Chaos

Was war eines der ersten Dinge, die ich über Sucre gelesen hatte bevor ich hier herkam? Straßenschlachten, Studentenunruhen, Kämpfe mit der Polizei, Anarchie, und sonst noch andere tolle Dinge. Wow, dachte ich, da is’ ja richtig was los!

Davon spürte ich, von den täglichen kleinen Demos und Umzügen für alles Mögliche mal abgesehen, aber bis vor kurzem nicht viel, jedenfalls in keinster Weiße in dem Stil wie darüber berichtet worden war. Eigentlich ist Sucre ein ruhige, gemütliche, entspannte, einladende und sehr schöne Stadt. Eigentlich. Ab und an geht’s hier nämlich doch rund. Zum Beispiel im Jahr 1809, als hier eine der ersten Revolutionen Lateinamerikas gestartet wurde. Oder im Jahr 2007, als der ewig verankerte Streit um Autonomie und die Bedeutung Sucres, der nominellen Hauptstadt Boliviens eskalierten und im Rahmen der Unruhen die Polizei die Stadt verließ und 3 Studenten in den Straßenschlachten zu Tode kamen.

Davon merkt man trotzdem eigentlich nicht besonders viel, außer einigen Denkmälern, die daran erinnern.

Jetzt hat es hier aber doch mal gekracht und zwar ganz schön heftig. Um zu verstehen warum muss man ein bisschen weiter ausholen:

Anfang April gab es in ganz Bolivien Kommunalwahlen (ihr erinnert euch, La Paz ohne Autos und so…). In Sucre hat diese ein gewisser Jaime Barrón gewonnen, der früher Rektor der Universität Sucres war, was so ziemlich eines der wichtigsten Ämter der Stadt ist. Er kandidierte für die Partei PAIS (= Pacto de Integración Sociál), die in Opposition zur MAS steht. (MAS = Movimiento al Socialismo; Regierungspartei Boliviens, vom Präsident Evo Morales gegründet; ebenfalls Regierungspartei der Provinz Chuquisaca, dessen Hauptstadt Sucre ist). In diesen Kommunalwahlen verlor die MAS in vielen Städten die Macht, jedoch nur auf Kommunalebene, nicht aber auf Provinz- oder Landesebene, wo die absolute Mehrheit stellen und es keine wirkliche Opposition gibt. So viel zu den politischen Machtverhältnissen.

Zurück zum Thema: Nach den Ausschreitungen von 2007 kamen etwas später, ich glaube im Jahr 2008 eine große Zahl von Bauern zum Demonstrieren nach Sucre, die dann teilweise von einigen Studenten an Kathedrale gezerrt wurden, wo sie sich vor Gott für den Ärger entschuldigen sollten, den die bereitet hatten oder so ähnlich. Jedenfalls wurde das später als rassistische Indioschändigung bezeichnet und Jaime Barrón, der damalige Rektor der Universität als Verantwortlicher bezeichnet. Ob er wirklich etwas damit zutun hatte weiß man nicht, jedenfalls kann ich das nicht beurteilen. Was aber sicher ist, ist dass die Bevölkerung von all diesen Sachen schon vor den Kommunalwahlen wusste und trotzdem Jaime Barrón als Bürgermeister wählte.

Nun gibt es seit kurzem ein neues Gesetz, dass ein Bürgermeister keine Strafverfahren gegen sich am laufen haben darf, während er im Amt ist. Einen solchen Prozess gibt es aber gegen ihn, wegen der eben geschilderten Sache, die jedoch ebenso wenig bewiesen ist. Sich darauf beziehend, begannen etwa vor 2 Wochen sich Anhänger der MAS Partei vor dem Rathaus zu versammeln und für den Rücktritt Barróns protestierten. Dabei wurden schon Autoreifen verbrannt. Da Barrón jedoch als ehemaliger Unirektor bei vielen Studenten und Bürgern Sucre beliebt ist, gab es auch Gegenproteste.

So war letzten Freitag die Stimmung vor dem Rathaus schon sehr gereizt, als die vom Stadtrat die Suspendierung Barróns vom Amt als Bürgermeister Sucres verkündet wurde. Der Stadtrat besteht aus 11 Stadträten, 4 der MAS, 5 der Opposition und 2 neutralen Stadträten, die nun beide ebenfalls für die Suspendierung gestimmt hatten und für die Einsetzung von Verónica Berríos, einer MAS Stadträtin als neue Bürgermeisterin, was die Vermutung nahe legt, das die beiden neutralen Stadträte gekauft worden sind.

Daraufhin eskalierten die Proteste, woraufhin die Polizei, die vom Präfekten (~Ministerpräsident) (MAS) Chuquisacas gerufen wurde mit großflächigem Einsatz von Tränengas reagierte, was in einer etwa 8 stündigen Straßenschlacht zwischen Polizei und Studenten endete, mit 50 Verletzten und laut Polizeiangaben 15 Festnahmen. Das Tränengas wurde in solchen Masseneingesetzt, dass Zentrum geräumt werden musste und von etwas weiter weg nur eine große Rauchwolke zu sehen war.

Momentan ist wieder alles ruhig, aber die Stimmung bleibt gespannt, da vielerseits die neue Bürgermeistern ebensowenig akzeptiert ist. Bei weiteren Demonstrationen kam es jedoch zu keinen neuen Ausschreitungen, da der Präfekt die Polizei nicht mehr gegen die Demonstranten ausrücken lies. Außerdem hat der suspendierte Bürgermeister seine Suspendierung bis jetzt noch nicht akzeptiert.

Ich jedenfalls finde die ganze Sache ziemlich dubios. Immerhin wurde dieser Mann, was auch an den Vorwürfen liegt, von der Mehrheit der Bürger vor nur 3 Monaten zum Bürgermeister gewählt. Ein Problem ist auch, dass der Gerichtshof, der sich eigentlich mit dem Fall Barróns beschäftigen sollte so viel zu tun hat, dass wohl in absehbarer Zeit noch kein Finger in dieser Hinsicht gekrümmt werden wird. Dem obersten Gerichtshof wurden nämlich ebenfalls vor längerer Zeit von der Regierung seine Richter entlassen und somit wird dort momentan nur provisorisch gearbeitet.

Besonders demokratisch läuft es also nicht, man hat fast den Eindruck möchte die Regierung (MAS) auf diese Weiße den oppositionellen Bürgermeister der Hauptstadt zu ihren Gunsten loswerden, was daher auch die heftigen Gegenproteste der Studenten begründet und im Endeffekt Chaos für alle bedeutet. So gibt es beispielsweise eine Menge Schulen im Zentrum Sucres die ebenfalls vom Tränengaseinsatz (der etwa um 11 Uhr vormittags begann) betroffen waren und evakuiert werden mussten.

Die weitere Entwicklung bleibt noch abzusehen, es könnte aber wohl jederzeit wieder zu  Ausschreitungen kommen, das wird sich zeigen… momentan scheint jedoch wieder alles normal zu laufen, nur eben ohne Bürgermeister oder mit 2 Bürgermeistern oder wie wir es auch nennen wollen.

Wen das Ganze mehr interessiert, kann sich auf Seite der bolivianischen Zeitung “La Razón” mehr informieren:

http://www.la-razon.com/version.php?ArticleId=3737&EditionId=110&a=1 (+ Bilder)

http://www.la-razon.com/version.php?ArticleId=3756&EditionId=111&a=1

http://www.la-razon.com/version.php?ArticleId=3745&EditionId=111&a=1

http://www.la-razon.com/

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