Es sind die frühen Abendstunden, ein sommerlicher Freitag. Langsam kühlt sich der Tag ab. Ein gewöhnlicher Junifreitag eben. Okay, was heißt gewöhnlich? Was ist für mich noch gewöhnlich?
Schließlich war ich bis vor 2,5 Stunden noch „drüben“, ist das für mich gewöhnlich? „Drüben“, also hinter dem Fluss, wo eine andere Welt beginnt. Eine Welt, von dessen Existenz ich, wie die meisten anderen Menschen wahrscheinlich auch, nur flüchtig etwas wusste. Lediglich das mir so nahe Straßenschild an meinem Warschauer Kreisverkehr gab mir in einem Hauch zu verstehen, dass es östlich von Warschau und vor allem östlich von jenem Kreisverkehr eben diese andere Welt beginnt. Auf genau diesem Schild steht in der rechten oberen Hälfte „Terespol“. Gleichzeitig war das aber auch immer die Grenze im Kopf, die Mauer, die einem unterschwellig vermittelt hat, dass die „eigene Welt“ dort zu Ende sei. Woher ich das gewusst habe? Es muss gewesen sein, als ich als kleine, aber wissbegierige Nervensäge bei einem Warschau-Aufenthalt meine Mama fragte: „Mamo, a gdzie leży Terespol?“, also „Mama, wo liegt dieses Terespol eigentlich?“. Als Antwort kam bestimmt etwas a la „Oj, tam na wschodzie, przy granicy z Białorusią“, eben „Dort im Osten, an der Grenze zu Belarus“
Als ich vor mittlerweile vor mehr als einem Jahr den kulturweit-Vorschlag bekam, habe ich zwar keinen Moment gezweifelt, dass ich es annehmen werde. Ich bin abenteuerlustig, ich mag „den Osten“ sehr beziehungsweise war ich sehr interessiert daran, dort mal hinzureisen. Brest war im Hinterkopf irgendwie als Weißrussland (und Lukaschenko, was wäre der Gedanke an dieses Land ohne Lukaschenko?) kodiert, aber nicht, dass es direkt an der Grenze zu Polen liegt. Tief in mir drin war ich dennoch enttäuscht, denn Belarus ist eigentlich verdammt nah an Deutschland (Vergesset nicht: Dazwischen liegt nur ein Land.) und selbst Polen. Meine Vorstellung von meinem Auslandsaufenthalt war anders: Ich würde zum Flughafen Tegel fahren, mich verabschieden, durch die Passkontrolle stolzieren, meine Maschine besteigen, die mich in ein entferntes und exotisches Land bringen würde, von dem kaum jemand war gehört hat. Dann würde ich wortwörtlich abheben und den Flughafen Tegel mit seinen sechseckigen Gebäuden an mir vorbeiziehend verabschieden. Dass man in ein exotisches Land, von dem niemand was gehört hat, nicht unbedingt fliegen muss, sondern zwei Stunden mit dem Zug oder eine Nacht Busfahren ausreichen, daran habe ich nicht gedacht.
Die grünen Felder ziehen vorbei, Wälder, Felder, Häuser, Kühe, Bahnhöfe. Ist das, was ich hier gerade sehe, wirklich Polen? Wäre der Zug nicht so modern, hätte ich sogar gesagt, ich wäre noch in Belarus. War ich wirklich vor so wenigen Momenten noch in Belarus?
Trotz der ganzen Höhen und auch der Tiefs während des Jahres bereue ich es nicht, diesen Schritt gewagt zu haben, insbesondere nach Brest. Ja, von den Belarussen habe ich auch gelernt, selbst wenn es für sie eine Überlebensstrategie ist: Für alles gibt es eine Lösung. Einen Riesendank bekommen hier an dieser Stelle ebenfalls meine Familie, B., meine beste Freundin und selbstverständlich auch an meine tollen Belarus-Mitfreiwilligen. (Oder auch Mitleidenden? Nein, Spaß bei Seite, so schlimm ist das nicht hier.)
Was mich sehr zum Nachdenken anregt, ist die Grenze. Ich finde sie absurd. Und ja, sie stört mich irgendwie. Nicht wegen der Kontrollen (Die Zöllnerin im Brester Bahnhof letztens war einfach superlieb!), sondern einfach… weil sie (oder besser: die Politik) künstliche Grenzen zwischen Menschen schafft. Damit schließe ich auch die Visa ein, so ist es für die Belarussen hier ohne die „Karta Polaka“ einfach 60€ für ein Visum hinblättern müssen, ebenso wie Deutsche. Nur dass 60€ in Deutschland dann doch nicht bei einigen Menschen die Hälfte des Monatslohns sind.
Und eine wichtige Sache, die mir unglaublich am Herzen liegt und die ich auch gelernt habe: Ich bin privilegiert. Und man sollte sich dessen bewusst sein, dass es nicht jedem so geht auf dieser Welt, dass es Menschen gibt, die sich nicht frei entfalten oder einfach mal eben visafrei in 177 Länder der Welt reisen können.
Weiterhin zieht die grüne Landschaft vorbei. Im Hintergrund mal die Sonne ihr Wasserfarben-ähnliches Spektakel auf die blaue Leinwand.
Und dann denke ich und denke ich. Ich bin gerade in dem Land, dessen Staatsbürgerschaft ich besitze, aber mich immer wieder frage: Wie viel und was verbindet mich mit diesem Land? Ist es das Stück Papier, meine Familie oder vielleicht noch mehr? Was mich mit Deutschland verbindet, ist doch offensichtlich, es liegt auf der Hand. Bei Polen bin ich immer wieder selber überrascht. Ich spreche die Sprache eigentlich fast so gut wie Deutsch. Sagt man mir, ich fahre nach Polen löst das schon ein wohliges Gefühl in mir aus. Dennoch habe ich ein Problem zu sagen, ich sei polnisch. Ich finde, das Wort beschreibt mich nicht ganz. Es erweckt in mir den Eindruck, ein Teil meiner Persönlichkeit wird dabei ausgeschlossen. Aber was nun, wenn ich sage ich sei deutsch? Dann geschieht dasselbe, auch wenn ich, wenn ich auf einer Landkarte meine Heimat zeigen soll, immer Deutschland zeigen würde. Bei beiden Begrifflichkeiten stimmt vorne und hinten etwas nicht. Nichtsdestotrotz sind beide Teile meiner Identiät und machen diese groß aus. Ich bin auch sehr froh, diese „Erfahrung machen zu dürfen“. Deswegen ist Belarus und der Aufenthalt hier die Begegnung von nicht nur zwei, sondern eben drei Kulturen, obwohl ich dafür zuständig bin, „die deutsche Kultur im Ausland zu repräsentieren“ (Weiterführende Frage: Was ist schon deutsch und was eben nicht? Alles streitbar.). Aber ich denke Deutschland ist nicht einfach „deutsch“, sondern hat viele Gesichter, was eine tolle Sache ist. (Nein, ich möchte mich nicht selbst beweihräuchern)
Aus diesem Grund kommen mir viele Dinge bekannt vor in Belarus, aber es gibt auch Dinge, die ich an sich nicht kenne. Aber es ist definitiv, entgegen meiner anfänglichen Erwartungen, eine geniale Erfahrung, vor allem weil ich eben in Brest bin. Ein sehr interessanter Streifzug durch die eigene Identität ist es selbstverständlich auch, von einer klaren Persönlichkeitsentwicklung ganz zu schweigen. (Ich bin immer wieder schockiert, wie viele Dinge sich an mir verändert haben; ich wollte den ganzen Menschen im Ausland nie glauben, dass man sich so sehr verändert.)
Um nun zum anfänglichen Thema zurückzukehren, nämlich zur Mauer. Die Mauer nach Osten, die ich überqueren (Visum und Interesse sei Dank!) und gleichzeitig ein sehr vielfältiges Land kennenlernen konnte. Ja, wohlgemerkt, nur 200km entfernt.
Ebenso wurde mir vor zwei Wochen von einem Polen oder auch im Februar von einem polnischen Grenzbeamten folgende Fragen gestellt: „Ist es dort nicht gefährlich?“ oder „Haben Sie als Frau alleine nicht Angst im Osten?“ (Ausnahmsweise ist es nicht der Wilde Westen sondern der Wilde Osten). Nein, es ist weder so wild wie dargestellt noch gefährlich, auch nicht nachts. Dafür sorgt schon die Miliz an so gut wie jeder Ecke.

Danke, Jungs! (Eigentlich ist das eine Werbung für die Zeitschrift „Auf der Wache“ oder „Auf der Hut“, einer halbjährlich erscheinenden Zeitschrift des Innenministeriums, anscheinend bezogen auf die Miliz.)
Wie man sieht, mangelt es auch vielen Polen, selbst denen, die ganz nah dran sind, an relevanten Informationen. Und das obwohl es in Polen mehr Zugang zu dem Land gibt, nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass ein großer Teil mal polnisch war. In Polen kann man sogar an Orten mit belarussischer Minderheit (Hajnówka z.B., wo ich mit Lea und Mariana zum 9. Mai hingeflüchtet bin) Belarussisch als Fach im Abitur ablegen. Dementsprechend ist es selbsterklärend, warum niemanden in Deutschland dieses Land angeht.
Was mir aber auf jeden Fall klar geworden ist (außer der Tatsache, dass ich nicht Lehrerin werden möchte, obwohl mir der Kontakt mit den Schülern hier schon Spaß gemacht hat) ist, dass man sich zunächst eine eigene Meinung bilden soll, sofern dies möglich ist. So habe ich mein Herz an „Russland“ und an die „Kriminellen“ und „wilden Russen“ verloren. Brest ist zwar nur einen Steinwurf von Warschau entfernt, aber in Terespol werden daraus Lichtjahre.
