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Letzte Tage

Heute Nacht träumte mir, ich hätte vergessen, meinen Koffer zu packen. Eine Stunde vor Abflug. Ein eindeutiges Zeichen, dass die Weichen auf Abschied gestellt sind… und dass mir das Gehen dann doch gar nicht mal so leicht fällt. (Ich glaube, ich bin von einem völlig anderen Ort als Windhoek zu einem völlig anderen Ort als Berlin geflogen, aber so ist das manchmal mit der träumerischen Freiheit verwirrter Gehirne.)

Letzte Tage sind ähnlich wie erste Tage. Man erlebt alles intensiver, es sind alltägliche Dinge, die mich plötzlich zum Staunen bringen und mich denken lassen, ach Mensch, das ist dein Leben hier und nur noch sechzehnmal Schlafen und dann ist das alles vorbei. Es ist ein Leben im Zwiespalt: Einerseits die Freude auf Familie und Freunde, altbekannte Orte, Fahrrad fahren, im Regen stehen, Waldspaziergänge, die coole Tante sein, öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Andererseits lässt man so viel hinter sich. Ein faszinierendes Land, Menschen, Erinnerungen. An meiner Wand hängen Bilder, auf meinem Schreibtisch liegen so viele Dinge, Eintrittskarten, Steine, Muscheln, Holz, Geburtstagskarten, Briefe, Fotos, Geschenke von Kindergartenkindern, Sprachkursunterlagen, sie bilden Haufen und rufen: Nimm mich mit, nimm mich mit!

Es sind die kleinen Dinge, die Situationen, die man jeden Tag erleben kann, die ich letztendlich vermissen werde:

  • mit Flip-Flops und Sonnenbrille zum Potji um die Ecke laufen, die Haare noch nass vom Pool, um frisches Obst fürs Abendbrot zu kaufen

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  • auf dem Heimweg vom Sprachkurs die Sonne hinter den Bergen um Windhoek beim Untergehen beobachten
  • Sonnenuntergänge oder auch Sundowner generell, ob beim Joggen, mit einem Bierchen in der Hand oder auf irgendeinem höhergelegenen Ort in und um Windhoek herum
  • sich beim Braaien die Frage stellen, wann man eigentlich angefangen hat, braaien statt grillen zu sagen und aufgehört hat, Salat zum Grillen zu essen. Und dann beherzt ins Oryx-Filet beißen.
  • morgens um viertel vor Sieben in kurzen Hosen aus dem Haus gehen ohne zu frieren (Das war früher. Jetzt stellt sich eher die Frage: Wie kann es in Afrika frieren? Minusgrade .. wie bitte?)DSC02757
  • auf endlos langen Straßen im Nirgendwo fahren, eine Stunde ohne Gegenverkehr und dann einen Eselkarren überholen
  • Giraffen, Poviane und Warzenschweine am Straßenrand sehen, so wie zuhause Rehe und Hasen
  • durch Katutura (ehemaliges Township) fahren und denken, dass man scheinbar doch was vom Leben verpasst, wenn man sich in der DHPS-Blase hinter dem Zaun aufhält
  • den Erlebnisparcours “Independence-Avenue” laufen (hier gilt es aufgerissene Bürgersteige zu durchqueren, Bauschutt zu überwinden, sich zwischen hupenden Autos hindurchzuschlängeln und riskante Überholmanöver extremer Langsamläufer bei dichtem Gegenverkehr zu überstehen) und sich dabei fragen, wann man eigentlich zum letzten Mal eine Ampel bei Grün überquert hat
  • am Wochenende mal eben ans Meer fahren – 400km sind nichts in den Weiten Namibias!
  • sich über einen wolkigen Regentag freuen, weil man dann endlich mal wieder einen gammeligen Tag mit Tee, Kerzen und Buch im Bett verbringen darf ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, dass man das gute Wetter nicht nutzt
  • Sätze wie „Ich denke so“ als Zustimmung, ein hinterfragendes „Ist das?“ oder „Geh mir aus der Pad“, wenn jemand im Weg steht, ganz selbstverständlich in den alltäglichen Sprachgebrauch einbauen und das völlig oreit finden
  • Farmwochenenden, an denen man prinzipiell nichts anderes tut, als köstliche Dinge zu essen, faul herumzuliegen bzw. auf dem Bakkie über die Farm gefahren zu werden (ok, manchmal muss man Tore öffnen. Das ist durchaus herausfordernd, denn Tor ist nicht gleich Tor! All diese unterschiedlichen Schließmechanismen!) und wieder zu essen und natürlich das Trinken nicht zu vergessen

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Es gibt auch Dinge, die ich nicht vermissen werde. Die Zäune. Die Abhängigkeit vom Auto. Nicht kommen und gehen zu können, wann man möchte, weil zu gefährlich, weil Strom oder Security Man nicht da, weil is nich. Den täglich präsenten Gegensatz von Arm und Reich und Schwarz und Weiß und die Unsicherheit, wie man damit umgehen soll, auch nach einem Jahr noch. Und auch an die übertriebene Aufmerksamkeit samt Heiratsanträgen an mich oder meine Freundinnen/Schwestern/“any beautiful german girl you know“ habe ich mich nicht wirklich gewöhnt. Aber das ist schon ok, denn auch das ist Teil meines Jahres und meiner Erfahrungen hier und machen es zu dem einzigartigen Erlebnis, das es ist.

Noch sechzehnmal Schlafen und dazwischen alle Kleinigkeiten aufsaugen, die mir begegnen: Das ist der Reiz der letzten Tage.

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