Gut reflektiert ist halb gewonnen

Wattebauschförmige Wolken spiegeln sich in der leicht gekräuselten Oberfläche des Werbellinsees. Nur spärlich kann die Morgensonne mit blassgelben Strahlen den Dunst durchdringen. Im Schutz der Nebelschwaden, die aus dem Wasser emporsteigen, paddeln einige Enten zufrieden quakend an dem Steg entlang, der auf den See hinausführt. Doch mit einem Mal ist Schluss mit romantischer Sommer-Idylle, denn plötzlich wird die Stille durchbrochen von freudigem Gebrüll. Panisch bringen sich die Enten unter einer Trauerweide in Sicherheit – und das keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment folgt ein lautes Platschen, wiederum begleitet von ausgelassenem Gequietsche. Als sich die Wellen wieder geglättet haben, wird schnell erkenntlich, wer hier für so viel Aufruhr sorgt. Ein paar Jugendliche haben es gewagt, in aller Herrgottsfrühe ins (wirklich noch ausgesprochen) kühle Nass zu springen. Und scheinbar denken sie gar nicht daran, wieder Ruhe einkehren zu lassen, denn wenig später hört man zwischen den hochmotivierten Schwimmzügen Fragen wie „Ach, wer bistn du eigentlich?“, „Kommsch du etwa auch ausm Schwabeländle?“, „Wohin geht die Reise?“, „Bist du Abiturient oder studierst du schon?“ und „Mit welcher Organisation bist du unterwegs?“. Jetzt besteht kein Zweifel mehr: die unerwarteten Badegäste müssen Kulturweit-Freiwillige sein, die vor dem nächsten Programmpunkt ihres Vorbereitungsseminars noch einmal die vielfältigen Freizeitangebote ihres Seminargeländes nutzen wollen.

Diesen Fragenkatalog hört man auf dem Seminargelände übrigens geschätzte zehntausend Mal am Tag in der einen oder anderen Ausführung. Das ist nicht allzu verwunderlich, wenn zweihundertfünfzig Freiwillige aus allen Winkeln Deutschlands aufeinandertreffen und das starke Bedürfnis haben, neue Bekanntschaften zu schließen und sich zu vernetzen. Vernetzen gestaltet sich allerdings auch nicht gerade schwer, da der durchschnittliche Kulturweitfreiwillige aus meiner Sicht Kontaktfreude, Offenheit, Interesse am anderen und eine gewisse „soziale Grundkompetenz“ mit sich bringt (Danke an Silke für diese auf der Zunge zergehende Formulierung). Scheinbar bin ich hier tatsächlich der Durchschnittsfreiwillige schlechthin – ich gehe nach China, bin noch ein unerfahrener, naiver Abiturient und stamme zu allem Überfluss aus Schwaben. Naja, oder zumindest sage ich letzteres immer, wenn ich danach gefragt werde, denn Hohenlohe kennt hier sowieso keiner und sobald man beim Sprechen eine Häufung von „sch“-Lauten aufweist, wird man eben als Schwabe eingestuft.

Neben Hohenlohisch, Schwäbisch und Bayrisch findet man hier noch ein buntes Gemisch aus Badisch (nein, das ist NICHT das Selbe wie Schwäbisch, habe ich mir sagen lassen), Hamburger Schnauze, Sächsisch, Saarländisch, Plattdeutsch und weitere amüsante Unterakzente. Massig Stoff für Smalltalk jedenfalls und eine gute Gelegenheit, sich vor dem Auslandsaufenthalt noch ein paar neue Deutschvokabeln anzueignen. Meine persönlichen Highlights sind Muggesäggele, was den letzten Rest Essen im Topf bezeichnet und das Hamburger Äquivalent für Dingsbums, das da „Schabutzki“ heißt. Darüber hinaus weiß ich jetzt, dass China nicht gleich China ist, sondern man in Deutschland je nach Herkunftsregion entweder nach Kina, China oder Schina gehen kann.

Manch aufmerksamem Leser wird sich nun sicher die Frage stellen, wo bei unserem Vorbereitungsseminar wohl die Vorbereitung bleibt. War das Ganze denn sonderlich nachhaltig? Haben die da überhaupt was gelernt? Ich versichere an dieser Stelle – gelernt habe ich wirklich genug. Beispielsweise bin ich mittlerweile endlich in der Lage, eine Bierflasche mit einer anderen Flasche zu öffnen (danke nochmal an Olli für die Geduld beim Zeigen) und ich musste wohl oder übel herausfinden, wie man ein Slagline-Band aufspannt, nachdem man es beim ersten Benutzungsversuch zerstört hat. Dank der Kantine ist mir außerdem bewusst, dass jedes gute vegetarische Gericht unter allen Umständen Tofu enthalten sollte und dass Mandarinen im Salat eine Art von Süß-Sauer ergibt, der ich in China hoffentlich nicht über den Weg laufen werde.

Spaß beiseite, sonst glaubt mir echt keiner mehr, dass ich mich nach den zehn Tagen tatsächlich viel besser vorbereitet fühle als zuvor. Das liegt vor allem an unserer Lieblingsbeschäftigung während des Seminars – dem Reflektieren. Reflektiert wurde hauptsächlich in den 21 sogenannten Homezones, auf die alle Teilnehmer per Zufallsverfahren aufgeteilt wurden. Zusammen reflektierten wir dort fleißig über unsere Rolle als Freiwillige, über unsere Perspektiven im Einsatzland, über unsere Erwartungen und Ziele, über Ängste und Unsicherheiten, über mögliche Projekte und sogar darüber, was in einem Blog zu stehen hat und was man sich besser sparen sollte (beispielsweise die Bezeichnung „gelbe Gefahr“ – naja, zu spät…).

Darüber hinaus fanden außerhalb der Homezone zahlreiche seminarinterne Seminare statt, besonders davon im kollektiven Gedächtnis geblieben das Nachhaltigkeitsseminar, seitdem das Wort Nachhaltigkeit im Wortschatz der Freiwilligen fast so beliebt scheint wie Reflektieren (das dürfte die gehäufte, mal mehr, mal weniger angebrachte Verwendung ersteren Ausdrucks in diesem Blogeintrag erklären). Wer weiß, nachdem schon die Vorbereitungswoche unter dem Stern der Nachhaltigkeit stand, starte ich vielleicht auch in meinem Einsatzland irgendein Nachhaltigkeits-Schabutzki, zumindest falls in Wuhan daran Interesse besteht.

Am letzten Abend erholten wir uns schließlich vom vielen angestrengten Reflektieren und übten uns stilvoll in deutscher Feierkultur, um letztendlich auch diese authentisch im Ausland zu repräsentieren. In der Disko des Seminargeländes wurden die letzten Homezone-Gruppenfotos geschossen, es wurde getanzt, gelacht, getrunken, auf die vor uns liegende Zeit angestoßen. Naja, und am Ende hatten ein paar leider nicht ausreichend reflektiert, wie viel sie wohl vertragen, sodass sich jene Freiwilligen nicht allzu freiwillig das Abendessen durch den Kopf gehen ließen.

Seit meiner Ankunft zurück im beschaulichen Rot am See geht mir allerdings vor allem eines durch den Kopf: die nahende Abreise. Habe ich alles Überlebensnotwendige in meinen Koffer gepackt? Habe ich alle wichtigen Dokumente in den Rucksack gesteckt? Habe ich alles getan was ich vor dem Flug tun wollte? Bei alledem fühle ich mich immer noch ein bisschen benommen vom vielen Verabschieden. In einer Woche habe ich so viele inspirierende und liebe Menschen getroffen wie nie zuvor in so wenigen Tagen, sodass es wirklich schmerzte, fürs Erste schon wieder auseinander zu gehen. Ich habe sehr viel gelernt und mich seelisch und moralisch auf den Aufenthalt in China vorbereitet. Es war eine schöne Zeit am Werbellinsee – aber die aufregendste Zeit liegt nun direkt vor mir. Die Spannung steigt.

Genug reflektiert – jetzt kann es losgehen!

Ein Gedanke zu „Gut reflektiert ist halb gewonnen

  1. Pingback: Nachträgliche Einleitung | 6 Monate Qingdao

Kommentare sind geschlossen.