„Five hundred twenty five thousand six hundred minutes
Five hundred twenty five thousand moments so dear
Five hundred twenty five thousand six hundred minutes
How do you measure, measure a year?In daylights, in sunsets
In midnights, in cups of coffee
In inches, in miles, in laughter, in strife
In five hundred twenty five thousand six hundred minutes
How do you measure a year in the life?“
Seasons of Love, Rent Musical
(Solange ich noch die Aufmerksamkeit habe, zunächst ein Hinweis in anderer Sache: Zur Titel- und Liedwahl haben mich meine coolen Freunde inspiriert, die in Rostock gerade ein absolut geniales und in keinster Weise größenwahnsinniges Projekt auf die Beine stellen. Hinfahren, angucken! www.rentinrostock.de)
Nun zum Eigentlichen. Ja, wie messe ich dieses Jahr? Was zähle ich, was nehme ich mit, was bleibt im Kopf? Wann hat dieses Jahr überhaupt angefangen? Mit der Zusage von kulturweit, mit dem Abschicken der Bewerbung oder sogar irgendwie noch davor, als ich mir überlegte, dass ich dringend mal wieder für längere Zeit weg muss? Und wann hat es aufgehört? In dem Moment, als ich ins Flugzeug in Windhoek gestiegen bin? Oder erst, als das Flugzeug in Johannesburg den afrikanischen Kontinent verlassen hat? Mit dem offiziellen Datum auf meiner kulturweit-Teilnahmeurkunde? Oder ist es noch gar nicht vorbei, weil es mich immer noch so oft beschäftigt und weil diese Zeit ein Teil von mir ist, neue Synapsenverbindungen entstanden sind, die jetzt in meinem Gehirn bleiben?
Ich bin angekommen am Windhoeker Flughafen, habe die Eingangshalle betreten und das Erste, was ich zu hören bekam, war: „Hey, beautiful Lady! How long are you gonna be in Namibia? One year? Oh, then you need a namibian husband! I’m available, you know!“ Ich bin mit meinem Shuttle-Fahrer, einem reichen Deutschen und einem brummigen, schweigsamen Spanier Richtung Windhoek gefahren, habe mich über nackte Pavian-Ärsche gefreut und über die deutschen Straßennamen gestaunt.
Ich habe in einem Haus mit im Schnitt fünfzehn anderen Praktikanten gelebt und ich habe mit ihnen alles geteilt, Zimmer, Bad, meine Privatsphäre, die Küche, den Dreck, und die guten Zeiten. Ich habe am Pool gelegen, habe meine Bahnen unter afrikanischer Sonne gezogen und nachts den Hund der Erzieherin zum Bellen gebracht. (Sie hat uns aber im Pool nicht entdeckt und der Hund wurde zu Unrecht angeblafft.) Ich habe im Warehouse gefeiert, ich habe beim Karaokesingen charmant wenige Töne getroffen, ich habe Flunkyball und Volleyball gespielt und Sonntagabende mit Tatort und Cramer-Eis verbracht.
Ich habe gearbeitet, Sandkuchen gebacken, Windeln gewechselt, Pflaster aufgeklebt, Obst geschnitten und Essen verteilt, ich habe gebastelt, Kunstwerke bewundert, Memory gespielt, die Kinder in die Tiefen der deutschen Grammatik (Plural, Artikel, Satzstellung, Verniedlichung, Präpositionen…) geführt und Stempel auf alle möglichen und unmöglichen Körperteile gedrückt. Ich war Pferd, Auto, Flugzeugbauer, Zauberer oder Hexe, Gefangene und Fänger (vor allem von Damien, dem kleinen Ausreißer), Schaukel-Anschubser, bin auf der Hüpfburg gehüpft und habe Bücher vorgelesen, am liebsten das eine zehnmal hintereinander.
Ich bin Taxi gefahren, alleine, zu zweit, zu acht. Ich bin mit Fahrern gefahren, die stolz ihre Deutschkenntnisse präsentierten: „Du Kartoffelnuss!“, ich habe Heiratsanträge abgelehnt und witzige Unterhaltungen über die Heiratswilligkeit meiner Schwestern und Freundinnen geführt. Ich habe den Frust von Taxifahrern erlebt, über die Reglementierungen, über die Arbeitszeiten, über die nicht vorhandenen Verdienste und die Schwierigkeiten, damit eine Familie zu ernähren. Ich habe mich oft unwohl gefühlt, wenn wir uns zu sechst oder siebt in ein Taxi gequetscht und alle die ganze Zeit nur Deutsch geredet haben. Bin aber doch mitgefahren, man muss ja irgendwie nach Hause kommen.
Ich habe gute Ratschläge in den Wind geschlagen und bin nachts um zwei mit Isabell über die Independence Avenue gelaufen um das Kudu zu besteigen. Ich bin fast sechs Monate lang zweimal in der Woche alleine oder nachher zu zweit zum Sprachkurs und zurückgelaufen. Es ist nie etwas passiert und nur manchmal habe ich mich unsicher gefühlt. Ich bin alleine rumgelaufen, die Berge rauf und runter, habe die Aus- und Ansichten fotografiert und bin immer wieder aus den Autos heraus seltsam angeschaut worden. („Warum, zur Hölle, läuft sie?!“)
Ich bin einmal überfallen worden, in Begleitung von vier anderen Praktikanten, man hat versucht, mit einem Messer meine Tasche abzuschneiden, bis ich sie hergab. Ich habe zwei Tage später einen Anruf erhalten von einer Frau, die meinen Führerschein und andere Papiere gefunden hatte und sie mir wiedergeben wollte. Wir sind noch einmal angegriffen worden, zu dritt, nachts auf dem Weg nach Hause, von einem Typen mit Glasflasche, er konnte nichts erbeuten. Ich bin weiter rausgegangen.
Ich habe während der WM im Andy’s (die deutscheste Kneipe der Welt) an der Theke gestanden, neben mir ein betrunkener, widerlicher Typ, der eine Kellnerin dumm angemacht und übelst rassistisch beleidigt hat, weil sie ihm sein Bier nicht schnell genug gebracht hat (was seine Schuld war, weil er nicht mitbekommen hat, wie sie ihn suchte und deshalb das Bier jemand anderem gab). Und ich bin ehrlich, ich habe hilflos daneben gestanden und nicht mehr gesagt als ein viel zu leises „Jetzt reichts aber mal“, weil der Typ doppelt so groß und dreifach so breit und zehnfach so betrunken war wie ich und ich fühle mich immer noch schlecht deswegen.
Ich bin mit zehn anderen Deutschen mit hässlichen Helmen und neongelben Warnwesten auf gelben Mountainbikes durch Katutura gefahren, um das Leben jenseits der weißen Welt Windhoeks zu sehen. Ich war sonntags in der Suppenküche und habe mit Kapepo alias dem Mann mit dem Streichholz im Mund, John, Philemon und wie sie alle heißen, Möhren und Kartoffeln und Zwiebeln in gleißender Sonne geschnippelt und an hungrige Kindermäuler verteilt und dabei äußerst interessante Unterhaltungen geführt. („You know, Doro, you seem to be more black!“ Ah ja. Is it?!) Ich habe mich mit John getroffen, um Oshiwambo zu lernen und habe dabei zum ersten Mal mit meiner Pünktlichkeit zu kämpfen gehabt. (Auf eine halbe Stunde Warten hatte ich mich irgendwie nicht eingestellt.) Ich bin durch das Wellblechhüttenlabyrinth in Katutura gelaufen, habe Frauen auf Plastikstühlen vor ihren Häusern begrüßt („Walelepo meme!“), die Orientierung völlig verloren, aber zum Glück nicht den Anschluss an unsere kleine Gruppe, habe die Wasserverteilungsstellen gesehen, an denen man sich mit einem Chip Wasser in Kanister füllen kann, habe mich unter interessant verlegten Stromleitungen gebückt und habe Boereworsstückchen vom Grill probiert. Ich bin von Shebeen zu Shebeen gezogen, habe mit gefühlt allen und jedem Bier getrunken und mich beim Tanzen völlig zum Affen gemacht. Ich habe einen Gottesdienst miterlebt inklusive Dämonenaustreibung und wurde von der Pastorsfrau mit der unbeschreiblich tiefen Stimme beherzt an ihren goldglitzernden Busen gedrückt. (Also, das Kleid war goldglitzernd. Nicht der Busen.)
Ich habe das Farmleben und die Herzlichkeit der Farmersleut‘ kennengelernt und Diskussionen über Wilderer und Farmarbeiter beigewohnt. Ich habe gesehen, was so manche Farmersfrau alles kann und bin in den Genuss von selbstgemachtem Farmbrot, Farmeiern, Farmmilch, Biltong, Trockenwurst und Rauchfleisch gekommen. Ich bin hinten auf dem Bakkie mit Posten gefahren, habe Tore geöffnet (meist mehr als weniger erfolgreich!), habe Geier über einem toten Rind kreisen sehen, das man schon aus 300m Entfernung riechen konnte und von den Schakalen ausgehöhlt wurde und seine Kennmarke im Busch gefunden. Ich habe eine Giraffe gestreichelt und Kudus elegant über Zäune springen sehen, ich habe mit Kühen am Feuer gesessen und einen sehr sabbrigen Ball bestimmt tausend Mal für einen sehr unausgelasteten Hund geworfen. Ich habe die Selbstverständlichkeit kennengelernt, mit der hier Achtjährige Autofahren und Schießen und Tiere auszunehmen lernen und das scheinbar unerschöpfliche Talent der Farmer, aber auch wirklich alles irgendwie reparieren zu können.
Ich hatte mein erstes Oktoberfesterlebnis, mit 1L-Bierkrügen, auf denen Palmen und Giraffen zu sehen waren und habe deutsche Brauchtumspflege auf diversen Karnevalsveranstaltungen betrieben.
Ich habe namibisches Bier getrunken, nach deutschem Reinheitsgebot gebraut, ich habe Wein getrunken, weiß und rot und Glüh-, manchen guten und viel schlechten, ich habe Springbokkies (Pfefferminzschnaps mit Amarula), Amarula und Brandy Coke getrunken und so manches Mal hatte ich deshalb am nächsten Tag einen schönen Babalas. Ich habe wilden Spinat gegessen, der zwischen den Zähnen knirscht, als wäre es ein Sandkuchen aus dem Kindergarten und Omajova-Pilze, die auf Termiten-Hügeln wachsen und so groß wie Pizza-Teller werden können. Ich habe gebraait und Buschmann-Fondue gemacht und dabei gutes Fleisch (Springbok, Gemsbok, Rind…) zu schätzen gelernt, ich habe verschiedene Potjies probiert (ein Topf über der Glut, in den man alles und Fleisch hineinwirft und jeder macht ihn ein bisschen anders und ist überzeugt, dass seiner der Beste ist) und konnte mich nicht entscheiden, welcher der Beste ist. Ich habe mit den Fingern gegessen, Millie-Pap in köstliche Soße getaucht, Fleisch von Knochen genagt, Kapana mit Tomatensalat und Spezialgewürz genossen und mir an frischem, heißen, köstlichen Vetkoek die Finger verbrannt. Ich habe Butternut in jeglicher Form verschlungen, aber am liebsten als Suppe und mit Leidenschaft Squashi-Hälften ausgelöffelt. Wie so viele andere bin ich dem Oshikandela, einem fürchterlich süßen Trinkjoghurt mit diversen Flavours, und dem Tex-Riegel verfallen. Und natürlich habe ich das Brotproblem entwickelt.
Ich bin tausende Kilometer über Namibias (und Südafrikas) lange, gerade Straßen gefahren, durch karge Landschaften, scheinbar endlose Weiten, Dornenbuschsteppen, auf Asphaltstraßen und Gravelpads, durch abgehende Riviere und durchgeweichte Sandpisten, über kurvige Bergpässe mit atemberaubenden Aussichten und spritschluckenden Steigungen, vorbei an Warzenschweinfamilien, Giraffenhälsen, Pavian- und wasserlassenden Elefantenhintern. Ich habe alles gesehen, was die namibische Tierwelt hergibt, ich habe auf einer Düne gestanden und von dort auf den Atlantik geblickt, ich habe tausende Robbenbabys verzweifelt nach ihrer Mutti rufen hören und wäre dabei fast am Gestank erstickt. Ich habe in Dachzelten geschlafen, habe Feuer gemacht, um Nudeln zu kochen, wurde von Affen verfolgt und hatte dabei so viel Angst wie noch nie. Ich stand in sintflutartigen Regenschauern, die nach einer Neuauflage des Baus der Arche Noah schrien und in Wüstengebieten, in denen es seit 2011 nicht geregnet hat. Ich habe Sonnenauf- und Untergänge gesehen, unvorstellbare Sternenhimmel und wolkenloses Blau, so strahlend, dass es einem fast in den Augen schmerzt.
Ich habe das Fahrradfahren vermisst, öffentliche Verkehrsmittel, die Unabhängigkeit und Freiheit. Manchmal habe ich meine Freunde vermisst und meine Familie, habe es gehasst, Dinge zu verpassen, die zuhause passieren, wie die Geburt meiner Nichte, die Hochzeit einer Freundin. Ich habe Musik vermisst, weil ich kein Radio hatte, das Internet weder YouTube noch Spotify zugelassen hat und die Auswahl auf meinem Mp3Player mir irgendwann auf die Nerven ging. Ich habe gute Konzerte vermisst (die wenigen, die ich in dem Jahr erlebt habe, waren dafür großartig.), Theater, Kino und Cafés. Ich habe das Grün vermisst (dieses Grün, das mich fast erschlagen hat, als ich es jetzt wiedergesehen habe) und die Wolken. Manchmal. Oft habe ich aber auch gar nichts vermisst, habe das Andere geliebt, die Wärme, die Aussicht auf Windhoek von jedem Hügel, die Grundgelassenheit der Menschen. Ich habe meinen PC die meiste Zeit ausgelassen (nicht nur, weil er nicht anging), ich habe viel gelesen, Gutes und Schlechtes. Ich habe zwei neue Sprachen gelernt versucht zu lernen und viel zu viel schon wieder vergessen.
Ich habe so viel Wärme und Gastfreundschaft erfahren, habe Bekanntschaften gemacht und neue Freunde gefunden. Ich habe mich einsam gefühlt, ich habe gezweifelt, ich war wütend auf mich und andere, frustriert von der Arbeit oder auch vom Leben drumrum, manchmal war ich überfordert, ich bin an meine Grenzen gestoßen und habe sie immer mal wieder überschritten, ich habe selten geweint und viel gelacht, ich habe gefeiert, gesungen und getanzt; und sehr oft war ich ganz einfach sehr glücklich.
Ja, so ungefähr war es wohl, mein Jahr, und es fehlt doch noch so viel, was aber vielleicht nicht hierhin gehört oder den Rahmen sprengen würde oder auch schon an anderer Stelle erzählt wurde. Was ich noch zu sagen habe: Wenn ihr fertig gelesen habt, geht raus. Guckt euch die Welt an. Macht einen Novemberspaziergang im Nebel, fahrt ans Meer. Öffnet Fenster und Tür, lasst frische Luft und neue Leute rein. Nutzt Gelegenheiten, die sich ergeben. Geht auf kulturweit oder rausvonzuhaus und bewerbt euch. Egal, wo es euch hinverschlägt, und wenn es das Nachbardorf oder Siegen ist, es lohnt sich. Immer. (Allein schon für die Bilder und Statusupdates, die ihr im Fratzenbuch posten könnt und die Geschichten für die Enkel später.)
Ach ja. Und dann fehlt natürlich noch das DANKE. An kulturweit und die Steuerzahler, die kulturweit finanzieren. An all die Menschen, die ich kennenlernen durfte und die mein Jahr mit zu dem gemacht haben, was es jetzt für mich bedeutet. An meine Familie, die mich hat gehen lassen (was sollten sie auch tun, ne) und immer für mich da war, auch wenn es um hässliche Dinge wie Bewerbungsangelegenheiten ging. An meine Freunde, die mich mit monatlichen Umschlägen, die diverse Notrationen enthielten, versorgt haben, mich besucht haben, mir Briefe und Karten geschickt haben und damit dafür gesorgt haben, dass ich nicht vergesse, wie lieb ich sie alle habe. Und ein Danke an alle, die meine Blogeinträge gelesen haben, ich habe mich immer extrem über eure Aufmerksamkeit gefreut.
Jetzt ist dann aber endgültig Schluss. Enda po nawa! („Verbleibt gut!“ – ziemlich wörtliche Übersetzung aus dem Oshikwanyama)