Erschöpfung eines Europäers

Die erste Woche ist vorbei – eine voller Müdigkeit, Begegnungen, Erlebnissen, neuen Eindrücken, die auf mich niederprasselten, dass mir ganz blumig wurde, eine Woche voller Durchfall und Bauchschmerzen. Das ist hier normal, und was soll ich sagen, mit meinem selbst in Deutschland hin und wieder versagenden Magen. Sie sagen, ein, zwei Wochen geht das so für die armen Ausländer – ich hoffe, dass es bald nachlässt – es wird langsam anstrengend, bei allem außer Brot und Kefir mit Schmerzen zu reagieren – nein, so schlimm ist es nicht, oder zumindest: Ich merke, dass es besser wird.

Die Tage hier strengen mich sehr an. So sehr, dass ich abends oft zu müde zum Schreiben bin – selbst wenn ich will, Fragmente für den nächsten Blog – die Worte fallen wie Stein, mein Hirn, eine einzige breiige Masse, zieht sich über das Papier und lässt die Silben wie schwarze Augen scheinen, die mich anstarren, mir zuflüstern: Du kannst nicht mehr; mach das morgen. Mehr als in Leipzig flattern mir am Tag Worte, Satzfetzen durch den Kopf, die ich später vergessen habe. Die Anstrengung: es ist einmal die Großstadt – ich bewege mich bis jetzt ausschließlich in zentralen Bezirken – mit all dem Lärm, den ich nachts auch durch geschlossene Fenster höre, den Abgasen, die mir beim Lüften meines Zimmers entgegen wehen und jeden Stadtspaziergang begleiten. Ruhe gibt es nur im Büro, in dem ich letzte Woche überraschend selten war. Am Donnerstag fand die Eröffnung einer Arno-Fischer-(Fotografie-)Ausstellung in der Galerie der Nationalbank von Usbekistan statt, zu der ein Fischer-Schüler und Fotograf, Frank Gaudlitz, eingeladen war – deshalb war ich jeden Tag der Woche dort – Vorbereitungen, praktische Hilfe etc. Ungefähr Ähnliches wird einen der beiden großen Teile meiner Arbeit am Goethe-Institut ausmachen – Programmarbeit, Veranstaltungsmanagement, wenn man so will. Der andere Teil wird aus Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bestehen – davor, weil das so viel mit dem Computer zu tun hat, graut es mir ein bisschen. Im Institut habe ich einen prominenten Arbeitsplatz – gegenüber des Sekretärs, direkt neben der Institutsleitung – jener der ehemaligen, zur Zeit unbesetzten PR-Stelle.

Dieser erste Punkt meiner Arbeit hier, Begleitung der Vorbereitungen zu oben genannter Ausstellung (natürlich bin ich erstmal kaum mehr als mitgelaufen) hat Ausblicke gezeigt, die mir größtenteils gefallen haben… Nach der Ausstellung hat das Institut alle Beteiligten aus den eigenen Reihen und von der Gallerie zum Essen in ein kirgisisches Restaurant eingeladen. Jenes Essen, das vorab, hat mir glücklicherweise nicht viel Schmerzen bereitet – und war nebenbei ziemlich gut. Solche Abendessen sind faszinierend – man hat mit Leuten zu tun, die zusammen die ganze Welt bereist haben; ausgenommen, fast schon symbolisch: Afrika. Da sitzt die Institutsleiterin: in den Niederlanden studiert, drei Jahre Moskau, zwei Jahre Peking, vier Jahre Novosibirsk, seit zwei Jahren in Taschkent. Dazwischen in ihrer Tätigkeit alles Umliegende bereist. Da ist der eingeladene Fotograf: zehn Jahre jede Saison einige Monate in ganz Russland, fünf Jahre Osteuropa, anschließend zehn Jahre jeden Winter in Südamerika, besonders: Bolivien und Peru. Länder, die er geografisch besser kenne als Deutschland, sagt er. Da ist ein Videokünstler aus Samarkand ukrainischer Abstammung, der ausgiebig Osteuropa bereist, u.a. zwei Jahre lang den Sommer in Lettland verbracht hat, viele Jahre in Großbritannien lebte und auch in Mittelasien weit herum gekommen ist („Ah, you know, Ashgabat is more real, but Astana is like: We want to be more European than Europe“). Dazwischen Usbeken, deren Umgangssprache noch immer Russisch ist – selbst untereinander reden sie nicht immer Usbekisch. Was mir kleintellerrandigem Deutschen das nicht imponiert hat! Ich, der ich immerhin mit Asien den dritten Kontinent betreten habe, Deutsch und Englisch fließend spreche, der ich mal Lettisch fließend beherrscht, Latein, Russisch und Französisch zu lernen begonnen habe… Obwohl ich nicht weiß, ob ich ernsthaft zu solcher Runde dazugehören wollen würde, ob diese Abstecher ins Unbekannte, in die Welt, mir nicht genügten, ob ich nicht lieber bequem in meinem Leipzig sitzen und von dort urteilen würde – ich musste die ganze Zeit an dieses mit solchem Lebensstil verbundene, übermäßige Fliegen, diese Umweltbelastung, denken…

Mein Gewissen wird hier ständig konfrontiert – das hört nicht bei fehlender Mülltrennung und dem omnipräsenten Nestlé auf (selbst die russische Schokolade, die ich zum Preis zweier großer Weißbrote gekauft habe, ist von Nestlé Rossija) – der Abgasgeruch, das Wasser (eine schmerzfreie Experimentierzone; hatte ich nicht irgendwann im Geounterricht gehört, Usbekistan sei unter den Ländern mit höchstem Pro-Kopf-Wasserverbrauch?), die Plastiktüten wie in den USA – nur, was viel Geld kostet, damit wird gespart… Irgendwann scheint der Punkt gekommen zu sein, an dem einem das egal wird – man kann nicht jeden Schritt überprüfen, untersuchen – das wäre schon wieder eine eher deutsche Angelegenheit. Ich sollte mich vielleicht mehr entspannen, als unbedarfter Jugendlicher aus der Welt-Schutzzone Europa auch nicht so schnell urteilen. Wir verdienen auch hier ganz gut unser Geld – Firmen wie Nivea, Nestlé sind kräftig vertreten – und haben ihren Preis. Anders ist es bei den Autos – man könnte meinen, Daewoo habe mit seinem Chevrolet Matiz (bzw. Spark) einen Musterhit gelandet – hier fährt er überall, und das meine ich wortwörtlich, herum. Die großen, grünen Stadtbusse allerdings sind von Mercedes-Benz. Ansonsten besteht das öffentliche Verkehrssystem aus kleinen, grünen Bussen und den noch kleineren Marschrutkas – neben dem Wodka ein weiteres charmantes, russisches Überbleibsel. Metro bin ich leider immer noch nicht gefahren, weil ich erst seit Freitag meine Registrierung habe – immerhin musste ich doch kein Geld dafür zahlen, wie ich anfangs dachte. Sehr praktisch sind wirklich private Taxis, also beliebige Fahrzeuge, die neben dem an der Straße Wartenden anhalten, um ihn gegen etwas Geld irgendwohin zu bringen. Funktioniert ausgezeichnet. Und ja, es ist – außer vielleicht nachts – sicher.

Stärker als in Lettland, aber mit ähnlichem Bewusstsein, spürt man auch hier den Reichtum besonders Deutschlands, wenn man die Wohnungen sieht, die Einkäufe – ja, man kann hier durchaus billig leben, nur wenn man auf bestimmte Produkte nicht verzichten möchte, muss man zahlen – Brot, Wasser, das Gemüse auf den Märkten, Grundnahrungsmittel wie Reis sind günstig zu bekommen; Schokolade und Süßigkeiten, Kosmetikartikel und Kleidung werden zur Luxusware.

Manchmal, während dieser anstrengenden Woche, musste ich mich sehr zusammennehmen – einfach, weil die Erschöpfung überhand zu nehmen drohte. Im Endeffekt war ich dennoch jeden Tag im Büro, habe jeden Tag mitgemacht, zumindest für ein paar Stunden. Es ist ein unschätzbarer Wert, sich selbst zu etwas zwingen zu können – trotz Bauchschmerzen zur Arbeit zu fahren, weil ich weiß, sie gibt mir mehr, als sie mir abverlangt, trotz Müdigkeit tief im Fleisch den Marsch anzutreten, durch elend lange Straßen laufen, ohne zu wissen wo man ist und wie man dort ankommt, wo man hin will – ich hatte von Beginn an die falsche Richtung eingeschlagen – ja, zur Not lässt man sich mit einem privaten Taxi nach Hause fahren, schläft in zwei Nächten mehr als 24 Stunden, ist danach wieder auf den Beinen, ohne zu bereuen – Erfahrungen sind gut, tun gut, mir, der eingelullten Seele aus dem Luxuszirkus Europa. Es stimmt schon, wir sind dort drüben wie in einem Kokon, ganz weit weg; es ist ein Glücksfall für mich, dieser Festung den Rücken zu kehren; es ist eine Notwendigkeit, dass es alles zurückfällt – Marie Antoinette kann nicht ewig stehen und sagen: Wenn sie kein Brot haben, sollen sich Kuchen essen. Dabei ist das erst der Anfang – und ich verstricke mich wieder in apokalyptischen Szenarien. Ich glaube, ich habe sie in der letzten Woche vermisst. Es ist gut, dass ich wieder anfange zu denken in dieser stickigen Luft, dass ich endlich aus dem goldenen Käfig Europa krieche und einen Eindruck davon bekomme, was wir noch ignorieren. Es tut mir gut, ich spüre es schon jetzt, und dieses Gefühl des Sich-Öffnens wiegt alle Bauchschmerzen auf; bis zum erneuten Augenblick des Schmerzes, in dem ich am liebsten nur schlafen würde, tief und lang… Ich realisiere, ich bin nun ein Einzelner, die nächsten zwölf Monate, elf ja nur noch, wenn ich eine frühere Abreise einplane (das ist der Fall; mein Nachbereitungsseminar fängt am 27. August an); endlich alleine! Es bedeutet schon Freiheit, hier zu sein, sein zu dürfen und diesen Status zu haben – das Goethe-Institut hat Status, erlaubt sich Sachen.

Die Ignoranz Europas ist ja nur die eine Seite – auf der anderen stehen eben Dienste wie kulturweit, die vielleicht tatsächlich daran interessiert sind, die Welt zu retten, falls ich mir diese plakative Äußerung herausnehmen darf. Ja, ich kann. Ich war sicher etwas naiv, in meiner Bewerbung zu schreiben, diese gemeinschaftlichen Dienste bereiteten den Boden für so etwas wie den Weltfrieden – darum geht es vielleicht gar nicht mehr, dieser Traum ist vielleicht der Realität von etwas gewichen, das sich so schwindelerregend fortpflanzt, so riesige Türme stapelt, die alle auf ihren Ingenieur, den fatal geirrten aufgeklärten Europäer herabzustürzen drohen… Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Nicht Europa gilt es zu retten, sondern darum, den Rest der Welt vor jener Verblendung zu behüten, welche Europa heimgesucht hat, den Menschen vor jener Hybris zu warnen, die seine Festung, sein zurückgezogenes, kleines Stück Erde Stein für Stein, alle eigene Arbeit, Kunst und Wissenschaft, abträgt, und zum Steinbruch anderer macht. Man kann darüber viel philosophieren und ich nehme mir einiges heraus, diese Behauptungen so an die Oberfläche platzen zu lassen, ohne Hintergrund und Vorwort; immerhin ist es direkt, spontan, unzensiert hierher gespült; das ist mir viel wert.

Etwas lag mir noch auf der Zunge: es hat auch mit Distanz zu tun: Ich fühle mich hier eher wie solch europäische Künstler im Exil, dem selbstgewählten, das ihn fasziniert, inspiriert, zu dem er sich aber jede Heimlichkeit versagt; seine Loyalität gilt dem Zuhause, in das er zurückkehren wird. Wie ein Korken schwimmt, tanzt, er mit der fremden Masse, um für sich und seine Arbeit Gewinn daraus zu ziehen – das war in Lettland anders; in jene Kultur habe ich mich herzlich hinein gegeben, sie gleichsam gelernt, verstanden. Ich fürchte, auch wenn es für Mutmaßungen etwas zu früh ist, hier wird es anders. Das Goethe-Institut ist wie eine Insel: sicher, trocken, aber in gewissem Sinne von der Bevölkerung, dem Land, dem Leben, isoliert. Nun, der Vorteil ist, dass ich nicht gleich einem dritten Land meine Heimat versprechen muss… Das Jahr wird schnell vergehen und am Ende stehe ich wieder da und muss mich neu orientieren in meiner Heimat, hoffentlich Leipzig – mal sehen, was die Zeit so bringt. Ihr Vergehen hat hier etwas Magisches, Surreales – mehr als die Tage unterscheiden sich die Ereignisse; alles fließt, aber nicht wie panta rei, sondern eher wie Schnee fällt – langsam, schwer, nach unten – oder diese traumreichen Nächte, aus denen ich aufwache und die zum Kontinuum der Schwerelosigkeit gehören. Diese erste Woche war wie eine wuchtige Abteiltür, die zugezogen wird. Jetzt sitze ich hier, weiß nicht viel mehr darüber, wer oder warum ich bin, kann mir immerhin inzwischen vorstellen, wo ich bin – in Taschkent, einer Stadt, die tatsächlich schon – vorsichtig – diesen Sehnsuchtsschimmer beginnt auszustrahlen, diese Aura der Wehmut, der ich so gut in Lettland begegnet bin. Ich habe für mich nichts geklärt, doch sehe, dass ich mich nicht durchs Gebüsch schlagen muss, vor mir ein Weg liegt, den ich gehen kann. Das Goethe-Institut ist ein Anker, eine Basis, von der ich nicht viele Schritte gehen muss – meine 20 Jahre sind kein Garant für Sicherheit; dass ich sie dennoch habe, dafür bin ich dankbar.

Der erste Tag

13.09.2015

Ich bin angekommen. Die erste Nacht war trocken, warm. Obwohl jetzt der Himmel bedeckt ist, kriecht die Temperatur in meinen Körper. Es ist Viertel vor Eins hier; Alisher (24) schläft wieder, die Mutter Elmira (52) ist weg. Sie sprechen beide exzellent Deutsch, keine Verständnisprobleme also. Ich dachte heute morgen, ich benötigte Instruktionen für dieses fremde Land, aber das war wieder zu Deutsch gedacht. Ich bin noch müde, vom Flug und von der Nacht – halb Zwei usbekischer Zeit sollten wir in Taschkent landen, von Leipzig über Tschechien und Bulgarien nach Istanbul (Umsteigen, Warten), dann über Sochi und am Südrand dessen, was mal der Aralsee war, entlang in die Wüste, einen kurzen Schlenker durch Kasachstan, um Kurs auf meine neue Heimatstadt zu nehmen. Ein sternklarer Himmel, dies Warnleuchten an den Tragflächen und auf dem Grund Lichtpunkte, die mir sagen: Da wartet etwas auf mich. In der Tat muss ich das Land neu entdecken, vom Flughafen angefangen: Der erste Soldat überwachte bereits den Einstieg in die Mercedes-Shuttle-Busse; unter den Leuten Touristen und Damen mit langen, bunten Kleidern, Plastiksäcke und –tüten. Die Fahrt fühlte sich vertraut an, vorbei an den Flugzeugen der staatlichen Uzbekistan Airways in den Landesfarben Grün, Weiß, Blau, zur Passkontrolle. Die Damen mit den langen Kleidern und meine Sitznachbarn, die im Flugzeug auf Russisch miteinander gesprochen hatten, liefen zu jenen vier Schaltern: Für usbekische Bürger; den größeren Rest zog es zu jenen zweien: Für ausländische Bürger. Auf Usbekisch, Russisch, Englisch. Die Kontrolle vollzog sich ohne Probleme; ich hatte schon Angst gehabt, weil der Beamte in Leipzig zu mir meinte, hoffentlich erkennen sie dich auch in Taschkent – mein Passfoto scheint aus einer anderen Zeit; vor Lettland.

In dem Saal dahinter ein schwer zu erfassendes Durcheinander an Menschen, Plastiktüten, Koffern – die kamen tatsächlich bald auf den Fließbändern angerollt. Die Zollerklärung, entgegen den von Reiseführern und Internetseiten geschürten Erwartungen, bereitete mir wenig Sorgen – hoffentlich klappt die Ausreise genauso gut. Was rede ich, das sind elf Monate bis dahin… Auf die (englische) Frage an einen der herumlaufenden Beamten zuvor, wo ich diese Zollerklärungen überhaupt bekäme, drückte der mir einen Stapel von 30 Exemplaren in die Hand – falls einer von euch welche braucht… Trotzdem dauerte der Prozess und gegen halb Drei zog ich meinen Koffer aus dem Gebäude an die rauchwarme Stadtluft. Überhaupt hatte ich im Verlauf des Tages den Eindruck, dass Abgase einen ungesunden Anteil an der Luft hier haben. Unter einem Baldachin mit mindestens 20 Metern Abstand zum Flughafengebäude (die durften nur einbahnig überquert werden) riss sich eine rufende Menge Taxifahrer um die Touristen, hier und da lugte auch eine Tafel mit einzelnen Namen. Meinen entdeckende, folgte ich Alisher durch die Masse auf den Parkplatz zu seinem Auto. Mit der Frau vor der Schranke, als er aus einem Bündel Geldscheine die Gebühr bezahlte, redete er Russisch.

Die kurze Fahrt glich eher einer Need-for-Speed-Reise – Ampeln und Vorfahrtsregeln gibt es zwar, aber an der Existenz von Tempolimits und Spurbegrenzungen hatte ich auch im Verlaufe des Tages mehrmals Grund zum Zweifeln. Letztere gibt es nicht überall, z.B. auf dem riesigen, kreisverkehrartigen Rund vor meinem Fenster. Die Stadt scheint stark befahren zu sein, Sonntag war das kein Problem, und nachts hatten wir die gigantischen Straßen (es gibt sonst auch kleine) fast für uns alleine. Die Diversität der vorbeifahrenden Autos ist beeindruckend – BMW-SUV’s, japanische Kleinwagen, 90’er-Jahre-Limousinen, Busse und Kleinbusse, einige Ostalgiekarossen und einen Traktor mit Strohladung habe ich bereits aus diesem Fenster gesehen. Weiß und Silber beherrschen das Treiben; die praktischsten Farben für den Sommer. Direkt gegenüber ein Blinkschriftzug und das Grand Mir Hotel. Sichere Gegend, höchster Stock – vierter oder fünfter. Hellhörig, Plattenbau. Nur ruhig ist es nicht, wohl keinen Tag in der Woche.

Alisher hat mir nachmittags und abends die Stadt gezeigt – per Auto. Einige Male nur sind wir ausgestiegen und herumgelaufen, so an einem Park in der Nähe des hoch aufragenden Fernsehturms und am Amur-Timur-Platz, dem zentralen Punkt der Stadt, dessen 200-jähriger, schattenspendender Baumbestand vor einigen Jahren zugunsten von kontrollierbaren Bäumchen und Sträuchern abgeholzt wurde, und wo auch jenes kaum genutzte Regierungsgebäude steht, für dessen Errichtung der Staat deutsche Handwerker gefordert und nur teilweise bezahlt hat. Im Sommer, so Alisher, könne man sich hier gar nicht aufhalten. Wiederholt wurden es in diesem Jahr fast 60 Grad in Taschkent – unvorstellbar für mich.

Vor dieser abendlichen Spazierfahrt war ich zum Essen eingeladen; bei der alzheimererkrankten Oma. Gekocht, abgewaschen haben die Frauen (Elmira und die Frau ihres Neffen, Alishers Cousin), die sich dabei auch nicht helfen lassen wollten, während die Männer sich um die 88-Jährige gekümmert oder fern gesehen haben. Extra für mich wurde ein englischer Kanal gewählt: Russia Today. Beim Essen lief dann eine Castingshow – DSDS auf Russisch. Ich war froh, dass ich im Anschluss die Comedians (ebenfalls Russisch) nicht verstanden habe. Froh war ich auch, dass ich von meinem ersten usbekischen Abendessen nicht gleich Bauchschmerzen bekommen habe – obwohl traditionelle, ausgelesene Speisen auf dem Tisch standen, denn Alisher hatte Geburtstag, was ich erst beim Anstoßen verstanden habe. Ohne Wodka. Dann aber auch ohne Messer. Eigentlich wurde alles, außer der Kartoffelsalat, mit der Hand gegessen, so auch die bei den anderen Mahlzeiten, die ich zuvor mit Alisher eingenommen hatte: Drei-Uhr-Nachts-Schmaus und Frühstück. Während das bei Brot und Wurst keine Rolle spielt, war ich nun doch dankbar über ein ohne Nachfrage gereichtes Messer, mit dem ich mir die Aufnahme von kleinen, weichen Teigtaschen (fleischlos gefüllt!) erleichterte – sehr lecker, ich schätzte mich glücklich, solch Festtagsessen gleich zu Anfang miterleben zu dürfen.

Ein anderes Kapitel hier ist die frisch vom Vorbereitungsseminar aufgedrückte Idee der Nachhaltigkeit. Nestlé überall, besonders auffällig das „Pure-Life“-Wasser, dessen rücksichtslose Gewinnung zur akuten, großen Dürre in Kalifornien beigetragen hat. Jetzt steht eine Flasche in meinem Zimmer. Mülltrennung gibt es nicht, Leitungswasser ist billig (und nicht trinkbar). Als Alisher kurz vor dem Abwaschen noch mal ins Nebenzimmer verschwand, ließ er das Wasser in den Abfluss laufen. Die Luft erwähnte ich bereits – die Abgase. Immerhin habe ich Geld gewechselt – bin nun im Besitz eines ganzen Stapels an Scheinen und fühle mich reich. Naja, fast. Morgen muss ich versuchen, mich registrieren zu lassen – ein unerwarteter Kostenpunkt, der nötig ist, damit ich z.B. Metro fahren darf und eine usbekische Karte für mein Handy kaufen kann.

Jetzt ist der Tag zu Ende, ich habe bestimmt einiges vergessen, das ich nicht sofort nachliefern werde. Im Idealfall schiebe ich in einer Woche ein Paket nach; bis dahin erlebe ich erst einmal die Stadt, die Gesellschaft, die erste Arbeit… Es fällt, so merkte ich deutlich, schwer, ganz am Anfang nicht in Stereotype zu verfallen, deshalb hüte ich mich, zu bald wieder zu schreiben. Die Stadt, um mal einen Antitypus zu verteidigen, finde ich wunderschön. Ja, ich bin kein Mensch der Großstadt, aber Paris, Neapel, Chicago, Rom fand ich trotzdem schön – wie lange sich das hier hält? Taschkent ist keine europäische Großstadt und auch keine US-amerikanische, und dass hier keine zehn, sondern zwei Millionen Menschen wohnen, macht es einmal erträglicher. Die Straßen sind breit und von hohen Bäumen gesäumt. Die neousbekischen Bauwerke ragen in den Himmel wie Traumfänger – trotz ihrer Einsamkeit strahlen sie eine Sicherheit aus, die sie sich vor all den zerbrechlichen Altstädten im mediterranen Raum behaupten lässt. Es ist keine typische Schönheit, kein Charme, eher eine Zurschaustellung von irgendetwas; eher expressiv und abwehrend als introvertiert und einladend. Mir gefällt das; ich sehe diese Bauten als Zeugnisse kontemporärer Stadtkultur. Taschkent, so kommt es mir vor, erschafft gerade seine eigene Schönheit, zwischen Sowjetwahnsinn und usebekischem Stolz.

Es ist schwer, das Erlebnis eines einzelnen Tages, in all seiner Niedrigkeit an Bedeutung und Reichtum an Eindrücken, wiederzugeben. Jetzt, abends, ist es wenigstens kühl. Ich sitze ich hier und denke, wie kann ich nur ein Jahr hier bleiben? Vielleicht sollte ich doch die Wohnung wechseln – nicht jetzt, aber wenn ich mich eingewöhnt habe. Ein riesiges Zimmer, während Alisher und Elmira auf Sofas schlafen. Und irgendwie geht es doch, denn die Zeit geht noch immer Sekunde auf Sekunde und ich bin immer noch der Körper, den ich aus Deutschland kenne. Letztendlich präsentiert sich mir mein Gepäck in diesen Minuten als gänzlich unpassend, triefend vor Unwissenheit und Überfluss, denn nun merke ich, was ich wirklich bin – nicht das Zeug, in dem ich spazieren gehe, nicht, was ich lese, sondern wie ich mich fühle, die Integrität als Ich. In diesen Minuten weiß ich nicht mal, ob das so stimmt.

Eins sehe ich sicher: Ich bin eingetreten in eine neue Zeit und auch wenn ich mich in Momenten wie diesen zurück wünsche, in das bestimmte, bittere, heimatliche Deutschland, weiß ich doch, hier bleibe ich und dieser Zwang wird mich verändern.

4 of 4
1234
Zur Werkzeugleiste springen