you telling gossip about me again? If you do, I will make you pay for it! Kai, what did she just say?“ Jetzt bin ich es, der perplex die Stirn runzelt, da ich mich wie so oft zwischen den Sprachfronten wiederfinde. Zum Glück hat Yang Hui, die Französischlehrerin, gerade Unterricht, sonst wäre das Ganze sicher noch komplizierter.

„Gossip“ (Gerede) ist übrigens eines der am häufigsten benutzten Wörter der Zimmerbelegschaft und bezeichnet gleichzeitig deren Lieblingsbeschäftigung. Ständig geraten aus unerfindlichen Gründen neue Gerüchte in Umlauf, wer gerade mit wem und wie lange schon und wie viele, äh, und so weiter. Aber man will ja schließlich immer auf dem neusten Stand bleiben, was die Entwicklungen in unserer kleinen Büro-Familie betrifft – und zu lachen gibt es dadurch ebenfalls recht viel. Da sag noch einer, die Chinesen wären ein ach so zurückhaltendes Völkchen! Meine persönliche Erfahrung zeigt eher, dass zumindest meine Bekanntschaften durchaus herzlich und im Notfall ziemlich direkt sein können.

Einstein

Zum Glück klingelt es bald zur nächsten Stunde, wodurch ich im letzten Moment einer direkten Konfrontation mit meinem kleinen Lieblingsdämon zu entgehe. Eilig packe ich meine Unterrichtsmaterialien zusammen und spurte Yin Hui, der Deutschlehrerin in der achten Klasse, aus dem Lehrerzimmer hinterher. Wenn etwas in der Zeit, in der ich nun schon hier bin, unverändert blieb, dann definitiv die Tatsache, dass ich immer noch keine Ahnung habe, wo ich gerade hingehe. Warum muss denn auch jeder Gang genau gleichaussehen mit Ausnahme der Portraits berühmter Personen an den Wänden? Oh, und woher kommt denn dieses furchtbare Bild von Albert Einstein? Das hab ich ja noch nie gesehen! Egal, darüber kann ich mir nach dem Unterricht weiter Gedanken machen. Jetzt muss ich mich erst mal darauf konzentrieren, vor den Schülern eine gute Figur abzugeben.

Deutschunterricht – man beachte vor allem die pädagogisch wertvollen Zeichnungen an der Tafel

„Guten Morgen allerseits!“, rufe ich in das allgemein erfreute Geschnatter über die Ankunft des Laowais und erhalte als Antwort ein gewohnt ohrenbetäubendes „GUTEN MORGEN, HERR KAI!!!“. Nachdem sich mein Trommelfell wieder einigermaßen entspannt hat, erkläre ich den Schülern, dass wir heute über das Wetter reden werden. Zum Einstieg wiederholen wir zuerst die verschiedenen Wetterlagen. Mittlerweile habe ich aufgehört, der dickköpfigen Technik zu vertrauen und schnappe mir ohne Umschweife eine Kreide, um ein bisschen drauf los zu kritzeln. Kaum habe ich die letzten Strahlen um einen Kreis gezeichnet, wird mir aus vierzig Mündern bestätigt, dass ich soeben eine SONNE (!!!) gemalt habe. Dazu gesellen sich in gleichbleibender Lautstärke ein paar WOLKEN, REGEN, NEBEL, GEWITTER und sogar einige SCHNEEFLOCKEN. Sehr schön, bei so viel Motivation können wir gleich eine etwas schwierigere Aufgabe als das Interpretieren meiner Schmierereien wagen. Das heißt, dass ich die Wetterfee spielen darf und die Schüler versuchen, den frei erfundenen Wetterbericht für einige große Städte abzulesen, demzufolge es morgen in Wuhan schneien würde. Die Wahrscheinlichkeit dafür hält sich zwar eher in Grenzen, aber meine Schützlinge meistern meine Stolperfallen problemlos, sodass sogar noch Zeit bleibt, um die eher außergewöhnlichen Ereignisse am Himmel zu erklären.  Letztenendes weiß ich schließlich, dass man auch in China daran glaubt, dass am Ende des Regenbogens ein Schatz versteckt ist, man allerdings besser niemand als „seinen Schatz“ bezeichnen sollte, weil das so viel bedeutet wie „Ich finde dich bescheuert!“.

Nachdem ich die allmorgendliche Fragerunde nach Stundenende hinter mich gebracht und meine E-Mail-Adresse zum wiederholten Male an die Tafel geschrieben habe, will ich eigentlich zum Lehrerzimmer aufbrechen. Daraus wird allerdings nichts, weil plötzlich zwei Mädchen aus der sechsten Klasse vor mir stehen und mich mit herzerweichend erwartungsvollen Leuchten in den Augen fragen, ob ich nicht in der nächsten Stunde zu ihnen in die Klasse kommen könnte. Das habe ich also davon, dass ich manchmal einfach vor irgendwelchen Räumen stehen bleibe, um zu sehen, was dort gerade Interessantes passiert. Aber warum nicht?, denke ich und laufe den strahlenden Schülerinnen über den Pausenhof hinterher und bin zum ersten Mal in dieser Woche ehrlich etwas überrascht, als ich das Klassenzimmer betrete.

Vor mir freut sitzt die größte Klasse, die ich je gesehen habe. Über sechzig Kinder scheinen sich mächtig darüber zu freuen, dass ich mir Zeit für sie genommen habe und es herrscht beinahe Festival-Stimmung im Saal, vor allem was die Beschallung betrifft. Einige Lehrer unterrichten hier tatsächlich durch ein Mikrofon, aber da ich kein solches besitze, hoffe ich, dass ich meinen Stimmbändern später einen guten Tee gönnen kann und stelle mich kurz brüllenderweise in feinstem Chinglisch vor. Danach beginnt, wie üblich, eine ausführliche Fragerunde über meine Lieblingsfarben, Lieblingstiere, mein liebstes Essen in Wuhan, meine Hobbies, meine Freunde in Deutschland, und natürlich auch darüber, ob ich eine Freundin habe oder vielleicht sogar schon verheiratet bin. Bevor es aber dann zu sehr ins Detail geht, bricht die Lehrerin das Kreuzverhör ab und ruft stattdessen: „Who wants to take some pictures with Mr. Kai?“ Lieber Himmel, das kann ja lustig werden.

Für die nächsten zwanzig Minuten fühle ich mich wie ein Hollywood-Star bei der Autogrammstunde. Ich kritzle meine Unterschrift auf Blöcke, lasse mich vom Blitzlicht blenden und bin umgeben von dutzenden fröhlich grinsenden und Peacezeichen-zeigenden kleinen Fans. Am Ende hab ich gehörige Schmerzen in den Knien, weil ich ungefähr doppel so groß bin wie die meisten meiner Mitfotografierten, aber ach – die Kleinen sind einfach herzallerliebst.

Klassenfoto mit der nicht ganz vollständigen Riesenklasse

Den Rest der Englischstunde verbringe ich damit, den Schülern ihre ersten Deutschvokabeln beizubringen und stelle dabei fest, dass die Kinder sogar in der Lage sind, das zungenbrecherische Wort „Eichhörnchen“ perfekt auszusprechen und kein „Aisch-Ornschen“ daraus machen wie damals unsere Austauschpartner in Frankreich. Mit einem spontanen Klassenfoto werde ich schließlich entlassen und kehre – diesmal erfolgreich – zum Büro zurück. Dort treffe ich auf den französischen Französischlehrer Cedric, der gerade energisch mit Yang Hui über die Tatsache diskutiert, dass man sich in China selbst unter Freunden kein Küsschen zur Begrüßung gibt. Wenn überhaupt, reicht man sich hier die Hand, was aber nicht unbedingt heißt, dass man völlig auf Körperkontakt verzichtet. Sowohl Jungs als auch Mädchen sieht man häufig einträchtig Arm in Arm die Straßen entlanglaufen – und wenn der Freund mal nicht spurt, werden die Damen darüber hinaus gerne mal etwas handgreiflich. Als ich allerdings erkläre, dass wir uns in Deutschland vor lauter Wiedersehensfreude umarmen, ernte ich sowohl von Yang Hui als auch von Cedric einen geschockten Gesichtsausdruck.

Weil mein Magen ohnehin knurrt, klinke ich mich flugs aus dem Gespräch aus und entwische mit einer der Englischlehrerinnen und der Spanischlehrerin aus dem Büro. Aber halt, wo gehen die denn hin? Etwa zur Kantine? Oh nein, nicht schon wieder! Memo an mich selbst: ich sollte langsam anfangen, die Essensvokabeln zu verinnerlichen, damit ich endlich ohne Zufallstreffersystem in einem Restaurant bestellen kann. Denn das Essen in der Kantine ist zwar billig und meist wohlschmeckend, jedoch zu allen Tageszeiten und an jedem Tag der Woche gleich. Naja, wenigstens bin ich dort in netter Gesellschaft. Als wir uns mit unserem üblichen Haufen Reis garniert mit drei anderen Beilagen nach Wahl an einen freien Tisch gesetzt haben, gesellt sich auf einmal ein älterer Mann zu uns und beginnt fröhlich, mich auf Chinesisch zuzutexten. Zum Glück stehen mir meine kostenlosen Dolmetscher tatkräftig zur Seite, sodass ich schnell herausfinde, dass der nette Herr der Großvater eines Jungen an der Mittelschule ist und gerade bei diesem nach dem Rechten sieht. Dass die Verwandten von Schülern von Zeit zu Zeit hier vorbeischauen, stellt übrigens keine Ausnahmesituation dar. Sie helfen ihren Zöglingen beim Zimmerputz und beim Wäschemachen oder befreien sie vom eintönigen Kantineneinerlei. Wie sich weiterhin herausstellt, findet Opa neben meinen Reisegründen vor allem meine Nase äußerst interessant. Nachdem ich ihm schließlich versichert habe, dass sie mir im Winter für gewöhnlich nicht abfriert, zieht er beruhigt von dannen und wir machen uns auf den Weg zum Büro.

Ein Hipsterfrüchtchen

Der Nachtisch lässt nicht lange auf sich warten. Einerseits schiebt mir Yang Xi ein Etwas zu, dass ich zuerst für einen grünen Duschkopf halte. Aber natürlich handelt es sich dabei nicht um ein neues Accessoire für meinen BBB, sondern um den Stempel einer Lotusblüte, der recht gesund schmeckende Kerne enthält. Andererseits schwebt Miss Singsong flötend zu mir hinüber, die, wie ich mittlerweile herausgefunden habe, Xiao Yu heißt. Mit einer eleganten Handbewegung lässt sie zwei Schabutzkis auf meinen Tisch fallen, die ich sofort mit dem Namen Hipster-Früchtchen betitle. Die schwarzen, nussähnlichen Leckerlis besitzen nämlich astrein die Form eines prächtigen Moustaches. Das Aufbrechen der Hipster-Früchte artet meist in einem ziemlichen Kraftakt aus. Dazu lege man die Zeigefinger beider Hände um die hakenartigen Enden und drücke mit den Daumen gegen den Mittelteil der Nuss. Klingt gar nicht so schwer, denke ich und prompt schießt eine Hälfte meines Hipster-Früchtchens haarscharf an Yang Xis Ohr vorbei. Ups, da brauche ich wohl noch ein bisschen Übung.

Als ich auch das zweite Hipster-Früchtchen erfolgreich im halben Büro verteilt habe, merke ich, dass es draußen auf einmal ruhiger geworden ist. Kein ausgelassenes Quietschen, kein Aufprallen von Basketbällen auf dem Boden, kein Anfeuern der Fußballspieler. Ah, die Mittagsruhe hat begonnen. Zu dieser Tageszeit sollen alle Schüler für eine Stunde ein kleines Nickerchen halten. Allerdings nicht im Wohnheim, sondern in ihren Klassenzimmern und zwar mit dem Kopf auf einem Kissen beziehungsweise auf dem Schreibtisch. Das klingt vielleicht anfangs etwas seltsam, ergibt aber durchaus Sinn. Gingen die Kinder in ihre Schlafsäle zurück, würden sie in der Zeit natürlich alles Mögliche machen, nur nicht schlafen. Bei einem Schultag, der bis acht Uhr abends dauert, sollte man sich jedoch zwischendurch wirklich eine Pause gönnen.

Und die Lehrer können die Gelegenheit nutzen, um die freien Basketballfelder zu besiedeln. „Are you coming with us?“, fragt mich Qing Xi, der bereits sein Lakers-Shirt übergeworfen hat. Na klar, immerhin stellt Basketball spielen können hier eine Art Grundfähigkeit dar. Der größte Teil der durchgehend männlichen Schüler liebt es, in den Pausen ein paar Körbe zu werfen und was man dabei zu sehen bekommt, ist nicht selten nahezu spektakulär. Kein Wunder also, dass sich bei diesem Training die Zahl der allzu wohlgenährten jugendlichen Chinesen eher in Grenzen hält. „You can be the new center positon oft the teachers Team“, erklärt Linc, als ich in Sportmontur das am Feld ankomme. Soso, center position. Vielleicht sollten die sich lieber zuerst von meinen Fähigkeiten überzeugen, bevor sie mich in ihre Mannschaft aufnehmen. Ich glaube, man hat die Rechnung ohne die Tatsache gemacht, dass ich zum letzten Mal vor zwei Jahren Basketball gespielt habe und nicht über das geringste Fachvokabular verfüge. Egal, wie sich bewiesen hat, geht Probieren über Studieren. Beim Spielen schaffe ich es dann bald, den Ball zumindest in die Nähe eines Korbs zu befördern. Dummerweise liegt der auf einem anderen Feld und nicht unserem eigenen, wodurch es kein Geheimnis bleibt, dass mich meine Größe nicht unbedingt zu einem geborenen Dirk-Nowitzki-Nachfolger macht. Aber ich habe ja noch viel Zeit zum Üben.

Zur Belohnung für die zwei Körbe, die ich irgendwann doch auf dem richtigen Feld geworfen habe, gelingt es mir, der Kantine am Abend wieder einmal zu entrinnen. Linc nimmt mich nämlich auf dem Rücksitz seines Motorbikes mit zum Abendessen. Wie ich in den vergangenen Tagen festgestellt habe, sind die kleinen, mindesten ein dreiviertel PS starken Gefährte wirklich äußerst praktisch. Man kann sowohl am Straßenverkehr teilnehmen, als auch fröhlich hupend auf dem Gehweg entlangfahren, jegliche Verkehrsregeln missachten und an den unmöglichsten Stellen wenden. Nicht, dass die Autofahrer davor zurückschrecken würden, aber mit dem Motorbike fällt es doch um einiges leichter. Ganz nebenbei gewinnt man einen wunderbaren Überblick über die Umgebung, genießt den Fahrtwind und freut sich über die Fußgänger, die verwirrt dem vorbeidüsenden Laowai hinterher starren.

Bis heute darf ich behaupten, noch kein einziges Mal das Innere eines Wuhanner McDonald’s gesehen zu haben. Heute allerdings gehen wir ins YongHe, eine Art chinesische Variante unseres McDonald’s. Burger und Chicken McNuggets wird man dort jedoch nicht finden, dafür gibt es Frühlingsrollen, Dumplings, verschiedene Nudel- und Reisgerichte und die obligatorische heiße Sojamilch. Die leuchtenden Anzeigetafeln eignen sich dabei ideal für unfähige Ausländer wie mich, da jedes Gericht mit Bildchen und sogar einer englischen Beschriftung versehen ist. Herrlich.

So verbringen wir einen weiteren sehr amüsanten Abend, an dessen Ende ich um ein Haar beziehungsweise um ein paar Sekunden fast vor einem verschlossenen Schultor gestanden wäre. Zu schließenden Schultoren erzähle ich dann vielleicht beim nächsten Eintrag mehr. Letztlich kann ich nach diesem Tag festhalten, dass zwar inzwischen ein zumindest alltagsähnlicher Zustand eingekehrt ist, aber Wuhan und seine Bewohner weiterhin jeden Tag für eine neue Überraschung gut sind.

5 Gedanken zu „Alltagsabenteuer

  1. Kai 🙂
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    Ich wünsche dir noch eine wundervolle Zeit, und freu mich, mal wieder was von dir zu hören!

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