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Kindergarten? Gefällt mir!

Zehn Monate im Kindergarten haben mir vor allem eines gezeigt: Erzieher sein heißt alles sein. Wir arbeiten täglich in tausend verschiedenen Berufsfeldern! Ein kleiner Einblick in die Top Ten:

 

 

Ernährungsberater: „Ich weiß, dass wir in Namibia sind, trotzdem ist es für eine ausgewogene Ernährung gut, auch das Brot zur Wurst/die Kartoffeln zum Steak/die Nudeln zum Bolognese-Hack zu essen. Und ein Salatblatt.“ und Knigge-Benimm-Trainer (Basics): „Nein, Sunay, die Gabel ist kein Haarkamm, damit essen wir!“ und „Georg, setz dich bitte wieder auf den Stuhl, wir essen nicht vom Boden.“

Palliativmediziner: Bis zu einem bestimmten Alter funktioniert das Reduzieren von Schmerz nachgewiesenermaßen durch das Ausstoßen des Atems über der schmerzenden Stelle. Bei länger anhaltenden Schmerzen sollte die entsprechende Stelle ggf. durch rhythmisches Streichen mit der Hand behandelt werden, das durch medizinische Heilworte wie „Heile heile Segen, drei Tage Regen, drei Tage Sonnenschein, wird gleich wieder besser sein. Heile Heile Husch!“ unterstützt werden kann. Und das ganz ohne Risiken und Nebenwirkungen (außer vielleicht ein Anflug von Blödheit im Kopf des behandelnden Arztes, aber nur bei einem außergewöhnlich langen Behandlungszeitraum).

Ingenieur/Architekt/Baustellenchef: „Doro, guck! Kaputt!“ – Kein Problem, ich reparier das. Oha. Jetzt ist das andere Teil auch noch ab… Äähm, ich war das nicht, das war schon so. „Du, Doroo? Kannst Du eine Garage für das Auto bauen?“ – Na klar, komm, wir bauen eine zusammen. „Doro, ich brauche ein Flugzeug, schnell!“ – Gib mir das Blatt Papier, dann geht es los. – „Warum faltest du das da so komisch?!“ – Ähm, das…das…das sind die Bremsen!

Sekretexperte (Experte für Körperflüssigkeiten in allen Formen und Farben): „Ich geh mal schnell Damians Windel wechseln, die Hose hängt schon wieder so schief und weit unten.“ (Was bei mir die Frage aufwirft, ob Mitglieder bestimmter Personenkreise mit tiefhängenden Hosen gar nicht mal so cool sind, sondern einfach nur die Hose voll haben.) „Doro, du hast verschiedene Flecken auf deiner Hose!“ – Ach .. warte kurz .. oh, das Gelbliche ist nur Konrads Rotze, das da ist Haydens Speichel gemischt mit gequetschter Banane und der Fleck, ach ja, das war Claire, die hat sich heute morgen das Frühstück nochmal durch den Kopf gehen lassen und ich stand zufällig daneben. Dinge passieren…

Textilreinigungsfachkraft: Die oben aufgeführte Fleckenbildung durch unterschiedlichste Vorkommnisse muss natürlich irgendwie behoben werden, wenn man nicht sein Monatsgehalt in den Kauf neuer Klamotten investieren möchte. Außerdem wären da noch die täglich anfallenden Berge an Lätzchen, Handtüchern, Wickelunterlagen, Pipi-Unfall-Klamotten und Hüten (die eigentlich als Sonnenschutz dienen sollten, sich aber wirklich viel besser als Sand- und Wassertransportmittel eignen), die fachgerecht gereinigt werden wollen… Mittlerweile hat Wäsche waschen und aufhängen schon fast etwas Meditatives für mich. Schmutz von der Seele waschen oder so, hat irgendein weiser Chinese oder Japaner bestimmt mal was zu gesagt.

Biologe mit Schwerpunkt Flora und Fauna:  „Doro, guuck, was ist das?!“ – Joa, also das, das ist eine…hm, eine Riesenheuschrecke. Ganz klar. „Doro, guuck, ein Chongolollo! Warum hat der so viele Beine?“ – Puh, ja, gute Frage! Damit der schneller rennen kann als du! „Doro, guuck, ein Krokodil!“ – Nein, Isa, schau, das ist eine Giraffe, die hat einen ganz langen Hals. Und bei der Frage Pferd oder Esel habe ich mir schon lange Streitgespräche und Fachdiskussionen mit Smilla geliefert („Ein Esel!“ – Nein, ein Pferd, das hat keine langen Ohren. – „Doch!“ – Nein. „Doch!“ Brillant argumentiert.).

Rechtsexperte, Richter, Mediator: „Doro, weißt duuu, der…(beliebigen Namen einsetzen, manche fallen allerdings wesentlich häufiger als andere) hat mir die Schippe aufn Kopf gehauen/mir weh gemacht/mir geschuubst/mich das Bagger weggenehmt/mit Wasser gemorscht*/usw. usw. usw.“ Natürlich hat auch der Angeklagte das Recht, seine Position darzulegen, also wird nachgefragt: „…, was war da los? Stimmt das, dass du … mit der Schippe auf den Kopf gehauen/weh gemacht/geschubst/den Bagger weggenommen/mit Wasser gemorscht hast?“ Meistens wird der Schuldvorwurf gar nicht erst abgestritten, sondern mit einem überzeugten „Ja!“ bestätigt (… hatte es wohl eindeutig verdient, die Schippe übern Kopp gezogen zu kriegen), nur Wenige starten wenigstens den Versuch einer Verteidigung („Abaa, abaa, abaa, abaa…“). Der Richter fällt das Urteil („Gib ihm die Schippe wieder“ oder „…, entschuldige dich bei ….“), der eine streicht dem anderen mehr oder weniger zärtlich über den Kopf/das Gesicht/den Arm und innerhalb der nächsten zehn Sekunden spielen die beiden mit Schippe und Eimer in seeliger Eintracht. Wenn sich alle Konflikte so einfach lösen ließen, die Welt wäre ein besserer Ort. Schickt Putin doch mal zum Praktikum in den Kindergarten.

*morschen: Ein sehr vielseitiges Wort des Südwester-Deutsch, das in Bedeutungszusammenhängen wie plempern, kleckern, aber auch verschwenden verwendet wird.

multidisziplinärer Künstler: Plastisches Gestalten, Arbeiten mit Papier, Pappe, Holz und anderen Naturmaterialien, Blei- und Buntstiftzeichungen, Aquarelltechnik und Scherenschnitte sind nur einige Beispiele aus dem umfangreichen Repertoire einer staatlich geprüften Bastelschl… ahem, Erzieherin. Nicht unterschätzt werden sollten auch die täglich unter Beweis zu stellenden Fähigkeiten als Puppenspieler, Zauberer, Spieleerfinder und Verkleidungskünstler.

Sänger und Ohrwurmexperte: Nicht singen können gibt es hier nicht, da man meistens mehr oder weniger die einzige ist, die hörbar und verständlich die Melodie verbunden mit dem richtigen Text wiedergeben kann. Es beginnt mit dem fröhlichen Guten Morgen-Lied, dass einem, wenn im Morgenkreis nicht zufällig noch das Lied über mich gesungen oder Laternenumzugs-Lieder geübt werden, bis zum Mittagessen im Kopf bleibt und auch nachmittags (oder nachts hinten auf dem Bakkie des hoffnungsvollen Jungfarmers) summt der ein oder andere Kindergarten-Praktikant noch Rolf Zuckowskis Weihnachtsbäckerei vor sich hin.

Aber ist die Bezahlung denn auch angemessen bei einem derart anspruchsvollen Beruf, bei dem Qualifikationen in so vielen Bereichen nachgewiesen werden müssen (und ich habe ja noch gar nicht von Elternarbeit, Entwicklungsberichten, Bürokram etc. angefangen)? Geld verbrennen wir jetzt nicht mit den Kindern gemeinsam am Fluss, weil wir es im Überfluss hätten. Warum man trotzdem dabei bleibt? Da wäre zu nennen:

Die kleine Kinderhand, die sich vertrauensvoll in deine schiebt.

Die freudigen „Dorooo!“-Rufe, wenn die Kinder dir auf dem Kindergarten-Flur begegnen.

Der kleine Junge, der dich Doti nennt, weil er deinen Namen nicht aussprechen kann.

Die „Meine Doro“-„Meine Vaama“-Battle mit dem kleinen Mädchen auf dem Schoß, die wahrscheinlich niemals enden würden, wenn ich nicht irgendwann doch aufhören würde.

Der kleine Junge, der noch vor einigen Wochen „Nane“ zu Banane sagte und kaum in ganzen Sätzen sprach und dich jetzt fragt: „Darf ich bitte auf die Toilette gehen?“

Die Kinder, die auf dich zugestürmt kommen und alle mit zu Molli (die Zebra-Handpuppe der Sprachförderung) wollen, auch wenn sie gar nicht zur Sprachförderung müssen.

Das kleine chinesische Mädchen, das vor drei Wochen noch kein Wort Deutsch sprach und dich jetzt mit einem „Auf Wiedersehen“ begrüßt und all die anderen Kinder, die täglich so viel Neues dazulernen, dass man ihr Gehirn förmlich wachsen sehen kann.

Die großen Kinderaugen, die an deinen Lippen hängen, wenn du die Geschichte von den wilden Kerlen erzählst und sich erschrocken an dich drängen, wenn sie deren fürchterlichen Klauen sehen und ihr fürchterliches Gebrüll hören.

Die ungezählten Bilder und Basteleien, die dir tagtäglich freudestrahlend geschenkt werden (und die nach der Arbeit ein wenig schuldbewusst auf den Schmierpapierstapel oder auch gleich in den Papierkorb wandern) und all die anderen kleinen Geschenke wie Steine oder Blüten, die du irgendwann in deinen Hosentaschen wiederfindest.

Dieses Gefühl, das die Kinder dir geben, dass du jetzt gerade die Welt für sie bedeutest. Weil du Zuhörer, Geschichtenerfinder, Schmerzenwegpuster, Tränentrockner, Popoabputzer, Traumfänger, Monstervertreiber, Sandburgenbauer bist. Klingt extrem kitschig, aber weil es so ist, lass ich es so stehen.

Das Gute an Blogeinträgen ist, dass ich die Tage und Stunden gekonnt unter den Tisch fallen lassen kann, an denen ich die Kinder alle miteinander an die Wand klatschen möchte, weil sie meine Geduld mehr reizen als der ausgebluffteste Spieler es beim Skat je wagen würde; die Momente, in denen mir einer der Rotzkandidaten erster Güte seine Nase in die frischgewaschenen Klamotten schmiert und ich hart an meine Ekelgrenze stoße; die Streitereien, Bockigkeiten und rebellischen Phasen einiger Kinder, bei denen ich mit meinem nicht vorhandenen Jura- und abgeschlossenem Pädagogik-Studium auch nicht weiter weiß; die Sprachfördereinheiten, in denen das eine Mädchen völlig in ihrer eigenen Welt bleibt und auf Englisch spannende Gespräche mit dem Fenster führt, während ich verzweifelt versuche, ihre Aufmerksamkeit auf die Verkleinerungsform und Pluralbildung im Deutschen zu lenken; die Tage, an denen ich mich fühle wie eine kaputte Schallplatte, die bei „Lass das! Nein! Nicht hauen! Bleib sitzen! Nicht mit dem Essen werfen! Alle Kinder aufräumen!“ hängen geblieben ist und mich frage, was bloß aus dieser Welt werden soll, wenn das mit den Blagen für immer so weiter geht.

Und dann lese ich noch einmal die Geschichte vom Grüffelo vor oder mache das 54-Teile-Hunde-Puzzle (fürs Erfolgserlebnis) oder höre, wie die Kinder nach sechs Fördereinheiten die Verniedlichung auf einmal auch im Alltag anwenden, einfach so, oder führe mit Dante wissenschaftliche Gespräche über Termitenhügel oder meine Kompetenz als Erzieherin („Du kennst doch so viele tolle Spiele!“) und weiß, dass ich letztendlich am absolut richtigen Ort für meinen Freiwilligendienst gelandet bin.

 

Jetzt noch schnell der Nachtrag für alle Innen: Ich weiß, Erzieher sind grad im Kindergarten überwiegend Innen. Mein Sprachgefühl mags aber lieber ohne, das reaktionäre, chauvinistische Ding. Bitte seht von Drohbriefen ab. Herzlichst, Eure AutorIN.

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