Seit über sechs Wochen bin ich nun schon in Eger. Sechs Wochen! Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht! Wenn ich noch weiter zurückdenke, habe ich vor knapp zwei Monaten aufgeregt meinen überdimensionierten Koffer für unser Vorbereitungsseminar am Werbellinsee gepackt. Vor zweieinhalb Monaten mich beim Abistreich endgültig von meiner alten Schule verabschiedet. Noch einmal einen Monat zuvor mein Abiturzeugnis in den Händen gehalten. Und schon viereinhalb Monate ist es her, dass ich den letzten Strich unter meine letzte Abiturprüfung gesetzt habe.
Nur manchmal wird man sich bewusst, wie schnell die Zeit eigentlich verrinnt. Und weil auch hier in Ungarn das Leben keineswegs langsamer und weniger aufregend ist als in Deutschland, ist nun schon mehr als ein ganzer Monat vergangen, ohne dass ich mein Versprechen, alle „Daheimgebliebenen“ regelmäßig über meinen Blog mit Neuigkeiten zu versorgen, eingelöst hätte. Zuerst soll es daher einmal nur um meine Eindrücke aus den ersten beiden Wochen gehen. Dann mal los!
Für alle, die diese Seite nur kurz beim Vormittagskaffee zwischen Tür und Angel lesen, hier die Kurzfassung meiner ersten zwei Wochen voller neuer Eindrücke, neuer Freundschaften und Erinnerungen: Ich habe nicht ganz freiwillig drei Stunden mehr als geplant mit dem Bahnfahren verbracht, bin völlig übermüdet in mein neues Zuhause gestolpert, war bei der besten Mentorin der Welt zu Hause eingeladen, habe typisch Ungarisch gegrillt, die wunderschöne Innenstadt von Eger kennengelernt, das nördlichste türkische Minarett Europas (wirklich!) über die mutmaßlich engste Minarett-Treppe Europas bestiegen, bin zum ersten Mal in einem Lada mitgefahren, habe eine ganze Palette ess- und trinkbare Spezialitäten gekostet, mehrere Wörter Ungarisch mehr oder weniger korrekt ausgesprochen, mit der „kulturweit“-Ungarn-Crew Budapest unsicher gemacht und natürlich vor allem – viele unfassbar tolle Menschen kennengelernt.
Aber von vorne: Eger, Ungarn, Bahnhof, 22 Uhr 34. Soeben habe ich mich noch im Zug mit einem gut englisch sprechenden ungarischen Nachwuchs-Basketballer unterhalten, kommt der Schienenbus nach überraschend kurzer Fahrt schon in Eger an. Gedanken: Wie bekomme ich diesen Riesen-Koffer, meine zwei Rucksäcke und mich selbst heil und in einem Stück aus der engen Zugtür? Werde ich meine Mentorin erkennen? Warum war ich so naiv und habe mir in Budapest nichts zu essen gekauft? All diese Fragen sollten sich innerhalb von Sekunden klären, denn meine Mentorin stand mit einem strahlenden Lächeln direkt vor der Zugtür, nahm mir sogar beim Aussteigen den Koffer ab, brachte mich mit dem Auto in meine neue Wohnung und zauberte als Highlight der Ankunft noch ein Abendessen – und: Kuchen! – aus ihrer Tasche. Besser konnte mein Aufenthalt nach dieser langen Zugfahrt nicht losgehen.
Am nächsten Morgen hatte mir meine Mentorin bereits das Wochenende gerettet, als sie mich zu sich nach Hause zum Grillen einlud! Während ich mir darunter einen Nachmittag vorgestellt hatte, bei dem ein paar Würstchen auf den Rost gelegt wurden, war ich umso erstaunter, als sie mir sagte, ich könne einfach in ihrem (durchaus geräumigen) Haus übernachten. So genoss ich gleich am ersten Tag eine unglaubliche Demonstration der vielbeschworenen ungarischen Gastfreundschaft, denn meine Mentorin kochte ein köstliches Paprikahuhn (paprikás csirke) für mich! Danach ging es ans Garten bestaunen, auf dem örtlichen Pflaumenfest Pflaumenspezialitäten probieren und mit ihren Kindern Tischkicker und Uno spielen. So erweiterte ich gleich meinen bis dahin noch nicht vorhandenen Ungarisch-Wortschatz um die Wörter zöld (grün) und piros (rot) – da ich die Wörter für die beiden anderen Farben sofort wieder vergaß, musste ich mich also beim Wünschen beschränken. Am Abend kamen schließlich einige Nachbarn vorbei und wir grillten Würste und Speck mit Stöcken über dem offenen Feuer – lecker! Nicht fehlen durfte mein erster Schluck pálinka, ein ziemlich stark brennender Schnaps, den man wohl als ungarisches Nationalgetränk bezeichnen dürfte. Die Nachbarn waren unglaublich nett und freuten sich über einen Gast aus Deutschland – dazu muss man anmerken, dass etwa die Hälfte von ihnen auch noch super Deutsch sprach. Ganz zu schweigen von meiner Mentorin und ihrem Mann, die sich fließend mit mir unterhalten konnten.
Nachdem ich am nächsten Vormittag glücklich eine kleine Erkundungstour mit dem Fahrrad durch das Dorf meiner Mentorin machen durfte, hieß es auch schon wieder: In Schale werfen und auf in die Schule. Denn die offizielle Eröffnung des Schuljahres stand an. Zugegebenermaßen fühlte ich mich mit weißem Hemd und Jeans gegenüber den Schülern, die fast ausnahmslos im Anzug erschienen, ziemlich underdressed – meine Mentorin wusste mich aber mit den richtigen Worten zu beruhigen, denn ich sei ja schließlich kein Schüler und müsse mich auch ein bisschen unterscheiden! Ich wurde zwischen Tür und Angel kurz dem Schulleiter vorgestellt, der mir versprach (denke ich zumindest, er spricht leider nur Ungarisch), mich als neuen Lehrer mit vorzustellen. Fünf Minuten später wurde ich aber erneut nach meinem Namen gefragt. Egal, wird schon.

Mein neuer Arbeitsplatz, ausnahmsweise einmal ohne Schüler
Kurz darauf begleitete mich meine Mentorin nach unten in die große Aula, die bis an den Rand mit Stühlen gefüllt war. Ich durfte mich auf die extra für die neuen Lehrer vorgesehenen Plätze setzen, die waren aber bisher noch leer. Zum Glück gesellten sich am Ende doch noch ein paar Kollegen zu mir dazu, die Aula füllte sich schnell. Es ging los, und zwar mit der ungarischen Nationalhymne. Als der erste Ton gespielt wurde, verstummte die Aula. Mit einem Schlag standen alle (mehr oder weniger synchron) auf, manche begannen zu singen, andere andächtig zu schweigen. Eine übliche Tradition zum Schuljahresanfang, wie ich erfuhr.
Dann kamen zwei Schülersprecher und schließlich der Schulleiter auf die Bühne. Nervosität machte sich breit bei mir: Wird er mich überhaupt aufrufen? Wann im Laufe seiner Rede? Werde ich meinen Namen überhaupt erkennen in einem undurchdringbaren Fluss unverständlicher Wörter dieser fremden Sprache? Es wurde ernst, die erste neue Lehrerin stand auf. Die sah ziemlich jung aus. Wurde ich etwa schon aufgerufen und habe meinen Einsatz verpasst? Ungefähr fünfmal hatte ich schon gedacht: das Wort hört sich aber so ähnlich wie mein Name an. Der nächste Name. Nur kurz aufstehen, versuchen zu lächeln, sich wieder setzen. Gut, das sollte ich hinkriegen. Nur der Einsatz wird schwer.
Es wurde dann doch nicht so schwer, denn der Schulleiter tat mit den Gefallen, alle neuen Lehrer in der Sitzreihenfolge aufzurufen. Geschafft! Anschließend gab es den etwas schöneren Teil der Veranstaltung, eine schön anzusehende Volkstanz-Vorführung der Schüler und ein Video des Kennlern-Sommercamps der Schule. Zum Abschluss wurde dann tatsächlich noch einmal die Nationalhymne gespielt, wieder standen alle auf – ich nenne es mal patriotische Stille.
Nachdem ich allen acht (!) Deutschlehrern der Schule vorgestellt wurde (ja, die Schule ist ziemlich groß), trat ich zum ersten Mal ohne großen Schlafentzug den Weg zu meiner neuen Wohnung an. Strategisch liegt sie relativ günstig, gerade einmal gute fünf Minuten zu Fuß von der Schule und – wie ich am nächsten Tag herausfinden konnte – auch nur 20 Minuten vom barocken Stadtzentrum entfernt. Hier sei im Voraus erwähnt, dass in Eger praktisch alles fußläufig ist und ich bisher überhaupt nur zweimal Bus gefahren bin. Eine Barockperle ist mein Wohnblock jedoch nicht, sondern eher ein Zeugnis der kommunistischen Bau“kunst“ des 20. Jahrhunderts. Entgegen meines ersten Eindrucks kann man jedoch sowohl die kleine Küche als auch die Waschmaschine tatsächlich benutzen – gewöhnungsbedürftig sind auch nach über einem Monat nur noch die unfassbar dünnen Wände, durch das man jedes Wort der Nachbarn (sofern man denn Ungarisch spräche) versteht.
Zurück zu meinen ersten Tagen. Offiziell war hier der 1. September der erste Schultag, jedoch nehmen die ganzen organisatorischen Sachen (wie das in der Schule eben so ist) hier gleich zwei Tage in Anspruch. So hatte ich an meinen ersten Tagen ein wenig Zeit, die Schule und das Lehrerzimmer näher zu erkunden sowie die Internetverbindung im Lehrerbüro zu nutzen (zu Hause wurde das Netz erst nach einer Woche freigeschaltet!). Durch einen sehr glücklichen Zufall war noch am selben Tag mein Vor-vor-Vorgänger hier, der gerade seine Ungarn-Ferienreise in Eger beendete und seiner ehemaligen kulturweit-Schule einen Besuch abstattete. Ein sehr glücklicher Zufall deswegen, weil er mir direkt die Stadt und sogar einige Orte zum Ausgehen zeigte. Darüber aber an späterer Stelle mehr!
An meinem ersten Mittwoch wurde es dann ernst: In der Schule ging der „echte“ Unterricht los. Nachdem ich die Herausforderung, das Nebengebäude im Gewerbegebiet zu finden, erfolgreich gemeistert hatte, durfte ich in einer Deutsch-Stunde der 9. Klasse hospitieren (die Grundschule dauert in Ungarn in der Regel acht Jahre – es handelte sich also um eine Anfängergruppe!). Als erstes lernten die Schüler gleich eine Kuriosität im Deutschen – das scharfe s. Aber auch entfernte Gemeinsamkeiten stellten die Schüler (und ich) mit Freude fest, denn auch in Ungarn verwendet man zum Beispiel Servus (geschrieben: „szervusz“) als Gruß. Nach der Stunde zu den Begrüßungen machten wir mit den Zahlen weiter, und meine Mentorin meinte plötzlich: „Ja, das kann doch dann Oliver mal machen!“ Ich war natürlich erst einmal ziemlich überrascht und die Einheit war auch nicht besonders spannend für die Schüler, denn ich konnte ja in Ermangelung von Ungarisch-Kenntnissen nichts zusätzlich erklären. Also habe ich einfach die Zahlen an die Tafel geschrieben, langsam vorgesprochen und die Schüler nachsprechen lassen. Ja, ziemlich langweilig ;)
Die erste Schulwoche war schnell vorbei und so ging es am Samstag mit dem Zug nach Budapest. Der Plan: Mit der gesamten „kulturweit“-Ungarn-Crew die Stadt unsicher machen. Nach dem Aussteigen aus dem Zug erlebte ich auch schon meinen ersten „Kulturschock“: Nach einer Woche im beschaulichen Eger (und davor zwei Wochen am Werbellinsee) musste ich mich nach dem Aussteigen aus dem Zug erst einmal wieder an die abgasgesättigte Stadtluft, den Lärm, die riesigen Straßen und die vielen gestressten Menschen um mich herum gewöhnen.
Sonst muss ich aber dem zustimmen, was mir viele Freunde und Bekannte schon gesagt hatten: Budapest ist wirklich eine wunderschöne Stadt und wurde nicht ganz zu unrecht das „Paris des Ostens“ getauft. Die Aussicht von der Fischerbastion, die wir über Umwege als erste Attraktion erklommen, war einfach phänomenal! Hier sagen Bilder mehr als 1000 Worte:
Im Gegensatz zu Eger ist in Budapest tatsächlich jeden Tag in irgendeiner Ecke der Stadt etwas geboten, so auch an diesem frühherbstlichen Samstag: Ein Lehrer unseres Mitfreiwilligen aus Tata hatte uns spontan alle dazu animiert, zu einem Hip-Hop-Festival mitzukommen. Eigentlich nicht hundertprozentig mein Geschmack, habe ich am Ende doch festgestellt, dass man auch zu deutschem (das haben wir natürlich erst nach Ende des Konzerts festgestellt, denn niemand von uns kannte die Band und sie haben auf Englisch gesungen) Untergrund-Hip-Hop sehr gut tanzen kann! Auch das Nachtleben, die schöne Innenstadt, die Donau mit ihren ästhetischen Brücken und das Parlament sind einen Besuch wert, auch wenn wir nicht nur in letzterem vor verschlossenen Türen standen (auch die deutschen Botschaft wollte uns leider nicht zu Besuch reinlassen). Mehr über Budapest aber in einem eigenen Beitrag!
Denn nicht nur in Budapest, sondern auch in meiner neuen Heimat Eger gibt es einiges zu sehen. Für den Moment schon einmal ein bisschen unnützen Wissen: In diesem Ort von knapp 60.000 Einwohnern gibt es sage und schreibe 33 Kirchen, darunter die (je nachdem, wen man fragt) zweit- oder drittgrößte Ungarns, eine Burg, die im 16. Jahrhundert Schauplatz einer ungarischen Nationallegende wurde, das nördlichste türkische Minarett Europas und einen Marktplatz, der in den letzten 20 Jahren zweimal saniert wurde. Umrahmt wird die Stadt von zwei Mittelgebirgen, nicht weit entfernt ist der höchste „Berg“ Ungarns (stolze 1014 m), das größte zusammenhängende Waldgebiet und der größte künstliche See des Landes. So viel erstmal zur Werbung ;)
Zu guter Letzt möchte ich natürlich noch einmal über meine Arbeit berichten. Nach meiner kurzen Eingewöhnungsphase, in der ich hauptsächlich hospitieren durfte, bin ich jetzt voll im Konversationstraining eingespannt. Insgesamt gibt es in der Schule drei Klassen, die sich auf das Deutsche Sprachdiplom (DSD) vorbereiten und mit denen ich meistens in Zweiergruppen Deutsch trainiere – von den Wochenendplänen über den Schulalltag bis hin zu Prüfungsthemen wie „Demographischer Wandel“ oder „Migration“ diskutieren wir alles. Außerdem unterstütze ich in ein paar Anfängerklassen die schon etwas fortgeschrittenen Schüler, damit sie nicht zum fünfzehnten Mal die Begrüßungen wiederholen müssen. Die Schüler und auch die meisten Lehrerkollegen sind super freundlich – es lässt sich also sehr gut leben mit meinem Job.
So, damit habe ich also schonmal sämtliche guten Vorsätze für meinen Blog (schön regelmäßig berichten, kurz und bündig und immer nur über ein Thema pro Beitrag) über Bord geworfen und hoffe zumindest, dass ich euch bald auch regelmäßig mit Updates versorgen kann.






