Ich sitze auf meinem Bett in der Pariser Wohnung, in der ich seit fast drei Wochen lebe, standesgemäß wie Gott in Frankreich. Es ist ganz ruhig im Moment, nur dumpf höre ich ein paar Nachbarn und Musik von irgendwoher. Licht fällt aus dem Innenhof durch das Fenster zu meiner Rechten. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen. Unser Schlafzimmer ist ein Durchgangszimmer. Ich führe hier ein zufriedenes Hippieleben. Meistens ist viel Leben und Musik und gutes Essen im Haus.
Eigentlich bin ich hier, weil ich mich verliebt habe. Hals über Kopf. Und zwar in den Franzosen, der hier wohnt, in der hübschen, stuckbesetzten Wohnung inmitten der lauten und charmant-schmuddeligen Welt von Barbès. Ich habe Jérémy im April kennen gelernt, als er mich und zwei Freundinnen für zwie Nächte bei sich aufnahm. Seinen Kontakt hatte ich von meinem Kumpel Romain, der mit mir in Chile gewohnt hatte. Im April hatte ich einen Freund und überhaupt nichts Derartiges im Sinn, wieso auch? Mein Leben war perfekt und ordentlich ausgerichtet. Ich war in Frankreich, um eine Reportage über Erasmus zu drehen, für den Studentensender, bei dem ich arbeitete. Meine Bachelorarbeit war gerade angemeldet und mein Ticket nach Bangkok zu meinem Freund gebucht. So würde ich genau pünktlich zum Juli fertig werden, um nach seinem Auslandssemester in Korea zu ihm zu fliegen und sechs Wochen lang Südostasien mit ihm zu bereisen. Es hätte alles kaum beser sein können. Und dann kamen wir in unserer zweiten Pariser Nacht nach Hause und ich las die kulturweit-Email, die mir die Möglichkeit eröffnete, nach Ghana zu gehen. Ich konnte es nicht fassen. Ich wollte schreien und lachen und weinen gleichzeitig. Ich brachte immer nur wieder ein ersticktes „Oh Gott, ich geh nach Ghana! Oh Gott, oh Gott!“ hervor. Dabei habe ich mit Gott so gut wie nichts am Hut. Mein Glück war perfekt und tadellos. Da musste es ja einen klitzekleinen Haken geben.
Der Haken bestand darin, dass ich Jérémy nach dieser berauschenden Pariser Zeit mit Astrid und Caro nicht vergessen konnte. ‚Haken‘ ist vielleicht ein unglücklich gewähltes Wort. Eigentlich bin ich unendlich dankbar dafür, ihn kennen gelernt zu haben. Obwohl er nicht meine Muttersprache spricht, habe ich das Gefühl, dass er mich manchmal am allerbesten versteht. Vielleicht bin ich auch einfach zu Disney- und Hollywood- beeinflusst. Jedenfalls – nach vielen Wochen des Kopfzerbrechens, einer herzzerbrechenden Entscheidung und resistenten Schuldgefühlen cancelte ich also den Flug nach Thailand und fand mich kurz darauf im Bus nach Paris. Bisher habe ich eine unglaublich schöne Zeit hier verlebt. Ab und zu huscht eine Maus über den Boden, die Fruchtfliegenplage wird immer unerträglicher und seit über einer Woche gibt es keim warmes Wasser mehr. Aber ich liebe es. Ich liebe dieses Leben. Ich liebe die Zeit mit Jérémy und Adrien, mit denen ich hier hause und koche und diskutiere und phantasiere. Mein Französisch wird besser. Mein Englisch hört sich immer englischer an. Manchmal gehe ich in ein Museum und versinke in den impressionistischen Malereien, manchmal sitze ich an der Seine und schreibe in mein Reisetagebüchlein, manchmal gehen wir abends aus oder essen. Die Stadt ist wirklich magisch und ich fühle mich sehr zu ihr hingezogen. Sie ist ein bisschen eingebildet und zu schick für meinen Geschmack, nicht so locker und schnodderig wie meine Heimat Berlin. Aber dieser bestimmte Zauber, der ist einmalig. Wenn man im Jardin de Luxembourg auf einer Bank im Schatten sitzt und Gedichte liest. Oder mit seinem Liebsten ein Macaron von Pierre Hermé verputzt. Ich finde, jeder sollte in seinem Leben eine kleine Pariser Etappe gehabt haben. Irgendwie finde ich, dass das der optimale Abschluss meines Germanistikstudiums ist. Das hat so etwas Weltliteratur-mäßiges. Wie Rilke oder Hemingway einfach eine Pariser Zeit einlagen, lange schlafen in irgendwelchen Buden, es sich gut gehen lassen und die Leute beobachten. Lernen. Sehen. Schmecken.
Jérémy und ich sind letztes Wochenende in die Normandie getrampt. Ich fühlte mich sehr frei und glücklich. Wir kamen an und stiegen in einem piekfeinen Hotel ab, ich liebte diesen Kontrast, in Schlabberhose und mit Tramperschildern im Rucksack in ein Superhotel mit Superdiner und Superkingsizebett zu spazieren. Nach unserem Gourmandiner zogen wir auf die Kingsizeinsel und redeten studenlang, das Englisch floss mittlerweile, kein Thema ein Problem, wir hörten den Kirchturm und Möwen, wir lachten und rauchten und ließen uns immer tiefer in die weiße Flauschigkeit des Bettes fallen.
Meine Tage hier sind nun bald gezählt. Am Freitag fahren wir nach Metz, um am Samstag in sein Heimatdorf zu fahren, wo er eine BBQ-Pool-Party geben möchte. Franzosen feiern nämlich auch einfach mal ihren Geburtstag vor. Macht das irgendjemand in Deutschland? Kommt mir sehr suspekt vor. Er hat jedenfalls erst nächsten Dienstag Geburtstag. Vorher mache ich auch nichts. Man möchte doch nichts beschreien. Am Montag werden wieder die Pappschilder gezückt, diesmal wollen wir den ganzen Weg bis nach Portugal schaffen (in kleineren Etappen natürlich). Davon sollte ich auch berichten. Das wird bestimmt ziemlich abenteuerlich. Mindestens so cool wie die Abenteuer von Jack Kerouac und Co. Kann die Lektüre nur empfehlen, bin jetzt ‚Experte‘, Bachelorarbeit und so, ihr wisst schon.
Ich bin gespannt und freue mich und kann nicht glauben, dass mein großes Ghanaabenteuer in einem guten Monat schon fast beginnt. Ich bin unendlich dankbar für diese Chance. Ich habe keine Angst, keine Panik, keine Sorgen. Ich spüre reine und tadellose Freude. Meine Wochen hier in Paris sind eine Art Transit für mich. Der Übergang von meinem Grundstudium, vom Bachelorarbeitsstress und vom Leben in Jena in ein neues Abenteuer auf einem unbekannten Kontinent mit neuen Herausforderungen. Nach Australien und Chile ist das nun meine dritte Abenteueretappe, mein dritter Kontinent und meine dritte Arbeitserfahrung. Diesmal geht es nicht um körperliche Knochenarbeit und auch nicht um das Studentendasein, sondern darum, mein Land, meine Kultur und meine Sprache vor Ort zu repräsentieren und mein Bestes für die Projektarbeit zu geben. Bevor das allerdings beginnt, lehne ich mich zurück und freue mich auf meinen Jérémy, der bald von Arbeit zurück kommen wird und mir ein Lachstartare zaubern will. Zu klischeehaft? Ja, ich weiß. Mein Leben ist wohl manchmal eine einzige Aneinanderreihung von Traumfabrikklischees mit allen Hochs und Tiefs. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ich wirklich auf mein Herz höre, wenn ich es denn recht verstehe. Diesmal war das genau richtig.