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Der unbegrenzte Lauf

Die Bilder zur Reise von Taschkent nach Bischkek über Osch. Der Weg führte mich durch Bilder verschiedener couleur, Eindrücke verschiedener Landschaften, doch gemeinsam war ihnen immense Intensität, weshalb ich mit dem Sehen kaum hinterher kam und am Ende einen Erlebniskoller hatte… Es wird der Weg vielleicht deutlich, die Beschreibung muss hinterher und separiert erfolgen, denn noch ist sie nicht fertig und malt eher auf den Bildern, um die Bilder herum, anstatt sie zu beschreiben – es ist immerhin ein Unterschied zwischen Wort und Bild, der die Fahrt zu zwei Welten der Erzählung macht.

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Kurz hinter Taschkent; der Tag ruft.

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Richtung Berge unterwegs. 4

Hier links überholen, bitte. … Danke.

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In den Bergen ist über weite Strecken das Fotografieren verboten – militärische Bedeutsamkeit der Straße und so. Auch dieses Bild entstand also illegal.

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Das Ferganatal.

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Kurz vor der Grenze nach Kirgistan.

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Osch – rechts der Suleyman-Too, vor und hinter mir ein historisches, muslimisches Gräberfeld.

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In der Ferne winken die Berge.

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Sommerliches Gefühl.

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Auf dem Suleyman-Too.

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Warum ist ausgerechnet dieses Bild unscharf geworden? Ich wünsche mir eine bessere Fotokamera…

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Versuch eines Selfies vor Stadt. Ich bin einfach zu jung dafür.

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Die Höhle. Der Boden ist so blank gewetzt, dass man mit den Knien beim Rutschen keinen Halt findet.

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Das Museum für …irgendetwas auf dem Suleyman-Too.

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Kurzer Eindruck von jenem Basar, der zu eng zum Fotografieren ist.

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Lenin. Still Alive.

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Beginn der Fahrt nach Bischkek.

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Der Zaun auf der linken Seite ist die usbekische Grenze. Vor 2010 verlief sie noch 100 Meter weiter von der Straße weg.

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Hier haben wir gegessen. Naja. Hinten wieder die usbekische Grenze. Hier wohnen Leute.

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Dieser See war/ist so wunderschön, dass ich vor lauter Gaffen kaum Fotos gemacht habe.

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Man beachte die gestreiften Hügel.

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Rasch bergauf und plötzlich in der Schneezone, die ganz schnell…

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…so aussah.

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Einmal kurz gerutscht, nichts passiert…

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…bis der Nebel sich legte und die Dämmerung einsetzte.

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Auffahrt zum Too-Ashuu Pass. Auch hier ist Überholen eine gute Idee.

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3180 Höhenmeter. Hinten der Tunnel.

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Das sind beide Richtungen. Wer ein scharfes Auge hat, glaubt nicht, dass wir tatsächlich an dem Laster vorbeigekommen sind (Überholen!).

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Stau bei der Abfahrt auf 3000 Metern Höhe. Einige LKWs schaffen den Weg nicht hoch. Kein Wunder…

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…wenn die Straße so aussieht.

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Das letzte Bild, bevor ich Stunden später heil in Bischkek angekommen bin. Schwer zu glauben, wenn man 40 Minuten NUR DAS sieht. Das Bild hat mich verfolgt.

Versuch der Rekonstruktion eines barocken Lebens

Zeit, über meine Zeit zu reden. Die letzte Woche war in dem Sinne einzigartig, dass sie dunkler und klangloser in den Untiefen der Erinnerung versank als alle zuvor. Sie, erstmalig, obwohl doch so schleichend angekündigt, zog an mir vorbei, ich blind, und konnte keinen Eindruck von ihr gewinnen, muss dies erstmalig aus dem Gedächtnis kramen, gleichsam rekonstruieren, wie in dem tollen Roman von Claude Simon. Ein Rekonstruktionsversuch ist dieser Blog. Einige Szenen fallen mir sofort ein: der betrunkene Russe, der mit mir abends im Taxi saß – nicht als Fahrer, sondern als zweiter Fahrgast – und mir erzählte, wie er sich in Malaysia mit irgendwelchen Finnen geschlagen hat, weil sie Putin kritisiert hatten. Das Ensemble, welches wohl organisiert die Proben und ein gemeinsames Essen einen Tag vor Ankunft des jungen deutschen Komponisten und Dirigenten ansetzte. Der Deutschlehrertag in Usbekistan, in einer Schule mit winzigen Klassenräumen, 2300 Schülern in fünf Jahrgängen und einer authentischen Sowjetturnhalle. Der deutsche Botschafter kam, der Schweizer verspätete sich und als die Eröffnung bei offener Tür vollzogen wurde, schallte von fröhlich singenden Kindern auf der Bühne das „Flieger-Lied“ heraus. Zu Beginn der Reden rauscht eine Grundschulklasse vorbei; vergeblich scht die Lehrerin wie gestochen herum – ein Klatschen von innen und die Saaltür wird zugezogen. Ich darf draußen bleiben und den Goethe-Stand betreuen.

Aber nicht nur, weil die Woche so schnell vorbei war, ich mich freitags nach ihr umdrehte und überlegte, was mit ihr geschehen war, schreibe ich erst jetzt – wo doch alle vorigen Beiträge mit Ausnahme des Chorsu-Specials an Sonntagen verfasst wurden. Es ist ebenfalls der Beginn meiner großen Reise, die am Mittwoch beginnt, und der ein eigener Beitrag angemessen ist. Ziel: das kulturweit-Zwischenseminar in Ulan-Bator. Ich werde in drei Urlaubstagen mit dem Sammeltaxi von Taschkent aus in das Ferganatal fahren – fruchtbarste Gegend des Landes, Zentrum des Islam in Usbekistan und Zankapfel zwischen den Stans der Usbeken, Tadschiken, Kirgisen, auf deren Staatsgebiet ebenfalls Teile des Tals liegen. Bei Andijan werde ich die Grenze zu Kirgistan passieren – gespannt auf diesen Übertritt; ob er mir Schwierigkeiten bereiten wird. Mit dem Taxi kann man selbstverständlich nicht hinüber und als Usbeke wird man nicht gerne gesehen. Die usbekische Seite ist Tag und Nacht geöffnet (theoretisch), die kirgisische bis Sonnenuntergang. Wer Pech hat, muss im Grenzgebiet die Nacht verbringen – Abenteuer pur und muss nicht sein. Ich als Deutscher darf visumsfrei passieren; gleich hinter der Grenze beginnt Osch, wo ich einen Tag verbringen möchte, falls es geht. In den nächsten zwei Tagen muss ich Bischkek, die kirgisische Hauptstadt, erreichen. Das Sammeltaxi braucht zwölf Stunden, die Strecke geht bis auf 3800 Höhenmeter und durch einen berüchtigten Tunnel – bei Radfahrern mehr noch als bei Sammeltaxireisenden. Bei starkem Schneefall dauert es länger – die Strecke geht tendenziell bergauf. In Bischkek wartet am Samstag um vier Uhr morgens der Flieger in die mongolische Hauptstadt, den ich gemeinsam mit zwei weiteren kulturweit-Freiwilligen besteigen werde – einmal angekommen, haben wir das Wochenende Zeit, die Stadt zu erkunden, bis Montag 15 Uhr das Seminar beginnt. Die Woche wird dann wieder „kulturig“, feucht-fröhlich und didaktisch-methodisch – aber: Ein Ausflug in die Steppe ist geplant. Länger kann ich leider nicht bleiben, im Anschluss muss ich am Samstag meinen Flieger nach Bischkek nehmen und von dort am Sonntag weiter in das gute Taschkent reisen. Nicht nur ist diese Reise sehr ökonomisch gegenüber den alternativen Flugverbindungen nach Ulan-Bator über Moskau, Peking oder Seoul – v.a. ist sie ein Abenteuer. Auf die Taxis sollte Verlass sein.

Was habe ich während der Woche gemacht? Bin ich, wie Antoine Montès, durch den Ort gestolpert, habe Begegnungen verfolgt und Menschen verloren, aus den Augen, aus dem Sinn? Wohl nicht. Es gab eine durchschnittliche Menge an Arbeit – die Filmreihe: Bildrechte, Blue-Rays in der Zentrale, Dialoglisten u.a. Ich habe wohl ein oder zwei Tage so gut wie durchgängig arbeiten müssen – nein, das ist falsch. Dienstag habe ich bestimmt durchgängig gearbeitet. Aber Mittwoch sind wir nachmittags bereits zur Schule gefahren, um den Deutschlehrertag vorzubereiten – und aus Bauchschmerzen bin ich früher von dort gegangen. Donnerstag war ich ab Acht einige Stunden und wieder am Ende einige Stunden dort – in der Zwischenzeit, im Institut, muss ich etwas gemacht haben, aber nicht allzu viel. Bestimmt habe ich meine Unterkunft in Osch gebucht oder… – freitags bin ich früher gegangen, um mich auszuruhen und habe noch abends einen Film für die Filmreihe gesichtet. Also habe ich ab Mittwoch keinen Tag durchgängig gearbeitet; Dienstag war der einzige. Nun, da hatte ich jedenfalls Jour-Fixe der Programmabteilung und war damit beschäftigt, alle Kleinigkeiten zu sortieren. Oder war das der Dienstag in der Woche zuvor? Seltsam. Und Montag, was war Montag? Ich kann mich nicht erinnern, ich könnte etwas erfinden. Montag war ich Schlittschuhlaufen auf dem Taschkenter Meer – ein Stausee in der Nähe der Stadt. Und dann sind wir durch den Wald gelaufen und haben Vögel gezählt. Hier gibt’s keinen Wald. Also die Platanenalleen entlang und mich wie in Russland gefühlt. Gerade heute wieder dachte ich mir im Aufsteigen der hundertzwanzig Treppenstufen zur Wohnung, jetzt könnte ich auch in Russland sein, das würde ich nicht merken. Draußen ist es anders, die Wohnung ist anders und meine Telefonnummer ist anders, aber in diesem Moment wäre kein Unterschied – das Treppenhaus. Was war Montag? Wenn es für immer ein Geheimnis bleiben wird, dann war es wohl nicht sonderlich wichtig. Vielleicht bin ich durch den Stolz gestolpert – ich genieße das Herumfahren, von einem Job zum nächsten: sich wichtig fühlen, wenn man nicht nur in seinem Büro sitzt, sondern hier und dort ist – und wenn es nur zwei Orte sind – um sagen zu können: ich muss jetzt gehen, ich habe keine Zeit und etwas Wichtigeres vor als Sie, wenn Sie verstehen. Man kommt sich top vor oder hochwertig und fühlt sich bei der Gelegenheit als überlegener Europäer. So weit her ist es doch nicht mit unserer Expertise, dass wir herumlaufen können und uns wichtig machen. Ich laufe mit und versuche gar nicht erst so zu tun als ob ich mich wichtig fühlen würde, aber ich könnte es. Könnte so tun, meine ich. Die Möglichkeit des Gefühls als ob hebt schon den Glauben an die eigene Unsterblichkeit. Und wenn nicht, dann wenigstens an die Importanz, die man als Europäer inne hat – wie einen Status – besonders muss man sich ja nicht mal fühlen, besonders ist man hier. Und alle schauen auf zu dir, oder zumindest mit Achtung, Hochschätzung. Wenn ich mir vorstelle, wie wir mit unseren Ausländern umgehen, dann könnte ich kotzen. Aber es fühlt sich so gut an. Man ist ja kein Griesgram und schlägt den jungen Mädchen, Jungen das Foto mit dir nicht ab; man versucht höflich, lästige Leute abzuschütteln, die Deutschunterricht von dir wollen oder besser, ein Stipendium für einen unbegrenzten Aufenthalt im Himmel, id est: Deutschland. Ich weiß nicht – manchmal empfinde ich das als sehr befremdend, dieses gleichzeitige Bewusstsein: Ich bin fremd und muss mich anpassen, zu der Erkenntnis: Die Leute sind geil auf Deutsche als Deutsche und ich bin Deutsch genug, um als Bote des oder Hoffnung auf Himmel gebrandmarkt zu werden. Oder so ähnlich. Es ist schwieriger, die Gedanken zu schreiben als sie zu denken. Immerhin schreibe ich und der Fluss schwemmt so manches heraus, was sonst stecken bliebe. Vielleicht wird der Text bei der Überarbeitung besser.

Wurde er nicht.

Im Vorfeld meinten einige aus der kulturweit-Privilegiertenriege, sie hätten Angst vor der Deutschenblase – gerade beim Goethe-Institut, wo die Vermittlung deutscher Sprache, Kultur und Gesellschaft Aufgabe und zentrales Anliegen ist. Ja, Luxus, Internationalität, Meetings, Geschäftsessen, Deutsch reden, die eigenen Kultur und Geisteshaltung durchbringen können/sollen und keine körperliche Arbeit verrichten: Es ist eine Blase, ganz sicher. Wenn ich ehrlich bin, und auch das rührt eher aus Faulheit als aus Notwendigkeit, bin ich froh, so deutsch eingebettet zu sein. Einer aus meiner Schule, der wie ich, nach der zehnten Klasse, ein Jahr im Ausland war, meinte, als ich ihm von diesem Jahr erzählte: Toll, dass du dich das noch mal traust. Denn es ist ein Trauen, Wagnis, ein Sprung ins Kalte, Nasse, Fiese, große Unbekannte und nur blind ist es leicht. Ich war blind, blind und taub durch Wasserfälle an Schulunterricht, Tafeln, Hausaufgaben und Schwemmen an Zetteln, Hirnwäsche, Einebnung der individuellen Gestalt, sodass ich vergessen hatte, wie es war. Jetzt, da ich wieder spüre, dass ein Auslandsjahr Stress ist, viel Schlafen und Anstrengung, zu verstehen und zu reden, Anstrengung des Körpers, durch all diese plötzlich fremden Räume wie in einem Film zu laufen und nicht zu kollabieren unter der simplen Andersartigkeit; Anstrengung des Geistes, das Leben zu begreifen, wie es hier möglich ist, wo ich es nicht kenne und es trotzdem ist wie zu Hause – Anstrengung des Geistes, ein fremdes Leben zu verstehen, einzutauchen: Was für eine Erschöpfung ein Auslandsjahr bedeutet, gibt man sich hinein, das hatte ich vergessen. Ich bin jemand, der sich vertieft, hinein gibt. Das ist der Grund, so bin ich froh – es gibt eine Blase, in die ich mich zurückziehen kann. In der ich unverletzlich bin und in Sicherheit vor allem Fremden, wenn es über mich herein bricht. Es ist bequem und es schaudert mich – schon wieder diese Bequemlichkeit, ich werde sie nicht los, aber vielleicht macht das auch nichts. Irgendwann werde ich schon gezwungen sein, sie abzulegen. Kein neuer Kulturschock, wenn die Umstellung des Körpers der ersten Woche – die Erschöpfung eines Europäers – nicht Schock genug war, keine neue transzendentale Selbserfahrung, Selbstentdeckung, Neuentdeckung, Wiederfindung des Lebens, wie in Lettland. Immerhin – an meinem alten Ich kann ich so festhalten. Letztendlich bleibt die Denkerfahrung, erstes Arbeitserleben, Eintauchen in kulturmanagementale Sphären und Leute kennen lernen, von denen ich nicht einmal geträumt habe – Kängurus, z.B.

Was war Montag? Heute war Montag, aber an heute kann ich mich noch gut erinnern. Wir waren essen, abends, aber nicht mit den Leuten oder an dem Ort, mit denen und wo ich morgens noch dachte, essen zu gehen. Ich war den ganzen Tag nicht dort, wo ich dachte sein zu müssen: im Institut, seltsamerweise. Julia rief morgens an und meinte, die Botschaft erwartete mich zum Vorlesewettbewerb in einer halben Stunde, als Jurymitglied. Nun, auf diese eine Mail habe ich nicht geantwortet, das war ein Fehler, und so hatte man gedacht oder angenommen – ach, hat Heinar nicht für dich mit…? Das tut mir Leid, aber es war auch nicht schlimm. Die einzige Verzögerung, die sich ergab, dass ich meine Mails erst später lesen konnte und sowohl dienstlich als auch persönlich war das wohl ein sekundäres Problem. Hinter – nein, primäres Problem, aber sekundär in seiner Wichtigkeit. Jetzt verzettle ich mich live und schreibe auch noch mit – so ist das, wenn man nur noch im Schreiben denkt; ich denke ja gar nicht nur noch im Schreiben. Der Vorlesewettbewerb ist ein gigantisches Spektakel, zu dem Schüler mit amtlich festgeschriebener Begleitperson aus allen Teilen des Landes – Nukus, Samarkand, Buchara, Navoiy, Andijan, Urganch, Termez, Taschkent – eingeladen werden, um zehn Minuten vorzulesen. In meinem Fall vor Juroren, die erst am selben Morgen von ihrem Glück als Part der Jurorschaft erfahren haben. Nicht schlimm, wir waren ja zu zweit und in den Pausen gab es Kuchen, Kaffee und Pizza, Unterhaltungen und das Diplomaten-Lyzeum. Ein Hingucker, wie alle usbekischen Schulen, nur ist diese einer der besten des Landes – grau in braun, die üblichen, nach vorne offenen Toiletten, nur Löcher aus Keramik und eine Schnur zum Spülen, ohne Sitz und Papier; man möchte hier nur die Pissoirs benutzen. Der Saal ein Chaos, im Aufbau toll, irgendwo hinter der Ausstellung zum Ende der DDR, neben leeren Kaffeedosen auf dem Belarus-Klavier versteckt sich, auf der Bühne, ein Wasserkocher an einer Steckdose. Funktioniert nicht – wie der im Juryzimmer, den wir an drei Ecken vergeblich versucht haben anzustecken. Wir nehmen ihn trotzdem mit, ich fühle im Boden ein nachgebendes Brett und denke mir, hoffentlich ist das eine alte Versteck-, Souffleur- oder Bespitzelkabine und kein Loch unter dem Teppich. Wie bin ich hierher gekommen? Ich bin noch ganz durcheinander. Die müde, glatte Morgenfahrt durch den sanften Nebel der Stadt, europäische Straßenzüge, sattes Grün und eine Senke hinab, als sich die Sonne noch hebt – wie spät ist es? Ich komme nicht zu spät. Außen eines dieser Spruchbänder von Islom Karimov, geliebter Präsident, und der Titel des hellgelben Brutalismusbaus. Ich werde durchgelassen und komme an; es ist befremdlich, wie so oft, man geht in ein unschönes Haus, renovierbedürftiges, wirklich hässliches, in dem noch so viele Schüler unterrichtet werden, und erfährt im ironischen Zwischentalk, wie die Regierung Geld in interaktive Whiteboards statt weiße Wände und Toiletten investiert, aber weder Beamerbirnen, noch, im Idealfall, Strom liefen kann. Man achtet sehr auf darauf, nur das Beste fürs Land zu geben und will gesehen werden, wie man hilft. Die Hypokrisie des Stifters, der beim Akt der Donation mit festgefrorenem Lächeln fotografiert werden will. Dabei liegen die Turnhallen brach, hier in den Lyzeen sind die Schüler hübscher gekleidet, in Uniform, als ihre Schule aussieht. Und es ist eins der besten des Landes. Man prahlt mit äußerlichem Wohlstand, bläht den Bauch auf und sagt, seht her, wie gut es mir geht. Man putzt das image, um am Inhalt nichts zu ändern, und innen verrotten die Menschen. Ein Junge, meinte eine der Mitjuratoren, kam und sagte auf, wie Korruption und Misswirtschaft sowjetisches Erbe seien, das moderne Usbekistan diese Makel überwunden habe und dafür nun angesehen sei – in der ganzen Welt. Indoktrinierung von Beginn an. Selbst die Klugen unter ihnen sind wahrscheinlich der Meinung, Usbekistan sei jedem Erdbewohner ein Begriff – ob nun aufgrund von Gastfreundschaft, Baumwolle, getrockneten Früchten oder den „Human Rights Watch“ reports über Menschenrechtsverletzungen. So ist es hier; wenn jemand fragt, dann könnt ihr antworten.

Ich sagte essen – eigentlich war eines geplant, mit dem jungen, deutsche Komponisten und Dirigenten Jonathan Stark – 20 Jahre, mein Alter, und weil ich abreise, kann ich ihm nicht begegnen, verpasse sein Konzert mit dem usbekischen Ensemble und seine Abreise. Schade, aber nichts zu machen, das Essen wurde per SMS abgesagt und keine Stunde später hatte ich die Einladung zu einem neuen – das ging schnell. Im „Bavaria Plaza“ veranstaltete die Deutsche Botschaft eine große Runde, in der sich Lehrer, Juroren und Teilnehmer noch einmal die Hand gaben, um bei Wurst mit Kraut und Kartoffeln, sowie einem herrlichen Apfel-Nussstrudel mit Vanilleeis dieses große Ereignis passieren zu lassen. Ein Haufen Wind um nichts – zehn Minuten Präsentation, und einige kannten schwerlich den Autor des selbst gewählten Textes. Aber Prüfungen – das läuft hier anders. Die Leute sind mit Fleiß dabei, freuen sich. Urkunden über bestandene Sprachlevel oder Vorlesewettbewerbe sind wie Auszeichnungen höchsten Ranges, Träger des Stolzes, der Zukunft; man gehorcht und freut sich, gehorchen zu dürfen. Es ist und bleibt eine Diktatur und die Kinder bemitleide ich, die stolz hier lernen. Obwohl ich mit DaF (Deutsch als Fremdsprache) nicht sonderlich viel am Hut habe, kam mir meine Sprecherfahrung zugute, als ich einem motivierten Lehrer Tipps für seine C1-Prüfung geben sollte. Ich sprach von Körperhaltung, Auftritt und Bewusstsein des Vorzutragenden – viele der Schüler hatten ihren Text zur Präsentation auswendig gelernt und verstanden jenen zum Vorlesen nur halb. Gehorsam und stures Lernen. Doktrin und Repression. Während voranschreitender Stunde bauten sich zwei Musiker ihre Welt auf: ein abgehalfterter Rockstar, der in das Restaurant mit „Dress Code“ in Jeans und lässigem Pulli erschien und ein alternder E-Gitarrist. Ihre Rhythmen beschränken sich auf das Notwendigste, und beide sind sichtlich gelangweilt von dem, was sie spielen. Erst später, als der Rockstar „Lay Down Sally“, französische Schlager und einiges an Blues singen darf, wirkt er mehr wie in seinem Element. Der Raum, zu dem er singt allerdings ist leer.

Nach dem Essen bleibe ich mit Cedric, dem DAAD-Lektor in Taschkent, seiner Frau und einem deutschen ZfA-Lehrer aus Fergana noch und höre ihnen interessiert beim Reden zu – wenn sie über Usbekistan und die Welt quatschen. Über den Ruhrpott und Exklaven Europas – in Riad, wo die Entsandten ein eigenes Viertel haben, um das die vollumschleierten Frauen wogen, innen ist Bikini-Zeit. Die Lektorenstelle in Pjöngjang ist wieder frei und man lädt Leute nach Hongkong, um sie vor einem Publikum reicher Eltern Englisch reden zu lassen und wählt einen von ihnen zum stellvertretenden Schulleiter. Usbekistan zählt noch nicht zu den ganz harten Orten der Welt, aber das Hören, Fluchen, Staunen, Beißen, Jammern überall in und um mir – es ist kein Platz der Sonne, wenngleich das Wetter es so glaubhaft machen will. Für Jahre ist das kein Ort zum Bleiben und alle hier Geborenen sind zu bemitleiden. Was für ein Leben, hinter verschlossenen Türen, in Potemkinschen Dörfern, und immer jemand, der einem den Weg sagt. Ganz zu schweigen vom Komfort – Toiletten, Internet, Hygiene…

Doch ist das nicht zu viel verlangt? Frage ich mich manchmal, wenn die Leute darüber jammern. Ist es das – wenn alle Welt Internet hat und man selbst im Goethe-Institut vor einer Filmdatei sitzt, die man einfach nicht herunterladen kann? Ist es das, wenn man Jahre hier verbringen muss und sieht, wie es anders geht und weiß, dass man hier nicht sein muss? Ein Jahr, was für eine Möglichkeit, was für ein Leben – einmal ausprobieren, flink in die Gesellschaft huschen und den Blick wagen, kurz untertauchen und rasch wieder raus aus dem Mist, wie in einem Traum und hinterher sitze ich und sage: Wenn ich das alles nicht erlebt hätte… Was für ein Mensch ich dann wäre… Drum lasst mich dankbar sein und still, die Augen erhebend; es gibt noch mehr zu erzählen.

Als Tag der Stille begann der heilige Sonntag dieser Woche, gesegnet, durch eiskalte Straßen, die schön und leer taglicht leuchteten und Frieden versprachen, und wuselte mitten in den Quylik-Basar hinein, als ich getrocknete Früchte für das Seminar kaufte, ein Kilo gelbe Möhren für mein Reisgericht und ein Kilo Limonen für Elmira für den Winter für den Tee. Als ich mit Rucksack, der zurrte, zwei Kilometer hin und zurück wanderte, um den Abfahrtspunkt der Taxis gen Osten, Fergana und Andijan, zu sehen und mich in Acht nehmen musste, nicht gleich zu fahren – die Aggressivität dieser Leute, dieses wilde Fletschen nach Kunden, wahrscheinlich braucht es Härte, die ich nicht habe. Wenigstens den Preis sollte ich drücken können, und nicht gleich den ersten aggressiven Hund, der auf mich zugerannt kommt, weil er sich ein Geschäft erhofft. Ich kenne die Preise von vor ein paar Jahren – muss mich orientieren und darauf beharren, was mir nicht zu teuer erscheint. Muss mich rüsten und werde schon gerüstet genug aussehen, mit meinem kleinen Rucksack und meiner Tasche – „Halldòr Laxness. Nobelpreis für Literatur“ – den Brustbeuteln, die ich umhaben werde… Und nachher, als ich mit der Marschrutka 136 zurück gefahren bin, mit einem der älteren Exemplare, furchtbar fauchend auf der Strecke, im Anfahren mit einem so umfassenden Rütteln der Metallkarosse, das ich mich beim siebten Mal beinahe bekreuzigt hätte – Quylik, ein Paradies der Autofahrer, alles voll und eng und Menschen irgendwo über die Straße, weil es keine Ampeln gibt – und von allen Seiten drängeln sich Autos nach allen Seiten, unsere alte Emma spuckt Dampf, rattert tüchtig und irgendwann ist auch wieder freie Fahrt und kaum Autos auf den fünf Spuren einer Richtung. Farg’ona Road, hier werde ich am Mittwoch herunter düsen – in die Gegenrichtung, freilich. Ich blicke in diese Welt dort draußen und die Scheibe symbolisiert nur, was mich wirklich von ihr trennt – ich bin und bleibe Deutscher, Europäer, ob nun durch die Blase hier oder meine identitätsstiftende Lettland-Reise vor zwei, drei Jahren, und verstehe so etwas nicht wirklich. Die Straßenbahnbrücke, neben jener für Autos, mühliche Marschrutkas und schleichende Traktoren, sieht aus wie in Bauarbeiten befindlich – das ist sie nicht; sie wird befahren. Auch die Schienen Richtung Bahnhof, was für Gleise – so eingedellt, zerquetscht, dass überhaupt noch Wagen darauf fahren können… Die Aussicht! Ich genieße die Strecke, sie zeigt mir genau das, was ich will, noch viel mehr wenn ich, wie gestern, neben dem Fahrer sitze. Man schaut auf das wahre usbekische Leben, unverstellt und nur durch diese Scheibe von ihm getrennt, die leider noch so viel mehr symbolisiert… Und abends habe ich keinen Film geschaut – obwohl ich wollte, aber war um halb Sieben zu müde, wollte um Neun ins Bett und habe lieber gelesen. Stimmt nicht – nur im Bett, als es bereits halb Zehn war, habe ich gelesen – und vorher? Nun, es wird wohl ein Geheimnis bleiben, für euch für immer.

Froh sollte ich sein, dass ich vergessen kann, und ruhen kann, ohne immer die Woche im Kopf zu haben, und wenn sie einmal entschwindet, so war sie es nicht wert, verbreitet zu werden; bemitleiden sollte ich die Naturgewalten, Usbeken und alles Unsterbliche um mich herum, mich mit meinem Deutsch-Sein in Usbekistan zufrieden geben, mit meinem sterblichen Ich-Sein und meiner Dekadenz – die den Moment nicht krümmer macht, mich nicht ärmer, während ich Beauvoir und Adorno lese – wie glücklich bin ich, zu vergehen, zu altern – ich bin noch so jung! Es ist kaum zu fassen – nicht ewig flatternd und rasend wie der Wind, der alles zerfährt und immer seine Bahnen zieht, niemals ruht, altert oder zerbricht: „In Kürze würde er sich von neuem eingenistet haben und uns bis zum nächsten Sommer begleiten. Bald würde er von neuem als Sturm über die Ebene brausen, die letzten roten Blätter von den Weinstöcken reißen, die unter ihm sich krümmenden Bäume vollends entlauben, eine entfesselte Kraft ohne Ziel, dazu verurteilt, sich ohne Ende, ohne Hoffnung auf ein Ende zu erschöpfen, des Nachts in einer langen Klage stöhnend, als jammere sie, als beneide sie die schlafenden Menschen, die hinfälligen, vergänglichen Geschöpfe um ihre Möglichkeit des Vergessens, des Friedens: das Privileg zu sterben.“

In diesem Sinne: Hier sind die Bilder, setzt sie zusammen…

Lebendigkeit

In einem überwältigenden Ausbruch von Lebendigkeit haben die Bäume beschlossen, ihr trockenes Laub auf die Prospekte zu verschütten, verschenken, und die Straße in ein grau-braunes, warmes Treiben zu verwandeln: Als wäre der Winter da oder wie Regen, so hört es sich an – kleine Flocken huschen über den Beton, stetiges Geplätscher von doch so stillen Pflanzen zwischen all den hupenden Autos, Bussen und eiligen Menschen. Wie September fühlt es sich an, ein letzter warmer Septembertag, der deutlich aber den Herbst kündigt: Das war Freitag. Heute sitze ich mit einer Tasse Grünen Tees vor dem Computer und freue mich darauf, mir Essen zu kochen. Es ist wieder sehr kühl, man sieht wieder seinen Atem, obwohl die Woche warm war. Am Donnerstag hätte ich ohne Pullover Mittag essen gehen können. Es riecht, im Zuge der Renovierung von Elmiras Nachbarwohnung, scharf nach Terpentin. Temperaturprotokoll: in drei Wochen von 30 auf 10 auf 20 auf 5 auf 25 auf 5 Grad. Ich will lieber wieder ins Bett, das macht keinen Spaß. Vorletzte Woche noch kam ich nach Hause und versuchte strategisch das Zimmer warm zu halten. Letzte Woche kam ich nach Hause, bei über 20 Grad, Heizung an, sitze im T-Shirt und versuche etwas Kühlung zu erhaschen. Und für nächste Woche wurden minus Fünf Grad Nachttemperatur prophezeit. Es ist anstrengend – Leben in der Stadt, in Taschkent, diesem schluckenden Moloch. Die Woche war anstrengend, arbeitsam und viel Hunger nach Schlaf – letzten Endes eine Reihe müder Morgen. Immerhin habe ich meinen Nahrungsplan erweitert: Datteln und Äpfel erworben, über die Tage verteilt vernascht. Soeben habe ich das letzte Stück gegessen und es ist irgendwie befriedigend, Dattel mampfend vor dem Computer zu sitzen und darüber zu schreiben, dass man Dattel mampfend vor dem Computer sitzt. Gesünder als die 400 Gramm Kekse mit Schokofüllung, die ich seit gestern Nachmittag vernascht habe. Mittags esse ich meist noch auf dem Basar, suche aber die Abwechslung – entscheide mich zwischen drei Küchen, eine billiger als die andere, am billigsten der berüchtigte Tartar. Ich lege es nicht auf den Preis an; Plov für 8000 statt Pelmeni für 5500 Sum kann der Geldbeutel verkraften, zumal bei ersterem ein Wachtelei als Beilage gereicht wird. Seit drei Wochen koche ich sonntags selbst und nehme den Rest zu Wochenbeginn mit, esse ihn in einer geschwätzigen Runde anderer Mitarbeiter in dem „Aufenthaltsraum“ des Goethe-Instituts. Auf den Basar gehe ich meist allein. Wenn sich eine Begleitung ergibt, dann sind es die Leute, mit denen ich eh zusammenarbeite. Es ist nett, montags auch mal andere Gesichter zu sehen, sich zu unterhalten, Neues zu hören. Es sind immerhin die Ortskräfte, welche Geschichten über hier zu erzählen haben. Auch wenn sie in Deutschland studiert haben.

Warum bin ich nur so müde? Die Gedanken flattern wieder wild herum; gestern habe ich, und es macht mir zu schaffen, den „Leopard“ von Visconti zum zweiten Mal gesehen und wirklich, erneut, war ich platt. Ein monumentales Werk, Zeitpanorama, Gesellschaftskritik, natürlich – ein Meisterstück über Sieg des Opportunismus in Zeiten politischen Wandels, Verquickung von politischen und persönlichen Interessen und das Altern, Verwelken der Ideale. Niemals aber verliert Visconti seine Geschichte aus den Augen und teils blitzt das 20. Jahrhundert schalkhaft klar hervor und lässt uns staunen, über den gewaltigen Kraftakt in der Bedeutung, diese Zeit scharf und breit darzustellen. Ganz zu schweigen von den herausragenden Kostümen, ganz zu schweigen auch von Burt Lancaster, Alain Delon und der wie üblich hoch seduktiven Claudia Cardinale, alle drei brillierend. So. Das bleibt drin, das beschäftigt mich gerade. Was noch? Nun ja, ich denke über den Prozess der Filmentstehung nach, wie viel mehr Opfer er vom Künstler fordert, der seine Idee durchzubringen versucht, als andere Kunstarten… Wie viel mehr Blut und Schweiß es fordert. Ich denke an Literatur – an den Essay, den ich begonnen habe zu schreiben, für diesen Wettbewerb… An Gedichte, die ich lange nicht mehr geschrieben, an die kleine Erzählung, die ich noch nicht abgeschlossen habe – abgeschlossen schon, aber nicht in meinem Kopf. Sie ist noch nicht fertig, obwohl sie zu Ende gegangen ist. Ich denke an meine Reisen, die Schlag auf Schlag folgen werden, und an das Geld – wie viel kann ich ausgeben, wie viel muss ich ausgeben? Vom 11. bis zum 23.11., vom 30.11. bis zum 05.12., vom 22. bis zum 28.12… Mitten drin in der Planung, erwartet mich dennoch ein großer Aufwand und vieles steht aus, bleibt zu organisieren. Mein Air-Kyrgyzstan-Ticket habe ich immer noch nicht.

Vor der ganzen Woche scheint DAS Erlebnis schlechthin fast aus meinem Kopf verschwunden. Obwohl es erschütternd war und in mir nachwirkt… Ich befinde mich an meinem Platz, im Büro, mir gegenüber der Sekretär; wir arbeiten jeder an unseren Dingen. Keine Ahnung, wie spät es ist. Der soeben eintretende Mitarbeiter, zu einer Frage ansetzend, verstummt mitten im Satz. Ein Rumpeln plötzlich und lautlos. Da ist es sehr still, nur der Sekretär murmelt, was ich ein Gebet zu sein verstehe. Es fängt überhaupt mit diesem Murmeln an, nach dem Abbruch der Frage. Einen Moment unheimliche Stille, ich spüre die Spannung, bevor ich es fühle – das Schütteln – alles innen. Der Körper bebt, die Augen sehen keine Bewegung, die Ohren hören nur fernes Gewitter, aber der Körper… Er zittert, er murmelt und der Kopf schwebt – nichts regt sich für diese lange Sekunde, in der es bebt, die Luft scheint still zu stehen. Erst dann tönt es: „Alle raus!“ von Julia und wie ein trunkenes Schiff, fast als letzter aus der Starre erwacht, den Rucksack noch geschnappt, steige ich die Treppe herunter, beginne erst dann, im Sonnenlicht, wieder klar zu denken, unter all den anderen, Lehrern, Mitarbeitern, aus dem Gebäude. Später wird gescherzt: „Ist schon mein viertes Beben“, meint der PASCH-Leiter, Heinar Bernt. Tatsächlich war es das, mehr oder weniger; nach einigen Minuten gehen wir wieder hinein; mein Laufen fühlt sich fremd an und mein Herz bebt noch lange später. Das Beben hinterlässt einen Schwindel, Zittern in allen Gliedmaßen, einen Kopf ein wenig aus dem Gleichgewicht und erhöhten Blutdruck – ein wenig Eingeschlossensein, wie einst bei meinen Anfällen in kühlem Wasser. Das Zittern bleibt noch über Stunden latent da, Konzentration fällt den ganzen Tag schwer. Bis zum Abend fühle ich mich manchmal wie Nachbeben, wieder ein Zittern im Kopf und ein stummes Rumpeln, aber es war wohl meist nichts. Wir hatten Glück, ein wenig gruselig war es, mehr nicht. Und die rein körperliche Erfahrung eines Erdbebens ist spannend – eine kleine Illustration der Schwäche dieses kleinen Stückes Fleisch und Knochen gegenüber der riesigen, mächtigen Erde. Das Epizentrum lag in Afghanistan, weit weg genug; die Erschütterung hat für einen Schrecken gereicht, nicht aber für ein Aussetzen der Schwerkraft, für fliegende Büroartikel oder Häuser, die einstürzen – die Vision hat man in dem Moment natürlich, wenn man vor dem Institut steht, alles ist ruhig, und doch stellst du dir vor, wie es einbricht, aus dem Nichts… Die Phantasie macht aus Kaulquappen Schmetterlinge. Nicht, dass ich meine Rolle als Zeuge eines Bebens überschätzen würde – das erleben Millionen von Menschen – aber dieses eigenartige Gefühl war es allemal wert, ausgewalzt zu werden. Ich als Deutscher, Europäer habe sowieso keine Vorstellung von solchen Dingen und als ich am Nachmittag bei der Eingabe von „Erdbeben – News“ las, „Erdbeben der Stärke 0,2 bei Mainz“ dachte ich mir: besser so als so.

Das Rumpeln des Kurses hat sich im Übrigen gelegt; gestern bekam ich für 100 Dollar 560.000 Sum – viel, aber keine 600.000 mehr, wie vor einer Woche. Als ich Geld wechseln wollte, aber jene alte Frau nicht da war, die mich kennt, die Alisher mir gezeigt hat und der ich als einziges unter diesen Geldwechslern vertraue. Aberwitzig ist es trotzdem. Diese 50.000 Sum hier habe ich auf dem Markt für unter zehn Dollar bekommen. Als ich letzte Woche mein Handy aufgeladen habe, dienstlich, bekam ich über 18 Dollar gut geschrieben. Allerdings glaube ich, dass meine Anrufe in Sum abgerechnet werden und mir diese Bilanz leider nichts nützt… Wär auch zu schön gewesen.

Im Übrigen ging diese Strähne dekadenten Essens, die letzte Woche so verheißungsvoll begonnen hatte, in dieser zu Ende – dienstags nämlich las Marc-Uwe Kling als Gast des Instituts abends aus seinem Känguru vor, ich durfte photografieren. Sehr witzig, wirklich, wie er das macht. Hauptsächlich lachten allerdings die anwesenden Deutschen. Die Usbeken blieben, nicht nur aus Höflichkeit, sondern auch wohl aus Interesse; stellten Fragen und beeindruckten durch ihr Verständnis. Es sind natürlich die Sprachspiele, historische oder gesellschaftliche Anspielungen, die ihnen entgehen – man spürt in solchen Momenten die Vorsicht, zu lachen, ein wenig unangenehm – fast schon systemkritisch. Ich hatte geplant, nach Hause zu gehen und nicht weiter an Marc-Uwe und sein Känguru zu denken. Als die Versammlung sich in Auflösung befand, die letzten Autogramme gegeben wurden und ich eigentlich nur noch auf meinen Kuli in der Hand des Autors wartete, den ich ihm für die Autogrammstunde ausgeliehen hatte, fragte mich Julia, ob ich nicht mitkommen wolle, man ginge jetzt essen. Klar. Eingeladen waren neben mir noch andere Praktikanten und Stipendiaten, also die Hälfte der deutschen community in Taschkent. Plus eben Marc-Uwe Kling und seine Frau, leider beide Vegetarier – damit ist man in Usbekistan geschlagen; fleischlos klingt hier immer nach Notlösung. Das „Kafe Sim Sim“ ist ein großes, neousbekisch eingerichtetes Restaurant in einem Raum mit enormer Auswahl an Speisen und einer Galerie, auf der wir saßen. Das Essen ist nicht zu teuer und schmeckt angemessen; die Atmosphäre, wie in vielen Etablissements usbekischer Einrichtung, lässt zu wünschen übrig. Allerdings stand am Ende endlich der Wodka, welcher mir schon beim Essen mit dem Fotografen in der ersten Woche gefallen hatte: „Beloe Solntsje“, weiße Sonne, usbekisch, günstig und gut. Gerade als wir gewärmt das Lokal verließen, die steile Treppe nach unten in den zentralen Gastraum abstiegen, schwärmten uns die Bauchtänzerinnen entgegen, ganz in Grün, hübsche Bändchen und Körper, ausnahmslos schlecht gelaunt. „Und jetzt gehen wir?“, fragte einer im Scherz, während ich mich fragte, ob sie heute noch lächeln würden. Man gibt ihnen Geld, damit sie tanzen, vielleicht werden sie dann glücklicher. Draußen gab man Herrn Kling noch die Hand und verabschiedete sich, nahm ein Taxi und wieder Schlaf. Mit dem Gast habe ich mich nicht unterhalten, dafür mit meinem Nachbarn – aufgehorcht habe ich nur, als es kurz, ausgehend von Terence Hill und Bud Spencer, um Filme ging. Ich war ja müde und hätte mich in wacherem Zustand eh nur über Marx, Kommunismus und was Lenin daraus gemacht hat unterhalten wollen, d.h.: Eher ist der Autor einer intellektuellen Diskussion entkommen, als dass ich etwas verpasst hätte… Immerhin schlug ich auf der Seite des Gutenberg-Projekts während der Woche den „18. Brumaire des Napoleon Bonaparte“ auf, ein guter Anfang für zukünftige Diskurse über Marx, aber kam nicht weit, als ich mir wieder der eigentlichen Aufgaben gewahr wurde.

Zu einem Zeitpunkt, da das Gröbste der Woche vorbei war, stellte sich die Ablenkung als sehr angenehm heraus. Zwei Tage lang war ich praktisch nur am E-Mails verschicken, Daten eintragen und sortieren – da muss man ähnliche Anfragen an zig Institute, zig Verantwortliche in Moskau, München, St. Petersburg, Nowosibirsk senden und Rücksprache halten, alles im Kopf ordnen und die Ergebnisse, die sich alle zwei Stunden ändern, niederschreiben, und nebenbei noch die restliche Arbeit erledigen. Theaterrechte anfragen, ganz andere Aufgaben bewältigen („Fotografierst du uns mal für die Broschüre zum Deutschlehrertag?“); am Ende hat man eine Hand voll Filme, die den Aufwand gar nicht wert scheinen. Nun gut, ich bin beschäftigt und das freut mich, denn so kasche ich Erfahrung für Erfahrung ein und werde nur reicher.

Der erste große Stromausfall fiel auch in diese Woche – auf Donnerstag. Hoffentlich ist der Strom am Montag wiederhergestellt – der Generator versorgt nämlich nur Computer, Deckenbeleuchtung, Steckdosen – die Drucker z.B. sind nicht angeschlossen. Und die unzuverlässige Uhr vor dem Institut, die mir zuverlässig die Temperatur anzeigt, bleibt stumm.

Was ist noch passiert? Ich habe die einmalige Gelegenheit verpasst, einer französischen Buchvorstellung beizuwohnen! „De Kiev à Kaboul“ war der Untertitel, es ging um irgendeine Reise, und die Autorin war Frau eines Mitarbeiters der Französischen Botschaft in Taschkent, den ich über ein vielleicht anstehendes Projekt mit dem Institut kennen gelernt habe. Nicht er hat mich natürlich eingeladen, sondern Julia („Felix, sprichst du Französisch?“), und auch wenn ich kaum ein Wort verstanden hätte – sehr schade, die Gelegenheit nicht wahrgenommen zu haben, sehr schade. Zugegebenermaßen, es hätte anstrengend werden können für mich, und von Anstrengung habe ich abends meist genug.

Ach, richtig, gestern wollte ich endlich einmal mein Zimmer putzen – der Staub hatte sich bereits vor meiner Ankunft angesammelt und war seitdem nicht weniger geworden. Ich fragte also Elmira besten Gewissens nach einem Besen. Hat sie nicht. Oder hat sie doch, aber nur einen dreckigen Reisigbesen. Einen Eimer habe sie auch nicht und als Lappen müsse ich ein Handtuch nehmen – einer der vielen Aha-Momente hier. Tatsächlich hatte sie selbst vor zwei Wochen die Böden gewischt, mit Eimer und Lappen, und mich gefragt, ob mein Zimmer auch an der Reihe sei – weil der Boden nicht frei war, verneinte ich. Wer hätte geahnt, dass es so schwer ist, an Eimer und Lappen zu kommen! Vom Besen ganz zu schweigen; hat natürlich auch so geklappt – wie man eben mit einem Handtuch den Boden wischen kann… Vielleicht wäre ein Handfeger eine sinnvolle Investition.

Alles, was nicht funktioniert, wie aus Deutschland gewohnt, zieht wie ein Scherz an mir vorüber und leise lache ich nur und mache weiter mit meinen Gedanken. Wenn man über nichts zu schreiben hat außer Erdbeben und Kleinkünstler, dann kommen die winzigen Punkte hoch, eben das Anders, was man irgendwie kennt und als Fehlen belächelt und sich doch nicht gewahr ist, wie viel noch anders laufen könnte. Wie klein sich solche Dinge ausnehmen im Lichte der Gefahr, in der wir alle schweben, unseren Planeten zu vernichten, zum Beispiel. Nein, es gibt genug zu genießen, hier wie überall, weshalb ich mich hier wohl und, daher der Titel, lebendig, fühle. Auch wenn diese Lebendigkeit sich im Moment der Müdigkeit, des müden Schreibens, eher ironisch anhört – wahr ist sie trotzdem, und ich spüre sie in einigen Momenten: Abends noch einen atmosphärisches Gang über den Basar unternehmen – angenehm kühl, der Himmel strahlt helllila nach – aus den Bäumen flattert eine Horde Krähen; ihr Geschrei ist beständig zu hören, es erinnert mich… an Magie, Literatur und Vergangenheit. Oben fliegt ein Schwarm Vögel vorbei. Die marode Architektur, Zusammengewirr aus 60 Jahren; ein leichter Windhauch streicht mir um die Ohren, es ist schön. Zudem mich der Lehm, Kiesboden begeistert, aus dem die Gebäude stechen, Pflanzen, Menschen, Alte und kleine Häuschen, in denen Reperaturschmiede ihre Dienste anbieten. Das neu gestrichene, steinerne Baldachin des Alaiskiy bricht, weiß erleuchtet, die Situation ins Überirdische. Die Gasse stößt in einen riesen Platz, weiter Beton und in der Mitte ein Springbrunnen, an dem vorbei im Herannahen die Wirkung des brutalistischen Steinwerks mit seinen Ornamenten, blau-goldenen Verzierungen am Dach, sich entfaltet. Was ist das für ein Gefühl – stehen bleiben und alles um sich fließen lassen? Schwer, schleppend, melancholisch, dunkel – aber Leben, ich fühle es hautnah und ganz dicht an mir dran; es ist Leben und ich lebe, wenn ich mich fühle und Müdigkeit, Schmerzen, Übersättigung und Erschöpfung sind letzten Endes doch nur Zeichen, das noch etwas da ist, das erschöpft werden kann, ermattet liegt und sich sehnt. Ich liebe diese Basar-Atmosphäre und sie ist das zweite neben dem Lepjoschka, das ich ganz sicher in Deutschland vermissen werde.

Diese Abende sind wunderschön, aber vergänglich. Wenn ich in zwei Wochen zum kulturweit-Zwischenseminar in Ulan-Bator fliege, werde ich sie vermissen – es wird kalt. Es bricht eine tolle Zeit an; so viel Reisen, gestochen klare Ziele, die ich verfolgen kann; trotzdem ich müde bin und Terpentin rieche, trotz der Anstrengung, die die Stadt von mir fordert und der Diktatur, die das Land ist, würde ich mein Leben hier gegen nichts eintauschen wollen. Gegen nichts, solange ich schlafen kann…

Einzug der Herbstlichkeit

Langsam kommt die Lust, mehr zu schreiben – als den Blog, Erfahrungen, die festgehalten werden. Ein Roman? Drehbuch? Vielleicht. Warum nicht? Ich habe wieder begonnen, über Kunst nachzudenken, bereits in der Woche zuvor eingeleitet durch die Lektüre, nun zum zweiten Mal, des einführenden Kapitels der Dialektik der Aufklärung, „Begriff der Aufklärung“ und fortgesetzt in der Beschäftigung mit Filmtheorie. Ein sehr schönes Büchlein hatte die Institutsleiterin, Julia, man duzt sich ja im Institut, in ihrem Büroschrank stehen: „Texte zur Poetik des Films“ mit ganz großartigen Beiträgen aus der Frühzeit des Kinos von u.a. Hugo von Hofmannsthal, Alfred Döblin und Kurt Pinthus. Dieses ausgeliehene Exemplar hat in mir langsam, so oft ich eben Zeit zum Denken außerhalb des unmittelbaren Erlebens habe, die bekannten Gedanken wach gerufen, Überlegungen zur Poetik, zu Sprache und Format des Films. Gleichzeitig habe ich zu Beginn der Woche von einem Essaywettbewerb der Leipziger Zeitschrift Edit erfahren, Einsendeschluss 15.12.2015, und plötzlich reiften diesbezüglich in mir Ambitionen… Es bedeutet: In Schüben und sukzessive erwacht mein alter Geist, der von allem Erleben und der Müdigkeit zunächst gelähmt war, wieder und gibt mir ein Gefühl des Künstlertums, zeigt mir diese Ideale auf, welche ich mir in den letzten zwei Jahren aufgebaut habe, gibt mir also freien Mut zum Weitermachen, Weiterdenken. Ja, wenn ich nur frischen Wind in den durch Schule schlaffen Segeln gesucht hätte, dann könnte ich jetzt nach Hause zurückkehren, wenn sich das Erleben dem Geist unterordnet, die Eingewöhnungsphase spürbar dem Gesetzten weicht, der Routine. Ich habe mich für die Radikalkur entschieden, nicht den seichten Weg leichter Veränderung. Selbstverständlich kein Grund, nicht alten Pfaden zu folgen, geistig, denn gerade in den Bereichen der Kunst werden alte sehr schnell zu neuen Wegen und Kreuzungen tun sich auf, weil das Auge wieder sieht, was vorher nur der Körper gespürt hat. Wohin will ich? Das vermag ich nicht zu sagen und besser ist es. Ich lasse mich lenken, werde freilich keinen Roman schreiben in dem Jahr, und wahrscheinlich auch kein Drehbuch – die Zeit, so ist das, rennt und selbst wenn sich die Eindrücke mir in Zukunft nicht mehr aufzwängen werden; ich suche nach ihnen, ich werde gerne arbeiten, weil diese Arbeit Möglichkeiten zeigt und Welten, die ich zuvor nicht erträumt habe, ich werde keine Lust haben, der Zeit hinterher zu rennen und am Ende mit vollem Kopf und platzenden Ideen nach Hause kehren. Zwischendurch wird kaum Freiraum für mehr bleiben als Träumen und Planen. Das ein oder andere Gedicht wird sicher entstehen, die ein oder andere Geschichte, hingekritzelte Visionen, Exposés werde ich mitnehmen von hier, aber ein fertiges Produkt? Ich bezweifle es.

Es ist eine volle Woche gewesen, voll geistiger Stärkung und körperlicher Schwächung, aber vielleicht sage ich das nur aus Willkür, Liebe den Widersprüchen gegenüber. Bemerkenswert in jedem Fall die Temperatur, die montags mit Kälte begann – Die Uhr vor dem Goethe-Institut, auf die ich aus meinem Fenster provozierend hervorragende Sicht habe, zeigt elf Grad an, aber ich glaube ihr nicht. Diesen Sommer, meint Shomansur, der Sekretär der Institutsleitung und mein Gegenüber bei der Arbeit, habe sie auch einmal 64 Grad angezeigt. Vielleicht ist das Gehäuse von der Sonne erwärmt. Man sieht seinen Atem fast, es ist kalt. Abends kann man kaum mit dem Pullover rausgehen und die Füße verlangen nach dicken Socken. Aber auch das legt sich – der Dienstag erwartet mich mit blauem Himmel, voller Sonne und nicht zu kalter Luft. Im Gegenteil – die Frische erweist sich als erholsam, angenehme Kälte auf der Haut; man genießt das Wetter und sieht mit hoffnungsfrohem Blick das Thermometer am Mittwoch auf 22 Grad klettern, ignoriert die Unzuverlässigkeit der Goethe-Uhr, die übrigens Werbung einer Telekommunikationsgesellschaft trägt, und denkt an Sommer. Ein Irrtum, fatalerweise, als der Donnerstagmorgen mit hoch zugezogenem Pullover, ein Glück der mit Kragen, beginnt – sechs Grad sagt die Uhr, und ich laufe abends ein Stück im straßenerleuchteten Dunkel, Hände in den Taschen. Es ist schön, die erste Kälte, als einsamer Spaziergänger neben den Autos und Laternen; heute Nacht soll es Frost geben. Man glaubt es ohne Frage. Doch was am Tag zuvor noch Romantik, Lebenslust und Zuversicht war, wird freitags zunehmend verdrießlicher. Die Temperatur bleibt ähnlich, das Wetter auch, und im Kopf, in den Beinen und den müden Augen macht sich die Achterbahnfahrt der Woche bemerkbar. Wenigstens geht die Heizung ab heute, wobei Elmira doch kürzlich noch meinte, sie starte ihren Dienst – zentral – erst am „01. oder 15. November“. Mir soll es recht sein, das Bett ist warm und der Morgen des Samstag schlägt mich mit einem Himmel solch brutal leuchtenden Blaus, dass es kaum zu begreifen ist. Die Luft über der Haut ist wärmer, die erstmals übergezogene Jacke tags unnötig, verbreitet aber einen zufriedenen Schauer inneren Wohls und von Sicherheit. Der zweite Wetterschock der Woche – heute sitze ich wieder im T-Shirt vor meinem Computer, bei offenem Fenster, selbstverständlich blauem Himmel und wundere mich, warum ich immer noch nicht krank geworden bin. Zugegebenermaßen, die Sonne macht viel aus, und als ich heute Geld wechseln wollte, den Spaziergang zum Basar unternahm, war der Pullover recht am Platz. Etwas durcheinander hat mich das Auf und Ab doch hinterlassen und so stocke ich vor dem Haufen an Notizen, die ich mir für diesen Eintrag gemacht habe. Ich hoffe, ich bekomme sie alle unter einem Hut.

Die Programmabteilung hatte wieder einen Gast eingeladen, Barbara Heinrich aus Berlin mit ihrem Mann Peter Anders. Sie sollte einen Workshop für die zukünftige Direktion der Taschkenter Biennale 2016 halten. Diese Biennale gibt es unregelmäßig seit den Neunzigern und wird vom Staat (wie auch sonst…) getragen. Die Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin sollte also den auf internationalem Parkett eher unerfahrenen Künstlern und Kuratoren an sechs Abenden, die dann zu Nachmittagen wurden, Aufbau und Management einer Großausstellung wie z.B. einer Biennale an internationalen Standards nahe bringen. So hatte ich das Vergnügen, allen Sitzungen in Arbeitszeit beizuwohnen und… nun, ich habe eine Vorstellung von der Organisation der zukünftigen Leipzig-Biennale. Ach nein, das Konzept ist ja viel zu mainstream für die Stadt. Außerdem brachte es den Vorteil, dass ich, nachmittags nun kontinuierlich beschäftigt, nicht in die Verlegenheit kam, aus Zeitüberschuss die Kinderfilme weiter zu gucken. Nicht, dass man es mir übel nimmt, aber meine Motivation, „Rettet Raffi[ein Kuscheltier]!“ oder „Rico, Oskar und das Herzgebreche“ zu sehen, hält sich doch in Grenzen. Und ich habe meinen sechsten Wochenendarbeitstag hinter mir.

Arbeit wurde sowieso zunehmend durch Vergnügen ersetzt, die Schleife fängt beim Workshop and und zieht sich im Essen zu. Gleich am Montag kam Julia zur Mittagszeit mit Jacke und Tasche durch mein Büro: Ob ich mitkommen wolle, eine usbekische Regisseurin lade zum Essen ein. Etwas perplex ordnete ich meine Sachen und folgte getrieben. Mal ehrlich, wie soll man da Nein sagen? Kamara Kamalova ist eine 76-jährige usbekische Regisseurin, die beim „Schlingel“ 2014 den Publikumspreis erhielt und mit dem Institut bei unserem Kinder- und Jugendfilmfestival „Shumbola“ zusammengearbeitet hat. Da das Institut irgendwie auch in den Film verstrickt war, lädt sie zum Essen ein – Julia, Ravshan und alle, die mitkommen wollen. Ich will. Am Ende komplettiert die Runde lediglich der „Fahrer“ des Instituts, Zafar, nur vier Jahre älter als ich, der sich ebenso über die plötzlich Gelegenheit freut. Die Wohnung ist in einer guten Gegend, wir hätten kaum mit dem Auto hinfahren müssen. In ihre kleine Wohnung tretend, begrüßt sie uns eifrig und geleitet uns zum reichlich gedeckten Tisch auf dem ausgebauten Balkon, in ein zweites Wohnzimmer verwandelt. Sie zeigte uns ihre Preise, aus Moskau und einige kleinere, die ich vergessen habe (so perplex war ich, noch immer), und ein Foto von ihrem Besuch bei einem Filmfestival im Iran in den Siebzigern… Zu sehen ist der Schah und seine Schahbanu; jawohl, derjenige, welcher das Land kulturell öffnete – die Regisseurin erzählte von Frauen mit tiefen Ausschnitten und Tanz und Trank wie in Hollywood – und welcher von der islamischen Revolution überrollt wurde. Dem Chomeini folgte. Der sich für einen gemäßigten Islam und für eine demokratische, dezentralistische und soziale Gesellschaft aussprach. Freilich hat nicht der Islam daran Schuld, was dann geschah – der Schah wollte seine Gesellschaft in Sphären führen, für die er sie nicht genug vorbereitet hatte. In solchem Moment obsiegen traditionelle Kräfte.

Aber das Essen! Usbekisches Norin (dünne Nudeln mit Rind), Kaviar, Sülze, die Russen so mögen, in Soße eingelegter Wels, phantastisches Rindfleisch, sehr deutsch schmeckend, in dunkler Soße, dazu natürlich Brot und einfacher Salat – als Vorspeise. Anschließend wurde Plov aufgetischt; dazu Saft und usbekischer Weißwein – nicht mein Geschmack, sehr süß, klebrig und mit einigen Umdrehungen, doch nur der Fahrer kam tatsächlich darum herum, zu trinken. Dem Nachdruck dieser Regisseurin war es schwer zu entkommen und nachdem alle beteuerten, sie müssten noch Leute treffen, Wichtiges arbeiten und ich irgendwie übrig blieb, hätte ich um ein Haar noch Wodka trinken müssen – kurz nach 14 Uhr. Spätestens als sie meinte, sie habe noch eine Torte, stöhnten wir und bekamen tatsächlich nur Gebäck zum Nachtisch. Selten, muss ich sagen, habe ich so gut gegessen, ein Festmahl aus dem Nichts, sozusagen, währenddessen ich auch irgendwie nur mit halbem Hirn da war und mit dem anderen immer noch am Schreibtisch saß. Auf dem Rückweg erfuhren wir durch Julias Handy, dass unsere Concept Note, damit der Antrag auf das EU-Projekt, abgelehnt wurde – zu wenig Punkte in gruselig aufgespaltener Tabelle, klassifiziert im Protokoll als „ungenügend“. Schade, aber: Wer hat die Chance, an einem solchen Antrag mitzuarbeiten?

Bezaubernderweise sollte dies nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich an einem gedeckten Mittagstisch gerufen wurde; bereits am nächsten Tag war es wieder soweit. Gong, die Glocke klingt und hechelnd stürzen die Hunde zu Tisch. Ich gebe zu, die Woche war ein wenig sehr dekadent. Barbara Heinrich sollte einige Teile ihres Workshops mit den Ausrichtenden an der Hochschule „Kamoliddin Bekhzod“ für Malerei und Design wiederholen und erfuhr zum Auftakt von Julia, Ravshan und mir offizielle Begleitung. Wie erwartet wurden wir, inklusive dem Übersetzer, ins Direktorenzimmer der Universität eingeladen, auf hohe Stuhle gebeten und bekamen gezuckerten, schwarzen Instantkaffee serviert – aus außerordentlich hübschen Tassen. Das Zimmer selbst, klein in der Fläche, glich ziemlich genau meiner Vorstellung eines sowjetischen Direktorenzimmers und sein Inhaber, witzig, grinsend, wohlgeformt, der eines usbekischen Direktors. Nach dem nun zum zweiten Mal rezipierten Einführungsvortrag über Biennalen wurden wir in einem Schwung vom Direktor zum Essen eingeladen. Mit den Frauen fuhr er in seiner schwarzen Limousine voraus, Zafar folgte mit dem Rest. Ziel: das „Labi Hauz“, in dem wir ein vorbestimmtes Menü bekamen: köstliches, fettigstes Blätterteigbrot, Suppe, Salat, Schaschlik. Highlight dazu: süßer, usbekischer Rotwein – in etwa Traubensaft mit Alkohol, aber ganz fein und ohne eine Spur im Kopfe zu hinterlassen. Wodka blieb aus; der Direktor musste ja selbst noch arbeiten.

Dafür steckte ich später in der Woche meine Nase zu tief in ein… sagen wir, Getränkegeschäft, um einen Blick auf die Preise zu werfen. Mit großem Hallo vonseiten der Herren, die drinnen saßen, musste ich gleich, wie es immer so ist, Auskunft geben über mich, mein Leben… Das kommt mir schon normal vor und angenehmer ist, man erzählt es Leuten auf der Straße als den Polizisten in der Metro. Ich sage ihnen, inzwischen zum dritten Mal, ich sei 23. Und immer noch meinten sie, der Bart mache halt älter. Am Ende muss ich das Angebot, einen der Wodkas zu probieren ablehen: Es ist mittags und ein Probeschluck sind 50 ml. Vielleicht steige ich demnächst auf 25 Jahre um und gebe mich als abgeschlossener Student der Religionswissenschaften aus.

Apropos Alkohol – der Leipziger Allasch, den ich als Mitbringsel anbieten wollte, und der kleine Rigas Balzams, tatsächlich eine Flasche für Besonderes, liegen unangetastet in meinem Koffer und warten noch. Keine Sorge, ich trinke nicht viel, nur bei Gelegenheit – solche bietet sich ab und an – so auch diese Woche am Freitag, als ich vor dem Abschiedsessen (s.u.) der Gäste im Hotel Uzbekistan warten sollte, während sie eine Stunde hatten, sich fit zu machen. Zum Zeitvertreib empfahlen sie mir die kleine Bar im obersten, 27., Stock, abgesondert vom Restaurant, von der aus man einen weiten Blick über den Amir-Temur-Platz hat. Ansonsten verbrachte ich die Zeit mit der einsteigenden Lektüre des Adorno-Aufsatzes „Der Essay als Form“, wobei ich nicht lange brauchte zu kapieren, dass damit natürlich der wissenschaftliche und nicht literarische Essay gemeint ist. Spannend trotzdem, wie Adorno den Essay als Bewusstsein gegen die, wie er es nennt, „positivistische“ Tendenz der sachlichen Welterklärung setzt. Ich habe seitdem nicht weiter gelesen. Der Aufstieg im Fahrstuhl in den 26. Stock ging schnell voran – alles sieht sauber und ordentlich aus, mir gefällt das Hotel, entgegen den vom Reiseführer mit dem Wort „Ostalgie“ geschürten Erwartungen. Vielleicht ist das auch schon wieder Retro. Eine Treppe muss man noch per Fuß nehmen, bis dorthin reicht der Fahrstuhl nicht. Hinter einer zahnarztweißen Tür verbirgt sich ein Vorraum, ich frage mich, wo das Restaurant ist und störe kurz ein Brautpaar, das sich gegen jene Tür photografieren lassen will, aus der ich gerade trete. Ich entschuldige mich, gehe einfach geradeaus – und gelange prompt an die schwach beleuchtete Bar. Der Mensch, einsam, einige Wodkas und Weine, Säfte stehen herum – er schaut auf den Fernseher, amerikanische Action. Ich störe ihn beim Gucken und frage nach usbekischem Wodka – verschiedene für einen Euro. Ich nehme den neuen. Nicht besonders, aber okay. Bei so viel Fett, das ich hier zu mir nehme, könnte ich ab und zu einen vertragen… Mit Blick auf den Amir-Temur-Platz, den Kreisverkehr mit seinen bis zu acht Spuren. Auf diesem Ring kann jeder irgendwie fahren; hier ist genügend Platz für alle. Den Straßen nach vorne folgend, steht in der Ferne das weiße Senatsgebäude, fast europäisch oder amerikanisch-klassizistisch, und nicht weit davon die goldene Weltkugel am Unabhängigkeitsplatz, auf der das einzig verzeichnete Land ein überdimensioniertes Usbekistan ist. Die Selbstsicherheit, sich so zu präsentieren, haben sie. Und immer ist noch genug Platz, der besuchenden Nation zu schmeicheln. So war wohl dieses Wochenende eine Delegation japanischer Politiker zu einem Staatsbesuch angereist – davon jedenfalls künden die im Duo gehängten Fahnen Usbekistans und Japans, die nun alle zehn Meter die großen Straßen der Stadt zieren. Hinweisschilder auf zentrale Orte und Wege wurden aufgehängt; überall, wo es wichtig zu sehen ist, werden Reparaturen durchgeführt – auf meinem Weg in die Stadt sehe ich Arbeiter an einer Ampel, an einem Zaun auf dem Mittelstreifen und an Laternen. Auch der Alaiskiy-Basar wurde in den letzten Tagen renoviert; ein Tross an Mensch und Maschinen stand herum und bohrte, hämmerte, schweißte – auch für den japanischen Besuch, jedenfalls nach Elmiras Aussage. Es erinnert mich an Lettland, als mir erzählt wurde, wie in den Neunzigern die Straße zum Flughafen durch den maroden Rigaer Osten mitsamt den anliegenden Fassaden renoviert wurde, weil der damalige amerikanische Präsident den Staat besuchen kam. Während ringsum der Zerfall sich fortsetzt.

Apropos: Der Kurs des usbekischen Sum ist bekannt dafür, je nach Baumwollernte oder Dollarkurs, erheblich zu schwanken. Am Samstag bekam man für einen Euro über 6000 Sum – ein Anstieg von 10% in einer Woche, gefolgt von einer leichten Krise im Goethe-Institut. Wie man noch seine Miete bezahlen solle… Momentan also drückt die Regierung ihren „offiziellen“ Kurs also um eine satte Hälfte gegenüber dem realem Wechselkurs. Jeder Ausländer freut sich, weil er für sein Geld mehr kaufen kann und jeder Einheimische wird bleich, weil ein hoher Kurs die Herabwertung seines Geldes bedeutet – an unserer Pinnwand in der zweiten Etage des Instituts hat jemand den Kurs in A4 aufgehängt. Das Gehalt der Mitarbeiter wird grundsätzlich in Sum ausgezahlt, aber in Euro berechnet. Zur Umrechnung muss der offizielle Kurs herhalten. Je höher die Differenz zum Schwarzmarkt, desto weniger der eigentliche Wert des ausgezahlten Geldes. Ein Beispiel: Bei 6000 Sum pro Euro verdient der Sekretär des Goethe-Instituts immer noch seine 700 € im Monat – nach offiziellem, künstlichen Kurs. Er bekommt es in 3000 Sum pro Euro – die Hälfte des realen Kurses. Praktisch ist sein Geld soviel wert wie mein Freiwilligengehalt, 350 €. Und ich bekomme noch Kindergeld. Allein mein staatlicher – deutscher – Anspruch macht mich reicher als den Sekretär der Institutsleitung – selbst, wenn der Kurs nicht so hoch ist, jetzt umso mehr. Das ist unglaublich und macht demütig vor den Leuten.

Nach einem so bedauernswerten Thema, die kritische Seite, geht es nun weiter mit Beiläufigem, das ich nirgendwo untergebracht habe: Ich bin – Lebenstraum – in einem Lada gefahren, Elmira lässt ihre Wohnung – nicht die, in der wir leben, sondern die gegenüber, die irgendwie auch ihr gehört – renovieren (ich höre immer, wie sie sich mit den Arbeitern streitet; ein Temperament fährt die auf…) und bis einschließlich Samstag hatten wir wieder nur kaltes Wasser, weil der neue Hahn in der Küche unbedingt bei heißem Wasser stecken bleiben musste und nicht ausgehen wollte. Weswegen Alisher das Warmwasser kurzerhand abdrehte. So blieb es eine Woche und aus fünf werden elf Kaltduschen – ich fühle mich wie ein Held. Ach ja, und ich war, die Einladung von Kamara ausgenommen, dreimal im Restaurant in dieser Woche. Zweimal eingeladen, das dritte Mal eher gefragt, verwirrt, mitgetapst und landete dann im Restaurant, wo ich gar nicht hinwollte. So was passiert halt, dann muss das Budget für einen kurzen Augenblick herhalten. Zweimal eingeladen, sagte ich – Bekhzod, zum ersten. Das nächste Mal am Freitagabend, zum Abschluss des Biennale-Workshops. In einem Etablissment, das Carlsberg-Bier serviert; gewohnt dekadent also. Anwesend drei der besonders aktiven Teilnehmerinnen des Workshops, welche sowohl Barbara Heinrich als auch das Institut seit einiger Zeit kennen, sie selbst mit ihrem Künstler-Mann Peter Anders, Ravshan, Julia, ich als Delegation des Instituts und: „einer der wichtigen usbekischen Künstler“. Weißbärtig, lange Haare, Witz und Ernst zugleich im Gesicht, gesunde Figur – ihm wurde seit wohl schon einiger Zeit ein Reiseverbot verhängt; im Inland darf er nicht ausstellen. Ein Dorn im Auge der hiesigen lupenreinen Demokratie also. Und was er erzählte! Von einer Ausstellung in Berlin 2011, der einige Tage mit „viel zu trinken und Marihuana“ folgten, von seiner letzten längeren Reise, nach New York, irgendetwas mit 50 Jahre Woodstock und eine Fahrt, wenn ich es richtig verstanden habe, per Auto nach L.A.

Den Anfang machte „warmer Salat“, ein Nudelgericht, auf den kalter Salat mit Tomate und Zwiebeln folgte, daneben eine Brotauswahl. Anschließend wurde eine Palette ausgewählter appetizers serviert, eine Zusammenstellung an Manti (kleine Teigtaschen), eine Pfanne überbackener Pilze, und schließlich als Hauptspeisen je eine Pfanne Tofu und in Mehl gelegtes, gebratenes Rind, sowie Hühnerfrikadellen und kleine Hähnchenkeulen. Da jedes Gericht zweimal gebracht wurde, kamen wir zehn Leute nicht annähernd durch. Es blieb ein angefressener Berg Essen, was mal wenigstens ein Tunnel hätte werden wollen, und ein dicker Bauch – der Wodka zum Verdauen blieb aus. Am Ende, müde wie ich war, konnte ich nicht mehr als dem usbekischen Künstler bei seinem rauschenden Monolog zuhören, an die stille Künstlerin, starre Zuhörerin, neben mir gerichtet, der wie ein Wasserfall aus seinem Bart blubberte, dabei immerwährend die dröhnende Kulisse des Restaurants, Feierlaune, Freitag Abend, offene Räume im Hintergrund… Ein wenig kalt wurde es auch, der Nebenraum war wärmer. Kaum mehr als Wörter konnte ich mitnehmen von dem, was der Alte so anscheinend Schönes zu erzählen hatte, manchmal blickte er mich direkt an, manchmal verzog er das Gesicht zu einem Lächeln; dann funkelten seine Augen und er, sicherlich, erzählte von Widerstand und einem Leben, das er hatte, das er liebt. Es gibt Menschen, solch einer war er, bei denen jedes Wort Bedeutung gewinnt und schwer wirkt, ganz ohne dass dies die Intention des Redenden darstellt, ganz unabhängig vom Verständnis der Wörter, Symbole, einfach bedeutend – Erfahrungen, Erzählungen über Kunst und die Welt, und gerne hätte ich das verstanden, was er erzählte, mit diesem Lächeln immer wieder, das ihn irgendwie darüber stehen ließ. Keine Bekümmerung darüber, dass er nicht zu seinen Ausstellungen im Ausland reisen und das Inland ihn nicht sehen darf. Ein junges Kunstwerk von ihm, das demnächst in Berlin zu sehen sein wird, ist ein Teppich aus politischen Witzen. Erkenntnis der Woche: Man trifft hier verdammt viele interessante Leute.

Für die Eindrücke sind neun Stunden Schlaf zu wenig. In der nächsten Nacht, der zu heute, schlief ich fast zwölf, und nun ist gut. Nur nicht hier, auf dem Blog; ein paar Zeilen bleiben mir noch – so abrupt möchte ich niemanden entlassen. Es ist vielleicht sogar Zeit, einmal zu schweigen, ohne danach gleich mit doppeltem Aufgebot zurückzukehren. Wer weiß, was die Tage bringen – und wie schnell sie vergehen; wie viel Zeit dann noch bleibt. Es ist vielleicht illusorisch, eine Woche zu schweigen – noch, denn noch lohnt es sich nicht.

Regen in der Stadt

Fünf Wochen. Ich werde ungeduldig. Vor meinem Fenster flackert der Regen, ein riesiges Gemurmel dringt durch Glas zur mir, die Räder, die ewig über nasse Fahrbahn spritzen, das Hupen; Motoren beim Anfahren, Gas geben und das Rauschen des Wassers überall – wie aus dem Schlaf in einen Traum aufwachen, der dich nirgendwo hinführt. Du sitzt und wartest und – wirst ungeduldig. Denn nichts, das dir aus Träumen bekannt ist, aus guten wie aus schlechten, passiert tatsächlich, es taucht nicht auf. Erst dann beginnt der Zweifel an der Theorie des Träumens – aber real sieht es trotzdem nicht aus. Du irgendwo, wo weißt du immer noch nicht – als würdest du es je wissen? – dein Ohr empfängt beständig Geräusche wie eines, immerfort währendes, deine Augen wandern unruhig zwischen den Zeilen und eigentlich denkst du nur, bis deine Finger dir sagen, wir tippen und deine Augen dir sagen, wir sehen, da, deine Gedanken, schwarz auf weiß, auf diesem Schirm, Pixel, das wissen wir, obwohl es imaginär sein könnte. Das Flimmern, du weißt schon. Und der Nacken, der Rücken erinnern sich nicht an die Ruhe und wollen wieder ins Bett, von dem du weißt, glaubst, denkst oder nur fühlst, ihm gerade entstiegen zu sein. Wie war das Frühstück? Hast du gegessen? Der Mund schmeckt noch das Aroma nach, aber war das wirklich? Nicht bloß ein anderer Traum, aus dem du in diesen gleitest, in jenen des Schreibens und Regens? – Elf Stunden habe ich geschlafen und trotzdem will ich mich wieder hinlegen, am besten weiter schlafen. Heimweh? Nur, wenn man es so nennen will. Es gibt Schlimmeres. Mehr eine Sehnsucht nach Ruhe, Bei-Sich-Sein, also das Bekannte, Ältestbekannte vermissend. Das Bett ist immer noch unbequem für meinen Rücken, an den Lärm vor meinem Fenster habe ich mich noch nicht gewöhnt. Ebenso wenig an die Küche, in der ich gerne kochen würde, die aber so anders ist als zu Hause – Elmira und Alisher essen ja auch immer bei der Oma mit dem Rest der Familie, kochen allenfalls Buchweizen oder Haferflocken zum Frühstück auf – dementsprechend ist ihre Küche auch ausgestattet. Ich vermisse etwas die wohlbekannte Ernährung aus Leipzig – jeden Tag auswärts, in einer der Basar-Kantinen, zu essen, ist auf die Dauer nicht besonders reichhaltig. Ab Freitag konnte ich zufrieden sein: mal nicht beim Tartaren, sondern bei „Loschka Kartoschka“ (Löffel Kartöffel) russischen Schtschi gegessen: Kohl, Ei, sauer, Brühe, Gemüse, etwas Rind. Hat nach Medizin geschmeckt, aber tat mir gut – besser als die spontane Küche des Tartaren. Da sieht es immer ein wenig nach Breschnew aus, und das Essen schmeckt, auch wenn es gut ist, nach Sowjetzeit. Und am Samstag, das folgt unten.

Nein, es ist nicht alles schlimm und traurig, ganz und gar nicht. Am Freitag dachte ich mir, schade, dass ich jetzt zwei Tage nicht im Büro sein werde. Schade. Der Regen kommt langsam zur Ruhe. Eine Sensation – die ganze Woche schon ist es grau, mit heute haben wir den dritten Regentag. Das es hier so was überhaupt gibt, hätte ich nach den ersten vier Wochen glatt bezweifelt. Im Zuge des Wassers wird es kälter – Samstag noch 30 Grad, bis Dienstag auf 15 und Donnerstag auf 12 Grad gesunken – es fühlt sich kälter an. Ein hässliches Wetter, vielleicht auch daher so viele Gedanken. Man gewöhnt sich rasch an die Wärme; gestern, am Samstag, saß, las, schrieb ich in meinem Zimmer mit Jacke.

Die Woche gab mir viel Raum, auch das habe ich genossen. Nachdem die Institutsleiterin, Julia Hanske, und der Leiter der Programmabteilung, Ravshan Israilov, vom „Schlingel“ zurück waren, ist meine Aufgabe nun, diese zehn, elf, einer fehlt noch, Filme zu sichten – von „Ritter Trenk“ bis „Meine Tochter Anne Frank“. Fünf habe ich hinter mir, in drei Tagen. Sie sollen alle zu Uzbek-Kino, zur Zensur, die ihn freigeben muss, weil wir die Filme öffentlich zeigen – im Gegensatz zu jener anderen Filmreihe, von der ich einmal schrieb. D.h. keine intensiven Knutschszenen, kein Sex, keine Religion, möglichst wenig Gewalt. Die Entscheidung sieht nach Willkür aus. Am Freitag habe ich zwei Coming-of-Age-Filme gesehen, wahrscheinlich beide – schade, denn schlecht waren sie nicht – um abgelehnt zu werden. Sie drehen sich um je ein 15-jähriges Mädchen – Pubertätsprobleme, Selbstmordversuche, natürlich viele Hormone und Liebe, peinliche Erwachsene, die keinen Deut besser dran sind, und starke und weiche Jungs… Sie haben mich seltsam berührt – ich in meiner Starre, wie soll ich auf solche Filme antworten, der ich weder Gefühlswelten noch Träume eines 15-jährigen Mädchens kenne – fühle mich fremd in diesem Metier, und dass, obwohl es doch gar nicht so lange her ist, ich mich erinnern kann an jene Zeit, dass ich so alt war. Also ein Grund mehr zur Sehnsucht – nach der Vergangenheit. Wie golden sich Schmerz und Liebe in den Filmen ausnehmen, es erinnert mich an die vergeistigte Vergoldung meines Lettland-Jahres – quasi das Äquivalent auf irgendeiner weniger physischen Ebene.

Elmira sagte zu mir, ich, der ich zuhause keine habe, solle mich hier nach einer Freundin umgucken, denn „usbekische Mädchen machen, was du sagst“. Wenn ich mich in den Dienst der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, welche Schule so bigott proklamiert und doch untergraben hat, stelle, passt mir das nicht ins Programm. Sie ist nicht die erste, die so etwas gesagt, vielleicht auch gemeint hat. Ein usbekischer Künstler, den ich in der ersten Woche traf. Der Mann von Julia Hanske. Aber der ist ja auch Russe.

Seltsame Erlebnisse – sie gehen, und das ist das schöne an einem Auslandsjahr – nicht aus. Eines Morgens stehe ich im Bus. Es ist voll, wie immer, bald muss ich aussteigen – die letzte Station vor dem Alaiskiy – da redet mich jemand auf Französisch an: „Vous ne sortez pas?“ Ich wundere mich, trete zur Seite, soweit eben Platz ist, warum ich ihn verstehe, warum ist das Französisch oder war das nur Illusion, tagträumerische Verwandlung in eine vermeindlich französische Frage, was eigentlich ein genuschelter russischer Satz war? Wer sollte schon Französisch mit mir sprechen – sehe ich so sicher französisch aus, so parisien oder bohême – das kann nur ein Franzose sein? Nun, andere raten und oftmals („German?“) richtig – wenn nicht, heißt es Frankreich oder Großbritannien. Ich sehe aus, heißt das, wie aus reichen europäischen Staaten. Aber Französisch? Vielleicht habe ich den Satz nur geträumt und es war tatsächlich Usbekisch. Dennoch: Die Situation war echt und in ihr, den Fängen des Augenblicks, habe ich nicht gezweifelt, dass es Französisch ist, das ich höre und verstehe; erst die Erinnerung brachte den Zweifel – das kann doch nicht sein – oder? Es wird ein ewiges Rätsel bleiben; schön, dass die Realität nicht so glatt und einfach ist, wie es Mathematik und Naturwissenschaften es uns zuweilen glauben machen möchten. Dass noch etwas Komplexität spürbar vorhanden ist. Jene seltsamen Ereignisse, über die man sich wundern kann. Das ist schön.

Zu Beginn der Woche ist mir im Übrigen gleich eine großartige Beschäftigung zum Zeitvertrieb über die Gedankenspuren gelaufen: Lesen. Habe also noch am selben Tag Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und einen englischsprachigen Essay über Thomas Pynchons „Mason & Dixon“ aus den Weiten des Internets in mich aufgenommen und gesättigt verarbeitet. Um einiges interessanter als die Seiten des Goethe-Intranets. In seiner Beschreibung meiner Arbeitswelten scheint auch der Dienstag interessant – erst Russisch-Vokabeln gelernt (um einen Sprachkurs habe ich mich noch immer nicht gekümmert), Nachrichten gelesen und Artikel auf dem Goethe-Portal. Ein bisschen über Frank Witzels Deutscher-Buchpreis-Gewinner „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ gelesen. Einen hauchdünn nationalistischen, usbekischen Dokumentarfilm über die Rolle Usbekistans im „Großen Vaterländischen Krieg“, insbesondere die Aufnahme vertriebener Kinder aus den sowjetischen Bruderstaaten in diesem Land gesehen und einen Buchauszug zum Thema „Verdeckte, deutsche Interessen in Usbekistan während der Zeit zwischen den Weltkriegen“ gelesen. Ja, und natürlich alles mit Fug und Recht: Russisch lernen, meinte Julia Hanske, sei für mich wichtig und Arbeit. Neulich erwähnte sie, ich könne doch mal „Kruso“ lesen, das gehöre ja schließlich zum aktuellen Deutschland-Bild, welches das Goethe-Institut vermitteln will (Säule Drei: Deutschland) – in dieser Logik habe ich „Die Erfindung…“ für potenziell interessant befunden. Und der Dokumentarfilm stammt aus einer Reihe der Goethe-Institute der Region Osteuropa-Zentralasien (OEZA), im Prinzip die GUS-Staaten, die ich mir, so Julia, auch mal angucken könnte. Alles also bei weitem keine Spielerei, sondern ernstes Vergnügen. Ab Mittwoch war ich dann von der Belebung der Programmabteilung (der Leiter, Ravshan, ist einziges Mitglied) direkt betroffen, sodass nur wenig Zeit blieb für Nachrichten und Persönliches – wie die irgendwie missglückte, doppelte Reservierung (nicht Buchung!) eines Fluges mit Air Kyrgyzstan, wegen der ich nächste Woche mal zu einer „Aviakassa“ gehen und das klären muss. Naja. Das kommt davon, wenn man sich auf russischsprachige Websites einlässt.

Aber es deutet alles darauf hin, dass nach meinem Mega-Beitrag letztes Mal nun Ruhe in mein Leben einkehrt – ich denke an Zuhause, mein Leipzig, an Lettland, dass ich gerne dorthin zurückkehren würde, und denke über meine Zukunft nach. Und denke nicht, dass ich viel zu schreiben hätte – die Seiten füllen sich trotzdem und zuverlässig, denn meine Hände können es nicht lassen und irgendwie klebe ich an diesem Computer und lasse sie machen, ein wenig blind, das Ergebnis mehr des Ist als des Wie wegen lobend, stolz sein auf die Menge an Gedanken, gleich welcher Bedeutungslosigkeit sie anheim zu fallen scheinen; sie sind mir alle viel wert.

Eigentlich waren Samstag und Sonntag Ruhetage für mich; Lesen, Schreiben, Verarbeiten, Träumen, Erinnern – doch ganz ohne draußen konnte mein Entdeckergeist doch nicht, und da wir gerade nicht einmal mehr abwaschen können (der neue Wasserhahn in der Küche ist sofort kaputt), nahm ich mir vor, auswärts essen zu gehen; in einer Choyxona, vom Reisführer empfohlen. Da ich eh die Jacke schon anhatte, steckte ich mir einfach eines dieser Hunderttausender-Bündel, Stift und Zettel in die Taschen, nahm Brille, Uhr und Handy und ging aus dem Haus in eine kühle, feuchte Nachmittagsluft, unangenehm zunächst. Es riecht nach Amerika, es fühlt sich an wie Dezember. Ich gehe durch die kalten Straßen, dünne Jacke, Hände in den Hosentaschen – es ist kalt. Ein wenig spazieren zwischen den niedrigen Häusern, alle aneinander gepfercht, eng, jedes anders und spontan, irgendwie lebendig, alles zusammen. Nicht wie die sowjetischen Wohnblöcke nebenan oder die überladenen Jugendstilhäuser Europas. Alles einzelne Häuser, nebeneinander gewürfelt, so liegen sie nun da und sind doch ewig in Veränderung begriffen – ich komme an einem georgischen Restaurant vorbei, an einem Hotel, wegen Renovierung geschlossen, und an einer Baustelle, die halbe Straße offen, der Rest fester Lehm, kein Pflaster oder Asphalt. Das sind die Viertel, neben denen ich wohne, so sehen sie aus. Ein gefundenes Fressen für die Augen, nach Eindrücken lechzend – hier stürzen sie sich auf alles und sind froh, aus dem Institut, wie warm und sicher es sein mag, in die Wildnis entlassen zu sein. Ich gehe, die „drunk street“ entlang, wo sich Cafés an Spirituosenläden und Bars reihen, hinunter zum Mirobod Basar, biege nach links in die Nukus ko’chasi ein und bald, bei der russisch-orthodoxen Kirche wieder nach rechts, in die Straße zum Nord- und Hauptbahnhof. Die Kirche ist größer als ich beim letzten Mal dachte, merke ich im Vorbeigehen und mit ihrem Anblick und der Kälte – freilich nur nach angewöhnten 30 Grad – fühle ich mich noch etwas mehr dezemberlicher. Bald endet die Straße in jenem Platz, der, im Zickzack und Wirrwarr großer Prospekte, Unterführungen, bis zum blauen Bahnhof reicht und auf der rechten Seite, auf der ich sowieso wandere, steht ein flaches Gebäude, das „Café Buxoro“. Ich trete in den kleinen Vorraum ein, links ein Schild „Für Nichtraucher“, hinter dem sich ein schmaler, vielleicht langer Raum versteckt – der Hauptsaal ist rechts, für den ich mich entscheide und durch den ich in einen mittelgroßen Raum mit freigeräumter Mitte gelange – abends wird hier sicher getanzt. Plov haben sie nicht. Dabei wollte ich in ein usbekisches Etablissement, damit ich Plov bekomme! Nun gut. Was sonst? Schaschlik natürlich, Hammel. Zwei Stück. Was noch – ich fühle mich mit der russischen Karte in Gegenwart der herabblickenden Kellnerin überfordert, stottere, da schlägt sie mir Somsa vor. Von dem Vorschlag erlöst, bejahe ich sogleich. Tee? Ja, grünen. Ist aus. Schwarzen? Ja. Lepjoschka? Ja. Ich entspanne mich. Die Preise sahen auf den ersten Blick gut aus, der Saal ist wenig gefüllt, ich habe mich ungünstig gesetzt – nach vorne blicke ich auf drei Gesellschaften, alle mit einer Flasche Wodka am Tisch. Alleine trinken will ich nicht und wenn, hätte ich ihn gleich mitbestellen müssen. Lust bekomme ich schon, so ein bisschen. Hinter mir stehen einige halb besetzte Tische in dem nett gestalteten Raum – die Decke aus zusammengenähten Teppichen. Einfaches Ambiente. Als ich später gehe, ist es merklich voller. Lepjoschka und Somsa kommen bald. Ich warte noch etwas, aber der Schaschlik braucht natürlich seine Zeit, kann ja nicht einfach in der Mikrowelle warm gemacht werden wie das Somsa. Welches – ich übertreibe nicht – vor Fett trieft. Zugegebenermaßen bin ich erleichtert, dass ich es mit der gelieferten Gabel zerkleinern kann – Usbeken tendieren schnell dazu, die Hand in solchen Belangen überzubewerten. Das Somsa ist lecker, noch größer als die auf dem Alaiskiy, und hauptsächlich mit Gehacktem (Rind) gefüllt. Passend dazu also der Hammel, der mir bald an den üblichen Schaschlikspießen gereicht wird, plus diesem sauren Kraut, das standardmäßig Beilage ist, und dem Tee – wieder eine ganze Kanne. Ich verzehre genüsslich, ganz usbekisch, alles durcheinander – so eine Mahlzeit Fleisch ist doch was Feines. Am Ende bezahle ich für alles 3,50 €. Typisch ist auch die Musik in dieser Choyxona – russischer Techno, zwischendurch – ich horche inmitten der Lautstärke auf – eine Version von Schuberts „Ave Maria“, und anschließend zeitgenössischer Pop als Playlist. Als der DJ zu singen anfängt, gehe ich. Draußen ist es schon dunkel, die Kälte schlägt nicht tiefer in die Knochen als vorhin. Inzwischen, mit vollen Magen, zufrieden, fühlt es sich an wie an Weihnachten – Heilig Abend oder die Feiertage, egal. Während ich die Straße schnellen Schrittes hoch marschiere, weht europäischer Gesang an mein Ohr und ich verringere mein Tempo, berührt; aus der Kirche schwillt geistliche Chormusik. Erhebend, feierlich, wie der Klang zu mir herüber weht, und für einen Moment ist es zum Weinen europäisch. Ich lausche, schaue auf den blau-weißen Bau, barock-klassizistisch nachempfunden, doch unmissverständlich neo und modern. Die Straße und der Basar lassen diese kurze Illusion, wie sie da so vor mir schwebte, einmal mehr weichen und machen Platz für die Stadt. Wenn irgendwo in Taschkent abends etwas los ist, denke ich mir, dann hier, an der Mirobod ko’chasi, „drunk street“, wie sie genannt wird. Zuhause schaue ich mir noch Oleksandr Dowshenkos „Erde“ an und schlafe elf Stunden, um mit jenen Gedanken zu erwachen, mit denen dieser Eintrag begann.

Ich sehe, das Leben ist ein Kreis. Das Glück, das man hat, wendet sich zur Sehnsucht und zurück. Nichts, das besser wäre als dieser Lauf, diese Wiederholung – wie beruhigend, dass sie wiederkehrt, mich nicht verlässt, unter allem, das es sonst tut. Ich bin frei, und ich denke, ich werde mir abermals etwas zu essen suchen, vielleicht nicht ganz so romantisiert wie gestern. Nun, ich schreibe wieder, und vielleicht findet jenes, das nach Redaktionsschluss geschieht, Erwähnung im nächsten Beitrag, nächstes Mal. Und vielleicht, ich hoffe es doch, hört der Regen langsam auf, weichen die Wolken und machen Platz für den ewigen Sonnenschein, der sonst hier, in Taschkent, herrscht und alle Gedanken zu Töchtern der Liebe, alle Gefühle zu Söhnen des Glücks macht.

Taschkent [Bildserie!]

Bilder der unterschiedlichsten Gefilde, die ich bereits betreten. Diesmal ohne viel Text, das Konzept des „Chorsu“-Beitrags hat mir noch nicht gefallen…

Arbeit, Müh, Taschkent (2)

Nun ist es Oktober. Ereignisse aus der Vergangenheit kommen plötzlich hoch – am 13.10.2014 habe ich meine Fahrprüfung bestanden, am 18. sind wir in die USA gereist – und das ist jetzt ein Jahr her? Dinge werden Vergangenheit, nehmen Abstand, die eben noch so lebendig und nah vor meinen Augen flackerten – und wenn ich daran denke, wie dieser Moment, dieses Taschkent, bald auch nur Schatten und Erinnerung sein wird… Lebenslange Prägung, aber was einmal war, wird nicht wieder. Immer diese Müdigkeit, die mich vom Schreiben abhält, oder es zu einem Kampf gegen alle Worte, die nicht kommen wollen, gegen alle leeren Zeilen, macht… Dabei ist es schon das einzige, was ich außerhalb des Instituts mache – Blog schreiben.

Hier sitze ich, sowjetische Betonschönheiten vor Augen, Riesenhaftigkeit, Unheimlichkeit, schaue auf die Welt und denke über die Schnelllebigkeit der Tage nach. Diese Woche ist viel passiert – und viel vorbeigegangen. Samstag und Sonntag habe ich mit kleinen Ausflügen und mit dem Schreiben verbracht – Ausflüge in das Taschkent, das ich noch nicht kannte, verborgenere Winkel als die Sehenswürdigkeiten und üblichen Checklistenziele, welche von den Touristengruppen innerhalb eines Tages abgewandert werden. Habe mir Schuhe gekauft. Alisher meinte, sie reichten nicht für den Winter und ja, es sind nicht mehr als Halbschuhe. Ich bin optimistisch. Wenn nicht so viel Schnee fällt; denn Kälte lässt sich aushalten. Winterstiefel habe ich zu Hause, will ich nicht neu kaufen müssen. Vor acht Jahren, meinte Elmira, gab es einmal viel Schnee. Letztes Jahr dagegen nur für einige Tage – hier in Taschkent zumindest. Wer weiß, wie es in Ulan-Bator sein wird, wenn ich im November dorthin reisen werde – das Zwischenseminar von kulturweit wird dort stattfinden und ich rechne mit Kälte, Schnee vielleicht, ja – und die Reise selbst, über die Berge, dann Bischkek in Kirgistan. Ich hoffe, sie reichen und wenn nicht, muss ich mir andere besorgen, auch das wird mein Budget nicht umbringen. In den ersten drei Wochen habe ich durchschnittlich zwei Euro pro Tag ausgegeben – das ändert sich jetzt, wo der Alltag näher rückt, und ich weiß, dass ich nicht sparen muss. Man verliert diese vielen Scheine genauso schnell, wie man mit ihnen überschüttet wird; und bei weitem nicht alles ist billig hier – man kann aufpassen, dann sind zwei Euro pro Tag genug, exklusive besonderer Ausgaben, Shoppingtage etc. Die zwei Euro übrigens schließen das Mittagessen ein – nicht jeden Tag esse ich auswärts, bei so viel Außerregulärem, bisher drei Mal pro Woche. Ab knapp über einem Euro kann man beim „Tartaren“ essen – Suppe und Brot. Eine volle Mahlzeit mit genügend Auswahlmöglichkeit: Pelmeni, Borschtsch, Lagman, Lapscha oder Tefteli – bis auf Letzteres habe ich alle probiert; Lagman,dicke Nudelsuppe mit Fleisch und Gemüse, und Pelmeni, in Hühnerbrühe, sind meine Favoriten. In den Tagen der EU-Arbeit haben wir dagegen den Schnellimbiss vorgezogen: Somsa; 1500 Sum das Stück (schwarz: 5000 Sum = ein Euro), zwei sind eine volle Mahlzeit. Alternativ wird auf dem Alaiskiy noch Lavash als Fast Food angeboten, ein gerolltes Fladenbrot mit Fleisch vom Dönerspieß, Chips (!) und Gemüse – ist aber mit 7000 Sum teuer. Vielleicht war’s nur Ausländerpreis.

Um noch einmal den Bogen zum Beginn der Woche zu schlagen, jenem Montag, an dem ich in der „Delegation of the European…“-und-so-weiter war, hat mich die Institutsleiterin gleich in ihrem Auto mitgenommen – weil meine Wohnung praktischerweise auf dem Weg zu ihrer liegt. Im Zentrum der Neustadt, plötzlich, sahen wir vor uns einen Tross unheimlicher Fahrzeuge einbiegen, den sie dann überholte: Zwei Wagen verschlagenen Eisens, selbst die Räder scheinen aus Stahl. Bucklig, brutal, wie sie die Straße entlang rollen, verhalten aggressiv und unruhig: Braun in Braun, Metall an Metall mit dicken Nieten. Vorneweg Polizeischutz mit Sirene, hintan ein unauffällig dunkelgrünes, wahrscheinlich sowjetisches, wie die Wagen, Äquivalent zum Militär-Jeep mit drei zivil gekleideten Männern an Bord. Warum ich die Männer erwähne? Es ist eine Mischung aus Unsinn und Gefährlichkeit, diese Polizeipräsenz hier – die Männer müssten sich nicht in Zivil kleiden, ihre Zugehörigkeit zu dem blaulichtbegleiteten Geheimnistransport ist evident. Dass sie es trotzdem tun, wirkt unheimlich. Genauso sinnentleert sind jene Taschenkontrollen an den Zugängen zur Metro, die manchmal auch Unterführungen sind, die ich daher benutzen muss: Der Polizist fordert mich auf, meinen Rucksack zu öffnen. Ich mache das größte Fach auf, er sieht hinein und entdeckt einen Pullover, streift mit seinem Piepser einmal unten am Boden entlang, es piept und ich darf gehen. Polizeikontrollen an Parkplatzzufahrten: Man wird aufgefordert, die Heckklappe zu öffnen, der Beamte sieht einen Koffer und schließt den Deckel. Solche Aktionen sind ermüdend – man könnte alles in die Metro schmuggeln, solange es klein genug ist unter einem Pullover zu verschwinden und evtl. noch unten gepolstert, damit der Piepser nicht anspringt. Wenn man eine Bombe auf einen Parkplatz schmuggeln will, packt man sie in einen Koffer. Das sind Alltäglichkeiten, deren Sinnlosigkeit ihnen einen Grad von Gefährlichkeit verpasst – denn sinnlos heißt in dem Kontext Willkür. Es ist eine Demonstration von Macht, und dem Gefühl der Unterlegenheit entkommt man nicht – nicht jedenfalls, wenn man am öffentlichen Leben teilnimmt. Es wirkt ein wenig wie „Wir könnten euch jederzeit festnehmen.“ – eine Drohmaßnahme. Wie die Gerüchte, die mir Alisher erzählt hat: in Chilonzor, einem Taschkenter Bezirk, würden jetzt Menschen, die sich nicht ausweisen können, von der Straße weg festgenommen, um die Sicherheit des turkmenischen Präsidenten, der zur Zeit zu Besuch ist und in der Nähe weilt, zu garantieren. Ähnlich sieht dem die Sperrung von Skype. Tja, funktioniert eben gerade nicht im Staate Usbekistan. Aus technischen Gründen, versteht sich. Und was ist mit der seltsamen Verkündigung Elmiras letzten Sonntag: Montag bis Freitag nur kaltes Wasser. Warum? Der Staat oder die Stadt stellt den Bezirken fünf Tage lang das Warmwasser ab, um „für den Winter zu sparen“. Aha. Und am Ende ließ Alisher auf zwei Kanälen das Wasser laufen, fast eine Stunde lang. „Um die Rohre zu reinigen“, die jetzt fünf Tage nicht durchflossen worden sind. Aha. Immerhin, ich habe bemerkt: Eiskalt duschen ist grundsätzlich machbar. In derselben Zeit waren es draußen konstant über 30 Grad. Typisch Oktober.

Nach der stressigen Zeit mit dem EU-Antrag hatte ich mich dazu entschieden, mir am Dienstag ausgleichend frei zu nehmen und mich wieder etwas zu bewegen. Der Ausflug zum Chorsu-Basar hatte mir gut gefallen und nun wollte ich die alte Bausubstanz Taschkents genauer kennen lernen: mein Ziel war der Hast-Imam-Komplex im Norden der Altstadt, ein Platz, auf dem noch drei historische Bauten stehen. Mit der Metro zu fahren, ist immer noch nervig: Einer der Polizisten fragte mich diesmal, ob ich verheiratet bin. U menja zheny net. Und warum nicht? Auf dem Rückweg auch: Es gibt nichts Schöneres als ein Plauderstündchen mit Polizisten im Dienst. Ich will es ihnen nicht wirklich übel nehmen – auf den Basaren bin ich immerhin auf ähnliches Interesse bei Fleischhändlern, Passanten gestoßen. Ich wollte nicht wieder beim Markt beginnen, also fuhr ich mit der Metro eine Station weiter: Tinchlik. Aus den Kellern ans grelle Tageslicht stolpernd, erstmal stehen bleiben und die Orientierungslosigkeit abbauen. Sie vermindert sich nicht, auch nicht nach einem Blick in den Reiseführer, der diese Straßen hier nicht kennt – sie sind außerhalb seines Blickwinkels. Ich bin ja spontan und lauflustig, also marschiere ich in die beste Richtung los – eine lange, breite Straße mit Mittelstreifen, aus dem diese hohen Laternen empor ragen, die immer ein bisschen an Auswärts erinnern. Ich gehe auf der linken Seite, große Betonplatten, baumgesäumt wie die andere, an einem militärisch bewachten Schuppen mit herumstehenden LKWs vorbei, die sich bald verbreitet und in eine gewaltige Ebene öffnet – rechts die Straße, welche sich immer weiter von mir entfernt, je weiter ich gehe, dort vorne irgendwo eine Kreuzung, man sieht Plattenbauten in der Ferne, und eine Werbetafel. Zwischen mir und der Straße aufgeschüttete, umgegrabene Erde – ein Arbeiter schippt den ersten Haufen ab. Der Gehweg wird zu einer kleinen, asphaltierten Straße, deren linken Rand Schaschlik-Buden säumen; rechts bleibt der Schutt. Erst als ich die Querstraße erreiche, die sich weiter Richtung rechts bei den Plattenbauten mit jener anderen, der ich gefolgt bin, kreuzt, steht rechts ein Marktstand, der Melonen und Kürbisse anbietet – riesige Exemplare. Links kleine Läden; ich biege in diese Richtung ab, wo es am belebtesten aussieht – und erreiche sobald einen kleinen Markt: Brot, Schaschlik, ein wenig Gemüse und Obst. Ich trete auf das Gelände, schlendernd, hätte fast Lust, Brot zu kaufen, ohne wirklich Hunger zu verspüren, nehme links das kleine Tor in diese Gasse an Lehmhäusern, Schlagschatten – alles beige hier, spannend. Der Schatten macht das Foto kaputt, also gehe ich tiefer hinein, neugierig. Einige Mete weiter nun doch: rechts in einem dunklen Loch bäckt ein Pärchen Brot in einem kleine Ofen, um es draußen zum Verkauf zu stellen, in einer menschenleeren Gasse. Die beiden sind mir sympathisch und ich würde sie gerne unterstützen – ich schaue hinein, das ungezwungene Lächeln des Mannes überzeugt mich vollends. Sie sucht mir ein besonders gut aussehendes Stück heraus – für 1000 Sum, das fast zu heiß zum Anfassen ist. Zum Glück gibt es ja diese schwarzen Plastiktüten. Ein Drittel des Preises vom Brot auf dem Alaiskiy und geschmacklich eines der besten – ich überlege, ob ich den Weg noch einmal auf mich nehme, nur für dieses Brot, das ich verzehre, während ich die Einfachheit bestaune, die eintönigen Oberflächen, die schlechte Straße, fast menschenleer, viele sind sicher arbeiten, einige Handwerker auf den Dächern. Ich gehöre nicht hierher, fühle mich fremd, so mit meinem Rucksack, meiner Kameratasche, in Hemd mit Goethe-Kuli in der Brusttasche. Westler. Ich merke, wie die Situationen meine Kameras überfordern – die Lehmhäuser, „Slums“ – das ist keine seichte Touristenfotografie; ich sehe das Leben selbst, welches mehr fordert als rasch gescannte Pixel, den Blick eines Amateurs oder schöne Linien und Formen – das hier abzubilden, müsste ein Profi ans Werk und ich, leider, muss vor der Riesenhaftigkeit dieser Erde passen. Wie eine Reise in eine andere Welt hat sich das ausgenommen – Faszination pur, die ich dank der Leere beinahe ungestört auskosten konnte, ohne Scham, Hektik – ohne das Gefühl, ich müsste hier dringend raus. Ich will hier raus, aber noch lasse ich alles auf mich wirken, weil es so stark ist. Ich stelle mir das Leben hier vor und fühle mich reich und ignorant. Irgendwann bin ich wieder auf einer Straße, habe das ärmliche Viertel verlassen und denke mir, was ich dann zu solchen in Sierra Leone, Botswana, Indien sagen würde – man muss nicht immer gleich das Extrem sehen. Ein Junge in Schuluniform läuft zu mir vor, sagt etwas auf Usbekisch und als ich meine, Ja ne ponimaju, rennt er zurück zu seinen zwei Kumpels. Nacheinander kommen beide in der gleichen Art zu mir, laufen neben mir her, sagen aber nichts. Mir macht das nichts; bald biege ich an einer großen Kreuzung links ab, da sind sie schon nicht mehr hinter mir. Ich komme an barock nachempfundenen Gebäuden mit davor gedrungener Menschenmasse vorbei und wundere mich. Ich bin lange genug gelaufen, meine Schuhe sind nicht die besten und brauche eine Art Pause – schon fliegen die Eindrücke eher mechanisch an mir vorbei – was auch der Eindrucksvielfalt in dem Viertel zuvor geschuldet sein mag. Jedenfalls marschiere ich zur nächsten Bushaltestelle, die nicht lange auf sich warten lässt und nehme den erstbesten Kleinbus, auf dem „Chorsu“ steht – denn da wollte ich ja eigentlich hin, zum Hast-Imam-Komplex. Zuerst fand sich kein Sitzplatz für mich, doch die Fahrt sollte dauern und ich konnte bald etwas ruhen. Denn der Bus fuhr an sich, wie ich später bemerken sollte, ein Stückchen in die entgegengesetzte Richtung, wendete und fuhr dann Richtung Basar – nicht direkt, sondern mit Umweg: einmal komplett durch die Bo’ston-Mahalla. Mahallas sind Wohngebiete, Viertel, die eine eigene administrative Struktur besitzen und ziemlich verbreitet in Taschkent – so lassen sich Dinge auch einfacher kontrollieren… Also einmal durch enge Straßen, enge Kurven, unasphaltiert, abenteuerlicher Fahrstil des Fahrers, bis wir genau dort wieder herauskommen, wo wir eingebogen sind. Die Straße, sehe ich später, ist genau jene, die sich schon von der Wohnung, in der ich lebe, bis zum Basar zieht – und anscheinend noch ein ganzes Stück Richtung Norden geht. Vorbei an der Metro Tinchlik (ein Rechteck!), an schicken Kleidungsgeschäften, Juwellieren und mehreren (!) Supermärkten (für einen von denen bekam ich Tage darauf an der Haltestelle des Alaiskiy Werbung in die Hand gedrückt) vorbei bis zum Südrand des Basars, an der Kukeldash-Medrese. Mein Ziel liegt nördlich des Trubels, ich schätze aber den Südrand als Orientierungspunkt. Also einmal quer über das Treiben und Kaufen, mit kurzem Zwischenhalt nur auf der Toilette. Verwirrt, am Nordrand, stand ich nun, den Reiseführer in der Hand, die Realität vor Augen, und fragte mich, wo jene Straßen aus dem Buch hier zu finden seien. Da Zeit war, nur die Überlegung nicht, folgte ich einfach dem Weg, um ein grünanlagenumführtes Gebäude mit kreisrundem Grundriss und mit der nur englischsprachigen Aufschrift „Ministry for Public Education of the Republic of Uzbekistan“ zu entdecken. Die Treppen nach oben konnte man besteigen – ein Blick über Taschkent! Der nicht im Reiseführer steht und kostenfrei ist! Der Blick öffnete sich über den riesigen Chorsu-Basar, den Dunst, die Stadt, und tatsächlich, Richtung Norden, konnte ich die Minarette einer Moschee im typisch alten, beige gekachelten Stil entdecken – und obwohl mir der Reiseführer immer noch nicht weiterhelfen konnte, hatte ich nun eine Richtung. Eine Frau sprach mich an, interessiert, was ich lese – den Reiseführer, was heißt Reiseführer auf Russisch? – fragte mich ein wenig aus und am Ende bedankte sie sich für das Gespräch. Was für Aussichten als Europäer, so gehuldigt zu werden! Und ich denke wieder an das Viertel, das ich durchschritten habe. Ich verlasse den Turm und schlage jene Richtung ein, die mir mein Blick von oben diktiert. Laufe an einem neousbekischen Bauwerk vorbei, dahinter ein älteres, wieder ein ähnlich armes Viertel, ich überlege hinein zu gehen, tue es nicht. Die nächste Querstraße erlaubt den Blick nach links auf die Minarette, die ich gesehen habe, und ich freue mich, dass ich mich nicht verlaufen habe. Folge dem Ruf der Türme, große Betonplatten, auf denen ich gehe, hohe Bäume, aber kaum Schatten. Rechts reichlich verzierte, futuristische Plattenbauten. Irgendwann – endlich – komme ich an: Der Hast-Imam-Komplex ist ein weiter, neu angelegter Platz mit drei historischen Gebäuden – ein begehbares (wahrscheinlich mit Eintritt) Bauwerk in der Mitte, an den Seiten hier die Moschee – gewaltig – dort die Medrese Barak Chan. In ihr wird allerlei Kunsthandwerk verkauft: Koranständer, Holzschatullen, Keramik und Porzellan, Wasserpfeifen, Tonfiguren, Gemälde, Wandteller – schick, aber teuer. Den Rückweg trete ich, schon etwas zerrupft, tatsächlich durch das Viertel an, das mir aufgefallen war. Der Eindruck, den es hinterlässt, ist weniger stark als der des ersten, vermutlich auch meiner schwindenden Aufmerksamkeit, Kapazität mitzudenken, geschuldet. Mit noch mehr Eindrücken, Ballast, muss ich mich dringend setzen und finde bei oben genanntem Rundbau, im Rücken den Basar, einen erhöhten Treppenabsatz im Schatten. Zehn Minuten sitze ich da, den Reiseführer in der Hand, und praktiziere wohl so etwas wie erholsamen Wachschlaf – gelesen habe ich in der Zeit jedenfalls nicht. Auf dem gegenüberliegenden Absatz sitzt ein Mann im Anzug und telefoniert leise auf Russisch. Als ich irgendwann bemerke, dass ich trotz des Buches in der Hand nicht lese oder mir diese aufgeschlagene Karte ansehe, schlage ich es zu und mache mich wieder auf, bereits deutlich frischer – wie viel zehn Minuten Sitzen (im Schatten!) ausmachen; es ist erstaunlich. Mein Weg führt mich durch den Basar zur Metrostation; ich kaufe auf dem Weg fast ein kleines Tuch und tatsächlich grünen Tee und habe anscheinend noch genug Energie, nur bis zum Supermarkt zu fahren und den 15-minütigen Rückweg mit neun Litern Wasser auf dem Arm anzutreten. So werden 20 draus. Das erste Mal koche ich, in der Wohnung angekommen, für mich selbst: ganz einfache Tomatensuppe mit vielen Kräutern und fühle mich gleich viel wohler. Wie jeden Tag falle ich abends erschöpft ins Bett, stehe am nächsten Tag aber deutlich erschöpfter auf.

Andere Ausflüge führte ich am Wochenende durch: Samstag einfach eine mit dem Schuhe-Kaufen verbundene Wanderung entlang des Kanals Anhor, der die Stadt durchzieht, am Sonntag eine aufregende Exkursion an den südöstlichen Rand Taschkents, wo die Ausfallstraße weiter ins Ferganatal führt, zum Qoyliq-Basar. Erneut packt mich gleich die Fahrt – diesmal in der Marschrutka, diesen Gefährten, in denen man fast Platzangst bekommt, mit dem Rucksack auf dem Schoß, im vollen Auto, dazu Kinder, die keinen extra Platz bekommen… Ich meine aber die Vorstadt, Häuser, Zäune, aufgeplatzte Straßen, die Elektrischka (Vorstadtbahn), deren Gleise die Straße noch huckliger und zerfurchter machen; alles sieht alt aus; ich fühle mich in die Achtziger hineinversetzt. Tatsächlich scheint die Hälfte der Autos aus dieser Zeit zu stammen – oder aus einer noch früheren. Die Menschen, Läden sehen aus, wie in der Zeit stehen geblieben. Jene Chevrolets, die auch herumfahren, wirken selbst wie im falschen Film und man ärgert sich ein bisschen über die eingeschränkte Sicht aus den Marschrutka-Fenstern. Auch Qoyliq selbst, bzw. der zentrale Ausgangspunkt zahlloser Marschrutkas bei Qoyliq kommt wie eine Baustelle daher. Die Marschrutka nimmt die Abfahrt, nach rechts und über loses Geröll, Sand, wie ein aufgerissener und nicht wieder zugeteerter Fahrweg, zu den Überdachungen, wo sie anhält und ihre Fahrgäste entlädt. Ich sehe mich um, etwas perplex. Ein Chaos ist das hier! Nicht nur unter den Dächern, auch weiter vorne parken kleine Busse, Marschrutkas, alle durcheinander, wo eben Platz ist… Ich gehe ein Stückchen nach vorne, habe keine Ahnung, wo ich bin und wo der Basar ist, da tauchen auf der anderen Seite der Querstraße, welche von jener nach Fergana brückenartig überschlagen wird, hohe Hallen auf, fast wie ein ausgebrannter Jugendstil-Bahnhof, auf denen in großen, grünen Lettern „Qoyliq bazari“ zu lesen ist. Ein wenig taumle ich zwischen den quer stehenden Bussen und Autos auf dem dreckigen Sandboden umher, vielleicht ist es inzwischen auch Beton. Ich gucke mich um und es dauert, bis ich die Unterführung entdecke, direkt an der Querstraße, verstellt von weißen, hohen Fahrzeugen. Ich bin froh, dem Gerammel und Chaos des Busparkplatzes entkommen zu sein, denn die Unterführung ist leerer. Doch der Basar an sich, muss ich schnell erkennen, ganz und gar nicht. Wenn Chorsu der große Bruder ist – weitläufig, riesenhaft, mächtig, stolz und unerbittert – dann ist Qoyliq der kleine – auch gewaltig in Größe und Vielfalt, aber eng, unaufgeräumt, rasant und fluchend, dreckig – ein großartiges Terrain zum Bestaunen der Fremdheit. Und eines, vor dem man sich als Westler gerne abschottet und ein wenig froh ist, dort weg zu sein. Hier dominieren die Lebensmittel, Pflanzen gibt es nur wenige, Souvenirs und Handwerkskunst fast keine, und umringt wird die große Halle von kleinen Läden: meist Imbisse oder drogerieartige Geschäftchen. Hier ist vieles günstig zu haben, am Ende gehe ich mit Keksen, getrockneten Aprikosen (köstlich!), Zahnpasta, Lepjoschka und drei Granatäpfeln, nachdem Elmira gesagt hat, sie habe schon seit Jahren keine mehr gekauft, weil sie so teuer seien. Zugegeben, 50 Cent pro Stück scheint nicht wirklich teuer, aber dieses Jahr war die Ernte schlecht und, ehrlich gesagt, das sieht man den Früchten auch an. Gegessen haben wir sie noch nicht, der Granatapfel ist eine hier sehr präsente Frucht. Die getrockneten Schalen, sagt Elmira, seien gut gegen Durchfall, wenn sie als Tee aufbereitet werden. Wie gesagt, ich war froh, den Basar verlassen zu können, nach gut zwei Stunden Lärm, Gedränge, rohen Fleisches und lebendigen Fischen, habe mir aber dennoch vorgenommen, zurückzukommen – um Gewürze zu kaufen, noch einmal dieses Chaos auszukosten, bevor ich es in Deutschland nie wieder sehen werde – ein bisschen die Hirnmasse dehnen, die Reize überfordern, bis ich dazu die Gelegenheit nicht mehr haben werde. Und auch hier gilt: Sicher gibt es schlimmere Basare in Südasien, Südamerika, aber immer nur relativ zu dem, was sein könnte, zu denken, halte ich für keine besonders schlaue Sache. Ich schätze mich glücklich, dieses Chaos hier kennen zu lernen und wer mir von mehr Chaos erzählt, bitteschön. Dieses hier ist mir Herausforderung genug. Als abends Elmira und Alisher nach Hause kommen, stelle ich fest, dass ich gar nicht den ganzen Basar gesehen habe – hinter der Kreuzung geht es weiter: Kleidung, Werkzeuge und „für Renovierung“. Ein Grund mehr, wiederzukommen.

Wenn das EU-Projekt am Montag in Sack und Tüten war und ich am Dienstag frei hatte – was habe ich dann Mittwoch bis Freitag gemacht? Grundsätzlich: mich mit dem Intranet des Goethe-Instituts auseinander gesetzt, „Organisation“ und „Arbeitsgrundlagen“, d.h. was ist das für ein Verein, was wollen die, was machen die, wie machen sie es und wie sollen sie es machen – von der Zielvereinbarung mit dem Auswärtigen Amt über „Planung von Umzügen“ bis Personalaktenordnung habe ich alles gelesen. Zumindest die Einleitungen. Man merkt sehr schnell, wann nicht mehr weitergelesen werden muss; Sätze wie „Der Grad der Zielerreichung ist wesentliches Kriterium für den Erfolg“ flirren einem vor den müden Augen, pdf-Dokumente über die verwendete Abrechnungssoftware überspringt man guten Gewissens, aber immerhin gibt es unter „Kultur“ spannende Themen, Links, Texte und ein bisschen Inspiration, welche die Mühsamkeit der „Arbeitsgrundlagen“ irgendwie wett macht. Vielleicht habe ich die Aufgabe auch etwas zu genau genommen und hätte nur einen Bruchteil davon lesen sollen… „Das Präsidium hat folgende Aufgaben:“ Danke, nächstes Kapitel. Solche Tage gefallen mir – kaum etwas passiert, man liest und vergisst einige Dokumente, nur um sie gelesen und vergessen zu haben (das ist dann theoretisches Wissen, wie in der Schule), schaut aus dem Fenster in die abendgerötete Stadt, den Verkehr, lässt die Gedanken schweifen, entspannt, lässt die Ablenkung im Internet durch Artikel, Nachrichten, E-Mails geschehen und lehnt sich zwischen Mittagessen und Sonnenuntergang bei einem Kaffee aus der Maschine der Institutsleiterin zurück – solche Tage müsste es immer mal geben – nach Zeiten angesammelten Stresses und fehlender Ruhe bei sich sein… Die Leidtragenden sind Augen und Rücken, abends kündigen beide regelmäßig ihre Müdigkeit an – wenn der Rest des Körpers zu zäh ist aufzugeben, melden sie sich als erste krank. Das ist okay, wenn es meiner Gesundheit und gedanklicher Regung dienlich ist – und das ist es; ich schlafe und sie regenerieren ihre geschundenen Zellen… Bis zum Morgen, dann beginnt alles wieder von vorn.

Arbeit, Müh, Taschkent (1)

Es sind zwei Wochen vergangen, stürmischer und geschmeidiger als ihre Vorgänger – und im ersten Teil außerordentlich arbeitsam, weshalb ich den üblichen Soll, ein Beitrag pro Woche, nicht erfüllen konnte und kann. Es geht hier um mehr Zeit und der Text ist lang, wirklich lang – ich habe ihn aufgeteilt; am Anfang steht die erste Woche.

Die Tage beginnen schneller zu drehen. Ihre Achse; mein Kopf, gar nicht schwindelfrei, der sich lieber umblickt, staunend, auf alles vor und hinter seinen Augen, als jammernd über die Stunden zu ziehen, dunkle Gewitterwolken vor sich her treibend. Nun, ich habe genug zu tun. Mittwoch zehn, Freitag elf, Samstag und Sonntag je neun Stunden im Büro (inkl. schneller Mittagspause) – das EU-Projekt fordert seine Opfer. Der Dienstag nächste Woche ist dafür frei für mich. In drei Wochen an fünf Wochenendtagen im Büro – die Statistik kann sich sehen lassen. Wird aber nicht in gleicher Weise fortgesetzt werden; jetzt z.B. ist erstmal Ruhe. Die Institutsleiterin und der Chef der Programmabteilung sind in Chemnitz beim „Schlingel“, um Kinder- und Jugendfilme für unser Festival Ende April zu sichten. Im November wieder, meinte sie, würde ich am Wochenende arbeiten – und für den Moment war es nicht die schlechteste Beschäftigung. Wer darf schon an einem EU-Antrag mitschreiben? Der Antragstext, an dem wir – die Institutsleiterin und der Leiter der PASCH-(Partnerschulinitiative)-Abteilung, die beiden Köpfe des Projekts – die meiste Zeit gearbeitet haben, wurde von den zwei Projektkoordinatoren in vier Tagen auf Russisch geschrieben, ohne vorheriges Konzept – 17 Seiten – und für uns von einem ganzen Team in nochmal so vielen Tagen ins Englische übersetzt. Von dieser Grundlage ausgehend, haben wir im Prinzip jene Arbeit geleistet, für welche die Autoren keine Zeit hatten: die genaue Überlegung, was zu schreiben sinnvoll ist, was die EU hören will, damit wir das Geld bekommen, und was eigentlich dieses Projekt so großartig macht, dass es sich von alle anderen Einreichungen abhebt – sowohl, was Prägnanz als auch Wichtigkeit angeht. Grob: es geht um „Menschen mit eingeschränkten körperlichen Fähigkeiten“ und Seminare, die sie weiterbilden, um Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Inklusion zu erhalten und im besten Fall als Multiplikatoren zu fungieren. Denn bisher gilt anscheinend, was in meinem Reiseführer die Überschrift „Behinderte“ rechtfertigt: „In Usbekistan ist nichts behindertengerecht gebaut, und Behinderte nehmen am öffentlichen Leben nicht teil.“ Erlebnisreich, diese Aufgabe mitzugestalten, bis zur Abgabe des Pakets mit den vier Exemplaren zu begleiten – das ist dann schon Montag und gehört eigentlich in die nächste Woche; kontinuitätsbewusst passt es hier besser. Nicht nur durfte ich mit den beiden anderen zu diesem Zweck zur „Delegation of the European Union to the Republic of Uzbekistan“ fahren, sondern wir kamen auch zur rechten Zeit, um eine Privatführung durch die Räumlichkeiten geboten zu bekommen, die sich im „International Business Center“ eine Etage mit der Weltbank teilen. Der Mann, der uns empfing, und die Institutsleiterin kannten sich irgendwie, sodass er gleich eine spontane, kurze Führung angeboten hat. Beim Herausgehen merke ich: die einzige Zugangstür hat einen Handsensor. Wie auch immer der funktioniert, er sieht cool aus – und sicher. Der Mann erzählte uns noch, wie die Sektion „Finanzen und Verträge“ (oder so) ganz aufgeregt sei, weil wir als Antragsteller an die EU diese heiligen Hallen doch nicht einfach so betreten könnten… Im Anschluss zogen wir den Feierabend vor und setzten uns bei Bier und Steak in ein gutes Restaurant – eingeladen von der Institutsleiterin. Ein für mich, muss ich sagen, überaus angenehmer Abschluss, der weit über meinem Praktikantenstatus lief.

Ein Witz dazu am Rande: Als die beiden Vertreter des Goethe-Instituts auf dem Vorbereitungsseminar zu Gast waren, meinten sie zu uns, wir könnten ruhig auf den Status „Freiwilliger“ beharren, denn wir seien, im Unterschied zu Praktikanten, von deutschen Steuergeldern bezahlte, priviligiertere Praktikanten (das war jetzt meine Formulierung) als die Praktikanten, die es beim Goethe-Institut auch gibt. Es macht, möchte ich darauf antworten, gar keinen Sinn, hier auf irgendwelchen Begrifflichkeiten zu beharren. Ich werde Praktikant genannt, als Praktikant vorgestellt und höchstens Insider kennen den Unterschied zum Freiwilligen. Ehrlich gesagt, mir ist das relativ egal, solange ich weiterhin so gut behandelt und bezahlt werde. Roughly.

Sieben Tage zurück, wieder Montag: Betriebsausflug, Team-Building. In den Bergen, gute zwei Stunden Fahrt von Taschkent – schon die Fahrt dorthin ein Erlebnis. Hätte ich ununterbrochen aus dem Fenster gefilmt, es wäre ein fantastischer Film gewesen. Im Stile Straub-Huillets, aber die zerfurchte Seelenlandschaft usbekischer Gesellschaft – so viele Bilder, so viele Sujets, jedes einzelne könnte ein Film sein: in der Stadt riesige, leere Sowjetbauten, bunt und futuristisch, breit und Maul offen aufstrebend, der Straße entgegen gähnend, mit offenen Treppenhäusern, verbretterten Fensterlöchern und die Farbe verwaschen – so traurig wie eindrucksvoll. Liqour-Stores, kleine Märkte und Drogerien lösen die Stadt auf, bringen ihren Rand näher. Überall wird gebaut: Beton, dreckige Farben, wie zufällig vermischt, kreieren eine fremde Atmosphäre. Babuschkas auf der anderen Seite, die mit dem Finger nach unten auf ein Taxi nach Taschkent warten; noch sind es die Ausläufer der Großstadt, der wir entfliehen; langsam wird es spannend. Ein Eselkarren mit zwei alten Männern anderer Generation zieht seinen Weg in die Gegenrichtung, ich sehe ihm nach, solange ich kann. Kleine Häuslein, Gärten, „allotments“ am Wegesrand, immer in Sammlungen, dann isolierte, enge Gehöfte, alt und gedrängt, eine Stadt auf 400 m²; davor Männer in Schwarz und mit Bärten. Ringsum weite Fläche, bis auf die Platanen am Straßenrand. Immer wieder vor den Gärten und Höfen gehen Menschen ihrem Tageswerk nach, und ich bestaune sie, diese Unordnung, alles wirkt spontan, und sie selbst so alt, gebeugt, sind wahrscheinlich nicht sonderlich betucht – arbeiten aus Notwendigkeit, nicht Freude, und mit etwas Glück liegt die Freude in diesem Leben. Ein Rind am Asphalt, friedlich grasend – nicht das letzte auf der Fahrt. Noch häufiger sieht man diese Reihenhäuser, zehn nebeneinander, drei Reihen, alle modern im gleichen Stil, helle Fassade, hässlich gleich. Auf der Rückfahrt erfahre ich, dass irgendeine usbekische Volksbank sie dorthin gesetzt hat, und nicht nur in der Nähe von Taschkent, sondern im ganzen Land. Reihen hoher Platanen sind mir angenehmer. Und immer wieder diese Menschen dort… Ummauerte Siedlungen, wie mittelalterliche Städte, aber moderner: aus Lehm, Stein, Plastik, Holz und alt, Dreck und Rost. Wieder diese Spontaneität, Sandstraßen, Staub, Strom und Gas verlaufen oberirdisch in weit verzweigten Leitungen, Masten, die aus dem Erdboden ragen wie Stangen. Ein klappriges Auto fährt durch den Staub, als sich eine der schnurgeraden Wege meinem Blickfeld öffnet, Kinder spielen – sie sehen wie Kinder aus. Uns kommt ein sowjetisches Fahrzeug entgegen, mit Pferdeanhänger – einem Anhänger jedenfalls, auf dem die Pferde dem Fahrtwind geöffnet stehen, ihre Mähnen flattern. Ostautos passieren uns häufig – hier wie in der Stadt sind sie ein üblicher Passant. Kleine Industrieanlagen, später eine größere. Chemie, sie sehen aber still gelegt aus. Brachflächen mit Wasserlachen, kleine Flüsse, Inseln, Rinnsale zwischen den Bächen, mal steppenartig einfach hohes Gras, dann kurzhalmige Wiesen, auf denen friedlich Ziegen, Schafe, Rinder grasen. Einmal, zwischen den Pfeilern einer teilweise oberirdisch nach Kasachstan laufenden Pipeline, Pferde am Bächlein, über dessen Brücke wir rauschen. Pferde und Rohre begegnen uns auf der Fahrt noch mehrmals. Eine Landschaft wie karge Winter, zerrüttet, kalt, feindlich, obwohl es warm ist. An einer Lache, die wie passieren, stehendes Gewässer unter so vielen in dieser mondzerfurchten, endlich nassen Landschaft, sitzt einsam ein Angler, sein Sowjetwagen wartet auf der morgendlichen Wiese mit offenen Türen. Und im Fernen die Berge, die erst kaum mehr als Sandhügel waren, Ausläufer des Tian-Shan, das in Kirgistan zuhause ist und dann nach China weiterwandert.

Kurze Einblicke in ferne Leben, meistens Armut, immer Alltag; ich fahre an ihren Gesichtern vorbei und lasse mich fangen von diesem Ausblick in ein Dasein, das ich in ähnlicher Form zwar in Filmen gesehen habe – Armut in Mexiko (Bunuel), Italien (Pasolini), Deutschland (Rosselini), Russland (Tarkowskij) und im „Dritten Kino“ – hier aber ist es echt und flieht rasch vor meinen Augen vorbei, ohne mich mehr zu berühren als für diesen einen Moment, nur ein Ausdruck, ein Blick, keine Bewegung, ein Bild dieser fremden Spannung, die ihnen Leben ist. Und irgendwann vereinzeln sich die Zeichen der Wohnhaftigkeit, Bewohnbarkeit, die karge Landschaft nimmt überhand und die Berge rücken vor. Wir nähern uns dem Rand Usbekistans, der Grenzen Kasachstans und Kirgistans – ich schreibe und halte meine Kamera bereit – noch dauert es, bis wir ankommen.

Die Fahrt die Serpentinen hoch, die Berge – glücklicherweise sind die Straßen auch hier breit – bringen Erinnerungen hoch an die Auffahrt zum Kraterrand des Vesuv – warum? Der Vergleich hinkt. Vielleicht eine ähnliche Erwartung – nein, falsch, die Landschaft, Fremdheit, Spontaneität, die mich sogar in Taschkent an Italien hat denken lassen. Und die Pflanzen hier, in den Bergen, ähneln tatsächlich der Vegetation um den neapolitanischen Golf. Unnötig zu erwähnen, dass Anschnallen überflüssig ist. Die Straßen werden schlechter – auch das wie im südlichen Europa, das ich kenne. Doch irgendwann wird jeder Vergleich mit Italien obsolet – die Berge! Wie sie über diesen See hinausragen, kleine Orte hier und da, Hotels oder Wohnungen – ein Naherholungsgebiet für die betuchtere Stadtgesellschaft – nicht umsonst wohnt der Präsident in Nähe, und nicht umsonst hat sich der Avenue Park, unser Ziel, diesen Platz ausgesucht, ein Hotel mit Freizeitanlage zu errichten. Ich bestaune die Bergketten, auf die man von hier direkte Sicht hat – unten ein Strand, an dem ich leider nicht war.

Wir haben eine Hand voll Zimmer, um unsere Taschen abzustellen, dann geht es los zum Frühstück. Eigentlich wurde zum Beitrag zum Buffet aufgerufen, das muss ich wohl verpasst haben. Genug ist trotzdem da, und dank des Frühstücks, das ich mit Elmira in der Wohnung hatte, kann ich mich darauf beschränken, süße Kleinigkeiten zu naschen und Kaffee zu trinken. Ich bin gerade am Überlegen, ob ich doch etwas Herzhaftes essen soll (wann wird wohl das nächste Essen stattfinden?), da ruft mich einer, der Techniker, ITler am Institut, und fragt mich, ob ich Wodka möchte. Im ersten Moment ein wenig verblüfft, kann ich weder ja noch nein sagen – eindeutiges Zeichen, mitzukommen, auf den Topchan – eine Art ausladendes Bett mit einem Tisch in der Mitte, um den man sitzt, liegt, mit speziellen Kissen, die Grundlage jedes sommerlichen, feuchtfröhlichen Miteinanders. Ich durfte diese Art Essgelegenheit bereits am zweiten Tag meines Aufenthalts genießen, als ich mit dem eingeladenen Fotografen (s. vorherige Einträge) abends bei der Institutsleiterin eingeladen war und wir australischen Weißwein getrunken haben. Stattdessen, pünktlich um Zwölf, der erste Wodka des Tages. Wo es in Deutschland heißt, kein Bier vor Vier – zu allem Überfluss kam dieser Spruch später am Tag aus einem der usbekischen Münder, zu mir gewandt – „Sagt man in Deutschland so, ja?“ Aber was macht schon ein kleines Wässerchen… Oder anderthalb. Hätte ich gewusst, was nun dieses „Team-Building“ heißt, ich hätte auch mehr vertragen.

„Team-Building“ ist, wenn sich Erwachsene wie Kinder benehmen (dürfen) und das lustig finden. Basteln, Malen, sich Sticker auf die Haut kleben und verkleiden, Wettbewerbsspiele à la Sackhüpfen (in den Verkleidungen) spielen – bloß die Zuckerwatte hat gefehlt. Und all jene Vergnügungsfahrten, wie man sie vom Jahrmarkt kennt. Dafür gab’s gefärbtes Zuckerwasser mit Kohlensäure, das wir wett trinken durften. Immerhin konnte man verwirrt am Rand stehen und sich aus dem meisten raushalten. Einen Esel musste ich führen, der arme, der überhaupt nicht so schnell wollte, wie die blöden Menschen wollten, dass er wollen sollte. Geführt wurde die ganze Aktion von einer als Indianerhäuptling verkleideten, halbwegs jungen Dame, während der Beschäftigung ihrer Zöglinge immer wieder ihre Schminke überprüfend, deren metallisch laut verstärkte Stimme mich manchmal an Schwarz-Weiß-Bilder und Sowjetpropaganda erinnert hat. Man möchte ja aber solchen Berufen nicht die Existenz absprechen. Bestimmt lustig, irgendwelchen Erwachsenen dabei zuzusehen, wie sie im Wettrennen rote Smileys auf ein Blatt Papier malen – welche Gruppe am Ende die meisten geschafft hat – wie sie beim Tauziehen umfallen oder beim Hockeyspielen mit einem Melonenluftball und Besen statt Schlägern sich gegenseitig über den Haufen rennen. Oder einfach blöd verkleidet herumlaufen; ich habe das Beste draus gemacht, indem ich nichts gemacht habe. Bei der letzten Aufgabe, einem Knobelspiel – wie bei der Mathe-Olympiade – konnte ich mich, dank der locker gelassenen Zügel durch unsere Indianerhäuptlingin, weitgehend von der Gruppe absentieren und u.a. den Pool der Anlage bewundern – im Hintergrund massiv die kahlen Berge in zahlreichen Brauntönen, als Grenze zwischen hier und da, Rand des Geländes, eine Reihe hoher Platanen, und dann das Becken – leer gepumpt, inzwischen, aber dieses Blau der Kacheln ergänzt die Situation zu einem denkwürdigen Fotomoment – mein Apparat liegt im Zimmer. Mir muss es reichen, den Blick mit meinen Augen zu erfassen und zu behalten. Ich gehe näher, um das Becken herum, um von der kleinen Steinmauer auf die Berge zu schauen, da bemerke ich die Bar am hinteren Rand des Pools – dass dort eine war, hatte ich schon wahrgenommen, aber jetzt sehe ich erst, wie – die Bar ist so gebaut, dass man von außen gar nicht herankommt – bestellen kann man nur auf blau gekachelten Hockern, die sich nun weit aus dem Becken empor strecken – wenn der Wasserstand die sommerliche Höhe hat, kann man schwimmen und, bei entsprechendem Verlangen, sich auf diese Hocker im Wasser setzen und einen Drink bestellen. Vermutlich leere Dosen und Flaschen stehen noch im Regal – Glenfiddich, weiterer Scotch, auch Jack Daniels und Jim Beam – wahrscheinlich auch anderes als Whiskey, so sehr habe ich nicht darauf geachtet.

Froh, dass das ganze vorbei war, dachte ich nun an jene Spaziergänge, zu denen Möglichkeit gegeben werden sollte und ja, die sollte es geben– aber erst nach dem Mittagessen. Also (nach ausgiebigem Abwaschen der Malfarben aus dem Gesicht) auf den Topchan gepflanzt und irgendwie landete ich wieder bei den richtigen Leuten, sodass es nicht lange dauerte, bis erneut angestoßen wurde. Salate und Brot standen bereits, Schaschlik sollte auch folgen, in drei Gängen: Hammel, Rind und Huhn, jeder begleitet von noch einem Schlückchen und noch einem Schlückchen… Genug, um (ich schließe mich kurz aus) mit dem weiblichen Nachbar-Topchan zu flirten und Sprüche herüberzuklopfen – den Reaktionen nach zu urteilen, müssen von der Gegenseite einige ganz solide Antworten gekommen sein. Als ich lache, fragt mich jemand, ob ich das denn verstünde – tue ich nur sehr eingeschränkt, obwohl es immerhin auf Russisch und nicht Usbekisch ist. Ein anderer Deutscher, der PASCH-Leiter am Institut, meint daraufhin grinsend: „Um den Inhalt dieser Konversation zu verstehen, muss man sich ja nur die Menge an getrunkenem Wodka anschauen.“ Am Ende waren es zwei Flaschen (gerade mal um Vier – Zeit, Bier zu trinken). Aber der Schaschlik war lecker. Und, ehrlich, geschadet hat es mir nicht und zu viel war es auch nicht. Damit hatte sich allerdings mein Spaziergang erledigt und ich konnte die wunderschöne Landschaft einmal mehr aus dem Busfenster beobachten und – fotografisch festhalten. Was bei dem Straßenzustand keine allzu einfache Aufgabe war. Und wieder diese Bilder: Ein malerischer Sonnenuntergang – kurz und intensiv, wie Sonnenuntergänge hier sind – ein Schäfer mit auf den Rücken gespannten Gewehr, der seinen Tiere über die Furt begleitet; Kinder, die vor abendlich roter Industriekulisse, verstaubtes Abendlicht, einsam am glitzernden, verheißungsvollen Fluss auf erdiger Wiese Fußball spielen; später der Taschkenter Fernsehturm, der zwölfthöchste der Welt, der über der Ebene aufragt, obwohl noch weit, weit weg; ein sowjetischer „Wolga“ mit sechs Kisten Trauben auf den weiß-schmutzigen Körper geschnürt – im halb offen stehenden Kofferraum viele weitere; dann voll mit Kürbissen und anderem Gemüse beladene Kleinsttransporter, die irgendwo nach Hause wollen; am Ende Stau am Rand der großen Stadt, und Verlängerung der Fahrtzeit. Als ich einmal aus dem Fenster sehe und mir die Autos anschaue, bemerke ich: einen Heuwagen, einen Tanklastwagen, einen Kleintransporter – und sieben Chevrolets. Die gibt es hier wirklich oft. Verständlich wird das, wenn man weiß, dass in Andijan eine Fabrik von Daewoo, südkoreanischer Vater der Marke Chevrolet, stationiert ist, und diese Autos also billiger sind als andere, Importe. Natürlich endete der Tag nicht im Stau, sondern mit der obligatorischen Müdigkeit, und der Aussicht auf den Dienstag, Arbeitstag, mit vielen Kleinigkeiten zu klären wegen des EU-Projekts, und noch viel mehr Arbeit, nachdem sie geklärt waren. Nun, da sie geklärt sind, reicht es mir, oben auf das Ergebnis verwiesen zu haben. Der Prozess ging relativ unaufgeregt vonstatten – ich durfte schließlich einen ganzen Absatz („Methodology“) alleine überarbeiten, d.h. im Prinzip neu schreiben – wie wir uns eben die Definition von „überarbeiten“ zurecht gelegt hatten. Samstag, bereits stumpf vom ständigen Bildschirm-Glotzen, wurde ich nach der Arbeit gleich von der Institutsleiterin und ihrem Mann zu einer Party eingeladen – jemand feierte Abschied. Sie wollte eigentlich nach Deutschland, aber die usbekischen Behörden hatten ihr für dieses Land, in dem schon ihre Schwester lebt, keine Ausreisegenehmigung erteilt – jetzt geht sie nach Australien. Diese Feier fand in jener Deutschen-WG statt, in der auch die andere Leipzigerin (s. vorheriger Beitrag) wohnt, und wurde deswegen stark von Deutschen frequentiert – Gruppenbildung war unvermeidlich. Immerhin trifft man interessante Leute: so den Japanisch-Dolmetscher, der von einem Auftritt mit seiner Band kam und während des Wodkatrinkens von Karma sprach (auf Englisch), oder die deutsche Mitarbeiterin im Goethe-Institut Berlin, die einige Wochen in Taschkent war und demnächst fest im Oman arbeiten wird. Glücklicherweise scheint es kurzfristig keinen Unterschied zu machen, ob ich zehn oder fünf Stunden schlafe – am nächsten Morgen war ich nicht müder als sonst. Sonntag mein erster Stromausfall – aber auch der nur angedeutet, irgendein Wackelkontakt, und ganz unaufregend. Alle wichtigen Dokumente, an denen wir gerade gearbeitet hatten, blieben intakt und bald stellten sich rechnerübergreifender Laufwerkzugriff und Internetverbindung von selbst wieder her. Allerdings hatten wir am Tag zuvor in allen Räumen des Instituts kein Wasser – naja, bis auf den Aufenthaltsraum. Wozu der PASCH-Leiter kommentierte: „In diesem Haus gibt es unklare Zusammenhänge.“

Ich bin froh, dass mir einiges zugetraut wird, ich vor Herausforderungen in verschiedener Hinsicht gestellt werde. Als am Freitag der nächsten Woche, 09.10., die stellvertretende Institutsleiterin, ebenfalls eine Deutsche, mich dem neuen Verwaltungsleiter vorstellte, tat sie das mit den Worten: „Der schlaueste Praktikant, den wir je hatten, habe ich gehört.“ Da bleibt einem nur, das Schmunzeln, aus Schmeichel und Belustigung ob solch direkter Worte, zu unterdrücken und sich zu fragen, wie man diesen Eindruck hinterlassen haben könnte.

Versuch an einem Kreis

Die zweite Woche – vielleicht der Punkt, an dem sich mein Da-Sein zu unterscheiden beginnt von jenem des Touristen – an dem die erste Dinge Alltag werden. So etwas zu beobachten ist beruhigend; es sagt: Man kommt an. Man IST da, und wird bleiben. Ich hatte überlegt, einfach meine Woche zu beschreiben, Einblick zu geben in Alltag und Struktur meiner Arbeit, aber… es ist mir doch zu langweilig und irgendwie anspruchslos. Ich möchte literarisch werden, ausholen und weit schweifend über meine Seelenlandschaft fahren, jene Eindrücke des Auges wiederholend, verwandelnd, komprimierend auf abstrakter Ebene nacherzählen, dabei gleichsam einem Märchen in unmissverständlich belletristischer (pathetischer) Sprache die Distanz erhalten zu mir, zum Leben, denn – ich kann nicht die ganze Zeit herumlaufen und reflektieren, in welcher Bedeutung ich dieses soeben, vorhin, letzte Woche Erlebte zu sehen habe, Teil welches lebensverändernden, einschneidenden Prozesses es ist und welchen Beitrag es leistet zu einem anderen Ich – oder eine höhere, andere Realität erfahrbar macht. Das immerhin kostet Anstrengung, Überlegung, Kraft – die habe ich noch nicht. Denn Müdigkeit begleitet mich, die des Neubeginns, Anfangens, es schleppt sich hin, über die Tage, und ich verstehe meinen Körper, dass seine Antwort auf mein Fordern am frühen Abend bereits Ablehnung signalisiert – und Erschöpfung, ja, aber nicht jene, von der ich im zweiten Eintrag schrieb. Nicht die „Erschöpfung des Europäers“, der so durch die Fremde wandert und zähneknirschend seine Identität zerpflückt, der erledigt von seinen körperlichen Beschwerden den geistigen Rückzug antritt und bei sich ist aus zitternder Selbsterhaltung, aus dem Klammern an das eigene Ich oder das, was davon noch bleibt, wenn der Rest versagt, der Körper – die Erschöpfung der zweiten Woche ist anders; sie ist Sanftmut, ein Streicheln des Kopfes, Komm, leg dich hin, sie ist weich und lächelt, wenn sie winkt. Ihr Kommen ähnelt einem Abgleiten nicht in die Höhlen von Schmerz und Notwendigkeit, sondern Vertrauen und Aufbau. Wenn die ersten – die ersten sind die schwersten – Schranken abgebaut sind, kann sich der Kopf, das Ich im Denken, akklimatisieren. Aber sie ist auch eine Erschöpfung des geistig Rastlosen, der so viel in seinem Kopf bewegt, den es nach Ruhe dürstet und nach Beisein des Denkenden, Schöpfenden, jenes Teils meines Ichs, das mir der Anker während zwei letzter Jahre Schule war. Es war diese Woche wieder, dass ich Lust bekam, dass mich das altbekannte Verlangen packte, nach Lesen, Schauen, Kunstrezeption und –produktion – nein, eher ersteres, denn Produktion, dafür ist alles noch zu viel, und der Blog genügt mir als Abfluss meiner Wallungen, meines geistigen Treibens – das und der Schlaf, die Träume, die mich süß empfangen – genug der ersten Worte, ich habe noch viele weitere zu verlieren und schenke sie gerne aus.

Indem ich mit einem Abriss dessen beginne, was meine Woche war: Montag ein ruhiger Beginn, aller Anfang ist träge. Eine kurze Einführung ins CMS (Content Management System), das ich lieber anderen überlassen würde, und Arbeit an einigen Kleinigkeiten – Papieren, die noch waren, Beginn der kurzen Schrift an die Institutsleiterin wegen einem überregionalen Projekt, zu dem zur Rückmeldung aufgerufen wurde. Essen: Kantinen-Borschtsch auf dem Basar. Dienstag ein schöner Arbeitstag, den ich tatsächlich frisch rekapituliert und protokolliert habe – die ausführliche Beschreibung also unten. Wichtig: ein neues, großes Projekt, das ganz schnell über die Runden muss. Sehr abwechslungsreich und deshalb Grund für mehr Worte der Mittwoch: aus irgendeinem Grund, der vielleicht mit Ausstellungen, Politik oder Wochenende zu tun haben mag, feierte die Weltsprachenuniversität in Taschkent den Europäischen Tag der Sprachen (26.09.) am 23.09. Die Uni selbst ist wahrlich kein sehenswerter Bau, aber traditionell war das Goethe-Institut (wie das British Council und eine französische Vertreterorganisation) vor Ort. Stände verschiedener europäischer Länder (u.a. Deutschland, Frankreich, Georgien, Lettland, Rumänien, Spanien, Slowakei, England, Ukraine) waren zentral irgendwo aufgebaut und als Goethe-Institut stellten wir uns einfach an den deutschen Tisch, unser Banner daneben. Ich hielt mich von dem Gedränge eher fern, man will ja nicht ständig fotografiert werden. Obwohl es sehr nett ist, den strahlenden, hoch motivierten, usbekischen, deutschsprechenden Mädchen zu erzählen, woher man kommt – als würde sie nichts glücklicher machen, als mit Originaldeutschen, deren Sprache sie studieren, Small Talk zu betreiben und Fotos zu knipsen. Ich merke immer wieder, dass man als Ausländer (insb. Europäer, insb. Deutscher) hier eine Art „besonderen Stand“ hat – einige Tage später sprach mich einer auf Russisch an, ich sagte, ich spräche nicht besonders gut und habe seine Frage nicht verstanden, er fragte mich, woher ich käme: Deutschland. Was ich hier mache, „You know, it is very interesting for me.“ – mit einem Deutschen zu reden…

Ich musste natürlich unbedingt zum lettischen Tisch, voller Hefte über Riga, verschiedene Unis; alles auf Russisch. Nur das Banner, dessen Logo ich kannte: Latvia. Best enjoyed slowly. Als ich ein Gespräch zu beginnen versuchte (in dieser wunderschönen Sprache, deren Wörter in meinem Mund so schnell Russisch werden), meinte die Hüterin des ganzen Papiers, hinter dem Tisch im Schatten sitzend, sie verstehe, aber spreche leider kein Lettisch. Trotzdem haben wir uns – Englisch – unterhalten und sie meinte, ich könne doch mal bei einer der Botschaftsveranstaltungen kommen. Gerne. Wenigstens die Rede des lettischen Botschafters, ein Hüne mit Sonnenbrille im mafiagrauen Anzug, habe ich mitbekommen – die kürzeste von allen. Was nicht unklug war, denn das Rednerpult (nachdem man die Technik aus dem Saal, in dem vormittags die unwichtigeren Reden über Spracherwerb und Mehrsprachigkeit gehalten wurden, hinaus transportierte) stand, schattenlos, der prallen Sonne (prall ist das falsche Wort, scharf trifft es eher) preis gegeben (durch die blöde Klammer hat nicht einmal das Wortspiel – „der prallen Sonne preis“ funktioniert) – wo war ich? Die Sonne. War wirklich knallig an dem Tag. Was noch zu erwähnen wäre, ist die deutsche/deutschsprachige community in Taschkent, die man manchmal sieht, und meist wohl bei Veranstaltungen wie diesen. Nur, dass ihr wisst: es gibt eine. Donnerstag Feiertag – islamisches Opferfest, oder Beginn desselben; ich kenne niemanden, der es zeremoniell begangen hat. Dennoch bedeutete es einen freien Tag für mich – der einzige dieser Woche, weil ich am Samstag und Sonntag (s.u.) arbeiten musste – wie ich ihn genutzt habe, liest man in dem anderen neuen Eintrag (mit Bildern!) über den Chorsu-Basar. Mehr habe ich an dem Tag nicht gemacht. Dafür war der Freitag wieder einer der Büroarbeit – Lesen, Begreifen, Zusammenfassen, alles auf Englisch. Es ging um das große Projekt; ich musste aus internen (geheimen!) Protokollen und finanziellen Bilanzen bestimmter „Maßnahmen“ die Zusammenfassung eines zurückliegenden Mega-Projektes schreiben, welche eben nun nötig war. Ich weiß nicht, wie viel zu viel wäre – wir als Goethe-Institut bewerben uns bei einer offenen EU-Ausschreibung in Usbekistan um ziemlich viel Geld und der englische Antrag ist eine Heidenarbeit, die wir praktisch spontan zu übernehmen beschlossen haben. So läuft das.

Wie bereits gesagt, bestand mein Wochenende aus Arbeit, aber angenehmer: über die beiden Tage fand im Institut der zweite Teil eines Fotografieworkshops statt, den der aus dem zweiten Beitrag bekannte Fotograf begleitete – es ging um die Präsentation einer Aufgabe, welche die Teilnehmer während der vorangegangenen Woche zu erarbeiten hatten: eine Fotoserie zum Thema „Der Basar“. Am Samstag schaute ich ihnen noch viel zu, Sonntag lieber zwei Filme an, oben, in „meinem Büro“ – Sichtungen für eine ab Februar 2016 stattfindende Filmreihe. Die „Arbeit“ hielt sich also an den beiden Tagen in Grenzen, als Vertretung des Goethe-Instituts und theoretisch Ansprechperson der Programmabteilung musste ich vor Ort sein.

Ich komme wirklich viel mit einer Internationalität in Kontakt, die ich aus Deutschland nicht kenne, die sich selbst in Lettland meist zwischen deutsch-russischen Grenzen bewegte. Es ist allerdings auffällig, wie oft ich den Vergleich zu Lettland ziehe – ein Jahr in der Fremde ist einzigartig, und ein weiteres fühlt sich wie Widerholung an. Ich denke oft, wie ähnlich Elmira meiner lettischen Gastmutter scheint; die Jugendlichen hier und da sehe ich im Kopf oft zusammen, mein Zimmer fühlt sich plötzlich wie jenes an, in dem ich in Inčukalns schlief, schrieb, arbeitete – nur der Wald fehlt, das liebe Schweigen der Bäume, die Ruhe dieses kleinen Ortes, das Lauschen auf etwas da draußen – hier ist alles viel härter, stumpfer – Großstadt – weniger rosagold, wie ich mein Lettland zu verklären tendiere… Außerdem scheinen die Momente des Wiedererkennens kurz, dann ist Elmira wieder Usbekin und ganz und gar nicht jene lettische Mutter mehr. Dann höre ich wieder in ihrem usbekischen Gespräch ein lettisches Wort und ich lächle, weil mein Verstand mich austrickst – es ist ja gut, die Erinnerung an Lettland – ein Zauberjahr, rosagold verklärt…

Das Protokoll wird fortgeführt: Mir schien, ich erwähnte es, der Dienstag, 22.09., ein für die Arbeit, den „Alltag“ hier, sehr charakteristischer Tag, deshalb werde ich nun verarbeiten, was ich mir notiert habe. Der Wecker klingelt um halb Acht, derselbe Klingelton seit Jahren: „Sunday Morning“ von The Velvet Underground. Mein altes Handy, auf dessen letzten Seufzer ich langsam warte. Ich stehe auf, mein Rücken schmerzt etwas, ich muss auf die Toilette – nichts Besonderes bei neun bis zehn Stunden Schlaf pro Tag. Ich bin bestimmt trotzdem müde. Gehe ins Bad, auf Toilette, in die Dusche – das Wasser braucht lange, um warm zu werden, und ist es einmal warm, dann ist es heiß – Frühstück. Ich setze Wasser auf – Gasherd, Teekanne – und fange schon an zu essen: Kefir, Balsam für den Magen (fast so gut wie Wodka), und das berühmte, helle Rundbrot – Lepjoschka. Die Teekanne bläst Wasserdampf, der Deckel klappert, ich gieße den Teebeutel zum vierten Mal auf, lasse nur kurz ziehen und schmeiße ihn weg. Mein Tipp für Bauchschmerzen-Aufenthalte in Usbekistan: Kefir, Brot und dünner Schwarztee – es gibt nichts Besseres. Kurz nach halb Neun verlasse ich die Wohnung, sperre wieder ab, und gehe mit meinem (schnell gepackten) Rucksack die Treppe herunter – seltsam ungleichmäßige, häufig ganz niedrige Stufen. Immer dabei: Wasser (Hydrolife aus dem Tian-Shan statt Nestlé), Thermosbecher, Fotokamera, Block, Stifte und ein Tüte voll Geld. Ganz nebenbei: Geld zählen macht Spaß. Wenn man bei Achtzig angekommen ist und sich nicht sicher, ob man sich verzählt hat, dann wieder von vorne beginnt… 1000 Sum, der übliche Schein, das sind 20 Cent. Mehr als 5000 auf einem Stück Papier geht nicht. Man kauft ein, 11.000 Sum, und zählt elf Scheine ab – ohne Kleingeld und „Haben Sie vielleicht sieben Cent?“. Obwohl mich jemand fragte, ob ich (bei 6000 Sum, die ich ihr gab) nicht noch 200 hätte – also vier Cent, der kleinste Schein. Hatte ich nicht und sie musste mir 400 (zweimal 200) zurückgeben, ansonsten hätte sie mir 500 (ein weiterer Schein) geben können. Diesen kleinen Verlust muss man verkraften können, auch wenn ein Einkauf nicht 11.000, sondern tatsächlich 10.960 Sum kostet – und wieder: zu Zeiten des Lats war das in Lettland ähnlich, das Aufrunden der Summen wegen fehlender Kleinstwerte.

Der Bus, den ich jetzt gewohntermaßen nehme, Linie 38 oder 57, ist mit 1000 Sum neben der Metro das günstigste Transportmittel – ein Platz in der Marschrutka, die Elmira immer nimmt, kostet 1200. Mir gefallen diese grünen Mercedes-Busse, aus denen man den Weg entlang die Stadt sehen kann. Etwa 20 Minuten dauert die Fahrt bei dichtem Verkehr; ich steige am Oloy (Alaiskij) Basar aus. Zu diesem Zeitpunkt hat der Kontrolleur meist gegen jenes Entgelt Tickets von seiner Papierrolle verteilt; vorher steigt er an den Haltestellen aus, bekommt von den Entsteigenden das Geld in die Hand gedrückt und sprintet, im Anfahren des Fahrzeugs, nach vorne, um vor dem Schließen der Tür (der Fahrer reguliert das schon entsprechend) aufzuspringen.

An diesem Morgen muss ich zu UMS, der Telefongesellschaft, bei der ich eine Karte erworben habe. Irgendwie soll ich sie freischalten und weiß nicht, wie. Nach dem Besuch in dem auch an den Schalter fast leeren Gebäude bin ich auch nicht schlauer, denn der unmotivierte Mensch am Infodesk sagt mir etwas auf Russisch, das ich nicht verstehe. Heute spricht niemand Englisch. Also gehe ich wieder. Später kommt mir in den Sinn, in den hintergelagerten Raum zu gehen, wo zwei „Kassa“-Schalter die richtigen Assoziationen wecken, die richtige Anlaufstelle sind. Nun gut.

Viertel nach Neun bin ich auf Arbeit, d.h. an jenem Schreibtisch, von wo aus ich dies ins weite Netz stelle. Ich begrüße die, die da sind, andere kommen im Verlauf des Tages und grüßen mich – ein sehr nettes Klima; alle grüßen sich gegenseitig, ich fühle mich zugehörig. Das erste, das ich an meinem Arbeitsplatz mache: Facebook und Googlemail. Was man so macht, wenn man zu Hause (!) kein Internet hat. Ich sende eine Mail an meine Eltern, die ich am Laptop in der Wohnung vorgeschrieben und nun auf einem USB-Stick mitgebracht habe und kläre mit der Institutsleiterin meinen Urlaub zum Zwischenseminar – so halbwegs.

Um Viertel nach Zehn beginnt der wöchentlich dienstags auf Zehn angesetzte Jour Fixe der Programmabteilung, ein wichtiger Punkt, um Informationen zu den verschiedenen Projekten, teilweise laufend, teilweise in Vorbereitung, auszutauschen. Ich führe Protokoll. Heute sind außer der Institutsleitung und dem Leiter der Programmabteilung noch zwei Kulturmanager dabei: das große EU-Projekt wird diskutiert und beschlossen, die Arbeit verteilt; keine Zeit darf verloren werden. Als die beiden gehen, gönnen wir uns eine kleine Pause und ich darf mir (darf ich auch regulär) einen Kaffee in der Maschine der Institutsleiterin machen – so richtig, aus gemahlenen Bohnen… Ansonsten nur (im Supermarkt nicht nur) Nestlé Instant Kaffee. Die anderen Themen handeln wir so schnell es geht ab und sind um halb Eins fertig. Das Protokoll tippe ich sofort in eine standartisierte Tabelle ab und habe später einige Schwierigkeiten mit CMS-Inhalten – Ankündigung von Veranstaltungen. Wer also auf www.goethe.de/taschkent geht und auf „Veranstaltungen“ klickt, der wird u.a. meine Arbeit (hauptsächlich Copy-Paste) bewundern können. Großartig. Ich verlagere alle weiteren Aktivitäten in der Hinsicht auf die andere Praktikantin aus Leipzig (!), die schon länger als ich da ist und ein halbes Jahr bleibt.

Ich drucke alle Unterlagen zu diesem Projekt aus, das uns stark beschäftigen wird – 27 Seiten Guideline, 44 Seiten Antrag und einige Annexe – Bürokraten-Englisch. Ich fange an zu lesen. Nebenbei – ist mir nicht abwechslungsreich genug – Mail-Check auf Outlook (intern) und Googlemail. Alle Aufgaben, die mir hier zufallen, trage ich ab nun in das blaue Goethe-Institut-Notizheft, das ich vom Partnertag auf dem Vorbereitungsseminar mitgenommen habe, ein – mit jenem grünen Goethe-Kuli aus derselben Quelle, den hier jeder besitzt (und benutzt). Irgendwann wird es mir zu viel und ich gehe eine halbe Stunde auf den Basar, um zu Mittag zu essen – alleine diesmal, zum „Tartaren“. „Wahrscheinlich hat der Laden hier irgendwann mal einem Tartaren gehört.“ Der „Tartar“ ist eine spontane Küche mit einigen Tischen, die einiges anbietet – zur Sicherheit nehme ich, wie gestern, Bortschtsch und Brot für 5000 Sum. Lagman, eine typisch usbekische Suppe mit Fleisch, Gemüse und dicken Nudeln, ist hier sehr gut – und ebenfalls günstig. Etwa Zehn vor Vier bin ich wieder am Platz und lese bis um Fünf die vertrackten Guidelines. Man muss halt manchmal erst dahinter kommen, was gemeint ist und denkt sich, das hätte man auch kürzer halten können. Ich hätte z.B. gerne gewusst, warum ausgeführt wird, wie man eine doppelte Sendung, also zwei Anträge vom selben Antragsteller, im Unterschied zu einem, abschickt, wenn zu Beginn ganz klar und ohne Aber gesagt wird, dass ein Antragsteller in keinem Fall mehr als einen Antrag stellen kann. Da wundert man sich. Im Anschluss blättere ich den Antrag durch und lese das Allgemeine, stelle die Relevanz der relevanten Passagen fest und spreche mit der Institutsleiterin ab, was ich am Freitag zu tun haben werde – nicht das im Übrigen, was ich dann tatsächlich gemacht habe.

Es ist Viertel vor Sechs und ich verlasse das Institut in die abendliche Stadtluft – vielleicht ist gleich Sonnenuntergang, der passiert bereits hier ziemlich schnell – obwohl Taschkent auf der Höhe von Neapel liegt, oder Istanbul. Doch mein Weg führt mich nicht direkt nach Hause, ich gehe noch auf den Basar – bis Dämmerung stehen viele der Händler noch dort. Alles, was ich will, ist eine Lepjoschka, ein Rundbrot, zum ersten Mal direkt aus der Quelle – zuvor nur aus dem Supermarkt, in Plastik verpackt, aus Angst vor den Keimen und Durchfall, Schmerzen… Trotzdem spaziere ich durch die Reihen und schaue mir an die Angebote an – das war, entgegen der Chronologie der Beiträge, bevor ich auch den Chorsu kennengelernt habe.

Mit dem Brot verlasse ich den Basar in Richtung Metro, das erste Mal. Die übliche Taschenkontrolle, noch bevor ich die Unterführung betreten darf, 1000 Sum wortlos gegen einen dieser Plastikchips, und ich gehe in die Station, finde die rechte Richtung und so gut wie wartezeitlos kommt eine Bahn. Zwei Haltestellen, dann steige ich aus – gehe die Treppen nach oben, durch an Burgen erinnernde Gänge (nur ohne Ritterrüstungen und Teppichen an den Wänden) und bin natürlich am Ende auf der falschen Seite der Kreuzung. Noch einmal runter, an einem Polizisten vorbei, der mich bei vormaligem Passieren wegen meines Bartes angesprochen hatte – wo ich wohne, was ich mache, ob ich ja kein – das sagte er nicht – Terrorist sei (auch hier der Freispruch, Deutsch zu sein) – und schließlich am richtigen Ausgang raus, den Weg nach Hause, nicht weit.

Manchmal fahre ich mit dem Bus bis zum Supermarkt, der zufällig günstig und in Laufnähe zur Wohnung ist – das sind im Übrigen beide Supermärkte, die der deutsche Reiseführer in Taschkent nennen kann – und habe, als ich einmal von dort einen alternativen Weg, durch interessante Wohnviertel genommen habe, folgenden Absatz geschrieben, der sehr charakteristisch ist für die Art und Weise, wie ich vieles hier empfange, empfinde, wie ich die Eindrücke unmittelbar spüre (Achtung, Stilwechsel):

Die Szenarien, die meine Augen einfangen, empfangen, begierig, verwirrt aber gefesselt aufnehmen, sind oft stark – so stark, dass ich mich nicht traue, sie zu fotografieren, aus Angst ihnen den Glanz zu nehmen, diese fragilen Bilder mit meiner unbeholfenen Technik zu zerstören – wechselnd erinnern sie mich mal an US-amerikanischen Midwest-Charme, mal an jene mediterranen Städtchen der Sorrentiner Halbinsel, mal sieht alles sehr arabisch aus, obwohl ich dort nicht war – und dann der unübersehbar russische Einfluss, sowie die eigene, folkloristisch usbekische „Tradition“… Aber diese weiten Straßen, innerstädtisch achtspurig, Glasfassaden, oberirdische Stromleitungen queren ausbesserungsbedürftige Straßen, chique gesicherte Neubauvillen face to face zu fünfstöckigen, außen unrenovierten Plattenbauten – das könnte Amerika sein. Dann diese kleinen Anzeichen südländischer Pflanzen überall, das Chaos auf den Straßen, die dicht-an-dicht Läden, das ewig sonnig immer noch heiße Wetter, die Abgase, Autos aller couleur, mit ihren abgewirtschafteten Wohnblöcken, dem maroden Charme der Altbausubstanz – das könnte Sorrent sein. Ohne Wasser, ein entscheidender Unterschied. Doch dann betritt man den Amir-Temur-Platz im Zentrum der Neustadt und denkt sich, so kitschig, riesig, leer – das muss etwas Eigenes sein. Die Mischung zwischen neuosbekischer und sowjetischer Architektur ist eigentlich beißend fürs Auge. Es nicht vielleicht nicht schön, es ist ganz sicher kein Sorrent (der Vergleich hat mich selbst etwas erschreckt), aber diese Spannung, überall greifbar, eben offen sichtbar, die fasziniert mich zu Tode. Sie erweckt Leben und lässt Gegensätze so akut dramatisch, so plakativ, klar sichtbar werden, dass einem der Atem stockt – auch das erinnert mich an die andere Seite des Atlantiks, der hier so fern ist…

Achja, die Stadt – und abends, das Schöne an ihr, so viel – ich hätte Lust, hinauszugehen in die warme Luft zu lachen, genießen – aber die Müdigkeit, sie hält mich hier in diesem grünen Zimmer und hier bleibe ich, hier ist es warm. Nur der Rücken mag das Bett nicht – muss schon damit klar kommen. Sonst schläft er alleine auf dem Boden. Genug Platz für alle Körperteile, die nicht mitkommen wollen. Ich bin wieder zurück in meinem Zimmer, zurück von den Ausflügen in die letzte Woche und all den Wirrungen, Irrungen im Kopf, von den sprunghaften Erinnerungen, sie lebendig zu halten; Hauptsache auf dem Papier… Lange dauert es nicht mehr, lange kann ich nicht mehr, bald ist es fertig, wenigstens dieses, in aller fragmentarischen Beliebigkeit, allen Unterbrechungen und abruptem Schwingen in die nächste Ecke, wohin Gedanken lenken…

Es ist eben nicht möglich, so den Bogen spannend, die Reflexion über das eigene Treiben konstant aufrecht zu halten – man wird verrückt; muss sich auch mal erlauben, unordentlich zu sein, die Struktur zu verlieren oder das Ziel – kann nicht ewig Literatur produzieren; sind meine Finger aus Gold? Andererseits darf das Streben danach, Pathetik, Wahrheit, Verbundenheit, nicht aus dem Auge verloren werden. Wenn man sich aus Angst, sich zu überfordern, gar nicht mehr fordert, dann rinnt das letzte Flüsslein Blut in die Leere und der Kopf sinkt immer tiefer. Wenn man an einem bestimmten Punkt nur sagen kann: Die Arbeit macht mir Spaß… Die Leute sind nett… Und ich fühle mich wohl… Dann hat das Bewusstsein versagt – es finden sich immer Probleme, immer Stellen, an denen zu rühren ist, man kratzen kann, sie aufzuspüren allerdings braucht nichts mehr als Bewusstsein, wache Nerven. Mit der Aufmerksamkeit in Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Schlaf sinkt die Energie, die Kontrolle schaltet sich aus und irgendwann ist der Atem das einzige Lebenszeichen. Ich falle am Abend vor Müdigkeit um und gehe doch nicht ins Bett – denn eigentlich muss ich noch oder sollte, fühle mich verpflichtet zu und würde gerne noch – es bleibt die Pflicht und nichts vom Schönen passiert, lässt sich passieren, wenn ich unruhig warte, während ich nur müde bin – zu müde, um es wahrzunehmen, das Schöne nun. Vielleicht sollte ich heute damit anfangen, mir klar zu machen, dass ich nicht zu warten brauche: darauf, dass ich etwas beginne, gleich unter die Decke und Schluss. Nun schreibe ich und habe wieder eine Ausrede – und ihr müsst das alles lesen, mein Gott… Hoffentlich sind eure Augen offener als meine… Vielleicht beschließt es ganz gut diesen Beitrag, wenn im letzten Atemzug, der letzten Fingerbewegung, die immer langsamer vorangeht als die vorige, wenn mit den letzten Zeichen, die vor meiner Netzhaut flackern, huschen, die Wände und Stühle hochgleiten, verschwinden, mit dem letzten Wandern des blauen Auges, nach oben, auch auf dem Papier der Vorhang fällt, die Schwärze bleibt: doch mit der Gewissheit aufzuwachen, wiederzukehren: in eine anderen Zeit, gereinigt, freier – was für ein Traum!

Chorsu [Bildserie!]

Der zentrale Basar vor Taschkent: ein riesiges Labyrinth an Händlern unter Baldachinen, ein Menschgetümmel an allen Ecken und durch die Gassen und Straßen die heiße Sonne, der blaue Himmel – Schlagschatten wie aus Wüstenfilmen. Anderthalb Liter Wasser und eine Kanne Tee habe ich innerhalb dreier Stunden getrunken – also ohne den Verlauf des restlichen Tages zu berücksichtigen; wer mich kennt, weiß, dass ich wenig trinke – eigentlich. Und nicht die Menschen, sondern die Waren sind die Hauptakteure, Hauptattraktionen – hier stehen Säcke mit Körnern, Samen, Mais dicht an dicht, dort irgendwie höhergelegt eine riesige Kreuzpassage mit Ausstattungshändlern, Schuhmachern, Schneidern; irgendwo dazwischen Kaffeekannen, Wasserhähne, Teekannen, Küchenmesser, Teppiche; dann die Tische voll Trauben, Bananen, Pfirsichen, Nüssen – ich hatte den Eindruck, hier – und wieder bin ich überzeugt nicht zu übertreiben – gibt es nichts, was es nicht gibt. Das Ausmaß des Areals, über das sich all diese Augenweiden hinweg reihen, ist beeindruckend. Und es macht definitiv keinen Sinn, herzukommen, um etwas Spezielles zu kaufen – außer als eingefleischter Basarkäufer vielleicht.

Ich als Ausländer werde häufig angequatscht, wie ich heiße, woher ich komme („Da, Germanija, ja znaju – Hände hoch!“), werde eingeladen, an ihren Ständen zu kaufen, Porzellan und Teegeschirr, will ich gerade nicht, danke. „Can I write your contact, because I want to study in Germany. Maybe you can give me advice.“ Auch das nicht, tut mir Leid, und an der Zeile von Juwellieren, Kramgeschäften, drogerieähnlichen Läden vorbei, und irgendwo draußen, vor all dem Trubel, geradeaus die Metrostation und die letzte Meile, die letzten aufdringlichen Geldwechsler, bevor die Navoj ko’chasi den Markt im Süden begrenzt.

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Für meinen Ausflug hatte ich den Donnerstag zur Verfügung, als muslimischer Feiertag (man hörte von ihm in Blogs anderer aus Tadschikistan und Ghana) auch in Usbekistan ein Grund zur Schließung des Goethe-Instituts. Elmira und Alisher, sowie ihre Familie begingen ihn nicht. Mir aber gab er Raum zum Tourismus; deshalb hier ein eher nüchterner Bericht, keine emotionalen Schlagwellen… Beginn war für mich die Metro – nicht zum ersten, nein zum zweiten Mal inzwischen. Zunächst lief ich zu einer der laut Reiseführer sehenswerten Stationen und stieg hinab – 1000 Sum pro Fahrt und einen Plastikchip, den man nicht behalten soll und, anders als in Sankt Petersburg, auch nicht behalten will. Die Beamten vor den Drehkreuzen hatten leider anscheinend sehr wenig zu tun, und nutzten die Gelegenheit, mich und meinen Pass ausgiebig zu kontrollieren. Am Ende sollte ich ihnen halb auf Russisch, halb auf Englisch erklären, was so meine Arbeit in der Programmabteilung des Instituts ausmacht und durfte schlussendlich gehen – nicht ganz angenehm, allein die Uniformierung provoziert Nervosität… Man merkt eben doch manchmal so eine Art unangenehme Atmosphäre, unangenehme Stimmung in der Luft – auch wenn es Ausländer erstmal besser haben als Usbeken. Ich kann wenigstens relativ sorglos (auf Deutsch, Englisch) reden; ob das auf Russisch oder Usbekisch so geht? Nachteil ist der Argwohn auf Seiten der Behörden. Man muss aber auch hier den Antitypus verteidigen: Zweimal bereits haben mir Polizisten sehr nett weitergeholfen. Alisher meinte neulich zu mir, die Polizisten hier seien nicht wie in Deutschland – hier seien alle unfreundlich und korrupt, in Deutschland alle freundlich und hilfsbereit. Na, da wüsst ich aber Leute, deren Halsschlagader deutlich anschwölle bei solcher Aussage… Der Qualitätsunterschied jedoch ist signifikant. Man bekommt, und ich verlasse natürlich die berichtende Ebene (Widerspreche ich mir? Dann widerspreche ich mir eben.), hier ein bisschen mit, wie sehr Deutschland stilisiert wird, und plötzlich sehe ich klarer, kann mir eher vorstellen, wie Leute aus Ländern, denen es wirklich dreckig geht, dieses Land in Mitteleuropa, aus dem nicht viel mehr als Wirtschaft, Recht und Reichtum (und Bier) über die Grenzen des Kontinents schallt, zum heiligen Land, zum Paradies stilisieren und ihr größter Wunsch ist, dorthin zu gelangen, wenn gleichzeitig so viele Deutsche sich zunehmend abwenden, von der Politik, der Wirtschaft, sich entkoppelt fühlen und sich mit dieser Eigendynamik über ihnen, die sie nicht kontrollieren können, unwohl fühlen… Der deutsche Ruf eilt aller Wirklichkeit voraus. Weiter im Text, am besten mit einem Bild:

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Die Metro darf man nicht fotografieren (als Kind des Kalten Krieges kann sie zu einem Atombunker umfunktioniert werden), also habe ich den Platz daneben genommen: Der stolze Juri Gagarin (kann mich jemand berichtigen?) vor einem den russischen Astronauten gewidmeten Denkmal und irgendwelchen Regierungsgebäuden. Daher heißt die Metrostation hier: Kosmonovtlar. Die einzelnen Stationen übrigens sind sehr schön und teilweise, wie hier, thematisch ausgestaltet, mit verzierten Säulen und Wänden. Es ist schwer zu beschreiben und fotografieren darf ich es nicht, nur deswegen nach Taschkent zu kommen, muss auch nicht sein, aber wenn man mal da sein sollte, könnte man sich die Metrostationen (Welche? Guckt im Reiseführer nach…) ruhig anschauen.

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Anfangs bin ich von der Metrostation „Chorsu“ nach Süden gelaufen, das entlang, was ich oben als „letzte Meile“ bezeichnet habe. An der Navoj ko’chasi, der ich (mit ihren sich verändernden Namen) von hier bis zur Wohnung von Elmira und Alisher folgen könnte, dem Südrand des Basars, steht die (laut Reiseführer) Medrese Kukeldash (links, s.u.). Da ich eigentlich wegen des Marktes dort war, habe ich keine weiteren Erkundungen angestellt. Im zentralen Hintergrund eine Moschee.

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Dieselbe Moschee aus anderem Blickwinkel – ich fand diese Leere so schön.

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Ein sinnbildliches Motiv – o.g. Medrese (nun rechts) vor einem unfertig in den blauen Himmel ragenden Betonskelett. Alt und Neu, identitärer Wandel, politische Stagnation, all so was – ihr wisst, was ich meine.

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So leer sah es zwischenzeitlich aus, im Hintergrund der „Fleisch-Dom“ – Erinnerungen an Ich-weiß-nicht-was, Bilder, die man gesehen hat, aus arabischen Ländern der Sonne… Hier (nach 20-30 Minuten) hatte ich bereits eingesehen, dass ich die Sonne meiden, den Schatten suchen und meine Wasserflasche nicht schonen sollte. Weiß ich, welche Temperatur herrschte, es brannte ordentlich was runter.

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So sah es innen aus, im von mir so genannten „Fleisch-Dom“, um den sich die Baldachine scharen. In diesen Vitrinen, von denen eine leere im Vordergrund zu sehen ist, bieten dutzende Händler in bestimmt sechs oder sieben kreisförmigen Reihen um diese Säule im Zentrum verschiedenstes Fleisch an – für den europäischen Supermarkt-Blick eine kleine Überforderung. Und, füge ich im Hinblick auf meinen Magen hinzu, sicher auch für die europäische Hygiene-Küche. Vegetarier hätten ihren Spaß.

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Später: ein Schnappschuss nach außerhalb des Marktes – solche Szenerien sind es, die mich manchmal an die USA erinnern. Auch wenn das Ambiente ganz klar sowjetisch geprägt ist: die Weite, die Ecken und der Beton sind Charakteristika, die ich aus meinem kurzen Aufenthalt in Übersee heraus mit Amerika verbinde.

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Kurz nach dem vorherigen Bild dieser Blick Richtung Garküchen (dort, wo die festen Gebäude beginnen und das Licht vom Rauch geschluckt wird). Zum Schluss habe ich mich unter jene Dächer gesetzt und beeindruckend gewürzten Schaschlik (hier fast selbstverständlich Hammel) gegessen. Dazu Brot und Tee, natürlich. Das Fleisch wird zur Eigenwerbung vorne an der Straße gebraten (wie das duftet!), der Kunde dann unter die Dächer gelockt, an einen Tisch gesetzt und rustikal bewirtet – ansonsten stehen entlang der Gebäude Händler, die selbstgemachte Somsa – typische, gefüllte, krosse Teigtaschen – anbieten. Der Schaschlik ist hier billiger als sonst – eine volle Mahlzeit (es wurde standardmäßig eine Salatbeilage gereicht) hat mich 9000 Sum gekostet, also unter zwei Euro Schwarzmarktpreis oder drei nach offiziellem Kurs.

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Als ich zur Halle ging, in der Brot verkauft wird (ein ganzer Raum mit diesem fantastischen Weißbrot – Lepjoschka – was für ein Geruch!) und neugierig in einen Raum mit Backöfen schaute, winkte mich der eine Bäcker herein, fragte mich, woher ich komme, wie ich heiße und forderte mich auf, seinen Ofen zu fotografieren – die nassen Teigfladen klebt er mit einer Art Kissen an die Wände, wo sie auch hängen bleiben, bis er sie mit einer Art Kescher wieder „einfängt“, wenn sie fertig sind. Solcher Nettigkeit zuliebe fühlte ich mich gezwungen, eines der ofenfrischen Stücke zu erwerben – für gnadenlos günstige 700 Sum (offizieller Kurs: ca. 25 Cent, Schwarzmarkt: 14 Cent). Zu Beginn der Woche hatte ich auf dem Alaiskiy Basar neben dem Goethe-Institut noch ein (zugegebenermaßen deutlich größeres) Brot für 3000 Sum gekauft.

Tatsächlich wurde ich während meines Besuchs wiederholt angesprochen, von Leuten, die wissen wollten, wer ich bin und so… Man fällt hier auf als deutsche Bartträger.

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Das war also der Chorsu-Basar… Lohnend nicht nur für einen Besuch, aber mehr als ein paar Stunden waren in der Hitze auch nicht empfehlenswert. Hört sich an wie irgendwie zu gut? Nun, ich denke, als Kontrast zu meinen beiden ersten Einträgen lässt sich das bejahen; ich habe mich gut gefühlt an dem Tag.

P.S.: Natürlich ist der Basar eigentlich sehr voll, doch ich bevorzuge die Leere zum Fotografieren – das stille Ineinander der Bauten und Formen, sämtlich menschgemacht und doch ohne Mensch. Mir gefällt die abstrakte Anwesenheit des Schöpfers, ohne dass er im bildlichen Sinne zu sehen wäre… Ohne daraus eine Philosophie konstruieren zu wollen; ich war nur bei wiederholtem Besehen der besseren Bilder erstaunt, wie Bilder eines so gedrängten, vollen Platzes, wie es der Basar (im Allgemeinen) ist, solch fanatische Leere aufweisen können – das versuche ich (nicht zuletzt vor mir selbst) zu erklären.

P.P.S.: Das Ganze kann einfach nicht enden, ohne dass ich doch noch einen negativen Kommentar loswerden muss. Es ist mir unangenehm, als Tourist über den Basar zu gehen, wenn ich weiß, dass er ohne mich besser auskommt – der Nutzen liegt hauptsächlich in dem Treiben, das ohne mich stattfindet und indem ich es beobachte, fotografiere, mache ich zur Attraktion, was zuvor nur Alltag war. Als Fremdkörper bringe ich in diese Menge eine Deutungsebene, die sie gar nicht besaß – und wenn aufgemerkt wird, dass Touristen kommen, weil sie dieses Treiben, für sie exotisch, so spannend finden, dann findet ein Wandel statt, ein Wandel zur Repräsentation anstatt purer Auslebung des Alltags – als ungestörte, kleine eigene Welt ist der Basar am schönsten, und so möchten Touristen ihn gerne sehen. Je mehr kommen, desto mehr wird dies unmöglich. Der Basar selbst wird zur Ware und verkauft seine Identität.

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