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Transzendenz

Es ist ein 21. Februar in einem der schönsten Länder der Welt. Nass vom Schweiß, wie Hose und Pullover von den letzten beiden Nächten gezeichnet, ist mein Hemd an den oberen Knöpfen offen. Gerade war ich auf dem Basar und habe das dringende Bedürfnis zu schlafen; nur meine Pflicht zu schreiben, oder der Wahn, lässt mich nicht ruhig, treibt mich an, zu so vielen Gedanken, die ihren Platz finden wollen und in mir sterben. Morgen um zwei Uhr fliegt mein Co-kulturweitler Jonas nach Hause und darf dort bleiben, mich hält der Dienst hier. Gestern feierte er in einer bekannten, angenehmen Gruppe seinen Abschied, wohlverdient und in seichter Ergriffenheit, die dunkle Nacht führte weit, aber immer bewusst und ohne Sterben, ohne Teufel und Dämonen. Man sieht, die Nächte haben mich ausgenommen, gestern kam ich um sieben Uhr morgens ins Bett, man frage nicht wieso. Von wegen Acht-Stunden-Minimum. Ich hatte meinen Pass dabei, will sagen, an mir lag es nicht, die Stunden des Wartens. Es ist auch Müdigkeit mehr als der Alkohol, die mich ergriffen hält und dumpf entschleunigt, alle Hirnaktivitäten absenkt und schließlich zu einem Zustand schwebender Trunkenheit, oder dereflektierender Transzendenz führt. Es ist auch die Hitze, im Schatten selbst, und der Mangel an Wasser, die den Nachmittag zu einem Tanz des Irrealen machen, schließlich ist Februar und der Winter scheint vorbei, als wären diese nächtlichen Minusgrade vor sieben Tagen alles, was er zu bieten hatte, dieses Mal etwas kraftlos. Umso ängstlicher erwarte ich den Sommer, wenn alles in der Sonne steht oder zusammensackt, die Kleider müssen noch erfunden werden, die mich nicht verglühen lassen. Ich hätte lieber einen ordentlichen Kälteschwung gehabt, nun hoffe ich, der Sommer schlägt nicht mit umgekehrt potenzieller Kraft, heißt, je schwächer der Winter, umso strenger der Juli, hoffe auf Erbarmen oder zumindest genug Tee, um all den Schweiß zu kompensieren. Wenn es schon im Februar losgeht. Als am Vormittag die Sonne schien, war es wie am Strand oder im Badeparadies, das Schwimmbecken im Garten der gestrigen Party, zu der ich aus Muße mittags zurückkehrte, hätte ebenso gefüllt sein können und den Mantel mitgenommen zu haben bereute ich. Der Weg zum Basar glücklicherweise war mit Schatten gefüllt und ohne viel Leid, Schmerz, Reue beging ich die geplanten Einkäufe, nur schwitzend auf dem Rückweg, mit dem Eierkarton, 25 Stück, weil sie weniger nicht verkaufen, und der korzinka-Tüte, in der alle Mögliche seinen Platz fand – Zwiebeln neben Rettich, überlebenswichtigen Keksen und Taschkentskij-Tee, die gelbe Sorte. Mehr ist nicht passiert. Es scheint, als passierte allgemein wenig hier, und in diesen Wochen besonders, wo das Schweben Gewohnheit ist, und zwischen den Tagen das Rutschen ist wie ein fortlaufendes Band, dabei jede Rotation der Erde einzeln zählend, wie am Rosenkranz gebundene Holzperlen, die langsam, eine nach der anderen, die Hand des Betenden passieren, ein ums andere wächst die Sehnsucht nach Sühne, und die Hoffnung auf Erlösung, schwitzige Hände, mal verzettelt sich der Mund im Gestrüpp der Worte, die alle leer klingen und wie aus fremden Köpfen, der eigene dampft und liegt brach, man will brechen und doch endet nach sechs Perlen die siebte in langen Nächten, die man vermeiden wollte – Eclipse of the mind, Verzögerung der erlösenden Schrift und dem Weichen der Sünden. Ich armer Tor stehe jede Woche gleich da, und überlege mir, wie sehr ich die Wochenenden zu expressiver Tanzmusik verbringen soll – denn wenngleich ich die Momente einzeln genieße und keinen Schluck bereue, wenngleich die so verbrachten Abende keineswegs exzessive Ausschweifungen sind, sondern Wochenendaktivitäten eines üblichen jugendlichen Lebens – endlich einmal bin ich normal, so hätte ich die Schulzeit verbringen müssen – doch frage ich mich, ob es eine Grenze gibt zu den tausenden Büchern, die ich gelesen habe, lese und lesen werde, die vielen ungelesenen auf meinem Schreibtisch, Marx, Tschechow, Dostojewskij – mir ist es zu knapp, ich liebe die Gegensätze und würde noch betrunken Adorno zitieren, trotzdem widme ich zu wenig Zeit der lieben Einsamkeit und sehe bestätigt, was nur alle sowieso bestätigen würden, die mich irgend kennen: Feuerbach, nicht Kerouac ist mein Geistesgenosse. Vergeistigung, und wenn in tiefer Widmung der Kunst, wiegt leichter als das Treiben durch Nächte, im Halbrausch und Tiefschlaf des Gedankens, ein Sandkorn hiervon genügt, um die Waage im Gleichgewicht zu halten und erstaunlich, dass ich mich immer wieder zu Abendvergnügungen hinreißen lasse, nicht, ich sagte es bereits, freudlos, kein Opfer, es ist Gier, die mich treibt, nicht Vernunft, sondern Instinkt, den dreckig lachen ich zu hören genieße. Pur. Wenn ich meine Tage in Gesellschaft verbringe, deckt sich die Zeit zu schreiben mit der zu jammern, so tragisch es ist. Ein Leben ohne Zieselei, schlank und einfach, wünsche ich mir, und diesem Ideal komme ich hier nur näher, wenn ich meine Süppchen koche, lese oder schreibe. Immer noch bin ich mit Turgenjews Asja nicht am Ende, obwohl ich sie schon so lange betrachte, eine Lösung gibt es nicht. Die meisten Stellen lese ich mehrmals, denn beim ersten Mal flackern die Zeilen noch vor dem Kopf, ein zweites Mal klärt den Kontext und beim dritten verstehe ich die Aktion – Wörter, die wie Leuchttürme aus dem Text aufragen, aus all den unbekannten Variablen und Zeichen, deren Sinn mir versteckt ist – so muss ich ihn rekonstruieren, wieder ein Barockaltar. Meine Russischkenntnisse gewinnen an Substanz, traurig dachte ich am Freitag, im Theater, ich würde schon so viel verstehen wie damals, als das lettische „Melnais Piens“ der Euroscene den Titel gab und ich ohne Kopfhörer dem Original lauschte – wahrscheinlich war der Eindruck nur Illusion. Denn im kleinen Ilkhom-Theater, die Künstlerelite des Landes, wird alles größer, näher, aus der zweiten Reihe erst recht. Dorthin haben uns die Freikarten gesetzt, die Ravshan vom Goethe-Institut zur Vorstellung einluden, die aufgrund seines Urlaubs aber an mich weitergereicht wurden. Es handelte sich um ein Gastspiel aus Almaty, das bekannte „ARTiSCHOK“ entsandte zwei Stücke, darunter diese Geschichte einer blutjungen, begabten Pianistin, die im Petersburg der Revolution von einer eitlen Opernsängerin aufgenommen, aber von ihr und der harschen Luft der Gesellschaft missachtet, unterdrückt wird. Ein Wind von Wahnsinn durchwehte die Augen und Glieder der Darsteller. Das Theater ist klein, der Saal im Keller unattraktiv für Theaterinszenierungen, das Gebäude ein faszinierender Hort der Opposition in Usbekistan, erfrischend aktiv und alternativ, sie haben moderne Kunst an die Wände des Foyers gehängt, verkaufen selbst gestrickte Mützen und Pullover, spielen Weltliteratur, Bearbeitungen, Folklore, aber immer intelligent und kreativ, so nehme ich an, so hörte ich es. Die Aufführung der Kasachen glich einer Tour de Force, ohne mehr als grobe Punkte zu verstehen, so lustvoll grausam und blitzend blank, dass ich noch immer nach Worten ringe, die eigentliche Performanz zu umfangen. Eine blonde, kleine und dürre Frau spielte die in ihrer Entwicklung unterdrückte Pianistin mit einer Gewalt, die alle Lust am Spielen in mir selbst hervor brach, wieder an die Oberfläche, als wollte ich noch einmal, bitte, mich vollends verausgaben in Rollen, in denen ich wild sein darf, hässlich und böse – ein brechtsches Panorama der Gefühle. Theater, so blitzte es in mir auf, das war mein Sport, in Leipzig, im letzten Jahr – diese Brecht-Revue, was für ein Stoff! Wer muss schon den Iron Man bewältigen, wenn er dieselbe Kraft auf einer Bühne zu entwickeln vermag, den Voyeurismus der Masse mit bemessenen Akten genießend, sich bloß zu stellen und doch nicht sich, sondern den Charakter einer bösen Macht in sich. Sie robbte über den Boden, mit ihrem Oberkörper alleine, stolperte 20 Minuten in drei Schichten Winterklamotten über die heiß angestrahlte Bühne, tanzte, die Beine hoch reißend, zu einem hastigen Monolog, in dem sie jedes einzelne Wort, zwischen den kaum spürbaren Atempausen, zu fassen und auszusprechen vermochte, ja, stand sogar, verschwitzt mit den Klamotten im Petersburger Winter, mit dem Rücken zum Publikum und wurde in ihrer mageren Gestalt bis auf das Höschen enthüllt, um ein neues Gewand umgelegt zu bekommen, undenkbar in einem Land wie diesem, und bewältigte sowohl die wiederkehrenden epileptische Attacken wie die Starre der Stille, legte alles in allem eine überwältigende Vorstellung ab, aber nicht alleine. Auch die anderen beiden Frauen wussten ihre Kunst zu spielen und gaben eine Vorführung par excellence ab. Weder bin ich Kritiker, noch engagierter Theatergänger, aber Henrik Ibsens „Gespenster“ haben in meinem Plan für nächste Woche ihren Platz gesichert. Wenn die Ilkhom-Truppe ähnlich gut ist, und so wurde es mir von allen Seiten geflüstert, geschrieen und gejammert, so wird es mich wohl öfter an diesen Ort verschlagen. Wie der Yangiobod-Basar habe ich es nun erst in der zweiten Hälfte meines Lebens entdeckt, und so sehr ich die Einsamkeit liebe und seufze, wenn Wochenenden wie dieses mit Müdigkeit, Kater und leeren Gesprächen vergehen, zu beiden hätte ich mich vielleicht ohne Bindung an die Gesellschaft, so klein sie auch ist – je kleiner, desto besser – nicht aufgerafft und hätte gewartet, gewartet auf nichts. Auch das Warten, die Entscheidungslosigkeit ist ein verhasster Zustand. Wenn ich feiere, so wenigstens passiert etwas, bewegt das Leben sich und ich bleibe nicht stehen. Dafür mit leeren Gesprächen zu bezahlen, mit schweren Morgen und müden Abenden, das ist nicht zu viel – so wechseln die Pole, denn nichts ist „either good nor bad, but thinking makes it so.“ Resümee: Ich denke zu viel. Doch was soll ich mit den Gedanken machen? Sperre ich sie im Wodka weg, so erscheinen sie auf dem Papier, sonst – auch, aber versteckter, intelligenter. Hätte ich sonst eine große Geschichte erzählt, die sorgsam einbettet, was nun Ergebnis dieses schriftlichen Prozesses ist, so muss ich heute im Schreiben denken, um zu gesunden, d.h. um in den Zustand geistiger Klarheit zu erlangen, der nötig ist für die Lektüre von Marx, Adorno, die lese ich ja gerade gar nicht, also eher für Schiller und Kleist. Den Don Quixote, zweiter Teil, habe ich liegen lassen, viel zu lange schon. Jonas ist weg, so bleibe ich weniger Abende aus – er ist in meinem Alter, jemand, der noch Lust und Energie hat seine Gesundheit zu verschwenden, wie ich. Es wird ja doch nur schwerer, da bin ich glücklich, mich einmal gehen zu lassen. In Deutschland wieder komme ich den Kosten nicht hinterher, hier werden einem die Scheine nachgeschmissen. Wenn ich geize, dann weil ich einem gewissen Kontostand anvisiere, dessen Größe einen Wert hat, dass ich mir Abstriche erlauben kann. Ja, ich halte Balance, mal will ich nicht glauben, dass Wochenenden ohne intensive Lektüre, Filme und langen Blicken aus dem Fenster viel Wert haben, mal packt mich schamloses Glück über das Spiel Usbekistan und wie einfach ich es habe, wie unerwartet leicht die Nächte funktionieren, nach denen ich mich in Deutschland nie gesehnt hatte.

So leicht also das Leben fällt, so schwer fällt mir die Sprache. Was, wenn nicht Einzelheiten, sollte ich schildern? Obwohl die Tage ein Fluss sind, sehe ich nur Steine in ihnen, das Fließen selbst geht über mich, durch mich, um mich, ohne mich zu berühren, ich muss mich anstrengen, das Wasser zurück ins Bewusstsein zu holen, das doch erst den Sinn ausmacht im Text, ohne welches alle trocken, spitz und weit auseinander ist. Ich habe oft überlegt, in den letzten Tagen, wie es mir gelingen kann, wieder kohärent zu schreiben, ohne all jenes, das mir im Kopf herumgeht, all die spannenden Einzelheiten, hastige Beobachtungen oder gereifte Erkenntnisse, liegen zu lassen. Ich habe noch keine Lösung gefunden. Momentan noch fühle ich mich wie jener Lord Chandos, der, außen glücklich, innen vergeht, weil er für die Dinge seines Lebens keine Sprache mehr findet. Und doch glücken ihm die einfachsten, somit wunderbarsten Sätze, die sein Problem in einer Gesundheit schildern, die ihm alle Krankheit aus dem Kopfe schlagen sollte. Wir müssen annehmen, dass der Brief des Lord Chandos an Francis Bacon den Lord von seiner Stummheit befreit hat und ihm bereits in der Beichte des Problems die ersten Flügel verleiht. So ähnlich stelle ich es mir vor, wenn ich schreibe, stumm bin, aber reden will, dann rede ich über meine Stummheit und sie wurde mir gelöst. Es stimmt nicht, über zwei Zeilen löst sich kein Wahn in Rauch auf, aber mit der Zeit beginnt die Schrift sich vom Papier zu heben, wie sie es in den besten Stunden getan hatte, und ohne, dass ich die Feder berühre, ohne sie führe und ohne mir der Gedanken bewusst zu sein außerhalb des Schreibens, entstehen luftige Gebilde, klare Bäche und Wälder, die sprießen und summen – Leben, dass die Überwindung des Todes von mir getrennt hat. Nun bin ich frei und tanze durch die Gärten, die ich selbst erschaffen, wie ein Gott in meiner Welt, und doch ist es eine Höhle, ein Studierzimmer oder ein weißer Raum mit Kram, einer Ikone und einem Plastikkronleuchter. Ich finde mich im Paradies, obwohl die Erde Meilen entfernt liegt – so ist das Schreiben eine Therapie, Balsam für die Seele, wenn auch der Rücken vom ewigen Sitzen schmerzt und die Augen vom Starren auf den Bildschirm, denn leider ist auch die Feder nur in meinem Kopf, so tanze ich eben mit Klick-Klacks auf Tasten, auf Felder, und sehe entstehen, nur virtuell, was ich denke, erhebt sich und bleibt doch irreal. So erlaube ich mir zu schreiben, was mir in den Sinn sprießt und was mir gefällt, denn achten muss ich die Realität, was so intellektuell in Wellen und im leeren Raum bleibt, dass ist bloße Illusion.

Ehrlich gesagt, wird es mir langsam schwer, zu fassen, was ich noch schreiben kann. Nehme ich die Blogartikel zusammen, ist schon ein kleiner Roman entstanden, doch mir juckt es in den Hirnzellen, ich muss schreiben und kann jetzt nicht aufhören, wo doch gerade erst die Halbzeit erreicht ist. Ich nehme auch keine Themenvorschläge aus den Reihen der Leser an, denn es muss mir selbst kommen, so denke ich, muss mich selbst schlagen und zwingen, zu schreiben, die Worte niederzuringen, aus dem weiten Kopf auf das enge Papier, meine Hirnlappen auswringen, bis der Saft ausgepresst ist. Die Geschichte hat sich eingefahren, der Alltag ist eingebrochen und ich sitze nun, die Tage vergehen, fast an selber Position, und versuche Brocken aus meinem Leben zu brechen, die ich hier servieren kann, doch meist sind sie trocken und gelb, sind nicht gut zu schlucken und sehen nicht einmal appetitlich aus. Was soll’s, solange ich nur schreibe, wird mir etwas einfallen, worüber ich schreiben kann. Immerhin sind die Ereignisse, die so an mir vorbei zischen, nicht das eigentliche Ziel der Schilderung. Sie sollen Boten sein für einen Eindruck, den ich transportiere, den ich über das Land filtere und weitergebe, einen Eindruck, der oft zu kurz kommt unter Beschreibungen meiner Schritte auf derselben Erde, die in Deutschland schlammig ist. Auf der auch Blumen blühen, aber wenige.

Wie fühle ich mich denn, darf man die Frage stellen? Ich darf es, solange sie rhetorisch ist. Ich fühle mich unter Druck, wegen der politischen Situation, die Geschichten, die ich höre, sie machen mir keine Angst, sondern empören mich und der Druck wächst, die Gedanken, in so einem Land könnte ich nicht leben. Ich bin natürlich verwöhnt, nicht nur politisch, und gebe mich gerne in die Härte, wo ich doch so eine zarte Seele bin. Was war die Reise nach Buchara und Termez anderes als ein bewusster Sprung ins kalte Wasser, damit ich endlich mein Fett weg kriege? Dass ich Shahrisabz an Samarkand gehängt habe, ist auch meiner Abenteuerlust zu verdanken, die mich dann und wann im Wahn befällt – denn, wirklich, ich bin doch gerne hier, bequem, sitze und tippe, esse Kekse oder Apfelsinen, um mich aufzuputschen, in der Hoffnung, meine Gedanken rutschten besser, ich bin gerne in Taschkent, an den bekannten Orten und mit gezähltem Geld, solange es die Obergrenze nicht überschreitet, ich habe gerne einen Tagesablauf, der nach der Arbeit das Schreiben vorsieht, dann Schlaf, dann Arbeit, und vielleicht noch Russisch oder Lesen in der Zeit, die übrig bleibt – alles am besten einsam und allein, in der Arbeit mit genauen Vorgaben, was ich bis wann zu erledigen habe, und zuhause mit der Freiheit, die das elektronische Papier mir lässt. Ich bin gerne faul, schlafe viel und gucke Filme, lese, alles an Ort und Stelle, während die Welt sich um mich bewegt statt ich mich um sie. Doch dann packt es mich wieder, ein Fieber, wenn ich auf meinen Kontostand sehe und weiß, ich könnte so viel schaffen, wenn ich raus schaue und die triste Abendluft Taschkents sehe, im Bus stehe, im Büro sitze und mir Abwechslung wünsche, dann werde ich unruhig und sehe die Möglichkeiten – und viel habe ich bereits geschafft. Ich bin, wenn auch nur kurz, durch das Ferganatal gefahren (ein weiterer Besuch muss nicht unbedingt sein), ich war in Chiwa, Urgench, Buchara, kurz Qarshi, in Termez, Samarkand, Shahrisabz, mir fehlen noch zwei Regionen – die Wüste: Navoij, Zorafshan, Uchquduq, Planstädte, Öl oder Gas und Fabriken, und Karakalpakstan: Nukus, Moynak, die tatsächlich auf der Agenda stehen, wenn es sein muss, wahrscheinlich muss es das, im Juli, kurz vor meiner Abreise. Dazwischen plane ich Tadschikistan und mit Glück fällt noch die ein oder andere Dienstreise für mich ab, ganz zu schweigen von der Woche, in der ich den Reiseführer für meine Familie geben darf – oh ja, ich sehe dem Abenteuer nicht zögerlich in die Augen, doch… gerade wieder einmal sehe ich dem Abenteuer zögerlich in die Augen. Es wäre mir viel geholfen, wenn statt der Gesellschaft, die ich um mich finde, Einsamkeit meinen Himmel zierte. Andererseits bin ich fasziniert von dem Tiegel an Kulturen, die sich hier verschmelzen – Lektoren, Freiwillige, Arbeitende aus allen Ländern, die sich unter dem Schirm Usbekistan treffen und alle ihre Geschichten und ihr Wissen haben, das ich am liebsten aufsaugen würde, wenn nicht sowieso das meiste aus dem Kurzzeitgedächtnis ins Archiv wanderte – es ist kein Platz für Neuankömmlinge im Langzeitgedächtnisraum, man sollte ihn renovieren und ausbauen. Nur, wenn ein Groschen fällt, wieder unbenutzter Platz gefunden ist und auf das Palimpsest die neue Lage geschrieben werden kann, weil die alte ausradiert und im Material gespeichert ist, dann öffnet sich die Tür zur Bibliothek von Babel, die mein Gehirn zweifellos anstrebt zu sein, sonst könnte man sich diese Öffnungszeiten nicht erklären, und ein Bild geht in die Mitte, und hört im Innern auf zu sein. Welche Müllgirlanden schreibe ich nun wieder? Gut, dass niemand das lesen muss. Ihr würdet besser daran tun, diesen Absatz zu überspringen und den nächsten oder übernächsten Beitrag zu lesen, wenn wieder etwas von Bedeutung passiert.

Abriss der Kürzlichkeit

12.02.2016

Es erschreckt mich selbst, wie einfach mein Artikel über den Januar geworden ist – mehr als kurze Phrasen vermochte mein Hirn wohl nicht zu kreieren, dann flog es fort und ahmte vielleicht die Szenen des letztes Wochenendes nach oder freute sich aufs Mittagessen. Dann sabberndes Gewäsch über Dinge, deren Bedeutung ich selbst nicht weiß, deren Aufzählung einer Spritztour durch die Willkür gleicht. Wenigstens habe ich überhaupt geschrieben, dazu musste ich mich zwingen, den Wert sollte es beweisen. Ich denke wieder über Europa nach und ziehe auf dem Papier Gedanken nach, statt Zeilen der alltäglichen Spaziergänge durch die Zerstreuung zu skizzieren, wie ihr Ursprung selbst müßig.

However, die um Tage hinter mir liegende Woche war ereignisreich, voll mit fremden Leuten, die gar nicht in mein Konzept der Einsamkeit passten. Die vorhergehende Woche brauchte ich, um mich von meinem Kränkeln und den Vergnügungen des Januars zu erholen, dann wieder rein ins brummende Leben der Stadt Taschkent, die so glüht und alles in sich spiegelt, eine Grande Dame unter den Städten Zentralasiens. Frei nach dem Motto ’The Show Must Go On’ kamen wir über Arbeitsbekanntschaften Viljas, der Finnin, zu einer Metalband, die, neu formiert und ihr erstes Album promovierend, in einem kleinen, feinen Club außerhalb des Zentrums tatsächlich eine Stimmung der Alternative aufmachte. Die Songs, mit Titeln wie „World is Cruel“ oder „BAD“, hatten nicht den Anspruch der Textqualität eines Bob Dylan und wurden ganz der westlichen Vorstellung von Metal gerecht: hart, elektrisch, gräulich stimmbandzerreißender Gesang über verzerrten Gitarren und hämmerndem Schlagzeug. Natürlich nicht meine Musik, das muss auch nicht sein, man hat seinen Spaß an den Leuten, die wie verrückt dazu abgehen und wirklich, ein erstaunlicher Ort der Freiheit. Ein großer Typ mit Brille, Lederjacke und langen, blonden Haaren performt den Headbang, den die Mitglieder selbst aufgrund ihres verschriebenen Militärschnitts nicht vormachen können. Es gab teures Bier, schlechten Wodka und jede Menge Leute in dem kleinen Raum, was mich dazu veranlasste, später die meiste Zeit draußen zu bleiben. Irgendwie schafften wir es, erst um Zwei zu gehen, als die Musik schon einige Zeit lang vom Band lief – das Headbanging und stampfende Tanzen der Fans wollte, noch im Rausch der Begeisterung, nicht enden und kurz schloss ich mich in den Kreis, als Rammstein gespielt wurde – „Hierrr kommt die Sonne…“. Zu viert verließen wir die Bar, deren Name auf Russisch für „Eigenes Territorium“ steht, auf ein Mitternachtsmahl und so war das Metalkonzert in Usbekistan. Vielleicht kommen wir zurück, wenn am 20. Februar ein Linkin Park Tribute gespielt wird. Sonntag hieß es also, den müden Körper nach zu wenig Schlaf ausruhen, ein wenig lesen – Asja von Turgenew habe ich begonnen – schließlich war ich schon am Tag zuvor auf dem Yangiobod und habe mich dort hinreichend erschöpft. Geld holen musste ich noch, und komme mit 1.200 Scheinen in der Tüte zurück – 200 Dollar, über 1 Million Sum.

Mit Treffen an den Abenden des Montags zu einem Viererkreis und Donnerstags zum Lektorentreffen im koreanischen Restaurant war mein Sozialbewusstsein schwer überbelastet, auch wenn der Anschluss an die internationale Gemeinde in Taschkent immer sehr bereichernd ist, trotzdem liebe ich die Einsamkeit. Trotzdem ging es auf zu neuen Ufern, denn mir wurde überraschend die Möglichkeit geboten, in das neue Bunyodkor-Stadion zu schwärmen und eine atemberaubende Fußballschlacht des gleichnamigen Vereins gegen Al Shabab aus Dubai zu beobachten, ein Angebot, das ich nicht ablehnen konnte. Schon deshalb nicht, weil das Ticket läppische 15.000 Sum kostete und ich in Deutschland nie in ein Stadion gehen würde. Die Begegnung war Teil des Playoffs für die Asia League, Bunyodkor gewann Zwei zu Null, und alle Fans waren glücklich. Tatsächlich fiel das erste Tor nach zwei Minuten. Das zweite allerdings ließ auf sich warten, und die Zeit nutzten wir, uns die Füße und Hände abzufrieren. Glücklicherweise war es gar nicht kalt, wir sind nur verwöhnt – erst auf dem Weg von der Metro zurück küsste das Thermometer die Minusgrenze, oder flog galant drunter durch, die Nächte jedenfalls verbringen wir bei Graden unter Null. Wie mich das befremdet – die kälteste Zeit des Jahres, und doch 20 Grad wärmer als diese Novembertage in Ulan-Bator vor einem viertel Jahr (!). Das Stadion ist zweifellos modern, stolz angelegt, zeitgemäß umschlossen und bewacht, für 34.000 Zuschauer, ein Viertel der Plätze mochte wohl besetzt sein, Hunderte Polizisten standen in den leeren Reihen Wache. Viel zu schmunzeln, lächeln, lachen, Grund zur Freunde (Usbekistan beweist seine Überlegenheit) und Überlegungen zur Nähe an Europa. Mit diesem Stadion wieder versucht Taschkent mit dem Anspruch einer pulsierenden Metropole, Europa zu kopieren, internationales Niveau zu ersetzen, Aufmerksamkeit zu erhaschen für das, wofür sie Europa schätzen. Ihr Geschmack freilich ist fragwürdig. Wozu dieses gigantische Loch im Himmel? Für Spiele der Uzbekistan League, mit Glück Asia League, sonst Freundschaftsspiele gegen Nordkorea und Moldawien. In Taschkent sieht immer mehr gewollt europäisch aus: Einkaufszentren, Kinos, Supermärkte entstehen und bieten für mich keinen Qualitätsabfall gegenüber denen in Deutschland. Auch wenn im selben Zug per Präsidentenerlass letztes Jahr Englisch als Fremdsprache, leider zum Missvergnügen der anderen Sprachen, offiziell hochgestellt wurde, ist der europäische Geist doch erklärtermaßen ein feindlicher. In einem offiziellen Brief zur Begründung, dass die deutsche Botschaft ihre geplanten Kinderfilme nicht in den Schulen zeigen kann, ist klar formuliert worden, dass diese Filme nicht den usbekischen Werten entsprächen. In seiner zum Neujahr vorgelesenen Ansprache meinte der Präsident – der nicht selbst im Fernsehen erschien, was für erneute Spekulationen sorgte – Europas Mentalität sei eine zu vermeidende, sie stehe entgegen jener Usbekistans. Und trotzdem ist offensichtlich, wie sehr sie schielen und stehlen, in Hoffnung auf Erfolg, auf internationale Anerkennung und den Grad an Bekanntheit, den sie ihren Schülern durch die Hirnwindungen pfeifen. „Usbekistan ist auf der ganzen Welt bekannt für…“

Wo wir bei Problemen sind: Neulich kam ich an die Haltestelle, dort lag ein Mensch auf dem Boden, schlafend oder verhungernd, wie ein umgefallener Sack Reis. In der Unterführung für Fußgänger, die ich auf dem Rückweg vom Bus zur Wohnung laufe, sitzt oft eine Mutter mit zwei kleinen Kindern, einige Alte oder andere Frauen. Ich denke, die Armut ist eines der offensiv verschwiegenen Themen hier in Taschkent – nie hört man etwas davon, aber es ist offensichtlich, dass die Gesellschaft nicht allen Brot und Wasser bieten kann. Im Gegenteil – wenn die Preise steigen, der Sum sinkt, und das seit Jahren, ist es verwunderlich, wie viele nicht in Armut fallen, ganz zu schweigen von Müttern, die nach einer Scheidung vom eintreibenden Mann plötzlich mittellos werden. Im Nachbarland Tadschikistan betrage die Scheidungsrate 50 Prozent, berichtete eine von dort. Hier mag es anders aussehen, denn Zwangsheirat und Verkuppelung durch die Eltern ist zumindest in Taschkent weitgehend einer zwar patriarchal, aber nicht willkürlich orientierten Ehekultur gewichen. Genügend Nutz- und Zweckehen wird man hier finden und die Meinung unter den Jugendlichen ist zu Teilen befremdlich, das Patriarchat herrscht klar, aber die westliche Emanzipationskultur bringt eine Saat mit sich, die vielleicht am Aufgehen ist. Bis dahin erlaube ich mir, das Gegenteil zu skizzieren: Als wir am Montag in einem Club zu einem russischen Comedy-Abend Bier und Wodka tranken – Entschuldigung, ich erwähne den Wodka deshalb, weil es der laut Reiseführer beste Usbekistans war, Qarataw, den man normalerweise in Taschkent nicht erwerben kann, sondern nur in Karakalpakstan, wo er hergestellt wird – also: An diesem Abend wurde verschiedenen Amateur-Comediens die Bühne geboten, um ihre Scherze einem angeheiterten Publikum vorzutragen. Nicht nur liefen natürlich viele unter der Gürtellinie, auch Homosexuelle und Frauen standen im Licht der Albernheit, in dem sich die Sprecher sonnten. Eine ehrliche Meinung zum Thema, die mir jemand (in nüchternem Zustand) verriet, lautete sinngemäß: Ich glaube, Männer kämpfen in Kriegen, basteln Maschinen und bringen die Menschheit voran, und Frauen – gebären die Männer. Frauen sind schon etwas Unterschätztes hierzulande. Die Rolle, die sie in Deutschland vor sechzig Jahren übernahmen, die spielen sie heute hier. Da gibt es durchaus Situationen, in denen das Rollenbild westliche Dimensionen annimmt – Frauen fahren ihre Kinder zur Arbeit, verdienen ihr Geld und leben ohne Anfeindungen, vielleicht noch von alt erzogenen Männern verachtet. Bei einem Plauderstündchen, von der Frau eines Botschaftsmitarbeiters moderierter Konversationsclub im Institut, saß kürzlich eine junge Dame, Ende Zwanzig, seit „sechs oder acht“ Jahren geschieden, allein erziehende Mutter, die offen sagte, heiraten wolle sie nicht noch einmal, dafür sei ihr die Freiheit zu schade – die sie in Gesellschaft ihrer Kinder, Bücher oder eben Arbeit verbringe. Ihr Standpunkt in dieser Welt beeindruckt mich tief. Eine andere erzählte von ihrer Ehe: Der Mann ist fast nie da, arbeitet viel und ist am Wochenende müde, geht mit Freunden aus. Sie hütet die Kinder, putzt, wascht, kocht, macht dem Mann das Leben angenehm. Ab und zu gehen sie ins Kino oder essen, aber nur auf ihren Vorschlag hin. Als Familie, mit den Kindern, unternähmen sie wenig. Man hütet scheu die Frage, ob sie denn glücklich sei, sie erzählt nicht emotional, etwas berührt vielleicht, peinlich, ihr Leben zu schildern, aber so sei es nun einmal seit vielen Jahren, ist wohl normal, und nur diese trübsinnige Aussicht bleibt in mir verankert – wie lange her scheinen die Zeiten, dass in Europa Veränderung so weit entfernt war, dass sie anzufokussieren kaum lohnte und wenn doch, eine Lebensaufgabe war, an der Leute aus Überzeugung starben? Uns ist ja alles möglich, heute Hochzeit, morgen Scheidung, übermorgen den Job kündigen, einen Riesenkredit aufnehmen, sich einen Mercedes kaufen, ihn wieder verkaufen, von Neuem heiraten und die Schulden vererben.

Zum Thema Frauen gehört auch Aufklärung. Dass nackte Körper in Filmen nicht geduldet werden, hatte ich im Zusammenhang mit der Filmreihe erwähnt. Doch eigentlich ist dieses Land nicht prüde. Die russischen Musikvideokanäle in den usbekischen Restaurants (Fernseher gehören zur Grundausstattung), auf denen wie in den amerikanischen ab und zu verkappte Pornos laufen, die ganz unbekümmert neben den speisenden Usbeken laufen, beweisen das Gegenteil. Es ist gesellschaftlich verpönt, davon zu reden, und peinlich. Aber eine überlebensgroße Unterwäschenwerbung an einem Taschkenter Kaufhaus, auf der – wie im Westen – die Frau weiter als Unterwäsche nichts an hat, klebt kommentarlos hinter der Scheibe, direkt zur Straße gewandt, völlig ungeachtet aller Normen. Man hält seine Grundsätze in der Theorie halt höher als in der Praxis. Es sind allerdings immer westliche Frauen, russische aus den Großstädten oder in der Werbung europäische, den usbekischen freilich würden ähnliche Videos schon im Kopf ausgeschlagen werden. In einem usbekischen Film, von dem ich einen Ausschnitt sah, genügte es, dass ein älterer Herr seine Hand über die eines jungen, hübschen Mädchens legte, dass sie weit die Augen aufriss, aus dem Zimmer sprang und niemandem davon erzählen wollte, so verletzt war sie. Andererseits hatte ich auch einen Taxifahrer zum Yangiobod, der die Zeit genutzt hat, mich in verschiedenen Varianten verkuppeln zu wollen. Fragte, wo ich wohne, und ob er mir usbekische Fräulein dorthin schicken könnte. Auf dem Weg, er erzählte und fragte noch ganz ähnliche Dinge, wies er mich auf verschiedene Einrichtungen irgendwo in der Nähe hin, wo man seinen Angaben nach Usbekinnen im ältesten Gewerbe der Welt finden könne bzw. nannte eine Bar, von wo man sich Russinnen mitnehmen könne. Am Ende schenkte er mir Semitschki und ich ging meinen Weg, völlig vor den Kopf gestoßen – ich habe doch keine Ahnung, wie man diese Dinger richtig isst!

Belassen wir es dabei. Was macht die Institutsarbeit? Ich hatte wenig zu tun, im Allgemeinen, und außer den zwei Tagen, an denen ich jeweils mehrere Stunden Russisch lernte, fällt mir noch diese Aufgabe mit EUNIC ein, die mir Julia gab. Es drehte sich um neue Richtlinien, festgelegt im fernen Brüssel zu einer Generalversammlung der Propheten, eine neue Zukunft, eine neues Konzept für diese Organisation, im Grunde ein Dachverband kultureller Repräsentationsinstitute europäischer Staaten, in dem Goethe Mitglied ist. In wundervoll abstraktem Bürokratenenglisch gehalten, genoss ich das Vergnügen, diese sich vor meinen Augen drehenden Wörter zusammenzufassen und einen kleinen Handlungsplan zu erstellen – Was müssen wir, nach diesen neuen Richtlinien, tun. Als EUNIC-Cluster, an dem sich drei oder mehr Organisationen unter EUNICs Namen versammeln, müssen wir eine Strategie entwickeln, besser, effizienter, schneller und mehr unter EUNIC-Flagge zu handeln. Immerhin haben wir drei Kulturinstitute in Taschkent – das Goethe-Institut, das British Council und die Alliance Francaise, die allerdings versteckt in der Französischen Botschaft arbeitet. Dieses Konzept ist Welten entfernt von hier. Die Aufgabe, einen Dreijahresplan zu erstellen, in dem wir uns zur Bewältigung eines strategischen Rahmenplans hocharbeiten, hört sich an wie die Schulaufgabe einer Bildung, die längst aufgehört hat, sich mit den Gründen ihrer Existenz zu befassen, nach ihrem Ursprung zu fragen, und Beschäftigungstherapie als Kulturpolitik betreibt. Mir scheint, als wollte sich EUNIC in den zweifelhaften Vordergrund stellen, die bisher zurecht vernachlässigte Sichtbarkeit erhöhen und gibt die Anweisung nach unten weiter. Ein Zitat von Roger Willemsen, das die „Krautreporter“ auf Facebook geteilt hatten, lautet verkürzt: „Es ist eine andere Welt, in der man […] von einem Konzept spricht und nicht einmal eine Idee besitzt, von einer Idee spricht und nicht einmal einen Einfall hat.“ So ähnlich stelle ich mir die Arbeit vor, wenn dutzende Experten ein Konzept ausarbeiten, um die Leere auf dem Papier zu füllen. Als gäbe es keine Probleme in der Welt, als wäre diese Strategie, die hauptsächlich auf europäische Großstädte zutrifft, weltenbewegend und von allem Zweifel erhaben eine höchst notwendige Sache. Ich denke, man muss ein Heuchler sein, in London, Paris oder Brüssel EUNIC-Konsultant zu sein, im Versuch, eine Kultur durchzubringen, die eh allgegenwärtig ist. Wo die Arbeit notwendig wird, da sieht man es – hier, wo bestimmte Leute aus uns schöpfen, weil das Land an ähnlichen Angeboten ermangelt. In Europa ist es bloßes Attest der eigenen „greatness“. Man muss sich bestätigen, um sich bestätigt fühlen zu können. Hier spricht die Bestätigung aus den Gesichtern. Nicht, dass wir ein Engel auf dem Weg zur Demokratie wären, um Gottes willen! aber doch sind wir Anlaufstelle, bringen Geld und Expertise, Themen, Intelligenz und die Technik, sie anzuwenden – von alldem ist in Usbekistan wenig vorhanden. Auf dem Weg dahin allerdings brauchen wir keinen Dreijahresplan, den wir alle fünf Monate über den Haufen schmeißen können, wir brauchen Initiative, Ideen und ein Stück Idealismus. Ich bin froh, dass ich hier bin, sehr sogar. Und froh, dass ich nur wenige Tage mit den Papieren verbringen musste, auch, dass ihr Umfang den des EU-Antrags weit unterschritt und ich es bei einer Zusammenfassung belassen kann – froh, dass ich weiß, dass ich nie bei der EU arbeiten will und fast am Ende meiner Schilderungen bin, die doch wieder – wie viel hatte ich mir vorgenommen – im Brustton der Überzeugung von Nichtigkeit zu Nichtigkeit hoppelten.

Am Ende bleiben restlose Wochen, die ich in Jagd nach meinem Schwanz verbringe, in denen ich die Gesellschaft pflege und meine Einsamkeit suche, sodass auch dieser Text eher zusammengestückelt und im Plauderton gehaltene Revue ist, vielleicht der einzige Weg, dem Rahmen von mehr als einer Woche gerecht zu werden – wenn doch so viel passiert ist, das ich gar nicht auf einmal mehr fassen kann, wenn ich immer häppchenweise schreiben muss und diese Stücke aneinanderreihen, so kunstvoll es eben geht – brachial offen, entgegengeschleudert wie die Sprache, ist auch die Struktur. Morgen fahre ich nach Samarkand, bleibe zwei Tage und unternehme am dritten einen Ausflug nach Shahrisabz, Timurs Geburtsstadt. Es ist eine Krux, die ich willig tragen muss: Wieder bin ich nicht allein. Nicht nur, dass in Samarkand noch der zweite kulturweit-Freiwillige wartet, Logis bieten kann, auch haben sich letzte Woche zwei alte Bekannte dem Unternehmen angeschlossen: Simon, der Bosch-Lektor, und Vilja, die Finnin. Ich bin gespannt, wie sehr ich meine Ruhe durchsetzen kann und wie es mir gelingen wird, daraus einen zusammenhängenden Blogtext zu schustern, weitab von allem Geplauder der letzten Wochen, viel eher zurückkommend auf die stille Schilderung des Herbstes. Zur Zeit arbeite ich an einem weiteren Eintrag, der lediglich die politische Seite behandeln soll, eine Zusammenkürzung der Ereignisse seit November, und auch diesem bringe ich meine Hoffnung entgegen, er möge einheitlicher sein als dies Geschwätz, das ich vorbringe. Es ist Zeit, zu gehen, denn in acht Stunden stehe ich auf: zu einem neuen, wiedergefundenen Blog. Ich kann es leider nicht versprechen.

Januar

Wenn ich nun auf meinen Januar Rückschau halte und versuche, ihn mundgerecht zu präparieren, dann mit einem Schnupfen und leichtem Husten, den ich aus dem Temperaturtaumel der letzten Wochen mitgenommen habe. Ich muss mich schon als Held fühlen, nicht früher krank geworden zu sein – mit welcher Hitze der Januar begann! Jetzt endet er mit angemessener Kälte, obschon sie erst der Übergang zu ordentlichen Minusgraden sein sollte – Minusgrade, wie wir sie nicht hatten. Einige fürchten wieder Schnee im März, der die Blüten und kommende Früchte verdirbt, wie letztes Jahr, als alles teurer war. Ich trinke meinen Tee mit Zitrone und hoffe auf eine Mäßigung der Schwankungen, dann bin ich zufrieden. Es war vor einer Woche teuflisches Arbeitswetter, als die Zentralheizung brüten und das offene Fenster frieren machte. Der Schnee, der vorgestern fiel, ist schon wieder getaut, aber wenigstens werden es keine 15 Grad mehr. Gerade komme ich übrigens vom Yangiobod, einem gigantischen Floh- und Gerümpelmarkt am Rande der Stadt, der alle Ausmaße menschlicher Kreativität sprengt. Für die meisten der übereinander gestapelten Dinge habe ich nicht einmal einen Namen. Einiges Bekanntes kommt einem unter die Augen, Stacheldraht, Haustüren, Hühner und Teetassen. Natürlich viele alte Bücher, letzte Woche habe ich Gedichte von Ossip Mandelstam zweisprachig deutsch-russisch und „Ausgewählte Werke“ von Marx und Engels erworben, für 4000 Sum. In der Woche davor durfte es ein Dostojewski sein: Schuld und Sühne, im Original. „Преступление и наказание“. Ich war jetzt das vierte Mal dort, vier Wochenenden in Folge, und niemals allein, wie ich diesen Moment erwarte – ihm ist ein eigener Beitrag angemessen. Heute war ich mit einem Engländer und seiner usbekischen oder russischen Freundin dort, die immer im Patrick’s Pub sitzen, wo alle zwei Wochen ein Pub Quiz stattfindet, von jenem Luxemburger, der hier DAAD-Lektor ist, und seiner russischen Frau, die auch Deutsch und Französisch spricht und meine Sprachkurslehrerin ist. Nächste Woche steigen sie aus der Winterpause. Mit den beiden Erstgenannten, die jeweils an einer Privatschule unterrichten, war ich also heute dort, und weil es kalt war, sind wir kurz über den Markt gehuscht, haben das Wesentliche durchkreuzt und uns in einem Inner-City-Café bei Brunch und Kaffee erholt. Letzte Woche waren wir zu viert auf dem Basar, drei Deutsche und die eine Finnin, die Anfang des Jahres hier auftauchte, um zwei Jahre für die UNDP zu arbeiten, und die praktisch gegenüber von mir wohnt. Die beiden anderen sind deutsch, der eine Samarkander Kulturweitler, der in drei Wochen sein Jahr an einer Schule abgesessen hat, und ein Robert-Bosch-Lektor, der wenige Wochen vor mir kam und wahrscheinlich ein Jahr länger bleibt. Ich komme also ein wenig unter die Leute, mit der Clique kann man abends ausgehen, zum Beispiel in die kleine Elvis-Bar, in der sich am Wochenende die Gemeinde der Englischsprachigen und Ausländer trifft und mit den reichen Usbeken oder Russen zusammen auf engstem Raum zu Livemusik tanzt, während der Wodka in 100 Milliliter (man sagt ja hier Gramm wie in Russland) 6000 Sum kostet. „We don’t need no source control!“ Tja, in gewissem Ambiente kann man auch solche Songs spielen, die gegen Folgsamkeit und Folgewilligkeit verstoßen, hier sind sie toleriert. Noch toleranter wurde es am Abend darauf, dem Samstag, als wir vom Manager der Internationalen Klinik, Dauergast der Elvis Bar, zu einem Konzert seiner Band im Docker’s Pub eingeladen wurden, fußläufig zu unser aller Wohnungen, die doch auf dieses Stadtviertel zentriert sind – ein guter Ort zum Wohnen. Teure Steaks, mittelmäßiges Bier – obwohl, das dunkle war eigentlich sehr schmackhaft – und ein Gebäude mit Apsis und drei Schiffen wie eine ehemalige Kirche warteten auf uns und schicksalsgläubig setzten wir uns unter den Lautsprecher. Zu spät, als es begann. Der ZfA-Lehrer aus Fergana saß auch bei uns, war irgendwie gerade in Taschkent. Der Manager kam an unseren Tisch: „Rock n Roll!“, sagte er und verschwand hinter seinem Schlagzeug. Die ersten Töne klingen eher schlecht gekonnt und gut gewollt, aber sie spielen sich ein; man gibt ihnen die Zeit, während man am Bier süffelt und den alten Hits, die sie spielen, nachspürt. Sie brauchte einige Minuten, darunter Bowies (RIP) Space Odyssey, die eindeutig später hätte kommen müssen, bei mehr Bier und Publikum, um sich warm zu trinken. Es wurde besser und der Keyboarder lieferte, im Gegensatz zu seinem Kollegen an der Gitarre, sogar ordentliche Gesangseinlagen ab. Später, während die Band sich erholte, lief „Tomorrow Never Knows“ vom Band. Gut, dass die Gruppe keine ausländische NGO ist und ihre Texte zur Genehmigung einreichen muss. An die Richtlinien haben sich die Stones und David Bowie nämlich nicht gehalten. In der Lautstärke zum Schweigen angehalten, versuchen der ZfA-Lehrer und ich uns trotzdem über Filme zu unterhalten, während der Rest tanzte und eine Schar Mittvierziger dem Treiben zusah. Kommentiert von ihm, „Die ganze Internationale Schule ist hier“, und meint natürlich die Lehrer. Ein Samoaner unter ihnen, wie der sich wohl hierher verirrt hat… Achteinhalb hätte er neulich gesehen, woraufhin ich mir Fellinis Krisis-Werk vorgestern wiederholt vornahm und, gelinde gesagt, beeindruckt war, wo das erste Mal mein Verständnis nicht recht hinterher gekommen war. Mit der Übung an Tarkowskij, German und Co. habe ich sicher eine größere Ausdauer als damals, wann war es? Muss in Lettland gewesen sein, oder kurz danach. Auf den Fernsehern, die hier wie überall Aufmerksamkeit in den Restaurants erheischen, spielen sich indes Modeschauszenen ab, wie sie nicht hätten erschütternder sein können: Waren es alte Aufnahmen der späten Neunziger, als die Welt noch an Globalisierung und Kunst glaubte? Männer mit todernstem Gesicht schreiten zielsicher durch das trockene Laub, das von zwei Besucherreihen gesäumt wird, drehen hinten um und gehen wieder zurück, als berührten die Leute mit den Notizblöcken und Stiften gar nicht ihre Welt. Oder dies: ein schwarzer Raum, Publikum und ein Steg, auf dem wie Mickey-Maus-Helden Männer in Mützen herumstolzieren, der eine mit Schlafanzug und Krawatte, der andere mit Mantel und Reisekoffer, ein dritter ohne Mütze. Der Blick will doch immer wieder zu diesem leuchtenden Bildschirm, der die Augen fängt wie das Licht Motten, bis er von einem überdimensionierten Hockeyhandschuh an der Rückwand der Bar aufgefangen wird, auf dem ein Spruch und der Sponsor des lettischen Eishockeyteams steht, natürlich ist der Spruch auch auf Lettisch. Sie könnten sich nicht mehr erinnern, vor Jahren sei der hierher gekommen, meinen sie, und scheinen sich nicht recht dafür zu interessieren, dass ich fasziniert bin von einem blöden Fanartikel meiner zweiten, ehemaligen Heimat, den ich anstarre wie einen okkulten Götzen.

Gleich nebenan, einige Meterchen weiter, ist übrigens ein guter Georgier, der köstliche Speisen und gut trinkbaren Hauswein serviert, bei dem wir auch einmal waren, vielleicht vor vier Wochen oder drei sollten es gewesen sein, mit Simon, Bosch-Lektor, Simone, seiner Kollegin in Fergana, Cedric, jenem DAAD-Lektor, Jonas, der Samarkander, der 19 ist und etwas verrückt, im neuen Jahr jedes Wochenende in Taschkent verbracht hat und verbringen wird, um zu feiern, tanzen und auf die Gesellschaft zu treffen, die er in Samarkand, es ist doch Provinz, vermisst, ach, und dann waren da noch zwei Gesellen, die in Nukus weilen, im fernen Karakalpakstan, sie Ethnologin, er ihr Mann oder Freund, und dort arbeitsam tätig sind. So in etwa stellt sich die deutsche community im Taschkent meiner Umgebung dar. Ausgenommen sind also alle Deutschen, die bei der giz, Botschaft etc. arbeiten. Nun war ich tatsächlich, ein sehr aktiver Monat, jedes Wochenende unter Leuten, fernab meiner geliebten Einsamkeit, und musste den Blog opfern, schleifen lassen, in der Hoffnung, ihn nun geschliffen präsentieren zu können. Einen Augenblick, wo war ich? Ich wollte zurück zum Georgier. Es ist faszinierend, und jetzt fällt es mir in aller Gewalt des Wortes ein, wie gut man in Taschkent speisen, d.h. essen, kann. Empfehlenswerte Restaurants, die nicht allzu teuer sind, gibt es viele, gute Choyxonas oder usbekische Kafes ebenfalls, nun vermehrt auch diese europäischen Cafés, in denen ordentlicher Kaffee und ausgewogenes Frühstücksangebot selbstverständlich ist, und sogar nachts gibt es noch Plätze, an denen man essen und trinken kann, wie Elvis, und verrotzte Tanzschuppen wie die VM-Bar oder das Pioneer – letzte Woche kamen wir am Sonntag um Zwei aus dem Elvis, hungrig, und fanden ein Bistro um die Ecke, das noch um halb Drei, als wir gingen, neue Gäste aufnahm und wo die Mahlzeit 9000 Sum kostete. Ich freue mich, dass soviel Freiheit sein darf.

Apropos Freiheit: Dass usbekische Gerichte nicht den Gourmet-Vorstellungen verwöhnter Europäer entsprechen, ist schon eine Selbstverständlichkeit. Ich mag das ja. Auch dann, wenn ich die Ausgewogenheit der Kuriosität opfern muss. Neulich habe ich einen großen Teller voll Kichererbsen serviert bekommen, auf dem einige Stücke Fleisch, Fett und rohe Zwiebeln lagen. Nicht, dass ich es bereuen würde, außerdem hatten wir Wodka dazu bestellt, aber dies zum Thema Freiheit – so kreativ, luftig leicht. Für mich immer noch exotisch.

Der Januar hat mir Taschkent als eine Stadt gezeigt, die, wenn sie auch nicht mit Berlin oder Leipzig mithalten kann, doch immerhin versucht, dem Anspruch nachzukommen, Vergnügen und Lebensstil zu offerieren. Es kann ja nur im Interesse der Staatsmacht sein, das Volk zufrieden zu halten. Also genug der Vergnügungen und Zerstreuungen (mache ich dort weiter, wo ich in „Zwei Masken“ aufgehört habe?), wir kommen nun zu den ernsten Dingen des Lebens. Mein Geld zehrt natürlich unter der Belastung des Monats und zum ersten Mal stehe ich am Monatsende mit einem Kontostand da, der im Vergleich zum Vormonat kaum gewachsen ist. Beklagen sollte ich mich nicht, solange ich das Geld habe und mir nur das am Ende Ersparte verringere. 50 Dollar in der Woche sind noch immer eine verträgliche Summe und ein fliegender Geldbeutel macht das Leben leichter. Es ist die Entscheidung zwischen jugendzentrierten Annehmlichkeiten und geizgleicher Enthaltsamkeit, vor die ich mich stelle, und meist sehne ich mich nach ersterem. Das Kreuz, das zweiteres darstellt, muss ich nicht tragen, wenn ich doch in der Gesellschaft bin – alleine verspricht der Verzicht das Lob der Musen und Engel; gemeinsam lasst uns feiern und trinken. Wofür muss ich mir die Härte aufbürden, in Gegenwart anderer fühlt sich Verzicht an wie Geiz. Wenn ich nicht trinken will und verschwenden, bleibe ich alleine. So einfach werde ich es nie wieder haben, Geld auszugeben.

Wo wir dabei sind – die Gehaltserhöhung für unsere Mitarbeiter ist durch und darf ausgeführt werden. Endlich verdiene ich weniger als der Sekretär. Sie haben es nötig, alle. Inzwischen steht der Dollar konstant bei 6000 Sum, die offizielle Angabe von ca. 2700 bleibt bestehen. Im Vergleich zu mir werden die Bewohner Taschkents immer ärmer. Und ihre Stadt immer teurer. Der Preisanstieg ist spürbar. Zu Beginn mein Lieblingssupermarkt, hat sich „Korzinka“ gewandelt. Seine Preise sind genauso hoch wie im „Sunday“ direkt gegenüber meinem Wohnblock, die Leuchtreklame dringt zu mir ins Blickfeld, wenn ich raus starre, nach Worten suche. Vor einigen Monaten war dort noch „Kontinent“, ein teurer Supermarkt mit schlechtem Angebot, und als Sunday öffnete, war er teurer, aber näher und so: bequemer. Wie sehr ich auch Sympathie gegenüber den mehr verkramten, weniger westlichen Korzinka hege, die zehn Minuten Weg sind mir meine meist geringen Einkäufe nicht wert. Für größere gehe ich am Wochenende auf den Basar. Nun bin ich immer etwas traurig, einzukaufen. Wenigstens muss ich keine Angst haben, dass mir die Scheine ausgehen… Für jede Woche erstelle ich bereits fleißig Budgetrückschauen in Sum und jeden Monat in Dollar – da sticht sich der Januar als teurer heraus. Noch im Vergleich zum Oktober oder November gebe ich wöchentlich über die Hälfte mehr aus, und davon entfällt längst nicht alles auf Tanzen, Wodka, Restaurants. Ich sehe denselben Effekt wie in Lettland, tendenziell war es damals ähnlich: Ich hebe einfach meinen Standard mit jedem Monat, den ich hier lebe, will ich es angenehmer haben, mir mehr Bequemlichkeit verschaffen.

Es gibt verschiedene Gründe. Auf dem Basar habe ich mein Essverhalten geändert – von ewiger Suppe geplagt, bin ich seit meiner Rückkehr aus Ulan-Bator, also seit über zwei Monaten, Freund der nahrhaften Speisen, „бифштекс“ und „бефстроганов“ beim Tartaren, die man sich mit köstlichen Beilagen wie Buchweizen, Reis oder Fritten wünschen kann und mich etwas teurer zu stehen kommen als nur Suppe mit Brot. Falls mich doch einmal die Lust auf Gemüse oder etwas Gesundes packen sollte, so ist Loschka Kartoschka die richtige Wahl – zwischen Delikatesssuppen wie Soljanka, Borschtsch und Rassolnik lässt sich entscheiden, als Beilage wähle ich Xanum: Kohl mit Kartoffel und Tomatensoße, für kleines Geld ein Guss in die Seele wie aus… ach, ich weiß nicht. Kantinenessen, mikrowellenerwärmt, bleibt es trotzdem. Daher die fortgeführte Angewohnheit, am Wochenende zu kochen, falls ich nicht in anderen Etablissements lande, und gerade bin ich fleißig dabei, ein Kilo Rote Bete zu verbrauchen. Da verzichte ich unter der Woche auch mal auf Borschtsch. Wenn ich koche, wird es gerne kreativ, frei nach der in Mathe gelernten Formel: Wie viele Kombinationsmöglichkeiten aus a) drei Beilagen, b) zwei Sorten Gemüse und c) zwei Sorten Kräutern gibt es? Reis, Gretschka (Buchweizen) und Kartoffel mische ich in beliebiger Konsistenz (Brei bis Suppe) mit dem Gemüse, das ich gerade im Kühlschrank habe, und füge eine Gewürzmischung und viele Kräuter hinzu, fertig ist die Brühe. Zum einen habe ich nur einen Topf ziemlich normaler Größe zur Verfügung (plus zwei überdimensionale) und eine Pfanne, die aussieht, als würde darauf alles anbrennen (Zitat: Jonas). Fleisch ist mir immer noch zu teuer und ich lebe ja gesund. Falls wir Eier hätten (vielleicht sollte ich welche kaufen) könnte ich mir auch Spiegeleier braten, am Wochenende, als Ausgleich zum Frühstück der Woche aus Lepjoschka und russischer, fast hätte ich gesagt, sowjetischer, Wurst. Wenn mein Nahrungsplan hin und wieder der Ergänzung bedarf, leiste ich mir tatsächlich auch Kefir, vitaminreichen Saft oder schokoladengefüllte Kekse, die mir die liebsten sind und viel Arbeit am Blog erleichtern – oder die Lektüre des zweiten Teils des „Don Quixote“, der sich lange hinzieht, nachdem ich den ersten recht schnell beenden konnte. Überhaupt ist das Lesen auf dem Bildschirm keine gesunde, aber überaus erfreuliche Sache, da aus den Weiten des Internets die spannendsten Dinge zu fischen sind, die ich mir in freudiger Erwartung aus dem Institut nach Hause mitnehme. So eine Reihe Gedichte von Poe, Musils „Drei Frauen“ oder Dramen von Strindberg, Schnitzler, Klabund – weiß was ich, was nicht noch alles dabei ist, so langsam verliere ich den Überblick. So schnell kann ich nun auch wieder nicht lesen. Dazu kommen noch all die Artikel und Texte, die ich in meiner freien Zeit im Internet des Instituts mir angle, lese oder herunterlade – so meine intensiv begonnene, nicht fortgeführte Beschäftigung mit dem Bücherverlust in der Spätantike, zu dem ich mich reichlich durch Wikipedia geforstet habe oder Artikel zu Künstlern, Schriftstellern, was auch immer, Hauptsache kurzlebig interessant, vielleicht bleibt im Gesamtbild doch was hängen. Kampflektüre. Und während ich mich so durch die Weltgeschichte gelesen habe, musste ich versuchen, meine Blogs zu einem Ende zu führen, sie nicht ausufern zu lassen zu Konstrukten gewaltigen Wahnsinns (als wäre ich schon so weit), Monumente meines Scheiterns. Obwohl es reizvoll wäre.

Es mag sich ausnehmen, dass ich kaum Arbeit hatte, wenn so scheinbar viel Zeit zum Lesen, Florieren und Betrachten blieb? Da mag was dran sein, v.a. da die Filmreihe, dieses groß gewünschte Projekt, mit dem ich jetzt genug zu tun gehabt hätte, ausfällt. Natürlich. Drei Ablehnungen, drei Annahmen, über die vier verbliebenen Fälle warten wir noch immer auf Antwort – ohne viel Hoffen im Wissen um die Inhalte – nachdem wir unserem Kinder- und Jugendfilmfestival im April Priorität eingeräumt haben. Aber Ablehnungen gibt es ja nicht. Es sind Fälle, in denen Uzbekkino dem Justizministerium ein stumpfes „Nicht zur Vorführung empfohlen“ mitteilt. Unter den durchgekrochenen ist überraschenderweise „Victoria“ – schön, schön. Weil alles lange dauerte und unsere Reihe ohne diese Filme die Berechtigung ihrer Konzeption verliert – „Träumen und zündeln“ sollte sie heißen – wird sie ins Ungewisse verschoben, und jetzt, nächste Woche wäre Auftakt gewesen, lassen wir sie auf dem Weg, auf der holprigen Straße der Vernunft und konzentrieren uns auf das nächste „Shum bola“ – „Schlingel“ ins Usbekische übersetzt. Auch hier wäre es zu schön, liefe alles reibungslos, aber wo leben wir denn! Uzbekkino, die wir in diesem Falle bewusstermaßen anschrieben, da unsere Vorführungen in der Öffentlichkeit stattfinden sollen, hat einen neuen Leiter, der weder Praktiken der alten Regie kennt noch so leicht diese suspekten, deutschen Kinderfilme genehmigen will, ohne Hintergründe zu erfahren. So haben wir hier am Freitag erst eine Liste der zu zeigenden Filme erhalten, immerhin dürfen wir optimistisch sein. Einzige Änderung, das Wegopfer auf oben genannter Straße, besteht im Titel, es soll ein deutsch-usbekisches Festival sein und der Logik folgend sollen auch usbekische Filme gezeigt werden. Julia, mit ihrer diplomatischen Ader, führte uns um den Dammbruch herum und verhandelte für dieses Jahr, usbekische Kurzfilme zu zeigen. Immerhin haben wir ein Konzept und hätten gerne ein wenig Vorlaufzeit, bevor es mit Langfilmen weitergeht – die wahrscheinlich im nächsten Jahr folgen werden. Der neue Leiter der staatlichen Kinobehörde ist genau der richtige Mann für uns: von Beruf Schauspieler, erklomm er die Leiter der Politik, wurde stellvertretender Kulturminister und dann Mitglied des Beraterstabs für den Präsidenten, wo er Experte für die Organisation von Massenveranstaltungen war. Ich finde, das hört sich seriös an. Zumindest meinte einer der Usbeken zu mir, er habe ihn neulich betrunken getroffen und sich mit ihm unterhalten – also, er meinte, sie beide waren betrunken. Auch Julia und Ravshan kamen unaufgeregt vom ersten Treffen zurück – anscheinend bewahrt er zumindest die Logik seiner Weltsicht. Dem Festival kann nicht mehr viel passieren, hoffen wir es doch. Zwei von drei Jugendfilmen haben sie schon ausgewiesen, weil natürlich – wir filmen die Wirklichkeit – Sex Thema der Jugend ist, und zwar auch in Bildern. „Meine Tochter Anne Frank“ ist dabei und sie rechtfertigt es, das Festival weiterhin für Kinder und Jugendliche zu organisieren, wie es das „Schlingel“ ist, auf dem unser Event basiert. Ich darf mich freuen, als niederer Praktikant, denn eine ganze Delegation wird voraussichtlich den traditionell anwesenden Leiter des „Schlingel“ in Chemnitz begleiten, Halbpromis, um die ich mich kümmern soll, darf, muss.

Auch im Moment haben wir Gäste, die aber so lange bleiben und mit uns so wenig praktisch zu tun haben, dass wir sie nicht begleiten müssen. Es handelt sich um ein Projekt, das Anfang März seine Aufführung erleben wird – eine Inszenierung von Kleists Kohlhaas, bearbeitet als Theaterstück, mit Schauspielern des Taschkenter Youth Theatre of Uzbekistan und der Regisseurin vom Heidelberger Jungen Theater. „Michael Kohlhaas in Usbekistan“ könnte selbst eine moderne Bearbeitung der Novelle sein und mit fest gedrückten Daumen hoffen wir, dass dieses hierzulande, gelinde gesagt, provokante Stück einen Weg durch die Behörden findet. Kohlhaas in Usbekistan, das ist tatsächlich ein Coup, wenn das gelänge. Auflehnung gegen von oben protegierte Ungerechtigkeit, gegen politische Diskriminierung und für absolute Gleichheit, rasend gegen injustice, mistreatment und gefährlich nah an Selbstjustiz. Alle werden es verstehen. Ich freue mich auf die Reaktionen. Wenn es denn welche geben wird, weil erlaubt wird. Die Heidelberger Regisseurin und ihr Bühnenbildner sind jetzt für anderthalb Monate da und versuchen ihren Job zu machen. die Schauspieler sind mittelmäßig, das Theater hat bessere Tage gesehen, ist staatlich und zeigt Kinderstücke, die, so Julia, kaum auszuhalten seien. Die Akteure spielten auch außerhalb von Kinderstücken wie für Kinder. Als wir letzten Montag bei einer Probe anwesend waren, fand ich es gar nicht so schlimm, ein wenig unmotiviert vielleicht. Witzige Geschichte: Der Regisseur und Betreiber des Theaters, der die beiden betreuen sollte, ist wenige Tage vor ihrer Ankunft selbst, unangekündigt, ohne jemandem Bescheid zu geben, für drei Wochen nach New York geflogen – wegen einer medizinischen Behandlung, die Gelegenheit aber nutzend, sich in der Theaterszene umzusehen. Es geht auch ohne ihn, wie man sieht, sein Sohn, der selbst in Heidelberg die erste Version auf Deutsch inszeniert hat, ist ja da. Nach dem Besuch der Probe sind wir zu viert, d.h. die beiden Gäste, Julia und ich ins Manas gegangen, jenes kirgisische Restaurant, das mir aus meiner ersten Woche bekannt war, und das eine wirklich gute Speisekarte aufweist, wenngleich die Preise für hiesige Verhältnisse hoch sind. Nach den Unterhaltungen ums Theater, scheint es mir, müsse ich dringend ins „Ilkhom“ gehen, wo ich seinerzeit die Szenischen Lesungen u.a. von Werner Schwabs „Präsidentinnen“ verpasst habe, weil ich in Ulan-Bator weilte. Nachdem mir unzählige Seiten bereits einen Besuch empfohlen haben, wird es auch von den beiden Profis hoch gelobt. Freilich, auf Russisch, das macht nichts. Spätestens, wenn sie Ende Februar Ibsens „Gespenster“ aufführen, werde ich mich hinbemühen und im Mai werden sie voraussichtlich mit Kafkas „Prozess“ premieren, vom Goethe-Institut bezahlt und wieder eine heikle Geschichte in einem Land wie diesem. Doch sie wollten es mit dem „Brief an den Vater“ verbinden, so wird es weniger politisch. Kohlhaas hingegen bleibt ein Wagnis.

Wie wir weitere Maßnahmen durchführen können, müssen wir erst erfahren. Es ist ein kontinuierliches Kreuz, dass nichts gesagt wird, nur auf Nachfrage, und die Antwort auch dann meist wenig Klarheit bietet – auf institutioneller Ebene. Ich werde einmal gesondert schreiben, wie es genau um unsere Arbeit steht, sonst platzen wieder Zeit und Umfang der Texte, damit will ich gleich aufhören. Zunächst versuchen wir also, zu laufen wie es geht und fördern, initiieren fleißig weiter, vorsichtig, aber bewusst auf die Weiterführung der kulturellen Arbeit drängend. Beispielsweise ist da jene Frau, die das Goethe-Institut kennt und mit uns bereits Projekte durchgeführt hat (nicht mit mir). Ein solches wollte sie starten und hatte grundsätzlich unsere Unterstützung. Ein Kick-Off-Treffen, bei dem wir Klarheit über das Projekt – es sollte um „Performances“ gehen – erhofften, organisierte sie in unserem Veranstaltungssaal und so staunten wir nicht schlecht, dass sie über 30 Leute erwartete. Des Rätsels Lösung war einfach. Sie hatte Leute eingeladen, die vielleicht interessiert wären mitzumachen, zwei bekannte Künstler, die ein bisschen vor sich her referieren sollten, das Projekt anleiten, sprach noch einmal das Thema an und fragte dann – Was machen wir jetzt? Vorbereitet hatte sie nichts. Dass das Institut sie nach der letzten gemeinsamen Arbeit um etwas mehr Organisation gebeten hatte, war offenbar an ihr vorbeigegangen. Selbstverständlich war zu Ende der Veranstaltung wenig klarer, was eigentlich getan werden sollte, außer, dass eine (oder mehrere?) Performance entstehen sollte. Inzwischen hat sie eine Teilnehmerliste und ein Budget erstellt. Aber was soll man ihr vorwerfen? Es ist für mich belustigend und am Ende klappt es doch, wie alles hier. Außer, dass Ministerium verbietet es uns. JuMi übrigens, falls ich vorstellen darf, das Justizministerium. Erwähnte ich das?

Hier noch etwas auf der Übrigens-Skala: Im Januar stand der, ob russische oder usbekische, Männertag an, und wie das so ist, gab es gleich ein fröhliches Festchen während der Arbeitszeit. Wenn der deutsche Steuerzahler das wüsste… Dumme Wettbewerbe und platte Spielchen sollten je einen Gewinner unter den Misters des Instituts auslosen, während die Frauen die Fragen stellten und Preise vergaben, d.h.: Für jeden Mann war eine Tasse zugedacht, je nach Wettbewerb verschieden, und am Ende wurden die übrig gebliebenen an die zugeteilt, die sich entweder nicht durchsetzen konnten oder sich den Wettbewerben verschlossen hatten. Zu jener letzteren Gruppe zählte ich und kam noch sehr gut bei weg, als ich schließlich mit „Mister Antistress“ ausgelobt wurde – eine Tasse, die im übrigen sonst sehr kitschig ist und deren Boden ein Klebeschild „Made in China“ ziert. Da bin ich aber beruhigt.

Natürlich ist ihre Stellung hier zwischen den Welten des Ostens und diesem Treibhaus Europa dramatisch. Einerseits sehen sie in den Westen als Tal voller Versprechungen, Glück und Zufriedenheit. Ihre Sehnsucht begründet sich im Allerweltsanspruch, den Europa selbst fährt, lassen sich blenden von Demokratie und endlosem Frieden, für den die Europäer ihre Seele gegeben haben. Andererseits steht östlich von ihnen China, selbst eifrigster Plagiator des Westens, dessen Rezepte er ungefragt übernimmt, anwendet und das nur schneller, billiger, umweltzerstörend, unreflektiert. Sie hier, die blind gestellten Bürger der nicht geduldeten Freiheit sehen nicht, wie schwer Europa wiegt. So suchen sie ihm gleich zu kommen und ergehen sich dabei in blassen Kopien, ohne eigenen Kopf und eigene Schöpfung. Und wenn sie Europa kopieren, so vergessen sie stets die Sehnsucht, denken Leben ohne Sorge, Reichtum ohne Müdigkeit, Glück ohne Bitternis, Wärme ohne Verzweiflung, Erfolg ohne Opfer. Alle denken an ihre Zukunft. Elmira will in Deutschland wohnen, Shomansur, der Sekretär, sein Haus umbauen – alle denken an ein schöneres Leben in besserer Zukunft, als wäre es natürlich, ein Wachstum von Glück und Wohlstand, von Wert und Tugend. Hier ist der Glaube noch da, während in den westlichen Ländern, Europa, dystopische Visionen zunehmend den Glauben an Zukunft ersetzen und in sich auflösen. Und sie sehen hoffnungsvoll auf diesen Kontinent, der selbst seine eigene Hoffnung aufgegeben hat. Der Glaube daran jedenfalls scheint ohne Zukunft.

Aber ich jammere schon wieder. Es gibt doch so viel Schönes und Angenehmes. Die Erdbebenphase scheint aufgehört zu haben. Ich kann abends ausgehen, ohne um mein Geld zu fürchten, ich könnte hier sehr gut leben, aber um meiner Freiheit willen lasse ich die Zügel angespannt. Ich war beim Friseur, d.h. endlich sind meine Haare weg, mein Kopf leichter, alles wird einfacher! Zu Weihnachten habe ich mir einen Handfeger gekauft, endlich kann ich mein Zimmer fegen, das hatte es dringend nötig und erweist regelmäßig seinen Nutzen. Sauberkeit, wie schön! Im Februar stehen zahlreiche spannende Ausflüge an – ein großer nach Samarkand, kleinere ins Theater, mein Russischunterricht wird fortgesetzt. Mit etwas Glück komme ich auch noch vor dem Frühling in die Taschkenter Oper, das Navoi-Theater, das seit November oder Dezember fertig renoviert ist und nun wieder für Ballett- und Opernfreunde offen steht. In der Programmabteilung haben wir gewettet, darum, wie viele Filme aus der Reihe es schaffen werden. Endgültig entschieden ist die Wette noch nicht, aber ich liege mit vier ziemlich gut. Der Verlierer muss Tickets für eine Vorstellung im Navoi-Theater organisieren.

Ja, das Leben ist ein Spiel hier. Wie auf einem großen, großen Brett, ohne wirklich die Regeln zu kennen, aber mit einer Atmosphäre so künstlich und gestellt, darin als Ausländer, Fremdkörper frei beweglich, was alle anderen bindet, so schweift man herum und guckt und lacht leise… Wir können es uns leisten, unser Leben etwas leichter zu nehmen. Zu Schulzeiten wäre das unmöglich gewesen, als der Ernst des Lebens noch mit Stacheldraht und plumpen Worten eingebläut wurde. Ich bin froh, hier zu sein. Ungeahnte Freiheit, in einem Land, das das Gegenteil verspricht. Nur weil ich Ausländer bin.

Und wenn endlich das Wetter seine angekündigten Versprechungen hält und nicht ständig, wie ein Schiff seitwärts zu den Wellen schaukelt und kippt, dann habe ich auch keinen Grund mehr, krank zu sein. Aber wie gerechtfertigt ist die Hoffnung, wenn der Wetterfrosch einen Temperaturanstieg von 15 Grad in drei Tagen ankündigt? Ich glaube ihm nicht, Problem gelöst. Solange es noch Zitronentee gibt, bin ich gerettet.

Zwei Masken

Anmerkung: Dieser Eintrag entstand im Verlaufe von anderthalb Monaten, in denen ich vor Reisen, Lesen, Feiern und Erschöpfung nicht dazu kam, die hier geschilderten Erlebnisse kohärent niederzuschreiben. Die Chronologie beginnt mit meiner Reise nach Urgench (30.11. bis 05.12.16), um einen Theaterworkshop durchzuführen, und endet mit den Tagen nach Neujahr. Über den Januar muss ein neuer Artikel erzählen.

 

Zwei Masken beherrschen jene Tage. Die erste des Glücks, des Lachens und Feierns; die zweite von Verdruss, Unruhe und Zerstreuung. Es ist eine lange Zeit vergangen, dass ich gemäß der Tagesordnung schrieb – nach dem „Weg durch die Freiheit“ brauchte ich Ruhe und doch ging die Zeit weiter: Ich arbeitete mal hieran, mal daran, bis ich vor ungewissen Fragmenten stand, die es galt, zusammenzuklauben, nachdem der Stress verschwunden war. Meine beiden letzten Einträge behandeln das Reisen und das Außerordentliche, jetzt gilt es zum geordneten Leben zurückzufinden, die Arbeit und den Alltag.

Zwei Masken, so sagte ich – immerhin war Neujahr, ein großes Fest hierzulande, wo Weihnachten kein Begriff ist. Wo Sterne und Weihnachtsmänner, gelegentlich Rentiere und natürlich Tannen die Straßen und Häuser, Cafés und Geschäfte zieren, in allen Farben des Kitsches und der Leichtigkeit, nur eben nicht zum Weihnachts-, sondern zum Neujahrsfeste. Sogar Geschenkchen gibt es im engen Kreis der Familie, ich habe mit Elmira, Alisher, dessen Cousin und seiner Frau und Kind, Elmiras Schwester und der gemeinsamen, demenzkranken Mutter gefeiert, vor allem: gegessen, fern geguckt und in einer anderen Familie wäre auch ordentlich getrunken worden. Der Wodka wurde mir angeboten, aber alleine fühlt man sich eher fremd dabei. Ich habe abgelehnt – hatte genug am vorherigen Tag. Ein frohes Fest, bei dem ich eben nicht nur die Beschaulichkeit und gute Hausküche mitbekommen habe, sondern auch jene russischen Neujahrsfeiern, die auf den großen Sendern laufen – Show: Glanz, Glitter und Gloria, Gesang und Unterhaltung, Tanz und Champagner. Den gab es bei uns auch – süß wie jener, den ich früher als Kind begehrt habe, nur mit Alkohol. Die Russen auf den Kanälen feiern laut und kräftig, voll im Spaß und jeglichen Tiefgang vermeidend. Es dürfen doch mal politische Witze oder gesellschaftliche Amusements sein, die dann auf Kosten Elton Johns, Angela Merkels oder des Westens gehen. Zweimal durften wir Putins bewegende Neujahrsansprache sehen, um Acht und um Zehn unserer Zeit, und zweimal die Glocke Mitternacht schlagen, zweimal die russische Nationalhymne in all ihrer Pracht hören. Ich hatte viel Zeit, alles mit anzusehen, denn zwischen Acht und halb Zwölf wurde tatsächlich nicht mehr getan als ferngesehen. Hilflos wiederholte der Bildschirm von Zeit zu Zeit seine Nachricht: „Health advise: You are watching TV for 2 hours.“ Im Anschluss die Runde der Geschenkchen und ein weiteres Essen. Es ist natürlich nicht mein Charakter und das ewige Sitzen tut meinem Rücken nicht gut, dennoch werde ich nun auf immer wissen, wie russische Fernsehsender Neujahr zelebrieren…

Zwei Masken – als ich zum letzten Mal von meiner Arbeit erzählte, vom Goethe-Institut und meinem Schicksal dort, war es Anfang November. Zwei Monate sind eine lange Zeit, selbst wenn einer davon nicht mit Arbeit gefüllt war, durch Reise und Winterschließung. Es war tatsächlich kein Kontinuum, was sich da ab Ende November bis zur Freizeit am 19.12. erstreckte. Nach dem großen Weg, der Reise nach Ulan-Bator, war meine Ermattung groß und ich brauchte Zeit, mich zu erholen, glücklicherweise ohne viel Arbeit dabei, die großen Projekte des Jahres aus und vergangen, denn meiner harrte eine strenge nächste Woche: Es sollte nach Urgench gehen, 1000 Kilometer von Taschkent, statt an die Grenze Kasachstans nun an jene Turkmenistans, unweit des Touristenmagnets Chiwa und benannt nach jener nun turkmenischen Ruinenstadt, die zu vormongolischer Zeit Zentrum des Großreichs Choresm war – letzte Bastion Mittelasiens, die gegen Dschingis Chan noch stand und schließlich von ihm blutigst unterworfen wurde. Der Sieg brachte dem ersten Chan die Herrschaft bis zum schwarzen Meer ein. Namen wie Al-Choresmi, Lehnvater des Worts Algorithmus, sind mit der Region verbunden, der Erfinder jener noch gebrauchten arabischen Grammatik komme auch hierher und die Awesta, das heilige Buch des Zoroastrismus, älteste schriftliche Quelle des Glaubens, soll in Chiwa geschrieben worden sein. Ein spannendes Land, unbedingt, und doch war ich nicht im Urlaub dort, konnte außer einem halben Tag Chiwa und den vielen erzählten Geschichten nicht viel Historisches mitnehmen, denn es galt, mit 19 Schülern des Zweiten Akademischen Lyzeums, 16- bis 18-Jährige, in vier Tagen Michael Endes „Momo“ in einer Fassung einzustudieren, die ich bearbeitet habe, deren Original an unserer Schule mit mir als Schauspieler eine wundervolle Facharbeit des letzten Jahres darstellte.

Auch dies gehört zur ersten Maske, jener der Freude und des Feierns – besonders des Trinkens – und der Dezember startete so mit einem Berg an Erkenntnis und Erfahrung, die es weiter zu verarbeiten galt. Zwei Wochen blieben, in denen nicht viel geschah, wirklich nicht, außer ein oder zwei Feiern, der Langeweile und Muße vor dem Computer und der drängenden Frage nach dem Fortführen der Blogs. Am 20. Dezember ging es für mich erneut in die weite Welt, nach Buchara und Termiz, die man in einem vorherigen Text wieder finde, um nun – ich kenne es – erschöpft anzugelangen an dem Punkt, an dem ich erstmal bleiben will, Taschkent. Es ist schon etwas wie ein Zuhause, wenn ich mit Rucksack und Halldór Laxness aus dem Zug steige, die Morgenluft, die Abgase genieße, und mich aufmache in mein Bett. Kein Wunder, wenn die letzten anderthalb Monate des Jahres in so viele neue Orte führten, mich mitrissen durch die Weltgeschichte wie durch die Regionen, dann ist der Wunsch nach Ruhe vielleicht endlich ein gerechtfertigter, dem man nun mit Zufriedenheit statt Ungeduld, mit einem Lächeln statt verzogener Schnauze begegnen kann.

Die Tage nach Neujahr erstreckten sich in steigender Hitze vor allem vor dem Laptop, wo ich an allem Möglichen arbeitete, vor allem an meinen Blogtexten, die ich aufspannte, soweit es ging und dabei einen Haufen Material gekürzt habe und verworfen, der sich angesammelt hatte. Ja, und so starte ich befreit in das neue Jahr, mit Geist und Schrift im Grunde aufgeräumt und erwartungsvoll. Die Erwartung hält sich in den Grenzen Deutschlands, denn Usbekistan ist für mich ein Abenteuer, dem gegenüber das Wort falsch klingt – hier bin ich bereit für alles, was da kommen mag, und sei’s die Pest. Jene Erwartung bezieht sich auf die Freude, die mich in anhaltender Latenz seit Wochen begleitet, auf Deutschland, Leipzig, deutsche Sprache, deutsches Wetter… Jetzt bin gewappnet für eine große Durststrecke, für Arbeit und Anstrengung, Enttäuschungen und Erlebnisse. Mein Panzer ist wiederhergestellt.

Wie es eine erste Maske gibt, so muss es die zweite auch geben. Komplementär ist alles. Eine schwere Aufgabe, die Entwicklungen so festzuzurren, dass ich sie hier schwungvoll wiedergeben könnte, vorerst nur also eines, denn viele Worte warten noch auf ihre Entsprechung: Weder Person noch Körper sind betroffen, ich will nicht von mir erzählen, denn mir geht es blendend. Mehr hat es mit der Arbeit zu tun und mit dem Staat, mit Widerstand und Ergebung. Davon später mehr, wenn ich die Macht dazu habe.

Es ist eine Nebensächlichkeit fast schon, so turbulent die Tage und vergangen die Wochen: Wir sind umgezogen. Ich erzählte sicherlich von der Wohnung nebenan, die renoviert wurde. Nun, es stellte sich heraus, dass eigentlich diese auf meiner Registrierung als Wohnort angegeben wurde und eigentlich diese Zuhause von Alisher und Elmira ist. Ich habe ein neues Zimmer, nicht mehr das größte der Wohnung, in leisem Hellblau und mit sehr seltsam lackiertem Holzfußboden, die Dusche hat keinen Vorhang und es gibt kein Waschbecken. Während wir den Tisch aus meinem alten ins neue Zimmer trugen, jenem runden, an dem ich meine Blogs zu schreiben pflege, fiel mir ein Aufkleber am kräftigen Standbein auf, kurz unter der Platte, bei normalem Gebrauch nicht sichtbar. Dieser Aufkleber ist auch auf meinem Papierkorb im Büro und enthält eine Inventarnummer des Goethe-Instituts Taschkent. Stillschweigend gehe ich von einem ausrangierten Exemplar aus.

 

Verwilderung der Gärten

Hintergrund: Warum war ich, wo ich war? Es ergab sich die Möglichkeit, nachdem ich mich eingelebt hatte und man von Urgench erzählte, diesem besonderen Ort, wo die Schüler Deutsch lernen wie andere das Einmaleins, dann war der Vorschlag im Raum, ich könne doch einmal mitkommen, mit eigenen Augen sehen und der Wunsch, diese Reise mit etwas Dienstlichem zu verbinden. Ein Theaterworkshop stand schnell im Raum und der erhebende Gedanke, das Ganze auf Kosten der PASCH-Abteilung durchzuführen, stammte nicht von mir. Sowohl das Lyzeum als auch die 19. Mittelschule sind Fit-Schulen, Partner des Goethe-Instituts und werden als solche von uns mit Projekten, Finanzen unterstützt. Am 30. November war eine Prüfung auf die Niveaus A2, B1 und B2 des GER geplant, auf welche die Schüler sich monatelang vorbereiten, um das Goethe-Zertifikat zu erhalten, mit dem sie weltweite Akzeptanz zu finden erhoffen. Diese Gelegenheit durfte ich nutzen, einen Workshop hintenan zu hängen, nach den Prüfungen noch einige Tage zu verweilen. Soweit so gut und alles hört sich friedlich an, doch Wolken dröhnten schon im linken Ohr, als ich aus meinem Traum, irgendwo im Osten, zurückkehrte und die Welt verändert vorfand, sowieso von dem Erlebten völlig überfordert und wie in Wolle gewickelt, schwebend, und am Boden liegend, so musste ich mich sammeln. Es war und wurde schlimmer; die Programmarbeit wird an Händen und Füßen gefesselt, dass sie noch mit dem Kopf nicken kann und Worte der Entscheidungslosigkeit, politisches Nichts, murmeln – in ihren Bart, sozusagen. Es fing an, dass in der Zeit meiner Abwesenheit die Forderung des Justizministeriums erging, bei allen Veranstaltungen, Projekten und Vorhaben eine Bestätigung ihrerseits ab jetzt unerlässlich sei. Eine Meldung unsererseits, wie bisher unschuldig praktiziert, gilt nicht mehr als Erlaubnis – so haben wir regelmäßig aus Nichtantwort geschlossen. Für unsere Filmreihe ab Februar wurde die Ordnung verhängt, alle zu zeigenden Filme zuerst der staatlichen Kinobehörde Uzbekkino, ungeblümt: Zensur, zu geben. Ein Paradeschlag in das Herz des Ungetüms: „Finsterworld“, wo menschliche Hornhaut zu Keksen und eine Schülerin in einen alten Vernichtungslagerofen gestoßen wird; „Unter dir die Stadt“ mit seinen Sex- und Nacktszenen, ganz zu schweigen das Thema des Ehebruchs. „Kreuzweg“, härteste Lektion über religiösen Fanatismus – christlichen, dennoch. „Als wir träumten“ – Drogen, Waffen, Revolution; „Wir sind jung. Wir sind stark“ – hier brennen wieder Menschen; „Victoria“, ein Experiment, Gewalt in schrillen Clubfarben. Die Doktrin lautet: Keine entblößten Schauspieler, keine explizite Gewalt, keine Religion. Für die Reihe können wir nur beten, und selbst da ist nicht viel zu hoffen. Anders als Faust, der am Ende trotz seiner Fehltritte gerettet wird, hat diese Reihe nichts zu erwarten. Ja, das ist Usbekistan, wenn jemand fragt – das ist es. Massenveranstaltungen bedurften seit jeher der speziellen Erlaubnis des Kulturministeriums, nun wurde die Anzahl von 100 auf 50 Leute heruntergestuft – und schneidet damit unseren Veranstaltungssaal mit 80 Plätzen. Jegliches öffentliche, hauseigene Treiben müssten wir bei zwei Ministerien melden, zwei Erlaubnisse einholen. Nicht nur die Bürokratie schreckt ab – auch müssen wir, um alles rechtzeitig genehmigt zu bekommen, zwei Monate Vorlaufzeit einplanen. Einen Kurzfilmabend im November mussten wir einen Tag vorher absagen und später wurde leise deutlich gemacht, ganz höflich, man wünsche nicht, dass wir mit diesem Partner zusammen arbeiten – ein selbständiger Regisseur, der anders macht als Uzbekkino will. Theaterveranstaltungen müssen erst von staatlicher Seite kontrolliert werden, das fertige Stück muss warten, bis die Herren ihren Daumen gerichtet haben und darf dann erst premieren.

Beinahe wäre auch der schöne Coup mit Momo nicht gelungen. Beinahe, wenn nicht irgendwer noch Mut und Enduranz hätte, irgendjemand. Bis Freitag warteten wir, zähneknirschend, ungeduldig, auf eine Antwort des Ministeriums. Pünktlich, einen Monat, 30 Tage, vor Beginn unserer Reise hatten wir sie angemeldet, noch von stillschweigendem Einverständnis ausgehend. Diese Zeiten sind vorbei und sie werden nicht wiederkommen. Man telefonierte, hakte nach und nie ist der Richtige da, und wie froh bin ich, dass nicht ich der immer wieder Vertröstete war, bis Freitagnachmittag der Höhepunkt der Spannung brach – werter Kollege des Justizministeriums war um Vier in sein Büro gekommen, ausgeschlafen. Ich wollte nach Hause, müde, und mit einigem an Arbeit, was Momo betrifft. Ganz zu schweigen vom großen Bericht über meine endlose Reise, mein „Far, far away“ der Wochen zuvor. Nur durch Dunst und Watte, wie man mich kennt, nahm ich den Tag wahr und nahm hin, als plötzlich die Antwort war, er habe es nicht geschafft, wir hätten uns früher melden sollen und könnten, wenn wir jetzt noch einmal anmelden, in zwanzig Tagen die Prüfung durchführen, und den Workshop. Man lächelt da müde drüber und stimmt der Institutsleiterin zu, wenn sie anruft und selbst mit Schuldzuweisungen überhäuft, im Anschluss sagt, Lasst es uns nur einmal vor die Wand fahren. Was soll ich kleiner Freiwilliger da sagen, tun? Ich laufe durch die Gegend, es zischelt und eine aus der Verwaltung flüstert: Das klingt nach Provokation. Und wie gesagt, heldenhaft ist es den beiden Ortskräften der PASCH-Abteilung zu verdanken, dass am Samstagnachmittag ein Anruf einging und ich erfuhr, ich darf, wir dürfen fliegen. Für die Freistellung der Schüler bedürfte es offiziell noch der Zustimmung des Hochschulministeriums, damit das Justizministerium die lokalen Behörden um eine Freistellung bitten kann. Erst dann hat alles seine Ordnung; die scheint in diesem Land lange abhanden gekommen zu sein.

Sorgfältig konnte man in dieser Zeit durchdenken, was bei endgültigem Nein passieren würde. Die Schüler, durch drei Monate hindurch intensivst vorbereitet, stünden mit leeren Händen da, ihr Prüfungstag ginge vorbei und sie ohne Prüfung, ohne zufriedenem Ablegen der Spannung letzter Wochen – man kann sich nicht vorstellen, was es für sie bedeutet, dieses Niveau zu erreichen. Erfahrungsgemäß bestehen sie fast alle an diesem Lyzeum. Die Leistungsrate ist enorm, die Motivation und Freude der… sage ich Kinder, wo ich kaum mehr ein Kind bin als sie? Nun, ist enorm.

Nicht gestattet wurde dem Abteilungsleiter, in seine andere Schule vor Ort zu gehen, die erwähnte neunzehnte. Er wollte Geschenke an zwanzig Schüler verteilen. Aber da die Schule unter Kameraüberwachung steht, will es sich der Direktor nicht leisten, etwas ohne Zustimmung des Ministeriums zu machen – die Verteilung der Geschenke hatten wir nicht selbst als Veranstaltung angemeldet. Noch Wochen später wurde die Leitung zum Justizministerium bestellt, weil wir die Geschenke doch verteilt hatten, ebenso unangemeldet im Lyzeum. So geht das nicht. Genauso bei einem Lyzeum in Taschkent, in welchem die andere Praktikantin – nun wieder in ihrer Wahlheimat Leipzig – bis November noch ein Stündchen pro Woche Unterricht gegeben hatte, als Muttersprachler wertvoll für die Schüler – man wollte sie nicht mehr hereinlassen, nachdem der Direktor neu war. Heinar, PASCH-Leiter, erzählte mir von Schulen, wo man die Eltern draußen stehe lasse, sie dort ihre Kinder in Empfang nehmen müssen wie Sträflinge aus der Anstalt und das Gebäude nicht betreten dürfen – aus Sicherheitsgründen. Die Geschichten nehmen kein Ende und am deutlichsten trifft es die Programmarbeit: Wir versenden für unsere Großveranstaltungen Briefe an alle, die hinterher irgendwie sagen könnten, warum haben wir davon nichts gewusst? Kleinprojekte lassen wir ganz sausen – der bürokratische Aufwand und Stress lohnt sich nicht mehr. Was sagt das Gesetz dazu? Abgesehen davon, dass sich die Bürokratie immer gerne darauf beruft, klingt es primär wie eine Absicherung gegen alles potentiell die Staatsordnung Gefährdende. Nicht direkt gegen uns ist es gerichtet, aber doch strahlen ausländische NGOs einen Lichtpunkt der Freiheit aus, und Freiheit ist hier das Gegenstück zu Kontrolle. Kontrolle aber wird kontinuierlich wichtiger, wenn tausende Usbeken in Syrien kämpfen, wenn die Opposition nach außen verdrängt ist und von dort gefährlich werden könnte oder wenn sich ein Ende der Machtzeit des Herrn Karimov abzeichnen sollte, dessen Nachfolge so offen steht wie das Tor zur Hölle.

Wie schaffe ich nur den Übergang von der Programmabteilung zur Theaterarbeit, zum Urgencher Lyzeum, wo ich mich so verzettelt in meinen Notizen finde? Am besten ich ahme Robert Walsers Räuber nach und schiebe jenes Löffeli ein, welches die Dame dringend putzen sollte. Oder ich nehme mir diese kleine Angeberei heraus, dass es ein Vollstipendium für ein Studium in Deutschland gibt, welches jährlich für die ab der ersten Klasse deutschgelehrten ZfA-Schulen ausgeschrieben wird und seit jüngstem auch für Fit-Schulen geöffnet ist. Erst zweimal – weltweit – ist es Schülern solcher Institutionen gelungen, eines der jährlich drei Stipendien abzugreifen. Einer kam aus Russland, der andere – aus jenem Lyzeum in Urgench. Man kann sagen, die dortigen Deutschlehrer peitschen ihre Schüler, nicht feindlich, aber konsequent, durch ein enormes Pensum an Aufgaben, Übungen, sodass sie nach zwei Jahren von Null auf B2 gelangen können, oder in drei Monaten von Null auf A2 – unnötig zu erwähnen, dass dieses (letztere) Niveau nach in Deutschland zur Erreichung vorgesehenen drei Jahren kaum jemand drauf hat. Man sieht, wie viel vom Lehrer abhängt – vorausgesetzt, er hat die zeitliche und planerische Freiheit, seinem Fach Geltung zu verschaffen. Die Ausgezeichnete, die Oberlehrerin des Faches Deutsch heißt Nigora und ist eine der wenigen impulsiven, etwas rabiaten, zupackenden Frauenpersönlichkeiten, die ich hier getroffen habe, sie muss Zauberkräfte besitzen, so ihre Schüler auf Zack zu bringen. Bei uns würde solch ein Lehrer größte Unbeliebtheit in den Reihen der Lernenden provozieren, hier ist das Verhältnis von einer Innigkeit, die über die Arbeit hinausgeht – undenkbar im kalten Orkus Deutschland.

Damit die Herren in den oberen Reihen auch tatsächlich einen so jungen Menschen wie mich passieren lassen, in die Provinz winken, wurde ich von der PASCH-Abteilung offiziell als Theaterpädagoge ausgegeben und angekündigt. Mit einer aufgespielten Profession habe ich ja Erfahrung aus den vielen Gesprächen, in denen ich Student der Religionswissenschaft bin. Hatte ich das erwähnt? Sicher. Begleitet wurde unsere Arbeit durch einen Wachhund des Justizministeriums, ein sehr netter Kerl, der nun den ganzen Tag lang Deutsch hören musste und kein Wort verstehen konnte. Außer einer improvisierten Liste der Tätigkeiten und Tagesaktivitäten musste man ihm nur den Inhalt des Stückes übersetzen und den Text auf Deutsch aushändigen. Auch wenn er also nicht sonderlich gestört hat, seltsam war es schon, beobachtet zu werden.

Von Anfang an gestaltete sich die Arbeit mit den Schülern locker und unkompliziert. Das Alter der Teilnehmer (ich sagte es: 16 bis 18) ermöglichte eine Arbeit auf Augenhöhe und vor allem eine lockere Hierarchie. Man hatte mich im Vorfeld gewarnt, usbekische Schüler seien von alleine nicht im Stande, etwas aus sich heraus zu leisten, kreieren – wenn man nur Anweisungen, klar, direkt, alternativlos, gäbe, erfüllten sie diese mit höchster Präzision und engagiert. Dieser Auffassung, wie sehr sie auch für den Großteil der Schüler zutreffen mag, muss ich im Falle „meiner“ Gruppe wiedersprechen: Es brauchte eine Weile, den ersten Tag, um alle warm zu haben, eine Stimmung herzustellen, mit Spielchen, Erzählungen und einfachen Fragen, einfachen Unterhaltungen. Der vorherrschende Typus Schüler ist devot und untertänig dienstbar, besonders die Mädchen still, ergeben und legen es auf Eigeninitiative nicht an. Das ist durchaus in der usbekischen Erziehung angelegt; Frauen sind darauf bedacht, ihren Männern zu gefallen und… zu gehorchen. Jener Typus Mensch ist im Theater unwohl aufgehoben und so fand ich mich höchst glücklich, als sich alle zwar zögerlich, aber aus eigenem Willen bereit dazu fanden, die Rollenaufteilung selbst zu übernehmen. Ab dem zweiten Tag kamen immer wieder Vorschläge, wenn ich darum bat, da ich versuchte, die Regie offen zu halten, meine eigenen Ideen nur in Bezug auf die ordentliche Implementierung auf der Bühne zu bestimmen. Was soll ich auch anderes machen, wenn ich außer von einigem Zuschauen kaum die Regeln der Kunst kenne und mich doch als Laie am Stück versuchte… Es klappte.

Den Text las ich zu Beginn den Schülern vor und war beglückt, dass er nicht nur sehr gut bei ihnen ankam, sondern auch weitgehend auf vollstes Verständnis stieß. Nicht umsonst wird die Schule von Heinar so gelobt und erreicht Spitzenergebnisse bei den Goethe-Sprachprüfungen. Deshalb wundert es mich nicht, wenn sie mich überraschen, eher bin ich froh, meinen Anspruch heben zu können und dass ich von ihnen real etwas verlangen kann. Die Bühnenarbeit wurde mit diesen lernbegierigen Kindern großartig, weil alle innerhalb eines Tages ihren Text lernten, den ich rücksichtsvoll auf wenige Sätze pro Rolle zugeschnitten hatte, und die Szenenübergänge nach zwei Malen einfach drauf hatten – da schlagen sie unsere getränten Tüten um Meilen. Hier streiten sie sich um den meisten Text – es ist eine Ehre, wenn sie reden dürfen und eine Enttäuschung, wenn sie wenig bekommen. Und so stehen sechs Bewerber um die Momo an. Die Lösung brachten sie allein zustande, ich habe sie nur auf die Bühne gebeten zum Vorsprechen und schon gewann die Wahl ein Eigenleben. Apropos Ehre, die steht hoch genug, dass sie sich um meine prügeln. Ein fremder Schüler kam plötzlich zur Probe herein geplatzt und schrie „Hitler kaputt!“, woraufhin, ohne mir große Zeit zum angemessenen Reagieren zu geben und völlig überraschend für mich, alle fünf Jungs aus der Gruppe dem Fremden hinterher stürmten, auf den Gang, und eines der Mädchen, die hingelaufen waren zuzusehen, meinte: „Sie schlagen sich!“. Ansonsten aber verlief alles sehr ruhig und in gemessenen Bahnen, wie von mir nicht besser erhofft, ein wahres Freudenspiel und ich hob den Gedanken wieder auf, nach meiner Rückkehr eine Theater-AG an meiner alten Schule zu leiten, um diesen Brettern treu zu bleiben. Wiewohl in unserem Falle die Bretter sowjetteppichüberzogen waren, in hohem Raum, der Aula des Hauses, die mit drei Dritteln Etagenreihen an Stühlen aufwarten konnte, gänzlich in Grün gehalten war und deren Rückwand, vor der wir spielten, mit einer überragenden Größe festgehaltenen usbekischen Fahne bemalt war, wie sie zum Ruhme des Vaterlandes gereicht…

Besondere Achtung zollte ich in der Arbeit natürlich dem, was ich tatsächlich kann und gelernt habe – Haltung, Impuls, lautes Reden: letzte Reihe. Am Ende, nach einigen Wiederholungen, haben sie zum Großteil konzentriert gesprochen, standen mit Spannung, aber nicht steif, und legten im besten Fall noch Betonungen in ihre Texte, die sie lebendiger machten. Jener Lehrerin gilt meine ganze Achtung, die sie zu so formbaren Gebilden gemacht hat. Ein wenig gruselig ist es auch, ich gebe es zu. In puncto Persönlichkeitsbildung steht natürlich die usbekische Gesellschaft weit ab von unserer deutschen Möglichkeitsgesellschaft, Zivilgesellschaft etc., doch als Schüler sind unsere Lerngespenster Schatten gegen den Spaß und Eifer, den die Usbeken hier an den Tag legen.

Eine Anekdote möchte ich euch nicht vorenthalten, die Generalprobe betreffend. Am vierten Tag hatte ich um Zehn, nach den üblichen Spielchen und Übungen, die finale Probe angesetzt, um anschließend an den ausstehenden Lücken zu arbeiten, bis um Eins die Mittagspause und um Zwei die Aufführung stattfinden sollte. Nun sind Pläne im hiesigen Umfeld gewöhnlich sehr undurchsichtig, weshalb ich nicht mehr besonders überrascht bin, wenn doch mal jemand Anspruch erhebt auf das, was ich gerade in der Hand habe. Kurz vor Zehn, bereits in den Spielerklamotten, wurden wir von jungen Damen aus der Aula verjagt, die meinten, diese nun für irgendeine Veranstaltung gebucht zu haben und rechtmäßige Mieter des Raumes zu sein, bis Elf. Das hat mich schon ein wenig geärgert, doch nehme ich, was man mir gibt und verziehe mich mit den Schülern nach oben, in das Deutsch-Kabinett. Kaum angekommen, tritt eine von ihren zügigen Schülern unterrichtete Nigora ein und spricht, nein das ginge nicht, wir seien jetzt in der Aula und sie werde das einrichten. Ob es nun ihr gutes Verhältnis zum Vizeschulleiter oder ihre impulsiv überzeugende Art war, auf jeden Fall konnten wir um halb Elf mit unserer Generalprobe anfangen und blieben die restliche Zeit über ungestört.

Das Ergebnis von vier Tagen Arbeit – ein ganz großartiger Text und trotz der schweren Philosophie präzise genug, um die Grundlage für 40 Minuten Spiel abzugeben. Die Gruppe, ursprünglich für A2 verschlossen, dann einen Spalt breit geöffnet, als zwei so sehr bettelten, mitmachen zu dürfen, füllte ihre Rolle beeindruckend aus und agierte nach wenigen Proben mit solchem Eifer und solcher Präzision, dass der einzige Fehler bei der Aufführung mir unterlief, als ich den Ton des Computers ausgeschaltet ließ und für Sekunden tiefer Stille sorgte, wo eigentlich bedeutende Musik erschallen sollte – Beweis, dass auch die usbekischen Zuschauer vom Text beeindruckt, keineswegs gelangweilt oder zu sehr überfordert waren. Natürlich war sämtlichen eine Grundlage der deutschen Sprache zu Eigen. Da von Nigora zu einem Lehrerseminar am Aufführungstag, dem Freitag, gerufen wurde, und die 19. Schule eingeladen wurde, war die Zahl der Zuschauer groß – größer als bei mehrmaliger Aufführung in Leipzig. Nach der Aufführung werde ich von einer Studentin gefragt, ob ich nicht ein Seminar für Theaterpädagogen ausrichten wolle – verlegen antworte ich, dass ich das natürlich erst besprechen müsse…

Was für eine Zeit – tolle Jugendliche, ein tolles Stück und diese Mitarbeit. Bewegbare Gebilde, die sie sind, machen sie einen Blitzworkshop wie diesen möglich – und dabei sind sie noch so einfach! Wie? Kindisch, naiv, offen, ehrlich, was weiß ich – schöne Gemüter im schillerschen Sinne, so ganz ohne Böse, Neid und Hass. Nach der erfolgreichen Aufführung fielen drei Schüler ihrer ehemaligen Deutschlehrerin aus der 19. vor Wiedersehensfreude um den Hals, als sie sich sahen – ein kristallener Ausdruck der Freude, ich will nicht rührselig werden, aber rührend, doch. Nun denke ich mit Wehmut zurück ans Lyzeum und frage mich, warum meine Schulzeit, die letzten zwei Jahre, so fad waren – wenn ich selbst diese vier Tage genossen habe und die Schüler so glücklich gesehen? Ich sehe schon, ich verfalle wieder in meine Europa-Depressionen.

 

Ein choresmischer Traum

Als wir in Urgench ankommen, ist es sieben Uhr am Montagmorgen, die Luft ist kühl und klarer als in der Hauptstadt. Wir sind im Nebel gestartet, eine unheimliche Atmosphäre und in den dichten Bahnen, die ich auf der Hinfahrt mit dem Taxi durchquert habe ein Wunder, dass sie fliegen. Urgench ist keine sehenswerte Stadt, besser als Termiz, doch flach wie das choresmische Weißbrot, das wie in jeder Region eine eigene Spezialität ist – eine Stadt in zwei Stockwerken. Als wir ins Zentrum fahren, merke ich – diese Stadt ist eine Scheibe, nirgends nichts und das wenige so verteilt, dass alles gedehnt ist und die riesigen Straßen, die Autos der einzige Weg sind, in diesem Nichts von einem zum nächsten Leuchtfeuer zu gelangen. In der Schule werden wir mit Freuden aufgenommen, es gibt Kaffee und Brot, Wurst und einiges anderes zum erbaulichen Frühstück, während die Schülerinnen in Uniform mit Rock und Schleife im Haar fleißig bedienen und Nigora umherrennt, aufs Gastrecht bedacht, das wir genießen. Der Vizeschulleiter ist ebenfalls anwesend und verlässt uns, als wir uns aufmachen, in das Deutschkabinett. Die Prüfung besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil, von welchen ich den schriftlichen im Niveau B2 betreuen darf. Hören, Leseverständnis und Schreiben sind die Aufgabenbereiche und ich passe auf, dass niemand schwatzt. Natürlich werfen sie sich, in ihren Anzügen und Kostümen, auffällig Blicke zu und flüstern gegen Ende, dass ich meine Augen auf die Person wenden muss, bis sie, meinen Blick bemerkend, sich schnell wieder ihrem eigenen Papier zuwendet. Doch die meiste Zeit der drei Stunden habe ich, um meinen Faust I zu lesen, den ich am selben Tag beenden sollte. Dazwischen fand ein Mittagessen mit Fisch, Fleischtaschen und bestimmt einer ganzen Reihe mehr, das ich vergessen habe, statt, welches jedenfalls ordentlich bemessen war und in einem Raum abgehalten wurde, in dem wir während des Theaterworkshops eine vormittägliche Kaffeepause abhalten sollten. Noch fehlte, was ab dem Abend eine Selbstverständlichkeit werden sollte: Wodka. Denn Prüfungen lassen sich ohne Alkohol besser abnehmen; ich saß zwischendrin und las den Faust, hörte gelegentlich den Mädchen und Jungs beim Reden zu und hielt sogar eine Zeit lang bei der Prüfungsvorbereitung die Aufsicht. Es war wohl schon früher Abend, als wir endlich fertig waren und verkünden konnten, dass zumindest im mündlichen Teil niemand, aus allen drei Stufen nicht, durchgefallen war. Besonders beeindruckend müssen die A2-Prüflinge gewesen sein, die allesamt erst zu Beginn des Schuljahres, Anfang September, begonnen haben, die Sprache überhaupt zu lernen, und dennoch bereits kleine Dialoge führen können. Auch jene auf B2-Niveau, die vor einem Jahr noch B1 waren und im Frühjahr sich am TestDaF versuchen wollen, der als Sprachnachweis für deutsche Hochschulen genügt, hatten einen teilweise beeindruckenden Wortschatz und sehr gutes Verständnis. Eine solche Raffung des Sprachenlernens wäre in unserem Schulsystem allein politisch unmöglich.

Nach einem Besuch im Hotel, wo wir unsere Sachen ablegten und uns kurz erholten, ging es also auf zu einem der zahlreichen „Kafes“, die noch immer die Straßen aller usbekischen Städte zieren, wo wir in einem Separée vom üblich gedeckten usbekischen Tisch erwartet wurden, sprich: zwei Flaschen Wodka, zwei Flaschen „Konjak“ (Branntwein), Saft und Wasser, sowie reichliche Vorspeisen. Anwesend waren außer dem PASCH-Team und mir der Schulleiter, Nigora, die beiden anderen Deutschlehrer des Lyzeums, sowie die Deutschlehrerin der 19. Schule in Begleitung einer weiteren Lehrerin, die laut Heinar früher Wahrsagerin gewesen sei. Mit Wodka und Konjak wurde nicht gespart, wie versprochen und in Erwartung evoziert, als die drei deutschen Lektoren (Robert-Bosch, DAAD), welche wenige Tage zuvor die Schüler vorbereitet hatten, von übermäßigem Alkoholkonsum dieser Frau Lehrerin und ihrer Mitstreiter sprachen. Der Dienstag kündigte sich ganz ähnlich an, als ich meinen Workshop zwei Stunden eher beenden musste, um mit Nigora zum abschließenden Mittagessen zu fahren, zu dem es auch Wodka gab, nach dem die Abteilung PASCH wieder in die Hauptstadt fliegen sollte. Ja, es floss das stille Wässerchen und ich war ganz froh, in der nächsten Woche keins trinken zu müssen. An sechs Tagen zu neun Gelegenheiten чуть-чуть Trinken bringt den Organismus auf Trab und hält ihn in guter Stimmung. Lieber rede ich vom Essen, bevor ich den Lesern noch Sorgenfalten auf die Stirn zaubere, denn Choresm hat ebenfalls Traditionen, beginnend – ich sprach davon – beim Weißbrot, Lepjoschka, obwohl die klassischen Erbe der Sowjetunion wie in Taschkent omnipräsent sind – diese Salate mit Mayonnaise, erwähnte Flüssigkeit zu rauen Mengen etc. Klassisch ist Tuhum Barak, gekochte Teigtaschen mit Eifüllung, die man lediglich mit Sahne und Lepjoschka isst, und die – heiß und frisch müssen sie sein – so fantastisch schmecken, dass ich mich mehrere Wochen später noch eine Platte an meinen Tisch wünschte, aber vergeblich. Der choresmische Traum war vorbei und ich saß zu diesem Zeitpunkt wieder in Taschkent, bei meinem Lepjoschka und russischer (fast hätt ich gesagt sowjetischer) Wurst. Jung verheiratete Paare sollen am Tag nach der schicksalhaften Hochzeitsnacht gleich morgens Tuhum Barak zu sich nehmen, um die Fruchtbarkeit zu erhöhen, also dem Geschehenen auf sublime Weise nachhelfen. Eine Überraschung tat sich auf, als ich Gumma probierte, dass es in anderer Form auch in Taschkent auf dem Basar gibt, das aber in Choresm, wo es eine der meistgegessenen Speisen ist, dem mongolischen Chuushuur so nahe kommt, dass ich versucht bin zu sagen: Es ist das gleiche Essen. Fetttriefende, frittierte Teigtaschen mit fetttriefendem Gehacktem, wenig gewürzt und national dish?

Vielleicht, so meinte ich, hatte es Dschingis Chan gestohlen, nachdem er Millionen von Toten im Choresmerreich hinterließ. Jener, der mir das erzählte, hieß Oybek und war einer aus dem Dreiergespann der Urgencher Deutschlehrer. An dem Abend jedoch mochte er keinen Wodka, hatte am Montag zu viel getrunken, bestellte für mich aber hundert Milliliter, vorsichtshalber. Er ist ein großartiger Geschichtenerzähler und kann dieses Talent im Deutschen so fortführen, wie er es im Usbekischen können muss, denn alle schwärmen von ihm und ich war völlig begeistert von seinen Erzählungen. Choresmische Geschichte, ein Pool an Farben, Herrschern, Grausamkeiten und Leidenschaften, sodass ich ansatzweise ein Exposé für einen Hollywoodfilm im Kopf hatte, das aber schnell wieder verwarf. Was wollte Hollywood mit solcher Region? Zum Beispiel erzählte er mir von dem letzten Chan Choresmiens, der die Frauen liebte, und am Hofe Nikolaus II. die Zarenfrau ein wenig zu intensiv betrachtete, des Todes war und für den sein schlauer Wesir gerade noch so eine Milderung beim Zaren erbeten konnte, damit das Reich nicht auseinanderbreche: Statt Tod wurden dem Chan über Nacht zwei französische Frauen gesandt, die den Verbrecher nicht nur mit ihrem Körper beschenkten, sondern einer teuflischen Syphilis, die er nicht überleben konnte. Und erzählte mir von Peter I., der Choresm erobern wollte und dessen 4000 Mann mit einem Rauschfest empfangen und nach dem Alkohol leichter Hand abgeschlachtet wurden. So ist der Widerstand der Choresmer, so ist die Mauer, die Chiwa stets war. Auch gegen Dschingis Chan stand das Großreich Choresm, mit dem heute turkmenischen Konya-Urgench als Haupststadt, als letzte Bastion Asiens. Der Sohn des Königs, Djalal-ad Din, über den eigene Geschichten zu erzählen waren, wütete noch durch Indien und den Kaukasus, bevor er von einem Kurden ermordet wurde. Ja, vielleicht greife ich seine Person auf und erzähle an anderer Stelle weiter, zukünftig.

Der Höhepunkt des Feierns lag vor dem dritten Akt und hätte eine eigene Überschrift verdient: eine choresmische Hochzeit, wie sie noch zwischen ultramodernen Lichtshows und Pomp einerseits und Tradition, Folklore andererseits begangen wird. Hochzeiten in Usbekistan sind ähnlich denen Tadschikistans, nämlich groß, laut und viel. Es ist keine Seltenheit, wenn ein junger Mensch das Auto, seinen ganzen Stolz, verkauft, um die Hochzeit finanzieren zu können, noch weniger erstaunlich sollte sein, dass selbst arme Familien hunderte Gäste einladen. Die Hochzeit ist das wichtigste Fest im Leben, in stringenter Kohärenz mit der Beerdigung. Hochzeiten finde ich, glaube ich, lustiger. Wenn jemand gestorben ist, sitzen die Freunde tagelang vor dessen Haus und reden nicht – diese mystische Dimension erzeugt in mir immer einen Schauer. Das Fest des Lebens hingegen Ohrenschmerzen. Nigora nimmt mich mit, das kommt durchaus vor, dass Eingeladene ungefragt selbst Gäste mitbringen dürfen, die sie den Abend über zu umsorgen haben. Sie warnte mich im Vorhinein, dass es die Konvention so wolle, sie müsse mir andauernd etwas anbieten, zu essen oder zu trinken und ich soll mich nicht irritieren oder stören lassen. Es wäre zu viel, alles zu beschreiben, fast zu viel, alles aufzunehmen und wir blieben nur zwei Stunden. Es ist wohl üblich, als Gast zu kommen, die Bewirtung zu genießen und zu gehen. Wir mussten fort, weil der dichte Nebel sich um die Stadt gelegt hatte und der Flug für Heinars PASCH-Team ausfiel. Gemeinsam fuhren wir zu ihnen und ich blieb noch länger, in Begleitung der Kollegen – immerhin war ich der Musik entkommen.

Das Wodkatreiben setzte vorläufig neue Maßstäbe, als ich am Donnerstag zum zweiten Mal sowohl zum Mittag als auch zum Abend trinken sollte. Meine Proteste, ich müsse ja noch arbeiten nach der Pause, gingen in einem läppischen „Wir doch auch“ unter, das jeglichen Zweifel an der Sache behob und die Zielrichtung klärte – eine Flasche zu viert. Das Spiel gelang danach gleich besser. Abends lud mich Nigora zu sich nach Hause ein und damit ich nicht so alleine sitze, den stellvertretenden Schulleiter gleich mit (der ordentliche war ja schon am Montag dabei). Während ihr eine Flasche roten Weins genügte, tranken wir zu dritt von jenem Wodka, den ihr Mann als Dritter im Bunde ausschenkte, und zwar gütlich. Die erste Flasche leerten wir in zwanzig Minuten, für die zweite ließen wir uns Zeit. Man fängt immer an mit den Vorspeisen und lässt es im Hauptgang ruhiger angehen, bevor danach wieder ordentlich gebechert wird – inzwischen kenne ich das. Doch die Gesellschaft einer trinkenden Nigora, ihres trinkenden Mannes und schließlich ihres Sohnes, der als ältester Teil meiner Theatergruppe ziemlich gut Englisch, Deutsch, Russisch, Usbekisch spricht und mich dann nach Hause fuhr, war nicht unangenehm, im Gegenteil. Ihr Haus lag in einer neu errichteten Siedlung, deren Straße aus erhärteter Erde bestand, so zugerichtet, dass eine asphaltierte Schlaglochpiste ein Witz dagegen ist. Wie Wurzeln fühlten sich die Hebungen an und Schritttempo wurde von ganz alleine gehalten. Dann ging es wieder die großen, unerleuchteten Straßen Urgenchs entlang, bis das Zentrum wieder annähernd strahlte und ich mich vor dem letzten, großen Tag in meinem Bett verlor.

Nach der Aufführung am Freitag hatte ich viel an Motivation bereits verloren und dachte mit Seufzern daran, dass ich diese kurze Arbeit nun aufgeben musste. Ich verifizierte die Beobachtung, dass Leitungswasser hier salzig schmeckt – des Aralsees wegen, meinte Oybek am Mittwoch. Im Boden muss das Salz also eine Strecke von über 300 Kilometer gekrochen sein, bis in die Oase Choresm – entsetzlich, eigentlich, und doch bleibt mir nicht viel mehr als eine müde Zurkenntnisnahme. Über 300 Kilometer, das ist die Entfernung zum ehemaligen Aralseehafen Moynak, das heute stark geschrumpft und emigriert mitten in der Wüste liegt. Abends habe ich die letzte Gelegenheit verpasst, James Bond zu gucken, als ich erneut – welch Wunder – eingeladen wurde, zu Hühnchen an einem Ort, der für sein Hühnchen berühmt ist. Und so viel Hühnchen habe ich gegessen, dass ich danach satt war.

Man fühlt sich wie die Sultane, auch wenn hier Shahs und Emirs herrschten. All die jungen Mädchen, schüchtern, tugendhaft, hübsch; als Dienstreise in einem Hotel zu übernachten, essen zu gehen und dabei keinen Cent selber zu bezahlen, Wodka und Fett im Überfluss und am Ende wird mir noch eine Verpflegungspauschale überwiesen, die ich gar nicht gebrauchen konnte… Ich lebte in schwemmendem Überfluss und traumhafter Herrschaft, Leben in Verzückungen, Drogen – so, nehme ich an, wird man schnell alt, und gut, dass ich noch Leben zu verschenken habe.

 

Die Ödnis des Echos

Tatsächlich bereue ich nicht den Alkoholkonsum, die vielen Schluck des klaren Saftes. So ein Essen mit Wodka lässt die Zeit vergessen und es ist nur ein Augenblick, genossen, eine Stunde Leben, strahlend, und wenn man sich die Stadt anguckt, dann müssen die Urgencher sie durch angetrunkene Schönheit kompensieren: ihren Pragmatismus, die Weite, welche allein dazu dient, die Menschen sinnlos weite Schienen entlang zu senden und einander nur wie von Ferne zu sehen. Dagegen dienen die Treffen in den Kafes als Hotspots der Menschlichkeit und Wärme, und wenn ausgerechnet in Urgench ein Taxifahrer jault, er wolle hier nicht wohnen, und kaum seinen klapprigen Matiz in Gang zu setzen vermag, dann nehme auch ich das Trinken an als Notwendigkeit und unausweichliches Schicksal. Zwar fand ich mit meinen blauen Augen Termiz roher und abwehrender, abführender, doch es ist gleichzeitig enger, klebriger, während Urgench von einer Wolke Nichts durchdrungen liegt und vielleicht nur meine Sympathie zu den Personen sie heller erscheinen lässt. Die Stadt habe ich nicht „besichtigt“, weil keine Zeit mehr blieb zwischen Arbeit, Essen, Trinken, Schlafen. So ein Essen mit Wodka fand auch am letzten Tag statt, Samstag, an dem ich abends zurückfliegen sollte und vorher nach Chiwa fahren, in Begleitung von Oybek, dem Geschichtenerzähler, der mir diesen mit Vergnügen angenommenen Dienst am Mittwoch angeboten hatte. Als Fahrer hatte sich bereits am Montag der zweite Deutschlehrer angeboten und so holten die beiden mich am späten Vormittag in meinem Hotel ab, in dem mein Gepäck fürs erste verblieb. Doch empfangen wurde ich nicht, wie erwartet, mit der Fahrt nach Chiwa, sondern viel usbekischer – wir sollten erstmal essen gehen. Ich stellte mich um. Wir hielten vor dem Lyzeum, ein Unbekannter stieg ein und die beiden meinten, dieser komme auch nach Chiwa mit, ein Geschichtslehrer, könne auch berichten. Ich stelle mich ein zweites Mal um. Meine Reise wird zu einem Erlebnis gemacht – drei Leute, wo ich auch alleine gefahren wäre. Ich Ruhebedürftiger, Ruhe? Keine. Aber für eine Woche geht selbst das. Geduldig, wie man es lernt, warte ich also mit den drei Musketieren im Auto, die sich aufwärmen und nicht nach draußen wollen, wo der Wind mit ungewohnter Heftigkeit die kleinen Regentropfen an die Fenster schießt, der feindliche Beschuss wird zum feinen Nieseln und erliegt bald ganz. Doch der Wind ist kalt und stark. Bald hält ein zweites Auto vor uns und die beiden aussteigenden Männer lassen meine drei Musketiere die Türen öffnen, aufstehen in den Wind. Erst denke ich, es handle sich nur um einen Einkauf, denn aus dem anderen Auto werden zwei schwere Kartoffelsäcke umgeladen und ich bleibe zunächst sitzen, bis mir Oybek verständlich macht, auszusteigen. Ich gebe den beiden unbekannten Männern die Hand und gemeinsam gehen wir in eine Choyxona am Straßenrand, zweistöckig und mit hohen, getönten Glasfenstern. Fast niemand ist im unteren Stockwerk und um uns ganz allein zu haben, lassen wir uns in der höheren Etage nieder. Mir wird die Situation erklärt. Dieser Herr ist Bauer oder zumindest Besitzer einiger Felder – daher die Säcke. Seine Tochter ging an das Lyzeum, gegenüber dem wir nun sitzen, studiert nun Geschichte und Deutsch, und so hat er, dankbar wie Choresmer sich zeigen, die entsprechenden Lehrer seiner Tochter eingeladen. Irgendwie bin ich da auch dabei. Der andere Mann ist tatsächlich nur sein Fahrer und dafür zuständig, den Wodka einzuschenken, was er mit großem Einsatz bereitet. Fünf Minuten brauchen wir Fünf, der Fahrer trinkt selbst in Choresm nicht, um einen halben Liter Wodka zu töten, die erste Flasche. Als Gast darf ich, wie zu jeder Gelegenheit, mit besonderer Großzügigkeit behandelt werden und schauere selbst ein bisschen, nur: hier in Choresm macht das nichts aus. Wie zu anderen Begebenheiten denke ich mir: Nur ein Leben ist dir vergönnt, sei nicht geizig, wenn dir die Möglichkeit zu Ausschweifung geschenkt wird und sei es, wenn du sie erzwingen musst. In Taschkent bin ich vorsichtiger. Der grundsätzlich plastiküberzogene Tisch wird mit allerhand gutem Essen betischt, ich bin überrascht von der Qualität – den „französischen“ Salat (rote Beete, Mayonnaise, Chips, Kichererbsen und mögen es noch andere Zutaten sein), habe ich nirgendwo besser gegessen, und als ich dachte, das Huhn sei die Hauptspeise, musste ich durch eine Portion zusätzlichen Rindfleischs des Besseren belehrt werden – nicht nur Fleisch, nein auch Herz und Leber für jeden, großartig. Einen Monat später denke ich nicht nur an das Tuhum Barak, auch an dieses Rind mit Wehmut zurück – in den Kantinen des Alaiskiy bekomme ich das nicht. Ebenfalls zum ersten Mal esse ich hier Salztomaten, die nach dem Wodka gut tun und russisch schmecken. Als die Zeit des Gelages vorbei geht, fängt jene der Unterhaltungen an, und so wenig ich mich auch daran beteiligt habe, lädt mich der Chef des Tisches doch ein, falls ich wieder mal in der Gegend sei, auf seine Farm in der Nähe von Toprak Kala zu kommen, das vor 2000 Jahren Hauptstadt des ersten choresmisches Großreichs war. Ich nehme sie an – sollte ich je wieder in die Gegend kommen, und doch – sowohl Nigora als auch Oybek habe ich das bereits versprochen, und Versprechen – muss man halten, obwohl wir in Usbekistan sind, weil ich ein Deutscher bin. Zum Glück ohne die beiden Toprak Kalaer geht es dann endlich los, müde und gesättigt.

Ich muss den enttäuschen, der nun von mir ein berauschend atmosphärisches Porträt des berühmten Xiva erwartet, der ähnliche Wortbäche erwartet wie ich sie zu Osch herausgebracht habe. Ich möchte dem Wodka nicht alle Schuld absprechen, immerhin haben wir zu Mittag zwei Flaschen zu viert geleert, aber nach all dem Spielen, Handeln, Essen, essen, trinken, noch mal essen und trinken war ich langsam müde genug, nichts mehr denken zu wollen, nicht mehr gesättigt zu werden. Ich wäre gerne gelaufen, einen Waldweg, einsam, ringsum leises Rascheln von den frühlingswarmen Blättern, wie sie einander streicheln und ein kühler Wind weht durch die Äste, lässt mich schaudern und – oder ein riesiges Feld, Wind, es nieselt und die Bäume gehen in trunkenem Schweigen – ein Wetter zum Krankwerden. Wind gab es in Xiva, und was für einen – Nieselregen, sekundenweise – aber wo das Feld, die offene Landschaft zum Entspannen der Augen, des Gehirns? Kein Wetterleuchten am Horizont, keine rieselnde Melodie durch das rohe Geäst der Bäume – kalter Wind an kalten Steinen, kein Busch, kein Grün, und über uns der graue Himmel. In uns brennt der Schnaps und außen tobt die unsichtbare Kraft – alles still und leer, nur Himmelsatem greift uns an. Ich musste sehen, durfte nicht erholen, sondern schauen, und wer ungläubig über nächste Sätze stolpert, dem verzeihe ich: In meinem Zustand beeindruckt haben mich nicht die blauen Kacheln, wunderbar verziert, arabisch, Worte, Zeichen, Ornamente, oder das alte Holz, obwohl dieser Saal wunderschön ist: dutzende, hunderte Holzsäulen halten die Decke, einer anders als der andere, jeder anders als alle anderen, einzigartig geschnitzt, aus dem 10. bis 12. Jahrhundert, ein echter Schatz und wert wie sonst nichts in dieser Stadt, gesehen zu werden. Nein, beeindruckt haben mich mehr die kalten Steine, braun, dieser Stil aus dem 19./20. Jahrhundert, als Xiva vor den Augen der Russen gedieh. Man läuft durch Straßen wie aus Bildern, wie aus Filmen und fotografiert für das eigene Gedächtnis, ich war dort in diesen Mauern – und wäre gerne weiter gegangen, in den Nordteil der Altstadt, dort, wo nur noch Häuser stehen und Menschen wohnen, deren Heim seit 1990, seitdem Xiva UNESCO-Weltkulturerbe ist, ihnen nicht genommen werden darf, wäre gerne spaziert durch die alten Reihen und den kahlen Stein. Er hat mich, sage ich, am meisten beeindruckt und wirklich, schade, dass meine Begleiter so gedrängt haben – sie wollten nach Hause, es war ihnen zu kalt und windig, und vielleicht hatten sie auch Hunger; der Abendtisch wartete immerhin schon auf uns – wieder Essen, wieder Trinken. Nein, eine tolle Stadt, zum Ansehen gemacht und köstlich für den Historiker, der die Geschichten hört und kennt, der diese Räume ordnen kann und alte Zeiten anhand dieser Leere zurückzubringen vermag. Das konnte mein Begleiter, Oybek, und sein Kollege lieferte als Geschichtslehrer manchmal fehlenden Stoff bei. Ja, Dank ihnen, dass ich so vieles gehört habe, an Orte geführt wurde, die vielleicht nicht jeder sieht, der nämlich nicht die richtige Babuschka anquatscht. Ich beneide sie um die Einfachheit, mit der sie diese große Stadt mir beibringen wollten und die Selbstverständlichkeit, mit der sie ein Mehr ablehnen. Das alles ist vorbei und was bleibt, sind Geschichtchen, die toll dir ums Ohr wirbeln, dich süßlich versetzen in den Stolz der usbekischen Choresmier, ihr Xiva, ihre Hauptstadt. Ja, wenn ich ein nächstes Mal käme, so müsste es gleichfalls im Winter sein, und der geht so schnell vorbei; könnte ich den Stein genießen, wenn Massen über die Pflaster quellen, sprudelnd, lachend, unpassend verhöhnend die alte Tradition?

Ist es nicht vielleicht eine Schimäre, historischer Realität anhand der leeren Gebäude nachzuspüren, ist nicht das Vorbeiflattern in Geschichten, das seichte Durchkehren der Stätten, als wären sie Spiel und ihr Leben vorbei, der einzige Weg, ihr beizukommen – der Macht des Vergangenen? Ich gebe zu, je mehr ich auf Wodka, Wind und Eile verweise, desto mehr erscheint es mir im gesamten als Illusion, Xiva anders zu entdecken. Die Steine bleiben wo sie sind und altern in Jahrhunderten, mein Eindruck von ihnen ist so unvollkommen wie jener des Wanderers, der alle Stätten mit präzisestem Fuß abgeht und eine Woche in den Mauern verbringt – ein Leben lässt sich nicht nachspüren, wenn man es nicht lebt. Dieselbe Schimäre erschien mir schon in Neapel und in Paris, demselben Irrtum bin ich früher schon, in Rom, erlegen, als ich dachte, Tourismus könne tiefer schürfen als an der Oberfläche, könne die Bewegungen des Alltags reproduzieren. Nein, man muss leben, darf nicht eintreten, wie man austritt, die Welt erfassen als ein Leben und sich selbst darin stellen. Ich habe Xiva besucht und verlassen, eine fremde Welt, eine steinerne Behauptung gegen die Moderne. Ach was, ich kann sagen, ich war dort, und was nützt es? Diese Erkenntnis, die ich auf dem Papier gewonnen, ist zufällig aus Xiva erstanden, das Leben geht in Taschkent und alles andere, Osch und Termiz und Ulan-Bator sind Stationen, die der Kopf bereist und vielleicht das Herz besucht – lebende Städte sind mir lieber – und Eindrücke bleiben, mit denen man weltgewandt sich als Globetrotter ausgibt, mit dem gewichtigen Lächeln des erfahrenen Mannes, weltoffen, mit allen Wassern gewaschen. n Xiva konnte ich mein Herz nicht öffnen nicht, zu kurz der heftige Eindruck, das zuckende Elektrisieren und naturgemäße Staunen. Das macht die Müdigkeit, zieht Stunden zusammen und ich sitze vor den Fotos und wundere mich am meisten, dort gewesen zu sein, zwischen den blauen Kacheln und braunen Steinen.

Zum letzten Essen musste ich mich, bereits todmüde, zwingen. Und es geht dahin, plätschert, interessant der Vater des Geschichtslehrers, Psychologieprofessor, während ich brav meinen Wodka trinke, brav esse, was mir auf den Teller gelegt wird und brav warte. Ein Schockmoment zu Beginn, als ich sehe, dass den Tisch neben den Speisen auch zwei Liter Wodka zieren – zur Beruhigung an meine besorgten Eltern: Wir haben nur einen halben Liter geschafft. Ich denke daran, dass ich später noch zu einer Party eingeladen bin – das Must-Appear-Event bei Julia, der Institutsleiterin. Mit allem, was deutschen Rang und Namen hat, plus vielen, vielen Altbekannten. Müdigkeit ist doch relativ, wenn man noch einmal von vorne anfangen kann zu feiern. Man lobe sich den Inlandsflug, der zwar nicht pünktlich, aber reibungslos um halb Zwölf ankommt, in modernen Airbus-320-Maschinen und mit Zeit, auf den Sitzen zu ruhen – endlich! Vom Flughafen teuer in die Stadt, wie das für Ausländer eben läuft, und ab zur Feier, in die Feier, mit deutlichem Nachholbedarf, was den Alkoholpegel anbelangt. Innerhalb von zwei Stunden leert sich das Haus und ich leere so manches Glas, was am Ende ins Gästebett führt. Aufstehen war nie so einfach, wie mit noch ein bisschen Alkohol im Blut und schließlich hatte ich nach so viel Alkohol noch niemals einen so kopfschmerzlosen, zwar müden, aber mitnichten quälenden Tag. Tja, das Training aus Urgench, es zahlt sich aus. Ich habe mitgezählt und möchte die Zahl an Wodkashots aus sechs Tagen Ausschweifung niemandem verraten, der sich um mich sorgt – es gehört zur zweiten Maske, jene der Zerstreuung. Aber ich lebe und sogar ganz gut. Ja, ich war sogar, wie selten und schön, einmal zu erleben, rundum zufrieden. Zufrieden und gesättigt, dekadent gemästet – so müssen sich Schweine fühlen. Getrunken, gegessen, nichts gedacht und meine Aufgabe erfüllt. Ein Leben, vor dem ich mich fürchte – jetzt wird alles besser. Denn Zufriedenheit vollendet bringt nicht Glück und Ruhe, sondern Vergessen und Magenbeschwerden. Ich ziehe die Dialektik des Denkens und Schreibens vor, in der Glück und Frieden zuhauf zu finden sind und das Leben sein Spektrum an Gefühlen verschüttet.

 

Dezember

Ich ende in der Vergangenheit. Nun ist es schon Dezember und ich kann es kaum erwarten, wieder zu Hause zu sein. Ich halte hier aus – nun ist die Zeit, in der ich mich kuriert fühle, von Schule und Lernhetze. Ich könnte – nach einigen Wochen Ruhe, freilich, zu studieren beginnen. Wozu die Eile, habe ich nicht eben noch Momo gespielt? Nein, mich verbindet es sehr mit Leipzig, Deutschland und Usbekistan ist kein Ort, an dem ich länger bleiben möchte. Für ein Jahr habe ich mich entschieden. Ich bin verwöhnt, dass ich glaube, wenn auch nur augenblicklich, ich könnte mit dem Finger schnippen und wäre daheim – es ist nicht nur Freude, lasst mich leiden, sage ich, und springe in das Leben, rau, und lasse mich zwicken.

Man mag kaum glauben, dass es Mitte Dezember ist, wenn man am liebsten Goethes Osterspaziergang rezitieren möchte. Die Glocken der Kirche, welche zum Gottesdienst rufen, könnten auch zur Feier der Auferstehung klingen und die Menschen auf den Straßen könnten – nun, hier ist es Ostern im Regelfall wärmer. Doch Winter hält nur stundenweise Einzug, geschneit hat es wenige Male und weiße Welten waren immer nur von kurzem Atem. Dass aber tatsächlich Weihnachten naht, merkt man an einigen Lichterketten, Glitzerkram und Blinkereien – nicht am Wetter, keine Schokoladenweihnachtsmänner in den Supermärkten, keine Glückseligkeit bei Glühwein und Süßem an eisigen Abenden auf dem Weihnachtsmarkt. Bei offenem Fenster kann ich streckenweise trotzdem arbeiten; auch hier war es schon kälter. Und ich merke es an meinem Budget, das sich dehnt und größer wird; ich halte es sonst gar zu fest an der Leine, den Spielraum gönne ich mir, es ist immerhin Advent und wird Weihnachten, wenn hier das auch nichts besagen mag. Passend zu höheren Ausgaben werden die Produkte teurer und immer tun sich neue Gelegenheiten auf, Geld auszugeben für mir wohltätige Zwecke, sprich: in unmittelbarer Nähe zu mir haben zwei weitere Cafés eröffnet, die hervorragenden Kaffee anbieten und auch Kuchen, Menüs zum Frühstück und warme Mahlzeiten – fast wie in Leipzig, nur die Inneneinrichtung, poliert und gewachst, auf heimisch gemacht, aber trivial künstlich, und die Straße draußen erinnern einen an das Usbekistan, das man in den ersten Monaten kennen gelernt hat.

Die letzten Tage waren warm. Am 01. Januar ging ich noch mit Mantel aus. Am 02. flüchtete ich mich mit nichts als Hemd und Hose in den idealen Schatten und mein Zimmer verwandelte sich zum frühen Nachmittag, wenn die Sonne frontal durch die Scheiben fällt, in eine Brutstätte. Zentralheizung schaltet sich nicht aus. Am Vortage, durch die wenige Bewegung und wenig Vitamine, befielen mich abends ein leichter Schüttelfrost und kleine Bauchschmerzen, weswegen ich mich früh ins Bett legte. Mein Körper zwang mich also, spazieren zu gehen – bei diesem herrlichen Wetter, wenn es nicht Januar wäre. Erst am Abend zog sich der Himmel zu und versprach, wenn nicht Schnee, so doch Minderung der brutalen Sonne. Zwei Masken – das Alpha und Omega, obwohl niemand gestorben ist: Im Alltag tauchen sie auf und umspinnen den Menschen, der sich auf sicherer Bahn wähnt. Seit November, Dezember gibt es vermehrt Erdbeben, die uns meist sehr leicht durchrütteln, sodass man aufhorcht, zögert und wieder an die Arbeit geht, unsicher, ob überhaupt etwas war. Doch gelegentlich knallt und ruckelt es – abgesehen von jenem Beben, von dem ich in Termiz aus dem Schlaf geschreckt bin, war kürzlich eines nahe Taschkent, das uns beim Frühstück erwischte und einen ordentlichen Ruck durch alle Glieder verursachte, dabei nicht leiser war als der Autounfall, den ich aus offenem Fenster in 30 Meter Entfernung beobachtet habe. Eine unruhige Zeit also, die dieser Beitrag spiegelt, da ist es gut, wieder zu arbeiten, nun bereits drei Wochen. Wenn ich dann zurück ins Goethe-Institut komme, ist es, ich sagte es bereits einmal, wie an einem Hafen zu landen – hier ist alles ruhig und das wenige zu Tun trägt mich ohne viel Aufhebens durch die unwinterlichen Wintertage, hier bin ich sicher – vor Islamisten, Polizisten und dem Staat. Ein Gewinn – dieses Jahr. Ich denke, es war die zweitbeste Entscheidung meines Lebens, dieses verkrustete Europa zu verlassen – nach jener ursprünglichen, aus der alles gewachsen ist, das erste Mal zu gehen, Lettland.

Aus dem Wachschlaf

Es hat mich einiges an Geld und Überlegung gekostet, aber die Lust auf Abenteuer überwog, sodass ich Ende Dezember den Zug nahm, auf zu neuen Ufern, dem berühmten Buchara und ans Ende der Welt – Termiz, an der usbekisch-afghanischen Grenze. Eine Grenzreise, sicher, nicht nur an Kriegsländer.

Uzbekistan Airways fliegt beide Städte an, doch ich entschied mich in gewohntem Trotz der Bequemlichkeit und aus Gründen der Stressverminderung für den Zug bzw. das Sammeltaxi. Die Strecke Taschkent-Buchara fährt man für 15 Euro angenehm durch den Schlaf – 22 Uhr setzte sich das schwerfällige Ungetüm aus Sowjetzeiten in Bewegung und etwas nach Sieben am Morgen, nach dumpf-löchrigem, warmem Schlaf, kamen wir am Ziel zum Stillstand. Ich hatte einen Platz im Viererabteil gebucht und diese Entscheidung ist sicher dem Großabteil vorzuziehen – alternativ kann man auch privat zu zweit schlafen. Aber wenn man nur einer ist… Die Waggons durchläuft ein schmaler Gang, dunkles Braun wie aus DDR-Filmen, der Geruch nach gewachstem Holz (tatsächlich?) und übliche Zugfenster – breit, mit einem Spalt zum Öffnen. Links liegen die Abteile mit je vier Kojen, zwei oben, zwei unten, alles in dunklem braunem Holz, weinroten, harten Matratzen und goldbraunen Bezügen über Kissen und Matratze. Ein Klacken wie aus alten Zeiten, Geruch wie ehemals und eng – Nostalgie, ein echtes Gefühl der Fremde in Zeit wie Raum. Nur die Leute sind modern und dass die Schlafbezüge in Plastesäcken verteilt werden; dass es Cola zu kaufen gibt und – nun, das war früher sicher bereits so – Wodka und Woda. In den Zug gelangt man über genau einen Einstieg pro Wagen, der je von zwei Uniformierten bewacht wird – die Person wird bestätigt in Billet und Pass; man darf eintreten – Kontrollen im Bahnhofsgebäude sind zwar weit entfernt von dem Stress am (Auslands-)Flughafen, aber obligatorisch. In das Gebäude kommt nur, wer ein Ticket hat. Innen findet eine Gepäckdurchleuchtung und eine Registrierung statt, das Ticket bekommt einen Stempel. Erst dann darf man fahren. Das alles geht schon in gewohnter Kontrollmanier vor sich und ich erwarte nicht mehr, dass sie etwas finden, habe die Furcht verloren, trotz aller Vorsicht, unschuldig Illegales zu begehen – die Angst, die untertänig macht. Der Zug ist voll, hält an einigen Stationen während der Nacht, an denen er Leute ein und aus lässt – in Buchara sind wir dann zwei, ein ansässiger Student und ich. Aus dem leichten Nebel steigen wir durch die Dunkelheit, ankündigende Dämmerung, von Licht geblendet und den Schatten bedeckt – hinter dem Tor schon schreien die Fahrer und wollen uns mitnehmen, doch er geleitet mich an den sicheren Parkplatz und verschafft mir ein günstiges Taxi in die Stadt, die einige Kilometer entfernt von ihrem Bahnhof liegt. Ich bin angekommen – im zweitsagenumwobensten Ort Usbekistans, einst mächtiges Handelszentrum Mittelasiens, dort, wo Träume vermutet werden. Es hat eine Art von Magie, morgens über den zentralen Platz zu laufen, wo dutzende Hotels sich einquartiert zu haben scheinen – der Inhaber des kleinen, privaten „Sukhrob Barzu“ empfängt mich im Schlafrock an der Statue des Hodscha Nasreddin und geleitet mich einige Meter nur weiter in das Hotel. Einen schönen Innenhof durchquerend, steigen wir die Treppen hoch auf die Empore und dort liegt mein Zimmer, eines von circa 12, einladend eingerichtet mit weichem Doppelbett, kleinem Bad und warmen Farben, Teppichboden und sanftem Licht. Nach einer unruhigen Nacht auf ratternden, springenden Gleisen verspricht das Bett ein wenig Ruhe, bevor der Tag auf mich wartet, einer von zwei. Doch lange kann mich nichts im Zimmer halten – bereits um Neun bin ich wieder auf der Straße, energiegeladen, motiviert und bestimmt, die Stadt zu durchschreiten, mit dem nötigen Willen und der Sonne auf meiner Seite.

Den historischen Rundgang kann der Reiseführer übernehmen oder im besten Fall soll der Reisende selbst sich ein Bild machen – meine Eindrücke folgen nicht linear dem zentralen Weg, den alle Touristen laufen, die sich nicht in den Gassen und Pfaden der bewohnten Altstadt verlaufen will – auf dem aber bin ich hin und her gewandert, meinen Freiraum, meine Alternativen suchend. Beginn ist das Labi Hauz, ein Wasserbecken (Hauz) in dem früher gebadet wurde, von dem Trinkwasser geholt und verkauft wurde… Freilich kein stehendes Wasser, das ihn füllte, als Mittelpunkt der Wasserversorgung floss das Wasser dutzende Kanäle entlang, heute wie damals aus dem Amudaryo, dem ich bis nach Termiz folgen sollte – fast, denn einen Schlenker macht er ins heutige Turkmenistan. Einige Gebäude schmücken den Platz, am beeindruckensten vielleicht die Medrese Nadir Devon Begi, die eigentlich eine Karawanserei hatte werden sollen und phantastische Ziermalereien über dem Eingangsportal besitzt – fast zoroastrisch anmutende Vögel, figürliche Malerei, ungeachtet des islamischen Bilderverbots. Einen Winkel weiter, bevor der Besucher durch eine schmale Gasse schreiender Souvenirverkäufer gejagt wird, öffnet sich ein weiter Platz, auf dem eine Ausgrabungsstätte den größten Raum einnimmt. Nebenan steht Magoki Attori, deren wundervolles, einzigartiges Portal original aus dem 10. Jahrhundert erhalten ist – Ranken, Zeichen, Muster schmücken den Backstein, der sich doch so viel besser hält als unser Sandstein, dessen selbstzerstörerischer Kraft der Mensch nur in lächerlich geringen Versuchen begegnen kann. Magoki Attori – wohl Mittelasiens ältest erhaltene Moschee – liegt einige Meter unter dem heutigen Straßenniveau. Sie beherbergt ein Teppichmuseum – schöne Stoffe, seltsam zusammengetragen, doch der Ort hat sich seine Heiligkeit bewahrt. Es scheint so still und friedlich, als wäre der Wanderer Goethe, eine verschütt gegangene Antike entdeckend. Als wäre diese Zurschaustellung etwas erst noch zu Eröffnendes, als wäre sie nicht selbst schon Eröffnung, gemacht für Zuschauer, Exhibition der Kultur. Doch im Alleinsein, Zwiegespräch mit den weiß renovierten Mauern, bewahrt der Schein eine Basis, der Raum Heiligkeit. Es erinnert mich an Rom – auch hier Heiligkeit neben Ausgrabungsstätten, viel tiefer als die Stadt heute, und dort liegen sie, Baudenkmäler, während drumherum der Verkehr zischt und rauscht. In Buchara rauscht kein Verkehr, hier hört die Straße auf und der Bummler ist die lästigen Maschinen los – bekommt dafür die Marktschreier an den Hals. Was es nicht alles zu erwerben gibt! Zur Touristensaison muss dieser Ort tatsächlich dem alten Handelszentrum gleichen, wenngleich die Preise unverschämter und die Produkte von geringerem Alltagsnutzens sind. Schönheit gibt es dennoch im Überfluss. Zwischen Seidenschals, Teppichen, Stoffen per Meter und Kleidung wühlt man sich vergebens durch und es erwarten das Auge Keramik, oft handbemalt, Schnitzereien und Gebrauchsgegenstände aus duftendem Holz, oft Ulme, Messer und Scheren, solche in Vogeldesign, also mit Schnäbeln, Brotstempel für das traditionelle Lepjoschka, Susani – bestickte, dünne Teppiche – oder Tischdecken, bemalte Holzschachteln, alte Bücher in arabischer Schrift, Metallschmuck, metallene, türkische Kaffeeservice, Handtaschen und –täschchen, Kupferteller mit filigranen Motiven, Koranständer, aber auch profane Souvenirs wie bemalte Magnete, Bilder und Postkarten, bedruckte T-Shirts, Figuren aus Keramik, Ton oder Holz, Münzen und sicher noch einiges mehr, das ich gar nicht fassen konnte… Eine Unmenge an Arbeiten, und in der Altstadt finden sich zahllose Verkäufer, die ihre Produkte oder einen Teil selbst handwerklich herstellen und sie sich teilweise untereinander verkaufen.

Außerhalb der Altstadt liegt jenes andere Gebäude, welches mich ähnlich beeindruckt hinterlassen hat wie die alte Moschee: das Samanidenmausoleum aus dem frühen zehnten Jahrhundert, in solch mathematischer Perfektion gebaut, es verschlägt einem glatt den Atem. Ein Quader mit Kuppel, kommt es unscheinbar daher, doch all die Ornamente, Verzierungen lassen den Einfluss verschiedener Religionen durchscheinen – zoroastrische Motive vor den Zeichen des Islam und innen erkennt man, wie sich zwischen den Steinen am Fenster Malteserkreuze formen, wie ein versteckter Hinweis auf christliche Vergangenheit. Die Horden Dschingis Chans, dessen Einmarsch mit der Geschichte Choresmiens verbunden ist, sollen dieses filigrane Bauwerk übersehen haben, weil es als Teil eines bereits jahrhundertealten Friedhofs unter Erdhügeln verdeckt war. In Sichtnähe steht die „Quelle Hiobs“ – Chashma-Ayub. Der Legende nach wanderte der jüdische Prophet in Zeiten großer Dürre an diesen Ort, der damals noch nicht Buchara war und ließ hier eine Quelle sprudeln; das Volk baute ihm später ein Mausoleum mit einem symbolischen Sarg. Die Quelle existiert immer noch und ihr Wasser wird Kranken gereicht – es reinigt die Seele. Hier freilich packt mich die Legende mehr als das Gebäude.

Viel gibt es in der Altstadt Bucharas zu sehen – auffallend die großen Medresen, von denen sich zwei, in brüderlichem Zwist vereint, provozierend dicht gegenüber stehen: Ulugbek und Abdulasiz Chan. Erste ist aus dem 15. Jahrhundert, ehrlich und edel, bewusst der islamischen Gebote. Der Bauherr Mirzo Ulugbek, ein Enkel Timurs und Förderer, Bewunderer der Wissenschaften, des Geistes, hat so ein Bauwerk geschaffen, dessen anbetungswürdige Ruhe und Reinheit in den Bauwerken des Westens seinesgleichen sucht, dessen Eingang gleich zwei wundervolle Sprüche ziert, die ich allerdings vergeblich selbst entziffern zu versucht habe, ich muss aus dem Reiseführer zitieren: „Das Streben nach Wissen ist die Pflicht eines jeden Moslems und einer jeden Moslime.“, und: „Möge für den Kreis der in der Bücherweisheit bewanderten Menschen die Pforte des göttlichen Segens jederzeit geöffnet sein.“ Möge für den Kreis der in der Geschichte bewanderten Menschen diese Kathedrale des Glaubens niemals verrückt oder zerstört werden. Wie zur sinnlichen Provokation baute Abdulasiz Chan im 18. Jahrhundert sein Gegenstück an die andere Straßenseite – ein Gigantikum, mächtig, mit ihren Türmen, schillernd, mit ihren Verzierungen am Eingangsbereich. Ein Flaggschiff des Lebens, der Ausschweifung und Sinnlichkeit. Glaube liegt nicht im Wissen, hier steht der Beweis. Spöttisch beugt sie sich über ihren älteren, feineren Bruder und fragt ihn, was seine Weisheit sage, wenn der Krieg ausbricht. In ihrer seligen Kühle zeigt sich Ulugbek unbeeindruckt von dem Werben des Bruders – die Jugend sprießt diesem aus dem Gesicht und der Glaubensstreit zwischen Geist und Körper, Mentalem und Materie, Gedanke und Tat, den die beiden darstellen, ist lange noch nicht ausgefochten. Ein wenig abseits, unbeteiligt an diesem welterschütternden Schauspiel, breitet die Medrese Miri Arab ihre goldenen Schwingen aus und zeigt sich ganz im Gewand der adligen Dame, so mächtig, so distinguiert beschmückt zeigt sie sich und wendet ihre schönste Seite dem Publikum zu, während das Unsichtbare kahl bleibt und schlicht. Hier studieren noch immer junge Erwachsene den Koran, selbst während der sowjetischen Besatzung lief der Hochschulbetrieb – ununterbrochen seit dem 16. Jahrhundert. Jede einzelne der Medresen ist beeindruckend wie die großen gotischen Kathedralen und zu den verzweifelt hungrigen Souvenirhändlern und Krämern spannt sich erneut die himmelweite Schlucht zwischen Profanität und Heiligtum, Distanz und Ergriffenheit, die wohl niemals, an keinem Ort der Erde zu schließend ist, es sei denn, es sei das Paradies.

Direkt gegenüber von Miri Arabs hübscher Seite steht ein uneinheitliches Ensemble: das Minarett und die Moschee Kalon. Der Turm ist eines der bekannten Wahrzeichen Bucharas und beherrscht die Altstadt von weitem. Einige dutzend Meter hoch ist das grandiose Bauwerk aus dem zwölftem Jahrhundert, und seine Erbauer dachten sicher an den Turm von Babel, als sie ihrer Stadt solch Wunderwerk verpassten. Dschingis Chan soll, als er den Blick an die Spitze schweifen ließ, seine Mütze verloren haben und beim Aufheben derselben sich unfreiwillig, schicksalhaft vor dem Minarett, so vor Allah, verbeugt haben. Nie musste der ritterliche Chan sich vor jemandem verbeugen und so schauderte er schicksalsgläubig und beließ das Minarett, das sonst seinen Schergen zum Opfer gefallen wäre – so die Legende. Legenden blühen in Städten wie diesen, wie auch in Chiwa, wo niemand mehr da ist, sie zu berichtigen und das Volksherz glüht in den Gedanken, ihrer Stadt sei Würde erwiesen worden. Es geht darum, den Nationalstolz zu bewahren. Die Moschee ist bedeutend jünger, aber ebenfalls imposant – als zweitgrößte Mittelasiens beherbergt sie einen weiten Hof und breite Gänge herum, sodass man einige Minuten in dieser Heiligkeit spazieren gehen kann – zumal hier alles restauriert ist, im Gegensatz zum Beispiel zur Medrese Abdulasiz Chan, die innen aussieht wie Bilder nach dem Krieg – nur in Farbe. Ein Ort, an dem sich die Händler um mich schlagen.

Buchara ist Märchenort, Kindertraum und Sehnsuchtsstätte wie Arkadien, eine bunte Legende und unsterblich in den Annalen von den Wissenschaften und Künsten – einerseits. Andererseits ist es Zeichen einer touristbestimmten Stadt: Alle wollen mein Geld. Als Tourist unter vielen, im Mai oder September, mag man sich vor den Marktschreiern, Souvenirhändlern in die Masse flüchten, in der man schwimmt – als einzelner steht man wie der Leuchtturm auf Amrum und zieht die Insekten an wie Stroh das Feuer. Mittendrin versucht man, den Zündlern, Flammen auszuweichen, die oft auf letzter Stufe brennen, ihre Produkte um jeden Preis verkaufen wollen. Ein rasendes Nein!, wenn doch einmal jemand überschlägt und mich einholt. Die Scheine fliegen durch die Gegend und irgendwie vergeblich der Versuch, sie festzuhalten. In keiner Relation das ausgegebene Geld zu Taschkent – zwei knappe Wochenbudgets verlieren sich am ersten Tag, davon ein halbes als Spende an die jüdische Gemeinde zur Renovierung ihrer Synagoge – s.u. Fies wickeln sich die Stricke um den Wanderer, der gutgläubig sich helfen, führen lässt, um anschließend ebenso tief zu fallen, wenn der Gegenüber den getanen Gefallen wieder einfordert. Gleich morgens am ersten Tag, nach kurzer Ruhe im Hotel, machte ich mich auf in den Westen der Stadt und kam dort an, wo Hiob Prophet und Wohltäter war. Vor dem Gebäude, die Batterien meiner unverschämt rasant Energie schluckenden Kamera wechselnd, sprach mich nun – wie alle hundert Meter – ein Passant an und fragte mich, die typischste Frage: Woher? Ich antwortete ihm gewissenhaft, aus Deutschland und war nicht schlecht erstaunt, als mein Gegenüber begann, mit mir Deutsch zu reden. Etwas eingerostet, weil er hier mit niemandem spricht – im Winter zumindest. Ulugbek sein Name. Er kann auch Französisch. Und natürlich Russisch, Usbekisch und weil er Bucharaer ist, auch Tadschikisch. Von Beruf spielt er Kniegeige in einem 40 Mann starken Orchester und lehrt am Konservatorium Musik. Und – verkauft CDs, DVDs an Touristen, weil ihm alles nichts nützt und er seine Familie nicht ernähren kann. Außerdem gibt er Stadtführungen und zu einer solchen hebt er an, bringt mich zu jener Quelle und in das Samanidenmausoleum – übrigens ein wirklich einzigartiges Baudenkmal – erzählt Geschichten und Geschichte, zeigt mir die alte Mauer und das einzig verbliebene Tor, redet über Kultur und Kunst und geleitet mich noch entlang des Bolo Hauz, einer Moschee aus dem 18. bis 20. Jahrhundert, zum Ark, der einstigen Festung und redet, redet, redet – ich freue mich und fotografiere. Zur Zeit des späten Chanats war der Ark eine kleine Stadt in der großen Stadt – auf einem künstlichen Hügel, die Residenz des Emirs beherbergend. Viele Neider, zuletzt die Bolschewiken, machen der Großteil der Festung unbegehbar, Schutt und Geröll ist alles, was von einstigen Straßen zu sehen ist. Um den Eingang nur ist ein Teil rekonstruiert und restauriert. Innen besuchen wir die Hauptmoschee und die Reste des Thronsaals, das Heimatkundemuseum und Ulugbek will mir im Anschluss noch die Altstadt zeigen, da sage ich Nein. Als Dank für die deutsche Führung kaufe ich ihm etwas ab und hoffe inständig, dass er nicht im Nachhinein noch Geld für die Führung verlangt. Am nächsten Tag will er mich in seinem Auto in die Umgebung mitnehmen, mir die Sommerresidenz des Emirs zeigen, eine Nekropole und einen magnetischen Pilgerort der Muslime, plus noch „zwei kleine Orte“. Ich überlege es mir, noch in Geberlaune, denn 30 Euro sind ein Freundschaftspreis und mir gefällt die Art, wie er erzählt – eine Bildungsreise, klassisch, wie Goethe in Italien, so stelle ich es mir vor. Ich überlege es mir, sage ich ihm und er begleitet mich zum Hotel, damit ich das Geld holen kann, mit dem ich seine Verkäufe bezahlen wollte. Auf dem Weg beginnt er von Neuem und ich bin latent überfordert von dem, was er spricht. Immerhin hatte ich zwei kurze Nächte hinter mir. Es erfolgt der Abschied, endgültig.

Die Probleme dieser Stadt, im Winter, wenn niemand Geld hat, verfolgen mich – doch ich bin wacker genug, nachdem ich mit Ulugbek erst die Neustadt erkundet habe, mich nach einer kurzen Mittagsruhe erneut raus zu wagen. Die Option der Umgebungstour noch im Kopf, will ich auf Nummer sicher gehen und alles Sehenswerte an einem Tag durcharbeiten, durch die über die letzten Woche so satt gemachten Hirnnerven zu jagen, dass diese elektrisiert und eifrig ihren Dienst gefälligst antreten. Ich überschätze sie leicht. Hierein gehe ich, dortein, schaue mir alles an, wie ein Holzmeister arbeitet und lasse mir von einer Frau ihre wunderschönen Seidenschals zeigen, denke über Neujahrsgeschenke für Alisher, Elmira etc. nach und halte mich viel zu lange bei Leuten auf, die alle das eine wollen: mein Geld. Und dabei kann ich es ihnen nicht einmal übel nehmen, sie sind darauf angewiesen – eine Frau in der Medrese Abdulasiz Chan bricht vor meinen Augen fast in Tränen aus, geht auf über die Hälfte zurück und bittet mich so eindringlich, so ehrlich emotional, dass mir ganz schlecht wird und ich, endlich draußen, ein schlechtes Gewissen verkneifen muss. Wohl sämtliche dieser Akteure haben noch kein Geschäft gemacht heute – um halb Drei. Noch – bin ich zu müde oder hochmütig? – kann ich alles schlucken, habe noch nicht genug und reiße wieder die Straßen ein, laufe, schaue auf alte Münzen, Embleme aus Sowjetzeit, arabische Bücher aus dem 19. Jahrhundert – Verse – die er für 15 Euro verkaufen will. Und doch – als ich erneut vor dem Minarett Kalon stehe, diesem gigantischen Werk, und der zweitgrößten Moschee Mittelasiens, da packt mich die Müdigkeit, ich fühle mich klein gegenüber solchen Mächten wie der Architektur und Armut und flüchte noch vor einem alten Mann mit Goldzahn, der mir einen ganz besonders guten Handel vorschlägt und mir eine atemberaubende Sicht auf Buchara verspricht – in einem Museum; ich verstehe ihn einfach nicht, auch als er mich am nächsten Tag erneut anspricht. Auf das Minarett, den einzigen Punkt, auf den zu klettern ich bereit gewesen wäre, kann man wegen Renovierungsarbeiten nicht mehr. In der Hand halte ich einen großen Teller, handbemalt, für Plov gedacht, den ich als letztes Souvenir gekauft habe – bei einer Frau mit ihrer Tochter, die mich in ihre Werkstatt geführt hat. Nur ein einziger Händler zog mich nicht noch im Gehen zurück – ein Schnitzer und Holzkünstler, der die typischen Schatullen und Koranständer, aber auch wunderbare Spiegel und einen barocken Hocker anbot. Ihn vergaß ich zuletzt mit einem Kauf zu belohnen, den Ehrlichen, Guten – am nächsten Tag, regnerisch, blieb sein Geschäft geschlossen und ich muss mir die Tat aufheben. Es geht durch die Straßen, versucht zu erinnern, wo Ulugbek mich lang geführt hat und erfolgreich am Labi Hauz angekommen, fällt mir wieder die Synagoge ein – die wollte ich doch sehen. Die Straße, in die Ulugbek gezeigt hat, wird von einem schuttabladenden Laster versperrt. Ich muss wohl leicht verwirrt ausgesehen haben, denn einer fragt mich, wie mein Hotel hieße. Nein, spreche ich wohl, ich wollte zur Synagoge. Ach, ich bin selbst Jude, komm mit, ich zeige dir unsere Synagoge! Das Viertel streckt sich südlich vom Labi Hauz und ist von den gebliebenen Juden bevölkert – 250 sind es noch. Das Gotteshaus ist schlicht und fromm eingerichtet – unverkennbar usbekisch. Ich lasse zehntausend Sum als kleinen Obolus da. Es gibt eine zweite Synagoge, und auch dorthin führt mich der eifrige Mann – jetzt geht es durch enge Schlammstraßen, Pflastersteingassen und kahle Hauswände, einen Weg verwinkelt wie in den Altstädten präsowjetischer Zeit, den ich alleine niemals zurück gefunden hätte – ein Labyrinth. Schließlich kommen wir an ein ebenso unscheinbares Haus wie jenes zuvor, ganz in der Nähe sogar einer jüdischen Schule, an der Hebräisch unterrichtet wird. Größer als die erste und mit einer 1500-jährigen Tora bildet sie das Herz der Gemeinde und – beständig ein an mir vorbeifließendes Russisch redend – führt er mich sogar zum Rabbiner und lässt mich segnen. Auf dem Rückweg platzt es. Er hat dem Rabbiner gesagt, ich würde eine Spende hinterlassen für die Gemeinde und der würde im Gegenzug für mich und meine Zukunft beten vor der offene Tora. Nur für mich, es sei ja nur für mich und mein Wohlergehen.

Man kann sich nicht vorstellen, wie mir auf einmal alle Müdigkeit des Tages in den Kopf schießt. Halb unbewusst, automatisch gebe ich ihm den Großteil meines Geldes, lasse ihn zählen und ihm noch den mickrigen Rest als er, versichernd, jenes Geld käme der Gemeinde, der Renovierung des älteren Gotteshauses zugute, noch ganz wehmütig um eine Spende für ihn und seine Familie bittet. Möge es ihm zu Gutem gereichen und möge mir dieser Faustschlag in die Magengrube nicht böse aufstoßen. Völlig fertig ziehe ich von dannen, einige Meter noch bis zum Hotel und liege, bewegungslos, lustlos. Den armen Ulugbek muss ich enttäuschen – die Lust auf weitere Abenteuer ist mir fürs Erste vergangen.

Der zweite Tag, nach guter Nachtruhe, bringt Erleichterung, löst die Spannung um einen Grad, sodass ich mich wieder freier fühle, obwohl das Wetter den Charakter von Dänemark angenommen hat – Wind treibt die Wolken rasch an der Sonne vorbei, deren Licht nun krasse Schatten bringt und angenehme Wärme. Später ist der Himmel vollends zugezogen und Regen nieselt auf mein unbedecktes Haupt. Ich lasse mir Zeit, gehe, ungeachtet des Schwurs vom Vortag, nicht mehr in die Altstadt zu kommen, durch dieselben Straßen, dieselbe Leere. Bei dem Wetter machen sich einige Souvenirhändler gar nicht mehr die Mühe, ihre Produkte auszustellen, oder bleiben ganz geschlossen. Die Verwirrung hat sich gelegt, ich erkunde Buchara nun als einen Ort, wo Menschen leben, gehe wiederholt in den Ark und zum ersten Mal in die Moschee Kalon, genieße das alte Minarett von unten und statte dem Café Wishbone einen Besuch ab, das echt österreichischen Kaffee und deutschen Kuchen anbietet – ein Gemeinschaftsprojekt, dessen deutsche Schirmherrin zur Saison anwesend ist. Dass auch die Preise durchaus deutsch sind, nehme ich gelassen hin; der Fluss des Geldes ist schon am Versiegen, d.h.: mein Hirn wehrt sich gegen die Schreie und Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zum Vortag, da ich noch die schönen Produkte mit Freude in Augenschein nahm, bleibe ich diesen verwunschenen Stätten der Begierde heute fern – das ist auch gut so. Es endet am Abend mit einem billigen Essen in einer Choyxona – echt usbekisches Flair, so charakteristisch, dass ich mich zu einer Beschreibung gedrängt fühle. Das Gebäude besteht aus einer Konstruktion regelmäßig zu Quadraten geordneter Holzstäbe, die mit Plastikplanen bespannt sind, die ein kleines Steinhaus sowie einen Gang herum einschließt. Tische stehen in beiden Räumen, atmosphärisch ist der äußere Teil natürlich spannender – durch das Plastik ist der Stadtlärm gut zu hören und gelegentlich tropft das Wasser in einen an Ort und Stelle gesetzten Eimer. Nur die Decke ist tatsächlich aus Holz, sodass mir kein Wasser auf den Kopf fällt. Die Wände aber – durchsichtige Plastikplanen.

Nach dem Rückzug ins gemütliche Hotelzimmer schalte ich den Fernseher an und klicke mich durch russische, usbekische Kanäle. Einer jedoch ist dabei, der mich wohl fesselt: turkmenisches Fernsehen. Gesprochen auf Russisch, ist es vielleicht ein Sender zur Außenwirkung. Gerade läuft eine Sendung über den neuen Beton, den das seismologische Institut für die erhöhte Sicherheit des Präsidenten entwickelt hat – halt erdbebensicher. Die Bilder wiederholen sich dabei ständig, das Bild ist dunkel, farblich unattraktiv und kontrastarm. Ich hätte bessere Bilder filmen können und noch dazu dafür gesorgt, dass sie sich nicht ständig wiederholen. Aber schon kommen die Nachrichten: News – Independent. Neutral. Turkmenistan. Zweimal höre ich „Uzbekistan“, ständig sehe ich irgendwelche Gebäude von außen, dann von innen in gut gefüllten Sälen, in denen die Menschen den Redner begeisternd beklatschen und an dessen Wänden das Porträt des Präsidenten hängt und dann steht dort: „Prosperous Epoch of the Powerful State“ – so stelle ich mir auch Nordkorea vor. Ich schalte aus, es ist wohl nicht gut, Sender zu sehen, über die man sich nur lustig machen kann und gehe lieber ins Bett. Schlaf ist mir wichtiger als das Lächeln des Westlers über Diktatorenspielchen.

Weiter geht es am nächsten Morgen, und auch wenn ich die Sehnsucht hege, jene Monumente noch einmal zu betrachten und verinnerlichen, so bin ich fürs Erste froh, wegzukommen. Der Besitzer des kleinen Hotels schreibt freundlich noch auf, an welchen Ort mich der Taxifahrer bringen soll: der Busbahnhof, an dem jene Sammeltaxis nach Karshi abfahren, von wo aus ich nach Termiz umsteigen muss. Die dreistündige Fahrt ist unspektakulär, erneut ein bisschen teuer; die Landschaft erinnert mich stark an Illinois, als wir durch Weiten, Weiten an Nichts getrieben wurden und die Sträucher am Straßenrand höchste Erhebung in Sichtweite waren. Karshi ist eine moderne, usbekische Stadt unter vielen – dreckig, niedrig, wenig Altes. Der Fahrer, der mich davon überzeugen will, dass Usbeken gute Leute sind, möchte mich direkt dort absetzen, wo die Taxis nach Termiz weiterfahren und behauptet, nach meiner Bemerkung, ich würde gerne ein wenig in der Stadt spazieren, das sei kein Problem, der Platz liege gleich im Zentrum. Als ich während der Fahrt vorsichtig frage, wo denn das Zentrum sei – wir an einer alten Moschee, einem Park und dem Verwaltungssitz vorbeifahren – und er mir gut gelaunt versichert, das alles sei das Zentrum, bin ich gespannt auf das Ergebnis. Endlich angekommen, bestätigt mich der Inhaber einer Choyxona, bei der ich ein Mittagessen einlege, dass wir am äußeren Rand der Stadt sind, weitab vom Zentrum. Außer langen Straßen, Schlammhöfen und giftigen Autos gibt es hier nichts zu sehen. Und ob Termiz die rechte Entscheidung ist – zwei volle Stunden lang bin ich der einzige, der fahren will. Zwei volle Stunden, heißt das, warten, auf Fahrgäste – oder ich fahre allein und zahle für Vier. Ich denke an mein Geld. Und selbst als dann welche auftauchen, es ist 15 Uhr und die Dunkelheit wartet ab Fünf, muss ich noch etwas drauf legen, weil sie zu wenig haben. Mehr als ich wollte habe ich ausgegeben – alt bekannter Ruf – aber nun sitze ich wenigstens im Taxi und kann mich entspannen. Der Reiseführer verspricht eine „reizvolle“ Landschaft, die leider bald von der Dunkelheit eingeholt wird. Es geht über Berge, einen Pass, wohl 2000 Meter, denn angekommen, ist meine Flasche eingedrückt. Direkt nach Karshi sollen die ebenfalls vom Reiseführer versprochenen Gasfelder von Shurtan warten. „Kilometerweit sieht man das Gas brennen.“ Etwas unspektakulärer war es dann doch – hier und dort ein Flämmchen, während die Anlagen weit von der Straße entfernt und nur von einem Punkt gut zu sehen waren – man will eben nichts verpasst haben. Ich begreife später deutlich, warum der Busverkehr eingestellt worden ist – an zahlreichen Stellen wird die Straße umgebaut, immer eine der beiden Spuren wird zu zwei und bleibt eine Huckelpiste, die uns ordentlich schüttelt, während im Radio Modern Talking läuft. Erfreut sich extremer Beliebtheit bei hiesigen Sendern. Wie im Ferganatal begegnen wir mehreren, allerdings kleineren, Posten, je mehr wir uns Termiz in der Provinz Surxandaryo nähern. Zweimal muss ich aussteigen und mich registrieren lassen – d.h. jedes Mal die Frage, woher, wohin und der mühselige Versuch des Beamten, meinen Namen abzuschreiben. Beim ersten Mal tappe ich fast in meine eigene Falle. Daran gewöhnt, mein Alter mit 23 anzugeben, damit weniger gefragt wird, spreche ich das im Affekt auch vor dem nebenstehenden Polizisten aus – glücklicherweise auf Englisch, denn der dessen nicht mächtige Beamte notiert gerade mein Geburtsdatum in sein Heft. Dieses Abenteuer blieb mir erspart. Beim zweiten Male versuche ich den Fauxpas zu vermeiden und tue gut daran: Der Soldat, dem ich in sein mobiles Kabinett folge, trägt eine AK-47 auf dem Rücken – oder das, was ich glaube, es sei eine.

In der Dunkelheit erreichen wir Termiz; ich werde von einem Studenten der germanistischen Fakultät erwartet, der leidlich gut spricht und in großem Eifer eine Reihe von Hotels mit Zimmerpreisen zusammengetragen hat. Das Hotel Surxon wurde im Reiseführer als renoviert und preisgünstig beschrieben, das hier eingetragene „Lyuks“-Zimmer kostet 18 Euro – 100.000 Sum – pro Nacht. Ob es auch ein normales Zimmer gebe? Nein. Wir nehmen ein Taxi und fahren zu dem Gebäude, welches, etwas eingerückt, tatsächlich sehr zentral liegt. Tatsächlich gibt es auch freie „normale“ Zimmer in dem Riesenhaus und ich bitte darum, beide Sorten anzusehen – meine unleugbar deutsche Identität. Das einfache Zimmer gleicht – gelinde gesagt – der Stube des armen Bohemiens, Studierzimmer eines Friedrich Schiller. Zwei getrennte Betten, ein Schreibtisch und Stuhl machen das gesamte Interieur aus. Die Toilette läuft; die Fliesen im Bad sind stellenweise gesplittert und die Dusche sieht aus wie ein Waschbottich. Der Balkon lässt sich nicht öffnen, zusätzliche Fenster gibt es nicht. Von den Wänden hängt zerflattert die Tapete – flächendeckend. Der Student fragt mich in beflissenem Ton des Gehorchens, ob das für mich in Ordnung sei? Ich muss vor Perplexion abwehren stottern, dass ich zunächst das andere Zimmer sehen möchte. Die „Lyuks“-Zimmer unterscheiden sich bereits an der Tür – wie Prestigeobjekte erscheinen die braunen, geschliffenen und polierten Türen, deren Schloss weich klackt und an denen Nummern in Messing angebracht sind. Für den doppelten Preis gibt es ein Zimmer dreifacher Fläche, mit Parkettfußboden, Fernseher, Seidenvorhang, zwei Balkonen, einem weichen Doppelbett, vorsichtig angedeuteter Inneneinrichtung inklusive zwei Sessel, und ein sauberes Bad. Die Toilette läuft trotzdem, der Fernseher ist eine Röhre und die Balkone starren vor Schmutz. Für 18 Euro die Nacht? Ich nehme es. Schon weil es so absurd komisch ist.

Den Studenten hat mir ein Professor beigesandt, welchen ich über Kontakte aus dem weiten Goethe-Umfeld telefonisch erreichen konnte. Leider habe ich ihn nur einmal gesehen, als ich in der Eingangshalle stand, meine Haare unter der Klimaanlage fönte und darauf wartete, dass die Tür zum Frühstücksraum geöffnet würde. An der ordentlichen Portion Spiegeleier, Brot und Würstchen habe in den drei Tagen wirklich Gefallen gefunden… Den Tag über würde mich jedenfalls wieder der Student begleiten, eine Starthilfe, die ich mir gern gefallen ließ. Wir fuhren kurz hinüber zum Bahnhof, um in einer langwierigen Prozedur ein Ticket für die Rückfahrt nach Taschkent ausstellen zu lassen – es ist offensichtlich, dass sie hier weniger an Touristen gewöhnt sind als z.B. Buchara, denn am ordinären Schalter ist die Frau überfordert und übergibt meinen Fall den erfahrenen Herren, die gemeinsam die Aufgabe stemmen. 17 Euro kosten mich die 14 Stunden Fahrt, die 650 Kilometer im Schlafwagen.

Dank eines Freundes jenes Studenten, der eine Marshrutka besitzt und fährt, komme ich für kleines Geld herum, sehe das Gelände des alten, vormongolischen Termiz, Termiz-Ota, und ein ehemaliges buddhistisches Kloster aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. Zunächst geht es aus der Stadt heraus – unmöglich ohne eigenes Auto oder Taxi – und Taxis sind teuer. Deshalb bin ich dankbar, dass der junge Fahrer für 25.000 Sum seine Marshrutka auf Eis setzt und stattdessen für mich und den Studenten das Taxi spielt. Für ihn bin ich fünfzig Fahrgäste, das sieht er ganz entspannt. Die Marshrutkas in Termiz sind sämtlich die beliebten Damas-Modelle von Daewoo/Chevrolet: kleine, hohe Fahrzeuge, mit zwei Sitzbänken bestückt, sodass ordentlich bepackt acht Leute (inkl. Fahrer) hineinpassen. Wir passieren zu dritt den Posten, der das Ende der Stadt markiert und fahren ein Stück in Richtung jenes Gebirge, das ich gestern überquert haben muss – im Dunkeln eben. Linksum führt uns dann eine baumgesäumte Asphaltstraße zu einem Tor mit Parkplatz und Souvenirläden – das alte Termiz. Eintritt muss ich keinen bezahlen, nicht einmal eine Fotogebühr, was mein Herz gleich ein Stückchen weiter öffnet. Die Sonne strahlt. Es ist der 24. Dezember, Heiligabend, und ich laufe durch einen weiten Park mit einigen Bäumen und Bäumchen, wenigen Gebäuden und wenigen Menschen. Beim Frühstück hatte ich noch gefragt, welches Datum heute sei… Auf dem Gelände ist ein neues Museum im alten Stil errichtet worden – lokalgeschichtlich, das muss nicht sein. Was mich interessiert ist das alte Mausoleum Hakim al-Termiziys, dem Begründer eines Sufiordens – islamische Mystik. Angebaut und nun zu einem Klotz verschmolzen steht eine kleine Moschee. Wir ziehen die Schuhe aus und treten ein – ganz still ist es und angenehm kühl. Doch die Blicke zieht das Nebenzimmer auf sich, eben jenes Mausoleum, das in herrlichen Ornamenten bemalt ist – ein Mann sitzt vor dem durch Torbögen abgeschnittenen Gang, der auf das Grabmal al-Termiziys zuläuft und sammelt Spenden von Menschen, die vor dem Grab beten wollen. Es ist ein wahrhaft fantastischer Klotz, der mit dem umgebenden Gewölbe noch einmal heller erstrahlt – denn die Goldfarben, dieses Schwarz und Weiß ergeben eine wirklich mystische, heilige und beklemmende Atmosphäre. Ohne Zuschauer hätte ich mich sicher verneigt vor dem Marmor, der dort in seinem schimmernden Reiche steckt. Wir besuchen noch zwei weitere heilige Orte, an denen gebetet werden kann, darunter eine in den Boden reichende, natürliche Felshöhle. Um das rechteckige Gelände ist rings eine Mauer gebaut – Sichtschutz. Der Fluss ist gleich nebenan, man könnte ihn sehen und so – auf die andere Seite blicken. Was ist dort? Afghanistan, ein Land, von dessen zerstörter Seele man sich fern hält. Dieses Land ist wie ein Fluch, den der Westen gebracht hat und dort tobt Krieg; die Möglichkeit, er könnte überschwappen, wird von der Regierung nicht dementiert – es kommt gar nicht erst zur Sprache. Vor einigen Monaten noch, meint der Student, konnte man über jene Felsen dort klettern und von oben den Fluss sehen. Jetzt steht ein Stacheldrahtzaun davor. Wir schlendern noch ein wenig über die Anlage mit ihren geometrischen Wegen, den grünen Pflanzen und der Ruhe. Am freundlichsten jedoch ist das Wetter – mit offenem Mantel fühlt man sich gänzlich aweihnachtlich und genießt die Luft, die hier besser ist als in der Stadt. Draußen beherbergt der Komplex zwei oder drei Shops mit den üblichen Andenken: Taschen, Ketten, Krimskrams, Stifte und wenig lohnenswert mitzunehmen. Doch eines fällt mir ins Auge – Ketten mit Plasteperlen, darauf arabische Schriftzeichen. Sie werden zum Gebet gebraucht, muslimische Rosenkränze. Einen unbeschriebenen aus Olivenholz – das Plastik mag mir nicht gefallen – kaufe ich tatsächlich. Gebetet habe ich mit ihm nicht.

Der nächste Stopp führt uns noch einige hundert Meter in Richtung Nordwesten, bevor der Damas auf einen holprigen Weg links einbiegt, erneut Richtung Fluss. Bald öffnet sich die Landschaft zu einer grenzenlos flachen Ebene, der Weg ist ab hier für Autos gesperrt und man sieht auf die Ruinen des Fayaztepe – einst ein buddhistisches Kloster, bereits wenige Zeit nach der Erbauung zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert n. Chr. wieder verlassen. Fast sehen sie aus wie die Überbleibsel außerirdischer Einflussnahme, mit der Kuppel auf einem Podest, welche so über die Anlage ganz in beige wacht. Eigentlich steht – offenbar mit UNESCO-Unterstützung – ein Museum direkt am Parkplatz, wie die Anlage selbst ein schlichtes Lehmgebäude, ausgestattet mit schwächlichen Holztüren. Man könnte meinen, man sei im falschen Film gelandet, so sehr befremdet mich die Vorstellung eines Museums in diesem Gebäude und tatsächlich ist es geschlossen. Der eifrige Student verschwindet in Richtung der beiliegenden Häuser und kommt bald darauf zurück, der Schlüssel befinde sich in jenem Haus, und zeigt die Ebene entlang zu einem weißen Klotz, um den sich eine Herde treibt – Schafe wahrscheinlich. Und während er sich beflissen aufmacht, um den Schlüssel zu holen, treibe ich mich in Richtung der Ruinen, bereits restauriert und leer. An den Stufen des Podestes mit der halben Kugel empfinde ich es umso seltsamer, diese einst heiligen Treppen zu begehen. Es wirkt alles nicht real, fantasieanimiert und unfassbar, also tatsächlich nicht zu greifen. Von oben lasse ich den Blick über die Landschaft schweifen – rechts erneut jenes Gebirge, hinter dem irgendwo Karshi liegt, weiß und grob aufragend als wäre es das Pamir. Links beginnen einige Hügel und ich weiß, während mein Blick sich nach vorne richtet, dass dort der Amudaryo beginnt und dahinter Afghanistan. Doch unweit der Gebäude beginnt eine ausgedehnte Sperrzone, gekennzeichnet mit einem einfachen Zaun und weitab kann man einen Posten ausmachen. Später nähern wir uns über einen großen, trockenen Acker dem Zaun, bis der Student sich weigert, weiterzugehen – sehr nah sind wir noch nicht, aber ich respektiere ihn natürlich. Ich weiß halt nicht, was Gefahr ist. Im Sperrgebiet befindet sich auch ein weiteres, historisches Kloster buddhistischer Mönche, allerdings wird man es in der nächsten Zeit wohl kaum besuchen können.

Selbstverständlich gibt es auch im weißen Haus keinen Schlüssel zum Museum, es werde gerade renoviert und man wisse auch nicht, wann es eröffnet würde. Entweder haben die Arbeiten noch nicht begonnen oder sie sind beinahe abgeschlossen; dann aber sollten sie noch das morsche Holz der Tür auswechseln. Ich gehe von erstem Fall aus, das ist eher Usbekistan. Alles wird renoviert und die Oberfläche schick gehalten, während innen es brodelt und der Zusammenbruch nur eine Frage der Zeit ist – nicht hier, nicht im Museum über die Geschichte des Buddhismus in der Region. Ein reizendes Thema, nein, eines, das mich reizt, aber so muss ich mich damit begnügen, durch die Lehmwände ohne Decke zu spazieren, über den trockenen Boden und wirklich, es genügt mir. Die Anlage muss als großes Kloster geplant gewesen sein, selbst heute noch ist man von der Vielzahl der Räume beeindruck. Über die Funktionen freilich kann man nur spekulieren und als besserer Religionswissenschaftler mit Schwerpunkt Buddhismus oder als ambitionierter Archäologe könnte man die Hohlräume hier und dort, die Größe des Zimmers oder die Verteilung der Räume den Funktionen zuordnen, die es mal gehabt haben sollte. Ich bin beides nicht und so muss ich mich mit der reinen Anschauung begnügen, die nicht zu wenig ist. Fayaztepe teilt sich in zwei Hälften, die jeweils verschiedene, teilweise miteinander verbundene Räume beherbergen. Im Nordteil stehen die Wände noch mannshoch und es ist schattig-kühl. Mir fällt als erstes der übertrockene Boden auf, trotzdem in der Mitte einiger Zimmer hartnäckig Gräser wachsen. So wie der Student mir fleißig folgt – unser Fahrer telefoniert abseits mit seiner Freundin – komme ich mir einmal mehr wie der Lehrer vor, dem sein Student, der Abenteurer, dem sein Schildknappe folgt und so vom Genie seines Meisters überzeugt ist, dass er mehr nicht wagt als ihm zu folgen, die Ruhe seiner Schritte nicht durch Worte stören möchte, die sich als Nichtigkeit entpuppen könnten – so devot und vorsichtig benimmt er sich, und nicht aus Angst: aus Höflichkeit. Im Angesicht dieser Steine ist mir alle Eile genommen, alles Zittern und Zaudern – ich fühle mich frei genug, in jeden einzelnen der sehr ähnlichen Räume zu gucken und gebunden nur an den Studenten, der mir folgt. Der älter ist als ich. So nachdenklich über jene alte Kultur, die hier ihre Stunden verbracht hat, in vollem Ernst ihrer Religion und so menschlichen Umgang untereinander wie wir ihn heute führen, so nachdenklich bin ich, dass ich mir gar keine Notizen mache – im Spazieren nicht und nicht auf der Rückfahrt in die Stadt. Der Südteil ist unspektakulärer, denn wo die hohen Mauern eben noch das Leben vorzustellen möglich gemacht haben, findet man sich hier als hoher Mensch auf den Grundresten einer gestorbenen Zivilisation. Teilweise reichen die lehmigen Außenmauern nicht bis zur Hüfte. In Anlage und Aufteilung muss dieser Teil sich vom oberen unterschieden haben; hier immerhin sind fast alles Räume miteinander verbunden und wenige stehen allein. Es ist auch der kleinere Teil, an jenen nördlichen durch eine Halle beeindruckender Größe gebunden, von der auch nach Westen einige Zimmer abgehen. Sie selbst hat ein rechteckiges Format, zieht sich hin und erinnert mit den Fundamenten regelmäßig gesetzter Säulen, die bestimmt bei der Restaurierung zur Veranschaulichung eingesetzt wurden, an jene römischen Innenhöfe, die als Zentrum des Hauses sich auch dem Besucher als erstes Bild darboten. Nur ein Wasserbecken wird hier nie gewesen sein. Im Gegenteil: der Boden ist auf gleicher Ebene mit den Mauerresten und über eine gewisse Fläche vor Trockenheit aufgesprungen. Nach Osten findet sich der einzige Ausgang und man steht wieder vor der Kuppel, welche das Geschehen wohl beherrscht hat, wenigstens ihre Funktion hätte ich doch gerne erfahren. Denn ein Fenster führt in den Dom hinein und innen kann man sogar aufrecht stehen. Ein Steinklotz, der vielleicht aus historischen Gründen nicht restauriert werden sollte, steht in dessen Mitte, grau, zerschlagen, als sei er zerstört worden. Dieses rätselhafte, mannshohe Gestein hinter uns lassend, kriechen wir aus der Kuppel und machen uns auf den Rückweg.

Ein starkes Stück Geschichte lassen wir hinter uns und ich bin müde von der Luft und Sonne, denke nach und bin glücklich mit dem Tag. Später merke ich, was mir vor Ort kaum aufgefallen ist, obwohl ich keine Sonnenbrille trug – das Licht, besonders um Fayaztepe, war so stark, dass der blaue Himmel auf meinen Fotos fast grau erscheint, der Lehm vor Blendung zu einer Substanz zusammenschmilzt und meine Kamera überfordert war, die richtige Helligkeit einzustellen, bei solch gleißend verschütteter Sonne. Es macht nichts, fügt dem Ort nur eine weitere Note Irrealität hinzu und lässt mich lächeln ob der wenigen, starken Impressionen, die ich mitgenommen habe und mich so schwer daran versuche, sie auf Papier zu pressen. Obschon ich müde und wunschlos im Auto saß, wurde mir mein sehnlichster Wunsch doch noch erfüllt: An dem Posten, der die Stadt vom Land trennt, wollte der mich sehende Polizist unbedingt, dass ich mich registriere – schon wieder? Gestern, auf der Hinfahrt von Karshi, hatte ich zwei Registrierungen hinter mich zu bringen – keine aber an jenem Posten zur Stadt, nun gut. Bald sind wir auch da, werden irgendwo abgeladen und stehen da nun, unentschlossen. Der andere Student, der mich nachmittags begleiten sollte, ist verhindert, weil er irgendwo hin fahren sollte und so ist die Richtung unklar. Eine Weile staken wir noch durch die Stadt, zur Universität und einem beliebten Platz, an dem uns ein Bettler mit Robe und Weihrauchkesseln zu Spenden im Namen Allahs anfleht, verabreden uns noch für den morgigen Abend in einem Restaurant und ich bleibe mir selbst überlassen. Im Endeffekt war ich froh darüber, wieder allein sein zu können und ins Hotel zu kehren, denn zwei Stationen am Tag genügen und als moderne Stadt ist Termiz ziemlich – nun, abgefuckt, könnte man sagen. Schön ist hier nichts und die Sowjetvergangenheit ist mit Mörtel verschmiert worden, der unter den Abgasen bröckelt. Eine einheitlich graue Atmosphäre, erst recht im Winter, wenn keine Farben blühen außer das Grün der Nadelbäume, die dem Grau-Braun-Weiß auf den Straßen keinen Kontrast entgegensetzen können. Mit einem Wort: Diese Stadt verschüttet nicht gerade ein Klima der Attraktivität und so ziehe ich mich, mit der Aussicht auf einen freien kommenden Tag, ins Hotel zurück und erhole mich – Buchara hat mich müde gemacht.

Mein erster Tag alleine beginnt nach dem Frühstück. Es zeigt sich, dass es gar nicht einfach ist, in den Norden zu kommen – Sultan Saodat heißt mein erstes Ziel und liegt, wie das andere, nördlich der Innenstadt, dort, wo schon die weniger betuchten ihr Leben verbringen, wo die Häuser noch aussehen wie zusammengewürfelt, wo noch Kühe und Schafe gehalten werden und Gemüse angebaut wird – und wahrscheinlich dann auf dem Markt verkauft. Denn gleich mehrere Marshrutka-Fahrer wollen mich mitnehmen, allerdings für den sechsfachen Preis, und als ich frage, ob sie nach Sultan Saodat fahren, meinen sie nur, komm rein, komm rein. Da gehe ich lieber zurück auf die Straße und spreche eine Frau an, die möglichst wissend aussieht – die Vier, sagt sie. Die Vier war es dann auch, die mich am Rande des Wohngebiets absetzte. Dagegen hatte ich nichts, Laufen kam mir gelegen. Durch einen ersten Block Häuser, merkwürdige Zäune, an leer stehenden Platten vorbei, dann queren wir die Schienen – hier kommt man ohne kundige Hilfe schlecht aus und so begleitet mich eine alte Frau, die kein Russisch spricht, aber versteht, dass ich Tourist bin und Sultan Saodat suche. Sie ist auf dem Weg nach Hause und trägt zwei Plastetüten, von denen ich später bereut habe, sie ihr nicht abgenommen zu haben. Jene Schienen, das weiß ich von der Karte, die ich mir aus Google Earth ausgedruckt und in der ich mit etwas Arbeit die Sehenswürdigkeiten markiert habe – denn offizielle Karten gibt es nicht – jene Schienen, die links aus dem Bahnhof kommen, sind es. Ein niedriger Friedhof spannt sich zwischen zwei Gleisbetten auf, von denen das hintere nach Norden, Taschkent führt. Es sind alte, muslimische Gräber und in wenig Entfernung ragen angedeutete Ruinen empor – doch ich halte Schritt mit der Frau und mir bleibt wenig Zeit, Ursprung oder Bedeutung zu erfassen. Hinter dem Tal zeigt die Frau in eine Richtung, ich folge ihrem Blick und sie gibt mir eine usbekische Wegbeschreibung. Nach rechts, soviel verstehe ich und sie verlässt mich. „Danke“ kann ich noch sagen, so weit reichen meine mickrigen Kenntnisse. Ich spaziere also geradeaus in das nächste Wohnviertel, biege gleich rechts ab und tatsächlich – linker Hand deutet sich durch eine verwilderte Mauer und eine von Bäumen halb verdeckte Kuppel eine Backsteinwand an. Dem erdigen Pfad folgend, gelange ich der Mauer entlang zu einer schmalen Öffnung und so auf das Gelände von Sultan Saodat. Der vor mir liegende Teil ist der älteste, aus dem 10. oder 11. Jahrhundert. Eine asphaltierte Straße umgibt den Komplex, wie der Versuch alle Sehenswürdigkeiten in die Infrastruktur zu integrieren. Bei meinem Gang die Längsseite entlang bemerke ich in einiger Entfernung zwei Männer, die dort werkeln und miteinander reden. Ein schmuckes Gebäude, das Alter sieht man ihm kaum an – vielleicht sind sogar UNESCO-Gelder geflossen bei der Restaurierung. Innen steht eine Tafel, aber ich erinnere mich nur, dass dort der große Beitrag Islom Karimovs gewürdigt wurde. Und dass der englische Text übersäht mit orthografischen Fehlern war. Von der Stirnseite, dem eigentlichen Eingang, sieht man auf einen prächtigen Ayvon, der als intelligente Verknüpfung der beiden ältesten, fast baugleichen Gebäude, einem Mausoleum und einer Moschee, gebaut wurde. Zum Betrachter hin strecken sich im Anschluss zwei breitschultrige Mausoleen aus späteren Jahrhunderten. Das Ensemble strahlt eine beeindruckende Einheitlichkeit aus, obwohl es durch fünf Jahrhundert hindurch entstand – die älteren beiden sind dabei zwei der wenigen Zeugnisse, die Dschingis Chan von der vormongolischen Zeit gelassen hat. Termiz hat ihn wahrscheinlich nicht interessiert. Das alte Mausoleum viel geachteter Nachfahren Mohammeds liegt unter einer 17 Meter hohen Kuppel aus Backsteinen, die sich eindrucksvoll erhebt. Der Raum misst vielleicht zehn mal zehn Meter und ist voll gestellt mit Gräbern der engsten Verwandten. Wie in der nebenliegenden, etwas später entstandenen Moschee muss man hier seine Schuhe ausziehen; der kalte Boden ist mit Teppichen bedeckt. Ehrfürchtig stehe ich in dem hohen Raum und nebenan, in der Moschee, lasse ich mich vor dem Tuch an der Wand auf die Knie fallen und genieße den Blick an die Decke – eine solche Kuppel, aus dem 11. Jahrhundert! Ich bin aber nicht allein. Schon als ich erst halb um das Ensemble herum gelaufen war, kam mir ein alter Herr, Goldzahn, auf einem Fahrrad langsam entdecken und machte Halt. Er erzählte mir ein wenig auf Russisch, nachdem ich die üblichen Fragen beantwortet hatte, und wir setzten uns unter den Ayvon – eine dafür vorgesehene Stufe ist ebenfalls mit Teppichen ausgelegt. Wie so typisch, trägt er Pantoffeln über dicken Socken, eine große, runde Fellmütze und einen Mantel, der immer an Schlafrock erinnert. Kaum haben wir das Mausoleum, den ältesten Part, besichtigt, macht er mich auf eine Gestalt am Tor aufmerksam. Das war unser Deutschlehrer, und tatsächlich – als der ebenfalls gebrechliche Mann mit einer Heugabel über dem krummen Rücken angeschlichen kommt und der andere ihm von mir erzählt, so macht sich eine unbändige Freude auf seinem Gesicht breit. Im folgenden Gespräch umarmt er mich mehrmals und redet, redet, redet… Es gefällt mir, er spricht von sich und Deutschland und ganz ungezwungen sitze ich dabei auf den Stufen eines tausendjährigen Gebäudes, gebe einfache Antworten und genieße die angenehme Kälte. Dieser Mann – seinen Namen habe ich leider vergessen – hatte zerfledderte Turnschuhe an und ebenfalls diesen Schlafrock oder Bademantel. Er war in Leipzig, damals, 1979, für einige Monate und erzählt überglücklich, so viele Bücher habe er sich damals gekauft… Dass es eine Frühjahrs- und eine Herbstmesse gab – er spricht von Generalsekretär Honecker und vielem mehr. Ich genoss es, seinen meist sporadisch vorgetragenen Erinnerungen zu folgen, denen er versuchte die richtigen Worte zu geben – seit 15 Jahren arbeit er nicht mehr. Immerhin – auf dem Deutschlehrertag 2015 habe ich aktive Lehrer kennen gelernt, die viel weniger gut sprachen als er. Irgendwann ist selbst an diesem heiligen, ehrlich heiteren Ort die Zeit zu gehen – dem Mann wird kalt vor lauter Sitzen; da stehen wir auf. Einen kurzen Blick werfe ich noch in die jüngeren Mausoleen, doch entdecke nichts von akutem Interesse. Der Fahrradfahrer fährt kommentarlos wieder von dannen, der Deutschlehrer will mich an die Straße begleiten und mit mir auf ein Auto warten, dass mich weiter bringt. Auf dem gemächlichen Gang – seine Knie seien nicht mehr so gut, sagt er mit zittriger Stimme – merke ich, wie alt er aussieht. Wie er die Heugabel über die Schulter nimmt und seine Schritte setzt, wie er spricht und seine halbtauben Ohren. Er müsse arbeiten, sagt er, Der Mensch muss arbeiten, sonst wird er unglücklich. Überhaupt spricht er so manche lächelnd gesagte Lebensweisheit, die von einem einfachen, bäuerlichen Leben hier am Rande der Existenz, also am Rand der Welt, künden, das in seinen Zügen nicht weniger gerechtfertigt erscheint wie das des vergeistigten Anthropologen, der in seinem Turmzimmer auf die ganz großen Antworten horcht. Eine Weile sitzen wir da, in halbem Schweigen, auf dem Bordstein vor dem Gelände. Ein alter Friedhof umgebe das Ensemble, niemand wisse, wie viele dort begraben lägen – in fünf, sechs, sieben Lagen übereinander, hatte er mir vorher erzählt. Doch außer zwei Frauen in Schlappen, die einen Wagen mit einem großen Bündel Schafsfell vorbeischaffen, kommt niemand des Weges. Es ist Zeit, und ich gehe, reiche ihm die Hand zum Abschied – er schreibt mir noch einen Zettel, in dem er den Gegenüber bittet, mir die Richtung zu Kokildor-Ota und Kyrk-Kyz, meinen beiden anderen Zielen, zu zeigen – auf Usbekisch, damit ich ihn den Leuten vorhalten kann. Ich kehre mich um und verlasse den alten Mann, der nun zu seiner Arbeit schleicht – er ist erst 70.

Durch Wohnviertel gelange ich in eine gänzlich orientierungslose Situation und meine Erinnerung an frühere Wegbeschreibungen der beiden Männer hört auf. Eine Familie, die am Rand steht und mir zuguckt, frage ich spontan, auf Russisch, um Hilfe und der Vater befiehlt einem seiner Söhne, mich zu geleiten. Noch misstrauisch, er wolle Geld, von der geheuchelten Freundlichkeit Bucharas gestochen, zeigt er mir die ehemalig Herberge Kokildor-ota – Backstein, schmucklos, allein die Formen sind interessant und man kann das Dach besteigen. Ein fruchtloser Ausblick über Felder, Heime, Bäume in leichtem Nebel spannt sich auf. Dort liege die Festung Kyrk-Kyz, doch ich sehe nichts, auch nachdem ich den Baum anvisiere, den er meint. Ein Stück begleitet er mich den Asphalt entlang, grüßt hier und dort nach links und rechts, bis wir vor einem Ackerweg stehen – einer Art Deich zwischen Gärten und Häusern. Hier entlang und wenn ich die Festung sehe, dann nach rechts. Klingt einfach, ist es auch. Er will natürlich kein Geld, ich bedanke mich überschwänglich und erneut bin ich über die Hilfe froh. Die Festung ist auch von der Straße aus erreichbar, aber das weiß ich noch nicht und dies ist der kürzere Weg. Diesen Trampelpfad laufe ich entlang, mal im Schlamm, mal auf Gräsern, wo selbst die Kühe mich blöd anschauen und ich aus pflichtbewusster Höflichkeit jedem ein „Assalomaleikum“ schenke, bis sich zwischen all den maroden Häuschen und Gärten auf der rechten Seite ein Lehmbau zeigt. Nicht so festlich wie Sultan Saodat, nicht restauriert wie Fayaztepe, eingesunken liegt es da, wie ein Schiff mit zerfressenen Segeln auf Grund, wo einst Wasser war. Der Pfad, der mich rechtsum führt, läuft geradewegs auf ein Haus zu, ist keineswegs Eingang zur Festung; eine Frau und zwei Kinder begegnen mir, sie hält eine alte Nähmaschine – eine wirklich alte – und der Junge ein Holzspielzeug. Als ich mich dem weißen Häuslein nähere, das zwischen einem Zaun noch Platz lässt, die Anlage zu betreten, grüßt mich ein Mann aus dem weißen Häuslein, tritt heraus und, nach den üblichen Fragen, lädt mich zum Essen ein. So anders als das zähneklammernde Buchara, das Geld will – hier hilft man mir gerne, doch ich muss absagen. Nein, leider habe ich keine Lust auf Essen, ich werde von einer wahnsinnigen Lust gepackt, diese Ruine zu besteigen und mich in ihr zu verlieren…

Kyrk-Kyz erscheint wie eine Märchenfestung – vom Zahn der Zeit zernagt, freilich, von zwei Stockwerken auf eines bis anderthalb eingesunken und der Lehm liegt anspruchslos in der Gegend herum. Kaum den ersten Erdhügel erklommen, von einem der vier Tore direkt hinauf, mit umfassendem Blick auf den zentralen Hof, da sehe ich einen alten Mann unter den Gängen hervor gehen, der mich, als er sich umdreht und mich entdeckt, auf Englisch grüßt. Als ich die Antwort auf Russisch gebe, fragt er, ach, Sie sprechen Russisch… Ich hätte den Ort lieber für mich alleine, die sandfarbenen Wellen des Lehms, der hier Jahrhunderte liegt, wenig aufgeräumt, noch nicht restauriert – nur ein kleines Metallschild an jener der Straße zugewandten Seite kündet davon, dass dies ein kulturell begehrtes Objekt ist. „Kyrk kyz“ steht dort, und der russische Name. Dennoch zwingt mich die Freundlichkeit dazu, auf den Mann zuzugehen, den Schuttberg wieder herunter – was sich darunter wohl verbergen mag? – und die üblichen Fragen, ich gebe die üblichen Antworten. Er heißt Vasiliy, ist Russe, und meine anfängliche Hoffnung, ich könnte warten, bis er wieder weg ist, verfliegt, als er mich gastfreundlich einlädt mich umzuschauen. Ein alter Museumswärter? Nein, er hat bei der Eisenbahn gearbeitet, das verrät seine staubige Jacke. Ein bisschen seltsam sieht er aus, einige Zähne fehlen ihm, seine Socken stecken in Sandalen und besonders sauber scheint er nicht zu sein. Es hat mir neulich einer gesagt: Daran erkennst du die armen Leute, wenn sie im Winter Schlappen tragen. Es sind viele hier draußen. Er hat aber ein Haus in der Nähe und nun nicht mehr viel zu tun. Bedächtig führt er mich durch einen beeindruckenden, schmalen Gang zu einem der ehemaligen Zimmer, abgeschieden von den anderen und durch den Schutt der Zeit nun nicht besonders groß. In ihm – besser gesagt, vom zweiten Stockwerk herab – hängt ein Baum, der trist seine Äste auf dem Boden hängen lässt – kein Wunder, denn an ihnen sind zahllose schmutzige, alte Lappen und Tücher gebunden, die ihn herab ziehen. Dies sei ein besonderer Baum, fängt Vasiliy an zu erzählen. Diese Pflanze blühe zweimal im Jahr, meint er – im Herbst und im Frühling. Zweimal pro Jahr treibe er Knospen, bringe Früche – welcher Art, das vermag ich nicht zu verstehen. Während der Sowjetzeit hätte man ihn zweimal versucht zu fällen, doch er sei immer wieder nachgewachsen, und mehrere Brände habe er überstanden. Von vielen Leuten wird dieser Baum als eine Verbindung zu Gott – Allah, Krishna, egal, es gibt nur einen Gott, sagt er – bewundert. Sie kommen mit ihren Problemen hierher, binden ihr Tuch an einen der Äste und beten um Hilfe. Auch Vasiliy hat Probleme: Schmerzen hier und da, man ist ja nicht mehr der jüngste und irgendwann muss jeder sterben. Tag und Nacht komme er hierher, wann immer es ihn rufe. Für ihn ist das ein heiliger Ort – im Winter warm, im Sommer kühl, ein Hort der Geborgenheit unter freiem Himmel, aus dem es selten nur regnet. Und er erzählt mir zwei Legenden, die sich um die Festung ranken. Einst soll sie eine Mädchenschule oder ein Kloster gewesen sein, in dem vierzig Jungfrauen – kyrk kyz auf Usbekisch – gewohnt und gearbeitet haben. Die erste Geschichte ist die historisch anzunehmende, erklärt er, wonach die Jungfrauen durch einen Tunnel an dieser – er zeigt auf einen Lehmhügel – Stelle fliehen mussten, als feindliche Truppen die Festung erreichten. Die Existenz eines solchen Tunnels, der damals von hier nach Alt-Termiz geführt haben soll, sei belegt. Als zweites spielt eine Volkssage hier – eine der Jungfrauen habe sich draußen bei der Arbeit in einen jungen Bauern verliebt. Doch Männer durften die Anlage nicht betreten, weshalb die beiden sich etwas ausdachten: Jene Jungfrau sollte am Tag bei ihren Gefährtinnen bleiben, doch abends ausgehen, um vom als Frau verkleideten Bruder des Geliebten heimlich ersetzt zu werden. Einige Nächte verbrachten die beiden auf diese Weise, bis die anderen Jungfrauen Verdacht schöpften und den Bruder entdeckten – in einer Weise, die ich nicht verstand, nein, nur, dass es an seinem Haar gelegen hätte; er habe kein Frauenhaar gehabt. Im Anschluss an diesen Skandal seien die 39 Jungfrauen verschwunden und niemand hätte sie je mehr gesehen. Faszinierend, wie er erzählt. Ich bin nicht der erste, dem er hier begegnet, andere Touristen hat er begleitet, einmal einer beinschwachen Dame eine sporadische Treppe in einen der Lehmhügel gehauen, der bis zum oberen Rand der Mauer führt – hier stand, wie an den anderen drei Ecken, ein Turm. Die Mauer ist tatsächlich bis oben erhalten geblieben, auf dem breiten Sims kann man spazieren. Aber vorsichtig, alte Gebäude sind gefährlich, mahnt Vasiliy. Er wohnt seit über 40 Jahren hier, als die Frau ihn aus seiner Heimat Russland – ich weiß nicht mehr, war es Twer oder Kasan – an ihren Geburtsort geführt hatte. Nun ist die Frau tot, eines der Kinder lebt in den USA, zwei in Russland, wo auch der Rest der Familie bleibt. Er erzählt viel, doch weil inzwischen einige Zeit vergangen ist, kann ich mich an leider wenig erinnern. Am Ende ist er sehr froh, dass wieder einmal jemand kam, ihm zuzuhören, was er alles zu erzählen hat – über die Festung, das Leben hier und sonst… Er schenkt mir ein Kuriosum, das ich aus Rücksicht auf ihn nicht verraten werde, es war ihm sehr heilig – unter den Ästen jenes tuchgeknüpften Baumes hatte er es in der Erde vergraben, sorgfältig mit Laub bedeckt und darauf bedacht, beim Ausgraben keine fremden Augen zu gewähren – einen Teil schenkte er mir und sagt, es sei gut gegen Schmerzen. Ich kann ihn nicht davon überzeugen, es zu behalten, er ist glücklich und führt mich noch an die Straße. Als letztes fällt ihm mit dem Ausdruck unwahrscheinlicher Möglichkeiten ein: Sagt: Trinkt ihr? Nicht am Tage, nicht jetzt. Tja, dann… Ich werde ins Geschäft gehen und… ein bisschen trinken. Ihr habt nichts dagegen? Nein, habe ich nicht, und lasse diesen kuriosen alten Mann hinter mir, während ich auf die Straße gehe und auf die Marschrutka warte. Wer weiß, wie lange er noch hier bleiben kann. Zweimal bereits war die UNESCO hier, sie hätten Fotos gemacht. Laut seinen Aussagen sei bereits ab Januar eine Renovierung des Komplexes geplant – dann wäre ich einer der letzten, die Kyrk kyz im „ursprünglichen“ Zustand gesehen hätten und vermutlich wird es auch den Baum mit den Tüchern bald nicht mehr geben – falls die Restaurierung stattfindet. Ganz zu schweigen davon, dass der ideelle Wert dieses Kuriosums in meinen Händen um ein Vielfaches steigen würde. Der arme alte Mann – ich wünsche ihm, in seinen ehrfürchtigen Hallen sterben zu können. Eine ehrliche Haut und ein echter Mensch – der aus den Ruinen, die seit über 1000 Jahren unangetastet stehen, kein Freilichtmuseum macht, sondern lebendige Historie aus ihnen schöpft. Nun, ich werde die Geschichte von Kyrk kyz verfolgen. Vielleicht hat der Baum doch noch eine Chance – wenn er denn wirklich so widerstandsfähig ist.

Am Abend desselben Tages gehe ich mit dem Studenten in einem ganz ordentlichen Restaurant essen – das „Shymkentskoe“ Bier, kasasisch, schmeckt ziemlich gut. Merkwürdigerweise hat er mich am Ende anstandslos alles bezahlen lassen, ohne nur Geld anzubieten. Vielleicht hat er mein Angebot missverstanden, ich wolle ihm das Bier bezahlen… Sein Deutsch ist wirklich mäßig, aber was beschwere ich mich. Russistikstudenten in Deutschland haben im vierten Semester auch kein B2-Niveau. Hier sind die Schüler wenigstens mit Leib und Seele dabei – der Professor hat mir erzählt, sie wollten einen Robert-Bosch-Lektor für ihre Stadt gewinnen. Man ringt um Anerkennung, ringt um Außenwirkung. Die Lektorin, die seit September in Fergana tätig ist, meinte, ihre Universität, besonders die Fakultät natürlich, habe seitdem stark an Ansehen gewonnen. Nun, meinetwegen können sie in Termiz einen haben, schlimmer als Fergana ist die Stadt sicher nicht – zumal es diese wirklich großen alten Bauwerke gibt, die man sich von Zeit zu Zeit angucken könnte. Es dürfte dann aber kein Bartträger sein, lieber nicht. Als Ausländer wird man hier permanent angestarrt, selbst im Dunkeln, als Bartträger ich vermutlich einmal mehr. Es ist auch nicht die sicherste Stadt, am letzten Tag warnte mich einer, nach 21 Uhr auf die Straße zu gehen – wegen den „Narkomani“, den Drogenabhängigen. Ehrlich gesagt, die Miliz schreckt mich mehr. Die Polizeipräsenz ist mindestens so hoch wie in Taschkent. Am ersten Abend, auf der Suche nach einem Ort zum Essen – das ursprünglich auserkorene Restaurant war privat vermietet – griff mich ein Polizist auf, der mich dumm herum stehen sah und nahm mich keine zwanzig Meter auf seine Wache mit. Intensivst, über Minuten, studierte er dann meinen Pass, meine beiden usbekischen Visa, sowie alle Stempel und meine Bahnfahrkarte. Als ich bemerkte, die sei für übermorgen, wiederholte er gedehnt: Übermorgen? Da habe ich sozusagen noch viel Zeit etwas anzustellen. Nun, vielleicht fand er meinen Pass überzeugend, vielleicht wurde es ihm selbst zu viel und ich, brav und still am Warten, bekam meine Dokumente zurück, durfte gehen. Auch hier habe ich den kulturweit-Freiwilligenausweis als Trumpf versucht, doch leider hielt den Beamten das nicht vom minutenlangen Studieren ab. Im Anschluss habe ich für 6000 Sum (ein Euro) dekadent Somsa satt mit Tomatensauce gegessen, dazu eine Kanne Tee und einen Wodka. Nach der Menge Somsa empfehlenswert. Ein richtiges Festmahl also an Heiligabend, aber ich machte mir nichts daraus. Die Frau, die mich in ihre kleine Gaststube gelockt hatte, braucht das Geld und ich bin in Gedanken bei all denen, die sonst bedürftig sind. Allein in Termiz sind es nicht wenige, auch wenn – Gott sei dank! – die wenigsten von ihnen Souvenirverkäufer sind.

Wieder jene Menschen in bunter Kleidung mit Kindern, die ich in Osch Zigeuner genannt hatte. Ich gab zwei Kindern etwas und musste fliehen, den dreißig anderen Händen entfliehend, die sich sofort nach mir ausstreckten. Das war am Samstag, als ich eigentlich auf der Suche nach dem Ethnologiemuseum war, von welchem der Reiseführer spricht. Nach jener Nacht, in der wieder ein Erdbeben in Pakistan oder Afghanistan gerüttelt, mein Bett geschüttelt hat, sodass ich aufwachte, schlaftrunken eher an meiner Wahrnehmung zweifelte und am nächsten Tag erst fand, dass es ein stärkeres Beben war. Das Museum suche ich jedenfalls vergeblich. Drei befragte Bürger geben drei verschiedene Antworten, von denen mich keine überzeugt. Ich finde nichts und auch Straßennamen finde ich keine, geschweige denn Hausnummern. Nach den vielen leeren Händen beschließe ich, mich in meinen Bunker, ins Hotel, zurückzuziehen und nicht mehr wiederzukommen. Die Alternative wäre der Zoo gewesen, von welchen aus man – wieder laut Reiseführer – einen guten Blick auf Afghanistan hätte. Nun entscheide ich mich, dass ich keinen Blick auf Afghanistan brauche. Der Zoo liegt weit entfernt und wer weiß, ob er winters geöffnet hat. Der Fall der Museen in Termiz hat mich genug ernüchtert und so lese ich in meinem gemütlichen Sessel Heinrich Heines „Über die Religion und Philosophie in Deutschland“, was eigentlich „…nach Luther“ heißt und hoch spannend ist. Darüber wird es natürlicherweise später und irgendwann heißt es, Abschied nehmen. Ich merke, dass ich erschöpft bin, mehr als ich es mir zugestehen wollte, als ich noch Pläne für den Tag hatte – das einzige, was geblieben ist: ein Besuch des quirligen Basars. Auch das Essen stelle ich hintan; was habe ich hier noch zu suchen? Ein Fast-Food-Restaurant, das ich mit dem Studenten zwei Tage zuvor besucht hatte, bietet sich an, liegt auf dem Weg und hatte frisches Fleisch – ein letzter Happen vor der Zugfahrt, auf der ein halbes Lepjoschka und ein Liter Wasser reichen müssen. Die Brote hier in Termiz in Surxandaryo, sie schmecken wie italienisches Ciabatta. Seltsam, wo sie doch so anders aussehen.

Es ist schon vertraut, Reisen, verschiedene Orte und Wege. Den langen Bahnsteig entlang, Wagen für Wagen, noch einmal Passkontrolle und rein in das vertraute Braun des Holzes, das innen dunkel vorherrscht und so sehr an alte Fotos erinnert. Der Duft wie in den Ferienhäusern Dänemarks und die roten Betten, alles von vergangener Zeit. Wir sind nur zu zweit in dem Abteil, nicht unangenehm – mir gegenüber sitzt eine Russin aus Taschkent, deren Klienten – welcher Art auch immer – sie nach Termiz geladen hatten. Ihre Tochter studiert in München auf Englisch – beeindruckend, immer wieder die Parallelen, die in die Heimat führen. Als wir anfahren, kommt ein Mann aus dem Nebenabteil zu uns, hört, dass ich deutsch bin und setzt sich – wie so viele andere hat er gegen Ende der DDR noch dort gedient. Es sind sicher schon fünf bis sechs Leute, die mir davon erzählt haben und er erinnert sich stolz an Weimar, Leipzig, Dresden – selbst war er in Naumburg stationiert. Unser Gespräch zu dritt spannt sich auf, nachdem wir über meine Familie reden, Deutschland und die Teilung, dann geht es an die Ukraine – Krim. Beide patriotische Russen halten dafür, dass sie russisch ist, war und bleibt. Uneinigkeit herrscht trotzdem. Die Frau meint, die Ostukraine gehöre ebenfalls zu Russland und der Mann schränkt ein, dass sie zwar unlogischerweise zur Ukraine gehöre, aber eben nun deren Staatsgebiet sei – eine Zankerei, die ich nicht verstehe, ich bin ja auch Deutscher. Zuhören fällt mir sowieso leichter als Reden. Da ist noch ein gewaltiger Knoten in meinem Mund, den ich weder schlucken noch ausspeien kann. Der muss gelöst werden – wenn ich an die Arbeit denke und an das Opfer, welches gebracht werden will: das Lettische, am Fenster stehend und goodbye winkend. Am Ende, es ist bereits stockfinster draußen, gibt er – Literaturprofessor in Termiz – mir noch den Ratschlag, ich solle Tschechow lesen, seine Prosa, wenn ich die Sprache begreifen will. Bloß keine Presseartikel, die seien bloß Schrott, aber wenn ich dann fortgeschritten sei, könne ich mit „Schuld und Sühne“ weitermachen. Das stand auch im Regal in Ulan-Bator – ich aber habe mich anders entschieden… Die Nacht, die folgt, ist lang. Statt vor Hitze wälze ich mich nun vor Kälte, bis 22 Uhr wird auch Musik gespielt – Blechdosenmusik aus Blechdosenlautsprechern. Dann nehme ich mir die Decke, auf die ich erst verzichtet habe, stülpe meine Socken über die Hose, stecke mein T-Shirt unter den Bund und schlafe so sehr geruhsam, warm, mit wenigen Störungen bis zum Morgen.

Auch wenn dann alles sehr schnell geht, ich in der Wohnung bin, auspacke, einkaufen gehe, esse, schreibe – ich bleibe in einem wabernden Zustand, kaum Konzentration, auch keine Müdigkeit. Heines Schrift, die ich in Termiz unbeendet lassen musste, geht jetzt nicht. Ebenso wenig hilft der italienische Espresso, den ich mir mache oder etwas zu essen. Wie bei der letzten Reise schon kann ich mir ebenso wenig vorstellen, dort gewesen zu sein, als ich mir vorher vorstellen konnte, jemals dorthin zu kommen.

Zwei sehr gefüllte, erfüllende, erschöpfende Monate gehen vorbei. Fünfundvierzig Tage, in denen ich von Ulan-Bator bis nach Urgench, von Termiz nach Bischkek gereist bin, und zwischendurch in Buchara, Osch, Chiwa und Taschkent war, hin und her – alles in allem über zehntausend Kilometer, von denen ich immerhin dreitausend auf der Erde zurückgelegt habe. Eine Wahnsinnsstrecke, Wahnsinnsmonate – kein Wunder, dass ich müde bin. Obwohl – müde war ich auch vorher. Natürlich – es ist immer gut, zu Hause anzukommen, auch wenn es als Zuhause selbst nur temporär ist. Hier wenigstens ist es ruhig, hier wenigstens weiß ich, was und wohin, habe Alltag und Sozietät, hier wenigstens kann ich morgens aufwachen ohne mich zu Aktivität zu treiben und zu Bett gehen, ohne den Tag zu verfolgen.

 

Termiz

Nicht ganz so spektakulär, aber dennoch spannend ist Termiz, die südlichste Stadt Usbekistans an der Grenze zu Afghanistan. Hier überquerten Alexander der Große 327 v. Chr. und die Russen 1979 n. Chr. den Oxus bzw. Amudaryo.

Buxoro

Buchara ist vielen Westlern ein Begriff, welcher eng mit der Seidenstraße verbunden ist. Tatsächlich blieb es jahrhundertelang ein wichtiges Handelszentrum, dessen so sehr wohlhabende Vergangenheit in der Altstadt noch immer präsent ist.

Urgench, Chiwa

Ja, ich war in Urgench, aber ich habe kaum Fotos von der Stadt. Wer meinen Eintrag über die Woche („Zwei Masken“) liest, weiß warum. Ja, ich war in Xiva und hier gibt es einige Fotos.

 

Weg durch die Freiheit

Hinter mir ein Meer. Ich weiß nicht, was und wie es spült, doch solche Kraft, Entkräftung, wie von einem Sturm und sehe nur ein Loch, paar Tage weg, paar Tage anders, aber viel, viel mehr und lässt mich sprachlos stehen. Es ist deswegen, dass ich erst heute schreibe, dass die Woche zäh verfloss, das Leben warten musste, eh es weitergehen konnte. Es ruckte, kratzte, müde, schwer, und fließt nun wieder, wie der Strom in meinem Kopf, zu dem in voller Kongruenz es, das Leben, wieder steht. Ich bin ruhebedürftig wie ein kleines Kind, der Tag strengt mich an und die Nacht gibt mir Frieden. So verstrich die Woche langsam, ruhig – ich musste mir selbst Zeit geben, all das zu verarbeiten, was passiert ist, obwohl es nur das Leben ist, das passiert – kein Sturmunglück, Todesfall, nicht einmal Liebe. Einfach das Leben, wie es sich um mich spinnt und mich umgarnt, wie ich mich von ihm heben und fallen lasse, seicht, und wie ich ihm begegne, strengt mich an. Es gibt nur eine Geschichte, aber ich habe sie aufgeteilt. Im ersten wird der Zug der Meilen von Taschkent am Morgen bis Bischkek am Abend ziehen und ich habe zugeschaut, gierig auf die Bilder, und Bilder habe ich gesammelt. Im zweiten Teil wird die mehr prosaische Reise in die Mongolei nachgezogen werden, um am Ende wieder dort zu landen, wo es morgens begann: in Taschkent. Ich hatte tatsächlich den Eindruck, kurz, diese Reise war wertvoll und verglich es mit Paris. Paris war eine Stadt, eine richtige, große, bunte, herrliche, in die hinein ich mich mit Kopf und Fuß zu geben versucht habe – den ganzen Tag gelaufen, gesehen, wollte überwältigt werden und habe mich jedes Mal an den Rand der Erschöpfung getrieben, nur um am nächsten Tag noch länger zu laufen. Ulan-Bator war wie ein Besuch, ich kam, sah und ging. Kein Durchdringen der Stadt, ihrer Grenzen und Mauern und Täler, keine stundenlangen Spaziergänge und trotzdem: Unterhaltungen, das raue Klima, graue Luft, die kurzen Nächte – wie ein Phantom jagt es mich noch, und in fünf Jahren vielleicht erinnere ich mich wenig an Paris, noch weniger an Ulan-Bator, aber diese zehn Tage werden trotzdem da sein, hinterlassen trotzdem ihre Spuren. Schönheit? Vielleicht, oder die Katharsis nach harten Tagen, ich lasse mich ja gerne besonders beuteln und genieße den Eindruck, den es auf mich macht. Geistiger Masochismus, wenn man so will.

 

Der unbegrenzte Lauf

Es fing an, Mittwochmorgen, um halb Fünf – der Wecker klingelt und es ist derselbe Ton wie immer: „Sunday Morning“ vom Velvet Underground. Eine Stunde später stehe ich auf der Straße, den Rucksack vollgepackt auf dem Rücken, den Mantel mit je einer Tasche an Bauch, Gürtel und über der Schulter. In der Hand halte ich meine Halldór-Laxness-Tüte, „Nobelpreis für Literatur“ – dankbar, sie überhaupt mitgenommen zu haben, die zuhause maximal für den Transport von zwei Litern Bier gebraucht wurde. Hier ist sie am rechten Fleck, diese halb Stoff-, halb Plastiktüte, gemacht für 12 Bücher, einige tausend Seiten Papier, oder eben zwei Liter Bier. Als ich auf die andere Straßenseite wechsle, fährt ein Taxi vorbei – für einen angemessenen Preis geht es runter, die Straßen, die Viertel, nach Quylik. Farg’ona Road, nur weil es so schön klingt, und im Dunkeln, kurz vorm Dämmern, sieht alles gleich viel größer aus. Die riesigen Wege sind leerer und man fühlt sich weit weg, ganz fern, Imagination irgendwo mit wenig Menschen – das ändert sich, als wir auf der Brücke wenden und abfahren, am Basar vorbei und in Richtung der Ferntaxis – Sammeltaxis, die warten, bis ihre vier Sitze voll sind und dann losfahren. Der Wagen sucht seinen Weg durch die bevölkerten Straßen, surreal beleuchtet von der hebenden Dämmerung, Lichtflecke in den Augen, die Lampen und Laternen; die zögerliche Decke des Blau, die ihnen noch Schutz gibt, die sich hier tummeln – Bettler, Händler – der Basar ist geschlossen und trotzdem strömen Menschen umher, von der Ferne sah ich sie unter den Kuppeln, als wir über die Brücke rollten – es ist ein Tag wie jeder andere und sie bereiten sich vor, noch eine Stunde und der neue Tag beginnt. Eine neue Erdumdrehung für die armen Seelen, die zwölf Stunden schuften und abends keine Ruhe haben, hinter den Tischen stehen und mit zittrigen Händen, runzligen Gesichtern dem Treiben zusehen, wie alles an ihnen vorbei geht und sie, vom Leben stehen gelassen, können mehr nichts tun als beten für ihre Kinder. Quylik am Morgen, Bilder für die Kamera, eine Geschäftigkeit, eine selbständige Lebendigkeit, Arbeit und Leben pur, ich fühle mich in amerikanische Filme versetzt, über Hafenarbeiter – „Die Faust im Nacken“ könnte auch hier spielen. Nicht im Stile eines „Accattone“, aber Arbeit, das Proletariat im postmodernen Konflikt zwischen Sein und Diener der Zustände.

Als der Fahrer hält, noch fünfzig Meter von der Menschenmenge entfernt, rennen schon Leute auf mich zu, das gelbe Schild, ihre Chance erkennend; die Tür wird aufgerissen – Wohin? Fergana? Namangan? Andijan? Mit einem ruppigen Laut der Empörung ziehe ich die Tür wieder zu – ich bin gewappnet gewesen, schon einmal dort, um die Lage zu sichten und kenne den stürmischen Empfang. Ich bezahle den Fahrer, steige ruhig aus und nehme so schnell wie möglich meinen Rucksack von der Rückbank, bleibe cool und laufe ein Stück in die richtige Richtung, mir etwas Abstand von der reißenden Menge zu verschaffen. Ruhe. Ja, Andijan – sofort beginnen die Schreie um die Preise – Achtzigtausend will er, das ist zu viel; ich sage Vierzig und einer hält mir ein Handy hin: 50000. Fünfzig und du sitzt vorne – ich nicke diesem zu, er nimmt mich am Arm und holt mich aus der Menge. Ein anderer will meine Tasche nehmen, mich noch als Fahrgast gewinnen, doch mein Bodyguard weist ihn schroff ab. Ich vergewissere mich des Preises, der ist nicht schlecht – für Ausländer – und werde über den weiten, menschenleeren Parkplatz geführt – zugeparkt mit Autos, vornehmlich weiß. Ein dunkelhäutiger Andijaner, eine Frau mit Goldzahn sitzen bereits, wenig später kommt derselbe Typ mit einer Frau und zwei Kindern an – alle müssen auf der Rückbank Platz nehmen, Kinder bekommen keinen extra Platz. Der Fahrer ist ein anderer, sie teilen sich die Arbeit, bzw. als Werber verdient man sich seinen Anteil. Es geht los und ich wundere mich, dass alles so einfach ging, übermutig fast schon und irgendwie in Stein; eine lange Reise vor mir.

Eine Zeit lang fahren wir gen Osten und die Sonne geht rot an den Bergen auf – ein Schlieren Orange, das wie ein Seidentuch über den Bergkuppen hängt, die schwere Wolkendecke hält. Unser Fahrer ist rasant unterwegs, wir passieren leere, geschlossene Tankstellen vor Bergpanoramen, pittoreske Szenen vor Strommästen auf Feldern, einsame Bauernhäuser, Frauen, die verlassen mit ausgestrecktem Finger in die Stadt wollen und Landvillen, während die Berge immer deutlicher, ihre Ketten und Risse immer genauer werden. Ein Dorf beeindruckt mich – so wie wir es durchfahren, wirkt es seltsam fremd – eine kanadische Ortschaft am Fuß der Rocky Mountains… Wie soll ich die Schönheit beschreiben? Wieder kommt mir das Gefühl der USA, auf den breiten Highways und links und rechts Leere, irgendwo Berge und ein riesiges, weites Land, in dem der Gedanke an Freiheit bedrängt. Stoßende Kraftwerke, Rauchwolken und Schlote wie Tschernobyl; Erdhügel wie aus Sci-Fi-Filmen – Tarkowskij wollte „Stalker“ in Tadschikistan drehen – und wir sind in den Bergen – nun, es dauert, aber bald kommt der Pass und das Tal – wir durchqueren die Ausläufer des Tian-Shan, das ich auf der nächsten Fahrt umso deutlicher kennen lernen sollte. Die Straße sucht sich den Weg durch die Berge in den zerklüfteten, roten Felsen und führt schließlich – nach großschrittig durchquerten ersten Stunden – zu jenem Kontrollpunkt, der im nächsten James-Bond-Film den Ort der Eröffnungsschießerei abgeben könnte – wenn nicht auf dem Gebiet des Passes, die Straße durch die Berge bis ins Tal, Fotografierverbot herrschte. Militärische Bedeutsamkeit; die beiden Tunnel sind mit je vier Soldaten besetzt. Maschinengewehrumschnürte Soldaten. Hier, in der Einsamkeit der roten Hügel, muss sich jeder Ausländer registrieren lassen, der das Ferganatal betritt. In den Reiseempfehlungen des Auswärtigen Amtes heißt es: „Bei Reisen ins Ferghanatal ist erhöhte Vorsicht angeraten, von Reisen in das Grenzgebiet mit Ausnahme der offiziellen Grenzübergänge wird abgeraten.“ Unheimlich, der Ort lässt der Phantasie freien Raum – hier, danach sieht es aus, kommen Leute abhanden. Alles ruhig, umfassende Stille, nur der graue Himmel und die Berge an beiden Seiten eines schmalen Flusslaufes… Der Prozess der Registrierung geht schnell vonstatten. Das Taxi wartet auf der anderen Seite auf mich, laufenden Motors. Ich bin froh, wieder drinnen zu sitzen, man hat ja sonst was für Vorstellungen – niemand in Sicht, der einem helfen könnte, man ganz allein und grimmigen, russisch nuschelnden Polizisten gegenüber. Die Taxifahrer sind freundlich, so gut es geht, fotografieren darf ich trotzdem nicht. Was macht es, wenn niemand hinschaut, der Fahrer wird nervös. Sie haben Angst, das lernt man sehr schnell – man will keinen Ärger, nicht mit dem Staat.

Irgendwann beginnt eine lange Baustelle; Betonblöcke markieren die neuen Spuren und die LKWs, welche sich beschwerlich die Kurven hinauf ackern, werden zu echten Hindernissen – was uns nicht davon abholt, zu überholen – und andere machen vor, tun es uns gleich. Mit etwas Schwung, präzisem Timing, man rauscht zwischen zwei Betonblöcken auf die andere Seite, spricht innerlich ein Ave Maria und gibt Gas, um zwischen zwei weiteren Blöcken auf die eigene Spur zu wechseln, erleichtert, den LKW knapp schneidend – und so weiter, einige Male, man gewöhnt sich an den Fahrstil und ich empfinde keine Notwendigkeit mehr, ein Ave Maria zu sprechen – ganz zu schweigen davon, dass ich den Text nicht kenne und evangelisch bin.

Was für ein rauschender Highway, nun endlich oben, Sicht auf Schnee und Werbung – mitten in den Hügeln. Banken, alles was Geld hat, stellt seinen Schriftzug in die Berge; dieser Coup! Unter uns Betonplatten, uns entgegen die kalte Sonne, es gibt sogar eine Leitplanke und dann kommen wir an den dritten Wachposten nach jenem zur Ausfahrt aus der Stadt, Taschkent, und dem am Pass, um in das Tal zu gelangen – plötzlich knallt die Sonne, wo in den Bergen Wolken herrschten, Bodennebel und der Blick ist kühles Blau in Braun in Weiß. Das Ferganatal – hier ist die usbekische Tradition am lebendigsten, die Gegend ist Landwirtschaft und Fruchtbarkeit. Ich sehe bunte, kleine Dörfer, ein Mädchen, keine zwölf Jahre, das eine Kuhherde am Straßenrand entlang führt, eine Schule mitten im Nichts, geziert von einem sozialistischen Bronzewerk, dahinter Kinder, zwischen den Gebäuden, die im Schatten ein Fußballspiel improvisieren, Fahrräder mit Reisigbündeln auf den krummen, alten Rücken, zwei Kinder mit Ranzen, die filmreif auf den Bahnschienen nach Hause laufen und diese sowjetischen Autos in Knallbunt – Gelb, Grün, Rot – Farben wie sonst keine in Taschkent! Das ganze Tal scheint traditioneller, staubiger, ursprünglicher und älter – ein einziger Kessel an Feldern, Straßen, Staub und Menschen. Eng wird es dadurch nicht: weite Strecken fahren wir durch endlose Leere, zu beiden Seiten, und ich erinnere mich dunkel an die Fahrt von Chicago südlich quer durch Illinois, als das Ziel St. Louis hieß und ich das flache Land nur genoss, weil es amerikanisch war. Und wieder: Angst. Jedes Mal, wenn Leute, Autos am Straßenrand stehen, wird der Fahrer langsamer, schnallt sich den Gurt an und weist mich an, ihm gleich zu tun. Ist es die Polizei, fährt er angespannt vorüber, bedacht darauf, nicht zu schnell zu fahren und beschleunigt erst langsam. Ist sie es nicht, rast er wieder. Noch allerdings ist die Politik nicht so scharf, dass sie sich verstecken – einmal halten wir an und der Fahrer gibt gegen Entgelt etwas Benzin an einen liegen gebliebenen Matiz ab – es ist doch nicht alles verloren, die Freundlichkeit besteht. Vor Kokand machen wir eine längere Pause und ich merke den Unterschied zur Hauptstadt: die Toiletten wie in usbekischen Schulen, nur dreckiger. Der Fahrer kauft Melonen und unterhält sich mit einigen Händlern vor Ort – das für das Tal typische Rundbrot wird hier verkauft – sehr flach ist es, mit wunderbaren Mustern und etwas höherem Rand – wie eine unbelegte Pizza mit verziertem Teig. Und abermals ins Nichts des Tals – Felder, Felder; doch langsam wird die Gegend saftiger, Bäume, Büsche – und wir erreichen Andijan. Für 70.000 fährt er mich an die Grenze, sagt er und mit einem Blick auf die Uhr stimme ich zu – was soll ich um Preise schachern, niedriger geht er nicht und die Stadt scheint es kaum wert, näher betrachtet zu werden – zusammengewürfelte Häuser am Rand der Straße, ein weites Stadtzentrum ohne historische Bauten – nur der Andijaner steigt aus; die beiden Frauen bleiben sitzen und je weiter hinaus aus der Stadt wir fahren, desto mehr wundere ich mich, ob die beiden auch nach Kirgistan wollen. Dostyk heißt der Grenzpunkt und es sind fast sechzig Minuten dahin, wenn man aus Andijan kommt. Die Strecke führt immer mehr in den Süden und die leuchtenden Farben machen mich in meinem Mantel schwitzen, wieder fühle ich mich an Italien erinnert und das, obwohl ich kurz vor den Bergen noch kanadische Kleinstädte sah. Auch diese Reihenhäuser tauchen wieder auf, die ich auf der Fahrt von Taschkent in die Berge gesehen habe, von jener Bank: zwei Rechtecke von acht Häusern à fünf Zeilen – gruselig einheitlich und der siebte Kontrollpunkt – das Tal scheint voll davon. Nicht jeder interessiert sich für uns, wenn, dann für mich und meinen Pass. Doch deutlich spürt man die Entfernung zu allem – verwilderte Büsche säumen die gravel road, die wir kurz vor der Grenze entlang huckeln, einem Traktor mit rostiger, offen schwingender Tür begegnen und wieder die Berge bewundern dürfen, die sich nun rechts empor heben. Als die Straße wieder besser wird, zu einem Asphaltweg wird, streifen wir für einen Moment die Grenze – eine dicke, hohe Mauer. Ich bekomme Herzklopfen, hoffe auf das beste und dass alles glatt geht. Kurz vor dem Brachland, als die letzten Wohnhäuser aufhören sich aneinanderzureihen, bleibt das Auto stehen. Einige hundert Meter sind mit denselben Betonblöcken für Fahrzeuge gesperrt, die in den Bergen die Spuren markierten. Brache, bis erneut die Mauer fest steht und ein hoher Zaun – da muss ich hin. Noch etwas in Wehrhaltung versuche ich, den Fahrer um fünftausend Sum herunterzuhandeln, aber das lässt er nicht mit sich machen – wo käme er da hin? Kurz angebunden verabschiedet er sich, ich winke erstaunt den beiden Frauen und Kindern, als der Wagen in die gleiche Richtung davonbraust, aus der er gekommen ist und mich stehen lässt, mit meinen Taschen, meinem Herzklopfen und der Frage, warum die anderen Fahrgäste diesen Weg zur Grenze mitgefahren sind – Ausländerprivilegien? Ich drehe meinen Kopf und atme aus. Es dauert, bis ich mit meinen gemächlichen Schritten, ohne Eile, den Zaun erreicht habe – vorher sieht man Kinder spielen, Männer in schwarzen Mänteln leise reden und eine letzte Choyxona. Oder erste, je nach dem, in welche Richtung man läuft. Erste Passkontrolle von einem Militär mit Sturmgewehr – easy. Den Weg zwischen zwei Zäunen zur zweiten Passkontrolle, zweites Tor: easy. Vor mir zwei Frauen und Kinder – eine trägt eine Tüte: „5th Annual English Teachers International Meeting“ in Aschgabat. Motto: „English without borders“. Statt sie darauf anzusprechen, habe ich ihr meine Hilfe angeboten und die andere Tasche abgenommen, mit der, auf ihren Koffer gestapelt, sie etwas überladen aussah. Hinterhertrabend, die Tasche ist schwer, komme ich in den zentralen Raum: die Ausreise. Ich stelle die Tasche ab und mache mich daran, die Zettel auszufüllen, mit denen ich nichts zum Verzollen angebe. Hier brauche ich den Wisch von der Einreise wieder und auch die Bestätigung, dass alles Mitgebrachte seine Richtigkeit hat – die Kontrolle meines Gepäcks. Die Zollerklärung ist nur auf Usbekisch vorhanden und amüsiert gleiche ich sie mit meiner englischen ab, um blind das hoffentlich Richtige anzukreuzen. Bemerkenswerter Weise bin ich offensichtlich fähig genug, alle Begriffe auf Russisch einzusetzen. Wie viel umständlicher die Einreise, wie einfach kann es gehen! Ein kurzer Blick des Beamten, Scannen des Passes, Stempel auf die Erklärungen und Frage, wohin es gehe – Osch – und dann? Bischkek. Und dann? Ulan-Bator. Fertig. Fast hätte ich meinen Pass auf dem Tisch liegen lassen. Gerade als ich umkehre und ihn aufhebe, ruft mich eine Frauenstimme – Gepäckkontrolle, also doch noch. Ich muss sagen, dass im Rucksack nur Kleidung ist und ich nichts Illegales mithabe, hebe mein Handtuch in der Halldór-Laxness-Tasche hoch – keine Waffen darunter – und darf gehen. Schalter, Passkontrolle Nr. Vier und endlich – ein Stempel. Bin ich schon in Kirgistan? Hinaus ins blendende Sonnenlicht, frohgemut, und bald, bald bin ich drüben – noch eine lose Kontrolle und – ein Duty-Free-Shop. Geschlossen. Wechselstuben für Sum, Tenge, Dollar, Euro. Es ist ein Schweben, der nächste Beamte fragt lachend, ob ich „Schnjaps“ mitgebracht hätte – bis ich zu einer radiation control komme, die offensichtlich ausgeschaltet liegt – Männer stehen und unterhalten sich in jenem Bereich, für den steht: Bitte nicht länger im markierten Bereich aufhalten. Man interessiert sich für mein Foto im Pass und meinen Bart, ich darf aber passieren, als ich meinen kulturweit-Ausweis – nützt er also doch was – zeige und dort derselbe Name wie im Pass steht. Mit UNESCO-Emblem und Stempel. Ermüdend, die achte und neunte Kontrolle nur oberflächlich und ein neutrales „Welcome“ vom letzten Wächter, der mir die Tore öffnet und mich einlässt in das Land, das nach all den Kontrollen wie ein gelobtes ist: Kirgistan. Nur der Name klingt fad. Bevor ich auf die Idee komme, Geld zu wechseln, werde ich angesprochen und für fünf Dollar geht es zum Hostel, rein in die Stadt: Osch beginnt quasi an der Grenze und der Preis ist hoch, ich aber bin zufrieden und rechne in Feriengeld – schließlich habe ich Urlaub. Der Fahrer ist freundlich und hilfsbereit, zeigt mir den Avtovoksal, von wo die Taxis nach Bischkek fahren, erzählt mir über die Stadt und die Währung – im Gegensatz zum usbekischen Sum der kirgisische Som – und erzählt mir vom Berg im Zentrum, Suleyman-Too. Ja, von ihm habe ich gehört, aber so mittig, alles überschattend und mächtig hatte ich ihn mir nicht vorgestellt. Freilich fallen mir sofort all die verschiedenen Autos ins Auge – nicht nur Daewoo und Chevrolet, nicht nur in Weiß und Grau. Noch am ersten Abend, der Gedanke hielt weiter nicht lang, denke ich, hier ließe es sich aushalten – all die Geschichten, die ich stattdessen im Nachbarland höre, lassen diesen Ort verwunschen aussehen, göttlich prophezeiend und ein Fingerzeig auf das Paradies, welches einstig verlassen wurde. Osch – Kirgistans Hauptstadt des Südens, umschlossen von Bergen, unweit der Grenzen zu Usbekistan, Tadschikistan. Eine Stadt des Herbstes, es regnet Laub auf die Gehwege und einige Tropfen geräuschlosen Wassers. Die Straßen säumen beschnittene Bäume, eine grüne Stadt im Herzen der kirgisischen Provinz. Der Berg bildet das Zentrum. Massiv stemmt sich das UNESCO-Weltkulturerbe in die Höhe und wie in Neapel wird alles Treiben unten von dem Fels bewacht, nur dass dieser keine Lava spuckt und wie ein versteinerter Prophet tief in sich ruht. Keine Unruhe geht von ihm aus, kein Wetterleuchten der Gefahr, es ist friedlich. Pfade, die sich um und auf ihm spannen, kreuzen, machen ihn zur Gelegenheit eines wundervollen Spaziergangs, Trödeln mitten in der Stadt, mit atemberaubenden Blicken auf die Dächer, das Meer, dieses Tal, durchflutet von Nebelstreifen, am Himmel noch die nachglühende Sonne, wie sie ihren Schleier über die hohen, schneebedeckten Gipfel dort am Ende legt, wo alles Meer zu fließt. Ein Horizont aus Märchensand und Traumgespinsten. Seine Präsenz verspricht und hält fest, was in Taschkent unmöglich scheint: Ruhe, geistige, Geborgenheit, jene Sicherheit, wenn noch Natur das Zentrum der Stadt bildet statt toten Statuen und kahl geholzte Weite, hinter der die Hoffnung untergeht.

Die Stadt ist ein Pool an Menschen, Farben, Inschriften, Schildern – heruntergekommen entwickelt sie ihren Charme in hemmungsloser Offenheit dem Fremden gegenüber, so scheint es, bestätigt durch die stetige Verbindung zu ihrem heiligen Berg. Der Suleyman-Too ist Pilgerstätte für Muslime und zahllose Riten versprechen noch erhöhte Fruchtbarkeit. Es gibt ein Gebetshaus mit Souvenirshop außen, eine Höhle, deren Boden vom jahrhundertelangen Rutschen glatt wie Seife geworden ist und eine Steinrutsche, welche ebenfalls nach dreimaliger Benutzung mehr Kinder verspricht. Seine Besteigung ist mein erstes und fast einziges Vorhaben in der Stadt. Anderes, Lenin, dessen Statue hier noch steht und der 3500-jährige Basar stehen hinten an. Bereits mein Abendspaziergang am Tag der Reise führte mich hierher – als ich von der so lebendigen Stadt Osch, ganz bodenständiges Pflaster, überrascht wurde. Man läuft etwas auf, wer nach vier Uhr ankommt. Die Banken sind zu, wer am Grenzübergang nicht gewechselt hat, hat Pech. Im Hostel kann man nicht wechseln – besser gesagt, ich laufe etwas auf, weil ich nicht wechseln kann. Ein Frühstück wird es auch nicht geben; so hat man die Durststrecke bis neun Uhr, wenn alles wieder die Tore öffnet und lauthals nach Kunden schreit, die, vom letzten Abend verschreckt, ausbleiben. Nun habe ich das Glück, ein vorausdenkender Mensch zu sein, der sein Lepjoschka vom Alaiskiy und getrocknete Aprikosen von Quylik gebracht, und sogar noch Wasser übrig hat. Damit lässt es sich leben, bis am nächsten Morgen ein Somsa, artgerecht in Plastiktüte mikrowellenerwärmt, den ersten Hunger still und der Spaziergang auf dem Suleyman alles weitere Verlangen. Ein Touristenbüro gebe es nicht, aber ich will raus und den Abend genießen, nach viel Auto und Grenze.

Neugierig lenkte ich meinen Weg zu Füßen dieses Riesen, dessen Eingang sehr zentral und besucherfreundlich liegt. Ein Weg aus Pflastersteinen führt an ihm entlang und ich gehe links und sehe bald einen weißen Torrahmen, schmutzig, alt – ein blaues Schild steht dort und darauf „Official path“, „Original path“ oder so ähnlich. Ein paar Treppenstufen und in beide Armrichtungen erstreckt sich ein altes, muslimisches Gräberfeld, Plätze umzäunt, einige mit Inschriften versehen. Spannend, wer forschen wollte. In die andere Richtung rund um den Berg begegne ich einer beeindruckend modernen Steinskulptur, auf die ein anderer Weg zum Gipfel zeigt. Auch hier ist ein Schild platziert, mit den Instruktionen: Kein Rauchen, kein Trinken – hier zeigt sich die religiöse Tradition bedeutend lebendiger als in Taschkent, Usbekistan. Obwohl der Wodka normal in den Supermärkten – billig – verkauft wird, fehlt er in den kleinen Restaurants, Choyxonas. Nun, so freute ich mich redlich darauf, am Donnerstag diesen Fels zu ersteigen und wurde nicht enttäuscht: Erst der Weg durch das Gräberfeld, immer steiler werdender Sandpfad, sodass ich aufpassen musste, mit meinen Halbschuhen nicht abzurutschen, währenddessen ich immer wieder mich umdrehte, den Blick auf die Stadt zu genießen, der mit wachsender Höhe immer schöner wurde – zu viel für meine Kamera; leider sämtliche Bilder, die ich von hier schoss, und sogar der Film von den Bergen, wie sie weit hinten thronen, im Panorama unter dem Orange des Morgens, sind unscharf geworden. Ein Zeichen: die Schönheit des Erlebens ist ungleich der Schönheit des Fotos; so schön Erlebtes zu fotografieren empfand die Aussicht wohl häretisch. Den Aufstieg lang blieb ich einsam, sah Kletterer und Wanderer weiter oben, und schließlich merkte ich auch, warum. Ein metallenes Geländer führte quer zu meinem Pfad, der doch eher „original“ als „official“ war. Vielleicht wurden auch deshalb die Bilder unscharf, weil ich Allahs Ruhe gestört habe und den falschen Pfad genommen. Nachdem ich eine Stunde gelaufen war und auf den grünen Nacken des Berges stieg, traf ich erleuchtenderweise auf einen christlichen Kirgisen, auch noch Liebhaber echten Kaffees und guten Englischs mächtig, mit dem ich einige Zeit lang das Gestein entlang hoppelte und die Sicht genoss. Auch er war zu touristischen Zwecken hier – als langjähriger Bürger der Stadt war er noch nie hier oben gewesen. Zum Abschied empfahl er mir eine kleine Bude mit echtem Kaffee – welche witzigerweise auf dem Weg von meinem Hostel lag und mir bereits aufgefallen war.

Zweieinhalb Stunden keine einzige Sekunde zu viel. Ein wunderschöner Spaziergang und allen, die je nach Osch kommen sollten, wärmstens empfohlen – das trifft es nicht. Allen, die nach Osch kommen und Zeit haben, wie ich, einen Tag vor sich, der ohne To Do einfach darauf wartet, gefüllt zu werden und Entspannung und geistige Ruhe suchen, denen sei die Wanderung empfohlen. Was ist die Stadt sonst? Man kommt durch schmutzige Straßen, Sichtachsen bis zu den Bergen, trifft auf Lenin, der noch stolz vor dem Rathaus und der überdimensionalen kirgisischen Fahne steht, zu dem dann ein Obdachloser, von derselben Hochzeit, wie wir Fliege, angezogen, meinte, er war ein Scheißkerl (nicht die überwiegende Meinung in diesen Breiten); trifft auf dutzende Zigeuner, deren Kinder mit ihren bemalten Handflächen am Ärmel zupfend um ein wenig Geld betteln, große Augen und die Stimme so schmerzhaft wehleidig, dass der Europäer denkt, das kann nur ein Trick sein und sein Geld in Sicherheit bringt – ihre Armut zwischen all den wogenden Augen gehört zur Stadt wie die sichere Ruhe des Berges, der über sie wacht. Osch ist die Schönheit des Südens, grande dame mit Schwung, mitteljung, kapriziös, aber lächelnd, zärtlich und noch immer erfolgreich reizvoll. Manchmal traurig, manchmal böse, ernst, aber immer offen und immer ruhig, immer lächelnd. Der Basar ist alt, existiert seit 3500 Jahren und reicht endlos den schmalen Fluss entlang, an beiden Ufern, reich an Waren, drei Reihen Nippes, zu eng zum Fotografieren und lang wie die Gassen im Albtraum, durch die man hündisch gejagt wird. Es gibt, wie üblich, alles und vor allem Kram, Verstaubtes und Altbekanntes, aber auch immer wieder Spannendes, Interessantes – nun, deshalb bin ich gekommen. Muslimische Kopftücher, die wie jene neue Kollektion des Sommers modisch um Mannequinköpfe gelegt sind, traditionelle Musikinstrumente aus eigener Handarbeit, und wohl die schlimmste Toilette, die ich jemals betreten habe. Zwar gefliest an Wänden und Boden, mit Spülung, aber so unendlich dreckig, dass ich Zweifel habe, ob seit der Unabhängigkeit eine Putzfrau eingestellt wurde. Ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich mich schwer getan habe zu atmen – zum Glück war der Besuch kurz und ich musste mich draußen erstmal von dem Gestank erholen. Vielleicht habe ich auch nur zu lange die Luft angehalten.

Ich schaffe es nicht, den ganzen Weg durch das Treiben zu gehen und kehre um, irgendwo, bin zu müde und habe noch einiges zu tun und sehen – tatsächlich bleibe ich noch für einen runden, kirgisischen Hut stehen, den teuersten bitteschön, aus Baumwolle, nicht aus Plaste. Mit ihm werde ich Muslim und Allah behüte mich, ihn niemals in Taschkent öffentlich zu tragen. Die Stände und ihre Kleidung, Tand und Tücher, Markt der Eitelkeiten und wieder an dieser seltsamen Brücke, von der ich kein Foto habe: Bauarbeiten, dumpfes Donnern der Maschinen, ich gehe zwischen den grauen Pfeilern, Beton, die Ebene hebt sich und führt auf Straßenniveau, von wo aus im Umdrehen die Seltsamkeit des Elements betont wird – irgendwie biegt sich die Brücke nach unten und bildet ein Tal, unter dem der Fluss schwemmt und der Basar biegt, die Spaziergänger bummeln und Arbeiten hämmern. Eine alte Frau verkauft Äpfel und Sonnenblumenkerne, aber ich will keine Äpfel – durch die dreckigen Straßen zurück – alles ist enger als in Taschkent und die Autos fahren auf weniger Platz –abblätternde Farben an einst bunten Geländern hier am Wegesrand pflücke ich Blumen zu Staub… Der Himmel noch voll nasser Wolken, kein Tropfen, keine Spannung in der Luft – ich bin müde und laufe gekniffen, biege links ein und weiß, der Weg ist lang, weit noch zu gehen, ewige Meilen neben Bäumen und kleinen Läden, die Chips, Konserven und Obst verkaufen. Einer nach dem anderen und voller als der vorige – Warenstapel hoch in den Raum, die Eier auf dem Boden neben den Keksen, unter Schränken an Dosen, daneben Mehl und Mais. Eine Internetlocation erwartet mich; schnell schreibe ich heim und werfe einen Blick auf meine Dienstmail. Ein kurzer Gruß auf Facebook mit meinem letzten Blog und die Vergewisserung: Wie heißt die mongolische Währung? Was gibt es in Ulan-Bator zu sehen? Nicht viel und ich bin beruhigt – dann gibt es nicht viel nachzuholen. Eine Stunde, mehr soll mir nicht vergönnt sein, mein Zeitplan hetzt – Zeitplan? Aus Taschkent kenne ich die Müdigkeit, immer geradeaus zu gehen, die Augen stieren und nur die Eindrücke rechte und links lassen die Augen noch immer weit aufgerissen, wie durch Wasserschwaben schwer, dumpf folgt der Kopf, der Gedanke, dem Tritt – es war nicht so schlimm, ich hatte Energie aus dem langen, kalten Schlaf und lief, so gut es ging, ohne Gedanken ans Liegen; wohl aber an Kaffee. Welche Freude, dass auf dem langen Rückweg jene Bude, jenes Häuschen liegt, von dem mir der Kirgise erzählt hat. Ich denke an das Geld, doch das vergeht, als ich sehe, dass der doppelte Espresso nur einige Cent teurer ist als der einfache – Im Nachhinein bezweifle ich, dass er mehr war als die doppelte Menge an Wasser auf die gleiche Menge Pulver, aber Gott! war das nötig. Als ich zurückkomme, bleibt mir wenig Zeit – mein Zimmer erscheint mir wärmer, aber genauso klein wie zuvor und es zieht mich, an meine wenige Zeit denkend, wieder hinaus in die Straßen, die Luft, Atmosphäre will ich gierig aufsaugen, als hätte ich seit Tagen nicht geatmet – habe ich?

Nun siegt der Wunsch nach Ruhe, aber welche Kürze – ich höre Schritte auf dem Gang und die Inhaberin, die ihre paar Worte Englisch verliert. Ich muss an ihre Worte mir gegenüber denken: Einen zweiten Ausländer schickt sie zu mir ins Zimmer. Kurze Zeit habe ich, mich aufzurichten und einmal zu schütteln, schnell über das fast zu lange Haar zu streichen und dann steht Noah in der Tür – halb Brite, halb Türke, mit großem Rucksack und einem großartigen britischen Englisch, das ich für die gesamte Zeit des Zwischenseminars übernehmen sollte – einfach weil es so schön ist. Seine Route führte ihn per Anhalter von China, wo er irgendwo arbeitet, über Ulan-Bator, Astana und Bischkek hierher, von wo er weiter nach Tadschikistan und über den Pamir-Highway will. Im November. Hitchhiking. Einen der gefährlichsten Highways der Welt. Mit Zelt und Daumen. Die Lenin-Statue schaue ich mit ihm an (s.o.) und wir wollen irgendwo essen – nicht so leicht, nachdem zwei Etablissements zumachen, als wir kommen und das, in dem wir letztendlich waren, buchstäblich vor unseren Augen die Stühle hochgeklappt hat – nicht später als sieben Uhr. Dementsprechend gefüllt war die Karte – von je zehn Suppen und Hauptgerichten standen eine Suppe, zwei Gerichte zur Auswahl und auch vom Schaschlik war nur ein Rest übrig.

Nun, gut und günstig war’s und das, was der Magen gebraucht hat. Ein bisschen Reden war nicht schlecht, ich sei der erste Englischsprechende seit 18 Tagen, sagt Noah. Das Thema verschob im Verlauf des Abends mit abnehmend leerer werdender Plasteflasche von „Europäische Flüchtlingspolitik“ zu: „Have you seen the new James-Bond-movie? I ought to see it.“ Das besondere, warum ich ihn auch erwähne, ist eben die Flasche Wodka mit Eistee, die er immer dabei hatte und regelmäßig seinen guten Schluck daraus nahm. In Kasachstan, erzählte er, hätten die Leute ihn pur getrunken und weil ihm das zu heftig war, ist er darauf gekommen, Eistee beizumischen. Ganz ohne geht dann wohl doch nicht. Nun, schlecht schmeckt es nicht… Gegen einige Schluck ist nichts einzuwenden, für den Schlaf, der glücklicherweise wärmer verlief als der vorige. Ich konnte gut gelaunt aufstehen, nach einer wirklich schönen Stadt und mit Wasser, Lepjoschka aus Kirgistan, die von gestern für heute in meiner Tasche verstaut waren – ein Tag lag vor mir, der viel fordern sollte, und mich so müde hinterließ, dass ich nichts zu tun wusste.

 

Und nun? Der große Trip von Osch nach Bischkek – berüchtigt unter jenen Radfahrern, die, sagen wir, von Trondheim nach Tokio fahren oder von Paris nach Peking – wo ist der Text, die mächtigen Worte? Ich muss passen. 120 Stichpunkte und solche Macht am Ende, die mich kraftlos niedergelassen hat – meine Feder stockt, mein Hirn kann diese gewaltige Reise nicht mehr bewältigen, begreifen, und wieder einmal stirbt die Kunst vor der gigantischen Wirklichkeit; ihr fühle ich mich nicht gewachsen, der Anspruch dieses Unterfangens erschlägt mich und so fühle ich es gerechtfertigt, diesmal nur meine Stichpunkte vorzulegen. Die Eckklammern sind ergänzt; einiges vermochte ich nicht mehr zu lesen und am Ende, im Dunkeln, wurden die Punkte so knapp, dass ich mich um Interpretation bemühen musste. Sonst findet sich alles, wie ich es im Moment des Erlebens niedergekritzelt habe; ein unendliches Fragment einer unglaublichen Reise, eindrücklich, unvergesslich vielleicht.

  • Luxustaxi: alter Honda, drei Sitze, Lenkrad rechts, Automatik [d.h. ich saß links vorne und konnte alles aus „Fahrerperspektive“ sehen]
  • Fahrt: 18 Dollar
  • 650 km [die Strecke Osch-Bischkek ist länger als die Luftlinie Taschkent-Bischkek]
  • Fahrer erzählt von Kirgisen als Vater der Usbeken, Kasachen, Uralrussen, Ungarn und von Verwandtschaft mit den Nazis (blaue Augen)
  • regnerisch, aufgeschüttete Erdhügel, grasbewachsen, durch die die Straße eine Schneise schlägt
  • schönes Licht gegen graue Wolken, goldener Schein aus dem Braun
  • Fahrer ein bisschen verrückt – Überholen vor Kuppe
  • Um etwas zu sehen, fährt er bei rechtem Steuer in Fahrbahnmitte
  • Osch bis Jalal-Abad fast wie deutsche Landstraßen mit ihren Orten
  • Strom von Baum zu Baum gespannt [nur Stämme, die freilich künstlich dorthin gesetzt wurden]
  • diese dunkelgrün-braune Hügellandschaft – so weich, sanft
  • ausgebrannter Laster
  • Fahrer: es gibt kein usbekisches Volk, Usbekistan ist ein Problem
  • Fahrer: wir haben Usbeken aufgenommen, Kultur gegeben, dann haben sie unser Land gestohlen; so wird es in Deutschland mit den syrischen Flüchtlingen sein
  • mehr Schafe, Lämmer als in Usbekistan
  • 2010 war hier noch „Krieg“
  • wenigstens hat Fahrer normales Gehör – nicht so laute und dumme Musik wie nach Dostyk
  • kleine Städtchen mit schmutzigen Häusern aus Lehm und Blech, dreckige Basare, schlechte Straßen
  • plötzlich Sonne
  • Straßen durch Felder, Bäume, gelbes Laub
  • Dörfer mit Schlammstraßen, durch die sich Tanklaster und PKWs steuern
  • Marschrutkas, gegerbte Gesichter, an den Seiten Babuschkas, Kartoffeln – Markt-Atmosphäre, Schaschlik, ältere Herren mit Hut
  • Fahrer weiß viel über Usbekistan [geographisch, historisch – Fakten, die er zu seinen Theorien spinnt]
  • Fahrer: [auf die Kirgisen bezogen] „Wir haben eine große Historie, nur wissen wir es selbst nicht.“
  • wieder Junge und Mädchen, die Kühe führen
  • Fahrer: Was würdest du als deutscher Kanzler machen?
  • Betonhaltestellen
  • Zentralasien wie USA: Was sollen wir mit diesem vielen Platz anfangen?
  • Kirgistan ursprünglich, natürlich
  • lange usbekische Grenze, die ein einsamer Soldat im Zwischenstreifen entlang patrouilliert
  • Höfe schon in Usbekistan von hier aus sichtbar
  • lange, strohgedeckte Unterstände für Obst (Trauben) zu verkaufen
  • Schulkinder wandern Straße entlang
  • oft Tiere auf Fahrbahn – Schafe, Kühe, Ziegen
  • Fluss Naryk, dann Stausee, schroffe Bergmassive
  • Tunnel sind hier nicht mit Militär besetzt
  • Absteige: hoch spannendes Milieu [Mittagessen]
  • Mittagspause: Boulette mit Ei darauf, darunter Reis, Nudeln, Buchweizen, in Soße. Schulessenqualität – für gut zwei Euro alles, was man an Nahrungsmitteln braucht
  • eine Strecke nicht für Fotos, sondern für das Gedächtnis
  • rein in die zerklüftete Bergwelt des Tian-Shan, an der sich die road entlang schlängelt, zur Linken (meist) Fluss und dahinter wieder Berge. Ich erwarte den Schnee.
  • Immer wieder begegnen uns Fahrzeuge [die ganze Strecke ist nicht schlecht befahren]
  • Was für eine Macht in diesen Riesen(Felsen), Fluss türkis und ich kann ihn nicht fotografieren [weil er aus fahrendem Auto schlecht zu sehen war]
  • voll von Kuppen und Kurven, hinter denen man die nächsten meist nicht sieht
  • Siedlungen in den Bergen
  • Karasum river
  • Stadt/Dorf, wo alles auf Kirgisisch und Englisch steht
  • Laster mit deutschen Inschriften (Deutsche Kleiderspedition etc.)
  • Straßenhunde
  • nur Vorgeschmack, Berge flachen ab, vereinzelte Menschen
  • gefährliche Linkskurve – überholen
  • schneebedeckte Gipfel in Sicht
  • es geht steil bergauf, Motor dröhnt angestrengt
  • und wieder ins Tal: Karaköl [inkl. wunderschönem See]
  • See-Häuser: Kaffee, Fisch – hätte lieber Fisch gegessen als „Bifschteks“ [so heißt diese Art von Boulette hier]
  • spektakuläre Täler, wie nur auf Fotos gesehen – weidende Schafe auf saftiger Wiese vor schroffen Hängen, Ketten in Rot, Braun, hinten Weiß
  • Ich stelle Fotos hinten ans Erleben an. Je gefesselter ich von einer Szene bin, desto weniger kann ich sie festhalten.
  • Reiter
  • Berge mit verschiedenen Farben [in einem Fels!]
  • 50 m [steiler Abgrund], keine Planken [Fahrbahnbegrenzungen]
  • Strecke super [insgesamt] bis auf ein Stück Stein-Erde
  • diese russischen Liebeslieder mit Akkordeon – immer Diskobeat, doch melancholisch
  • Gebirge – Bäume, kälter, Siedlungen, fast Dämmerung, 100 m unter Schneegrenze
  • Tal mit roten Felsen, Bächen neben aufwärtsstrebender Straße, rechts Wald im Tal mit fast versiegtem Fluss; Fahrer: besonders während Schneeschmelze schön
  • Fahrer hält zweimal an, um Honig zu kaufen
  • Und plötzlich, mit dumpfen Ohren aus den Bäumen auftauchend, liegt vor uns eine Landschaft in vollem Weiß und statt Regen stößt Schnee aus dem Nebel uns an…
  • Durch dieses Weiß und Nebel rauschen wir also für immer, eine Ewigkeit und als sie vorbei ist, kann man sich nicht erinnern, dass sie je begonnen hätte.
  • wie ewiges Eis: ewiger Schnee
  • ob man auf solcher Strecke überholen sollte…
  • LKWs im Schneckentempo – auch wir verlieren einmal die Kontrolle, der Wagen rutscht weg, bleibt aber auf der Straße [nun einmal dank professionellem Fahrer]
  • Es ist schon extrem, außer dem braunen Streifen der Straße nur reines Weiß zu sehen.
  • Hier bleiben einige liegen; Reifenwechsel, eingeschneite LKWs
  • Noah wollte den Pamir fahren: noch höher, noch gefährlicher, noch später im Jahr
  • Straße mit Eisflecken
  • Beginn [der Schneezone, also ein Rückblick]: Radfahrer – warum macht man so was? Herausforderung
  • Hier basteln Leute Schneeketten
  • VW in Graben
  • liegen gebliebenes Räumfahrzeug
  • bis irgendwann auch der Weg weiß wird und man die Straße kaum erkennt
  • wir fahren Schritttempo
  • Doch stechen schon Felsen, hartnäckige Gräser aus Nebel, Schnee am Hang heraus
  • Schleier von Eisstaub wehen über den marmorierten Boden, über den unser Honda so vorsichtig rollt.
  • Mercedes überholt uns – völlig vereist, so müssen wir auch aussehen
  • alles klar, kein Nebel, blaue Wüste [aufgrund der einsetzenden Finsternis]
  • Gazprom-Tankstelle im Nichts
  • Fahrer kauft ekliges Zeug, Kefir, viel Salz [Kurt]
  • Dunkelheit, hoch gewundenen Weg, schmal – Überholen!?
  • riesige Schneewehen, Straße total Schnee
  • kein Licht, Schneewände, nur Rücklichter zu sehen
  • Schneeflocken als Feuerwerk [gegen die Windschutzscheibe]
  • Eiszapfen an Fahrzeugen
  • 18:30 Uhr: Too-Ashuu – hoch, dunkel [3180 m]
  • Tunnel kaum für zwei Spuren breit, Überholen, versmogt, Gegenverkehr
  • Abfahrt gruselig, LKW-Schlange
  • tiefster Winter
  • absolute Schwärze, Rücklichter
  • Fernlicht beliebig ein/aus – kein Unterschied
  • Stau auf 3000 Meter – liegen gebliebene Fahrzeuge blockieren den Weg
  • Leute durch das Eis, grell von Scheinwerfern bestrahlt, versuchen ihre Laster flott zu kriegen, laufen herum, rufen – wir stehen
  • Horrorfilmszenario [Kein Vorwärtskommen in Höhen, in denen man noch nie war, in einer Umgebung, die man vor Schwärze nichts sieht; diese Laster, Autos, die entgegenkommen wollen und das Eis, der Schnee, die gefährliche Straße – kein Rettungsfahrzeug wird durchbrechen und kein Hubschrauber landen können. Ein Unfall hier und man hat den Beginn eines Horrorfilms.]
  • heftiges Schneetreiben
  • Straße nur noch Schollen Eis
  • Fernlicht macht nur noch mehr Schnee sichtbar
  • Nichtstraße
  • Man sieht Hand vor Augen – mit Licht
  • keine Bande, kein Berg – Schnee
  • Spuren im Schnee weisen Weg [den Straßenverlauf!]
  • Fahrt in tiefstes Schwarz, Windschutzscheibe friert ein
  • in Nichts und Schnee, der uns entgegen stiebt
  • zuerst wird Boden eisfrei – Fahrer gibt Gas
  • fast links von Straße abgekommen
  • Leute stecken geblieben, im letzten Moment gesehen [Sie standen an der rechten Seite, ihr Fahrzeug nah am Berg und hätte einer von ihnen auf der Straße gestanden, wir hätten keine Chance gehabt auszuweichen.]
  • Ich beginne mich wieder zu spüren, während wir aus der Schwärze fahren.
  • 8:30 Uhr unten

 

Ulaanbaatar

Was für ein Drogentrip hinter mir liegt – dieser Rausch ins Dunkel, die stehenden Laster im Schneetreiben, Eiseskälte auf 3000 Metern, Riesen auf schmaler Straße, glatt, auf der die Wagen teils dreispurig standen, und in beide Richtungen Stehende. Sie kommen mir immer wieder hoch, diese Bilder – für’s Gedächtnis! Ah, 40 Minuten nichts und der Weg führt endlos abwärts, 40 Minuten Schwärze und nur Schwärze und brüllendes Schneegewitter, das uns an die Scheibe pocht, jene, die langsam zufriert, als wolle sie uns das bisschen Sicht, das wir noch haben, nehmen – jene auf die Spuren im Schnee, die uns sagen, hier sind sie entlang gefahren, hier ist es sicher. Ab und zu streift der Scheinwerfer die Bande, bei allzu windigen Kurven und dann wieder sehen wir seltener Rücklichter – 40 Minuten ins Dunkle, und nie zuvor hatte ich so großen Drang mich zu bekreuzigen – starrend auf das Schicksal vor mir, als wären es die Parzen selbst, die schnippelnd mit den Scheren wackeln, lachend, winkend, und ich doch in Sicherheit. Dagegen flog der Rest der Zeit wie ein Gewitter durch mich hindurch, ohne mich zu treffen – vorbei, als wär ich zu Staub zerfallen und müsste mich erst neu aufbauen. Bischkek um Zehn, nach 13 Stunden Fahrt – was für ein Trip! Und ich völlig fertig, kein Gedanke liegt mehr, wo ich sein soll und sowieso verliert sich die Zeit von selbst, keine Bemühungen in der Richtung.

Ich habe mich mit Vicki aus Almaty und Malin aus Bischkek in der Wohnung von letzterer getroffen; um Eins geht es weiter und bis dahin tauscht man sich Geschichten aus – ich komme erstmals in den Genuss, all das Kuriose und Belustigende live zu erzählen, statt immer nur an imaginäre Gegenüber zu schreiben, während ich müde vor dem Computer hänge. Mein Abendessen besteht aus sehr seltsamen Somsa mit Huhn; mehr halte ich in meinem Zustand auch nicht für nötig. Als es zum Flughafen geht, scheine ich ganz fit – genug, um nicht tot umzufallen – vor Ort sieht das schon anders aus; wir sind zu früh und die Tore geschlossen. Ich kann Flughäfen nicht leiden, absolut nicht, und trinke mit den anderen lieber einen Nestlé-Löslichkaffee, auch noch für Geld, als weiter nachzudenken. Das gereicht mir beim Einchecken zum Nachteil. Ich hätte einen Wodka trinken sollen. Die überweiche Frauenstimme, die mit mir auf Russisch redet, weil ich zu lange gebraucht habe, auf ihre englischen Fragen zu antworten, sagt mir, ich könne diesen schönen schwarzen Rucksack in die Kabine nehmen, ich müsse ihn nicht aufgeben – check, die Sicherung sagt, lieber alles am Mann und weniger Stress bei der Ankunft; die Sicherheitskontrolle sagt check, Sie haben ein Messer im Rucksack. Ich hole mein Taschenmesser heraus. Nein, ein langes. Nach einigen Sekunden rastet der Warnmechanismus wieder ein und sagt, ups, sorry für die Verspätung – du wolltest den Rucksack doch aufgeben? Er nimmt mein Outdoorbesteck und auch das Taschenmesser, dessen Klinge in Europa unter die Maximallänge fällt, und lässt mich noch müder und traurig den Bereich verlassen – und ich hatte gedacht, ich mache es mir einfacher. Metallbesteck, ich demonstrierte ihm noch hoffnungsvoll an meinem Arm, wie wirklich wenig Schaden es anrichten kann. Ist an Bord verboten. Turkish Airlines serviert Metallbesteck. Zu allem Überfluss war der Wodka im Transitbereich auch noch so überteuert, dass ich diesen Ärger nicht einmal herunterspülen konnte. Das waren wirklich schöne Sachen und dumm, dass ich sie verloren habe – wie gesagt, ich kann Flughäfen nicht ausstehen, wirklich nicht. Wenigstens schützt einen die Müdigkeit davor, den Verlust einiger Metallstäbe zu sehr zu Herzen zu nehmen. Wo ist das Herz? Das erste Mal in meinem Leben schlafe ich gut im Flugzeug und bin überrascht, wie leicht ich mich im Anschluss fühle. In Ulan-Bator haben sie sich Mühe gegeben – der Flughafen hat eine nette Atmosphäre und ich schenke ihnen gleich dafür meine Sympathie, dass sie ihn nicht in Grau-Blau gestaltet haben. Wärme, schon aus den Farben. Keine Umständlichkeiten bei Einreise und Passkontrolle. Nur die Männertoiletten sind gesperrt. Das Gepäck hätte ich auch aufgeben können, die Koffer der beiden anderen kommen sofort und wir machen uns auf, irgendwie irreal in die kälteste Hauptstadt der Welt, oder die dreckigste, wie Vicki meint. Über airbnb hat Malin eine Unterkunft gebucht; für zehn Dollar holen sie uns gleich ab: die Vermieterin und ihre Mutter. Die Kälte schlägt einem ins Gesicht, aber sie tut gut – nach so vielen Stunden innen, einer langen Autofahrt und dann der Flug. Nur der Magen ist, wie üblich nach langem Sitzen und Fliegen, verdreht und nimmt sich die Zeit, sich gerade zu rücken – es dauert bis in den Nachmittag, bis wir beide irgendwie fit sind. Der große Toyota rollt angenehm geräuschlos die Straßen entlang, vom Flughafen in die Stadt. Wir passieren dabei eine Straße an den Hügeln, die die Stadt umgeben, und haben einen Blick auf das Zentrum des Landes, in dem die Hälfte seiner Einwohner lebt – Ulaanbaatar, der rote Held der Revolution, liegt verschneit, und Smog ballt sich über der Stadt. Protzig schiebt er sich aus den Höhlen, Zylindern, den gigantischen Türmen am Rand der Häuser, als wären sie Teil des Lebens, und stoßen doch Tod aus. Das Panorama wird von sowjetischen Klötzen dominiert; ich sitze auf der anderen Seite, zum Berg hin. Ein erstes Bild, bevor wir hinunter in die Straßen Ulan-Bators rutschen, enger als in Taschkent, alles ist viel mehr durcheinander – Autos, Gebäude, Brücken, wie in Chicago oder New York, und die Sichtachsen ändern sich immer, vielfach versperrt von Blöcken, und mittendrin Brachfläche. Die Unterkunft liegt direkt neben der Peace Avenue, die sehr zentral an den zentralen Treffpunkten wie dem State Department Store und dem Mittelpunkt der Stadt am Chingis-Khan-Square vorbeiläuft. Alles wirkt westlicher, auch die Inneneinrichtung hier, in der Wohnung, dem Hostel – nur der Inhalt der Schränke erinnert an Usbekistan: alles vollgepackt mit Kram, Dosen und Tüten, die ganz gewiss keine regelmäßige Verwendung erfahren.

Ein erster Spaziergang bringt Erinnerungen an Lettland, die Kälte, minus zehn Grad, aber für uns der Tod. Wir kommen aus sommerlichen Temperaturen – dort, wo es kalt war, auf 3000 Metern im Wind- und Schneetreiben, bin ich nicht ausgestiegen. Es ist nicht so weit wie Zentralasien, wie Taschkent zumindest, die Straßen sind weniger breit und stärker befahren. Und trotzdem quetschen sie sich, fahren wild – ich dachte immer, in Taschkent können sie es sich erlauben, Platz genug ist ja. Aber hier – gibt es Bäckereien! Auf unserem ersten Weg kommen wir an nicht weniger als drei Stück vorbei und machen in einer Halt – Selbstbedienung, irgendetwas essen. Roggenbrot! Die Überraschungen nehmen kein Ende; zum ersten Mal seit langem bestelle ich mir einen echten Espresso aus einer echten Maschine und – er schmeckt göttlich. Ich merke bald, ganz ohne echten Kaffee geht es doch nicht. Der in Osch war Appetitanreger, dieser hier Auslöser für Erinnerungen an den Golf von Neapel: 21 Espressi. Und kaum komme ich zurück, haben wie von Zauberhand zwei Gelegenheiten in meiner Nähe eröffnet, die u.a. guten Kaffee anbieten… So ist die Welt, du wünschst dir nichts mehr als schwarze Bohnenbrühe und wirst belohnt mit Überraschungen. Es ist seltsam, darin sind wir uns einig, hier zu sein, in Ulan-Bator, in der Mongolei und keinen Plan zu haben – vom Land, den Bräuchen. Da ist es gut, wenn die Stadt wie nach Hause kommen ist, europäische Cafés… Es ist überhaupt nicht, wie am anderen Ende der Welt zu sitzen; Ulan-Bator ist eine Stadt im Nichts, in freiem Feld mit Hügel und irgendwo sind Berge. Die meiste Zeit nur Eis und Schnee, und trotzdem – so viel wird hier hinein gebracht; es ist wie nach Hause kommen. Als wäre Zentralasien ein riesiges Vakuum zwischen dem Westen und China. Oder die Mongolei eine europäische Exklave; das trifft es – auch politisch – wohl besser. Es ist Samstag und der steht im Zeichen der Ruhe, mein Magen braucht sie, mein Kopf ebenso und mein überschwängliches Herz nimmt sie ebenso an. Abends hätte ich fast Lammniere gegessen. Nun, ich sollte es nachholen können. Fast schon in alltäglicher Lethargie verging der Sonntag, als wir durch die Gegend getappt sind, essen gegangen und dadurch die James-Bond-Vorstellung verpasst haben. Die Suppe war es wert, echt mongolisches Essen, auf immer ein Erlebnis: Brühe mit Schafsfleisch und Zwiebeln, vorsichtig gewürzt. Auf die Dauer muss es nicht sein, aber mit 100 ml Wodka – in anderen Größen gab es ihn nicht – doch, als Flasche – gibt es kein besseres Futter bei Eis und Kälte. Abends war mir diese so heftig durch den Mantel in den Bauch gekrochen, dass ich fast wieder einen dieser Anfälle bekommen hätte – Angst in kalt und feucht… So streckten sich die beiden Tage vor Beginn des Seminars gelassen über den Eindruck eines sehr westlichen Ulan-Bators, ganz unspektakulär und doch würdig der Erinnerungen.

Montag. Pünktlich um 15 Uhr versammelten sich die Vertriebenen aus Mongolien, der Kasachei und den Ländern der Kirgisen, Tadschiken, Usbeken auf dem Sofa des kleinen, zentralen Hostels, in dem wir alle untergebracht waren. Nur natürlich nicht pünktlich und alle passten auch nicht in die Räume, sodass quer über den Spielplatz weitere Zimmer angemietet werden mussten. Ein Seminarraum war ein, zwei Stündchen zuvor gefunden worden, und so begann alles unter den besten, gelassensten Voraussetzungen. Da kommt keine deutsche Ordnung gegen an. Ich als Usbeke fühlte mich reichlich überstrapaziert von der geforderten Pünktlichkeit, so gerne ich dem Kommando auch gefolgt wäre. Ich muss keine vielen Worte verlieren, die Themen, Spielchen, alles Typische der Seminararbeit und geistig fordernd wie Team-Building, das will und soll ich nicht beschreiben. Unser Weg dorthin, zu jener Arbeit, selten produktiv, führte zwanzig bis dreißig, bei jenem Tempo, Minuten durch die Stadt, durch den Smog, durch die Kälte – Anlass zu Maulerei und Beschwerde, Anlass auch zu Gesprächen zu zweit, dritt, die noch die interessantesten der Tage waren. Nicht nur mit Mongolen, viel spannender fand ich den Stil der Tadschiken, die doch so ähnlich klangen wie was man in Usbekistan hört – nun gibt es durchaus historische Überschneidungen, doch diese Ähnlichkeit war neu und überraschen. Tadschikistan ist ärmer, zerrissener, kleiner, unruhiger. Die Hand, die hier seit 91 das Land umschnürt, zum Ersticken, hält, war lose nur im Nachbarland, das einen blutigen Bürgerkrieg bis in das neue Millennium hinein zu führen und verlieren hatte. Eine Situation also, wie sie dem alternden Usbekistan vielleicht noch bevor steht – falls Fäden der Macht nicht so verlaufen, dass alles aufgefangen wird, im Keim erstickt… Und tadschikischer Plov schmeckt nicht, jedenfalls laut den Berichten der beiden aus Khudschand im Norden, näher an mir als irgendein Freiwilliger sonst. Jedes Land hatte einen Abend Zeit, sich vorzustellen, wobei die anfänglich festgelegte Redezeit von fünf Minuten nur von den sechs Mongolen halbwegs eingehalten wurde. Regeln… Da es mehr Länder als Abende gab, wurden die Stans mit je einem Freiwilligen zusammengelegt: Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan, und erzählten so am letzten, müdesten Abend drei unterschiedliche, ermüdende Geschichten; ein Ende in getrockneten Früchten aus Taschkent, sowie süßem und salzigem Naschwerk aus Almaty und Bischkek. Am nächsten Morgen lagen mehrere der Krieger flach, übergaben sich oder – alternativ – hatten Kopfschmerzen. Ob nun von den getrockneten Früchten – ich hatte sie sorgfältig abgewaschen und, selbst Kandidat Nr. 1, was Anfälligkeit des Magens angeht, keine Schmerzen zu beklagen oder vom Hot Pot, zu dem wir am vorherigen Abend marschierten und wo ich endlich meine Lammniere genießen konnte… Das Seminar, am letzten Tag, musste mit der guten Hälfte geführt werden und endete so, wie es schon die ganze Zeit über lief: zerrissen. Ein Termin in der ersten Schule in UB (der wahre Name der Stadt) und einer bei der deutsche Botschaft am Dienstag, der Mittwoch als Ausflugstag und der Besuch einiger beim Bildungsministerium am Donnerstag untergruben Kontinuität und inhaltliche Steigerung des Seminars, wogegen auch die Leiter nichts tun konnten als – noch mehr Spiele zu spielen. Eine Woche ohne viel Hirn, aber dennoch Anspannung – die Kälte. Und jeden Tag über eine Stunde laufen, gesund, wenn nicht der Smog wäre. Immerhin haben wir die deutsche Botschaft besucht und ein Plauderstündchen mit dem Botschafter gehabt, der vorher in Nordkorea eingesetzt war und alle zum Lachen brachte, als er bei Usbekistan aufhorchte, mich fragte, was ich vorher gemacht hätte und ich ihm antworten musste, ich sei jünger, als ich aussehe. Nun, ich hätte sagen sollen, meinte ein Tadschike später, mein Philosophiestudium sei beinahe beendet und ich schreibe gerade an meiner Doktorarbeit, er hätte es mir geglaubt. „Sartre und der Begriff der Freiheit“ oder so. „Der Einfluss marxscher Philosophie auf die Entwicklung Zentralasiens von 1905 bis 1920“. Soll ich noch lamentieren über den Luxus deutscher Freiwilliger im Ausland? Unsere Verpflegung bestand in zweimal täglich Essengehen, auswärts, denn ein inwärts gab es nicht. Acht Euro pro Person pro Mahlzeit stehen zur Verfügung und in der Mongolei geht das exzellent auf – wie in der ganzen Region außer Almaty. Man beschwert sich nicht – Sri Lankian food, Pferdefleisch und mongolische Spezialitäten haben nicht nur den Charakter überbordenden Luxus, sondern auch von Kulturvermittlung im weitesten Sinne.

Von bedeutender Schönheit allerdings war der Ausflug in die Natur am Mittwoch. Es ging langsam los – von einem sowjetischen Denkmal am Rande für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs, das glorifizierend von der mongolisch-sowjetischen Freundschaft erzählt und wo noch immer ein Ewiges Feuer brennt, von wo aus man den wundervollen Blick über die von der ersten Sonne hinter den kleinen Hügeln begüldete Stadt und ihren sich hebenden Smog genießen konnte, bis – nach langer Fahrt – zur größten Reiterstatue der Welt: Dschingis Khan, seine Geschichte wurde erzählt, während wir an den auslaufenden Stufen zu dem Ungetüm standen, 40 Meter Stahl – glänzend in einer Landschaft unendlichen Schnees, unberührt, weil der November nicht der liebste Touristenmonat hier ist. Man spürt es an den Füßen, Händen, im Gesicht. Wie viel Grad? Was weiß ich, irgendeines Morgens zeigte irgendeines Handy -31 an, und selbst wenn man diesem nicht glauben möchte – als wir kamen, waren wir bei -10 Grad erfroren, und als wir gingen, bei -25 Grad für’s Erste bedient. Freilich, trockene Kälte, die man zusammenfalten kann, nicht diese gräuliche Feuchte, die dich so zittern macht, während sie dir deine Haut anfault. Wir standen auf Dschingis’ Pferds Nacken und machten Fotos. Wir besuchten das Museum über die Mongolei in der Bronzezeit und bekamen, einen Guide hatten wir dabei, Geschichten und Geschichte erzählt, die sich – so kenne ich es – nicht immer leicht voneinander unterscheiden ließen. Wir fuhren anschließend fort, um die Jurte einer, sagen wir, an Touristen gewöhnten, Familie zu besuchen, darin zu speisen und zu trinken. Erst Kekse, dann Reiten, dann Tsuivan, traditionell und mit Gemüse! Natürlich mit Fleisch, wer fragt denn so doof? Was sollte es geben, dass Mongolen ohne Fleisch essen – nichts, so war der Eindruck. Ich sagte reiten – ja, auch ich, fast alle. Ich geführt und das war auch ganz gut so, in die weite Welt des Schnees hinein. Hinten Hügel, oben leuchtend klarer blauer Himmel, unten die Tapsen von Pferden, anderen Tieren, Autos – dort drüben kam eines angeschossen, über die Ebene, und wurde langsamer, als es in unsere Nähe kam. Kalt war es, und wir ritten gemächlich, doch kontinuierlich und immer dieser Blick, der von allem ablenken konnte, und stehe man selbst in Flammen – von einem so weiten Horizont kann man nicht die Augen abwenden oder man geht Gefahr, sie beim Drehen des Kopfes dort zu lassen. Wirklich, ein schöner Spaziergang – bloß ohne eigenes Bewegen der Beine, und etwas Rücksichtnahme darauf, dass man ein Tier unter sich hat. Sonst – Kälte. Da tut das Fleisch dann seine rechte Wirkung. Und anschließend im Bus, der glücklicherweise wie von alleine fuhr, konnte man sich von den Strapazen erholen, irgendwie sich doch als Exploitationstourist fühlen und gesättigt, zufrieden liegend, auf die nächste Station warten. Immerhin – nach dem seltsamen Turtle Rock, nun, der Name sagt alles, ging es zumindest zur Buße – einem buddhistischen Kloster, oder Tempel, denn die Statue alleine beherrschte oben den Raum; zu ihrer Erhaltung und Ehre war kein Mönch vonnöten. Und auch dieses, selbst die Buße war für Touristen: Inschriften waren zweisprachig vorgenommen worden – auch eben auf Englisch. Die spektakulären Blicke entschädigten von der getanen Buße und wen nicht die Kälte zwickte, den konnte der Anblick frei sprechen von allen Sünden, wenn man wie ein Geist in der Landschaft aufging und in den Himmel stieg, als Eisstaub, nie mehr gesehen. Das Innere, wie gerne hätte ich es näher beschrieben, wie gerne länger genossen; doch weder zur Wärme noch zum Glotzen sind diese Figuren, Gemälde und Säulen, Ornamente und Rituale da – wer nicht rechten Glaubens ist und sowieso zur Buße hier, dem verbietet der Raum ein näheres Eintauchen in seine Wirklichkeit, und der Moment bleibt im Gedächtnis verloren als einmalige Annäherung an das Äußere des Buddhismus; das Innen, der Schatz bleibt verschlossen, weil mein Hirn nicht offen genug war, es zu empfangen. Eine wahrhaft buddhistische Weisheit. Spottet nicht, spricht der Herr, nicht einmal über euch selber.

Ulaanbaatar, das eigentliche Ziel der Reise, verschwand als Teil der Kur von dieser einen Fahrt durch grelles Weiß und bittres Schwarz. Irgendwie wurde es Pilgerort anschließend, den der Anpochende nur gereinigt betreten darf, das Haupt geneigt und bereit für noch Schlimmeres – die Kälte, wenn man keine adäquaten Kleider mitgenommen hat. Kälter als Lettland und mein einstündiger Spaziergang bei -17 Grad scheint wie ein Witz gegen all die Gänge zum Seminarraum, zum Essen, durch die Stadt in Ulan-Bator, all das Herzrasen, Angst und Atemnot; der Aufstieg zum Tempel – etwas Heiliges, Großes und die Unheimlichkeit im Bauch macht alles surreal, verschwommen und magisch; diesen Blick über das Tal, wie zugefroren einsam wie oben bei den rasselnden Gebetsmühlen und hinter uns ein Gott. Unheimlich, eng trotz dieser Weite und als könnte man lachen über mich, so naiv oder schmerzensreich – als hätte ich die Geister jenes Berges gestört, jenes Tempels – ich als Tourist, der diesen Ort nicht besteigt, um Opfer zu bringen, sondern um den Blick zu gewinnen. Frieren ist Opfer, Weg der Demut, Schmerz zum Vergessen und Test eigener Grenzen. Das nächste Mal fahre ich im Februar und komme mit der Transsib.

Ja, das Eindrücklichste, alles andere wie Zahnabdrücke in rosarote Gummimasse pressend, waren die Temperaturen. Geschweige denn, dass ich lange Unterhosen oder –hemden mitgebracht hätte, wäre mir mit einem Reißverschluss mehr gedient gewesen als mit der offenen Knopfreihe des Mantels und ich hätte auch nicht nur zwei H&M-Jeans mitnehmen sollen – zum Glück gibt es gute Geister, die zum Ausflug bereit sind zu leihen und zum Glück hatte ich wenigstens ausreichend dicke Socken mit. Aber – aber… Was für ein Einreißen von Schutzwällen, wenn alles friert und der Magen, angegriffen, die Energie des Körpers für sich beansprucht. Wenn alles ein warmer Fluss ist an Schlaf und Fordern – dem Willen, der den Körper immer weiter treibt, weit ab von allen Grenzen – ein Flug über Grenzen und Territorien, sie vielmehr erahnend als erkennend, und auch das nur mehr gewollt, forciert. Bodennebel oder der Smog über der Stadt; blind bin ich für alle Linien und Zäune, bin ich weit ab der Grenzen oder feindlichen Linien oder dem sicheren Hafen meiner Familie, Geistigkeit? Selbst das Zerknirschtsein gehört zu einem Spiel, das ich auf spontan verhängten Regeln begehe. Wie soll ich wissen, wie viel ist zu viel? Die Grenzen sind fluid und wandern mit den Wahrnehmungen der Wirklichkeit um mich herum, gleichsam einen unruhigen Spieler zur Ruhe mahnend und den inneren Schamanen zum Weiterhexen zwingen, den begonnenen Weg bis zu einem Ende zu folgen, anzukommen und nicht den Rückweg zu einem Stottertrip passieren zu lassen. Das Ziel: dieser Abend und die Unterkunft, in der verlässlich die Maschinen, pumpende, pustende, dreckiger Körper die Räume wärmen, und ihnen verdankt man das Leben. Die Kälte war nicht überwältigend, meine Zusätze haben Gutes getan und ich bin dankbar für ihre Hilfe – unendlich. Doch wenn sie da zwischen den Knöpfen von unten durch den Rock in den Bauch kriecht, leise bestimmt ihre eisige Hand nach den heißen Organen ausstreckt, die den Tag eh angeschlagen fortführen in ihrer schwitzigen, ewigen Arbeit gefangen und mit dem plötzlich wieder-anders überfordert sind, wenn dann das Bewusstsein auf die Kühlung gelenkt wird, wird der Körper selbst geschwächt und will nach einiger Zeit unter dem Gewicht dieser Eisenfaust brechen – es ist nur der Bauch und alles – sorgfältig aufgebaut – verstört und verwirrt – bricht, stürzt und plötzlich steht der müde Kopf allein und hält zusammen, was lange scheinbar nicht mehr zusammen gehört – die Kabel sind getrennt und es läuft vorbei, bis Willenskraft und Ausdauer den Tee brauen, die Ruhe genießen, den Stift zücken. Es ist natürlich, ich habe noch immer die Kraft, oder schon wieder, meinen Zustand zu dokumentieren; wie ein Hund an der Leine zerre ich, kläffe ich innerlich, bis ich los darf – sobald mein Magen mich nicht mehr voll beansprucht, springe ich los und zerre Wörter hervor, bis ihre Bedeutung viel höher scheint als der bittere Gehalt, der sich eben weit weniger dramatisch beschrieb. Der Mensch gewöhnt sich an so vieles und hält so viel aus – am Rande des Zusammenbruchs, des Kollabierens auf offener Straße, weit, weit noch weg – nur die Grenzen, sie verschwinden, wie weit? Ein Haar oder ein Sichtfeld – mein Kopf ist es nicht, der diese Schnüre hält und meine Hand nicht, die sie trennen wird.

Habe ich etwas vergessen? So vieles, aber es ziemt sich nicht, den Schleier der Vergangenheit zu heben, nur um korrekt zu sein und jedes gezählte Haar zu notieren, nur um sich zu beweisen oder seinen Tafeln zu genügen – so viel ist gesagt, alles weitere bleibt Geheimnis.

 

Hinter den Rändern

…der müden Augen liegt eine Welt, fernab, am Rande des Sichtfelds. Sie kriecht, umkreist mich bedächtig, und ich umkreise sie, ein stetiges Sehen und Verschwinden, Entschweben und Verstehen. Was gibt es groß zu verstehen? Ein Leben, zwei Leben – alles ein einziges Leben auf einem einzigen Planeten. Ich sehe und bin überfordert, warum? Als käme ich aus eingesperrter Welt, und bin doch frei, in weite, große Märkte, Westen, Angebot und endlich wieder viel zu viel! Ich flog von Ulan-Bator nicht nach Hause, zu schnell durfte es nicht gehen, sondern behutsam nach Bischkek, an den Rand Kasachstans, doch deftiges Zentralasien – ich flog und lächle, wie gut der mongolische Flughafen. Eine Bücherecke gab es und, pst, das wollte ich niemandem sagen, ich habe mir die „Brüder Karamasow“ gekauft – auf Russisch, scheint ein Anspruch zu sein, den ich mit nach Deutschland nehmen darf. Nun liegen sie bei mir und ich bin froh, ein Andenken für mich aus der Stadt, die mich doch so sehr beeindruckt hat – dieses Radikal, wie ein Kessel, brodelnd, glühend vor Kälte, Angst und dem Gegenteil von Schweiß. Nein, Bischkek ist kaum sehenswert, nicht zu verachten, nur so schlicht quadratisch, da fehlt mir doch die Kreativität. Hier müssen Häuser nicht, wie in Neapel, um ihren Platz, ihr Recht am Ort zu sein, kämpfen. Zurück zum Flughafen – Turkish Airlines fliegt auch bei minus 25 Grad, während EasyJet schon in Berlin mit angefrornen Tragflächen aufgab – ein letzter Blick auf die versmogte Stadt; ich sitze am Fenster und erlebe einen der schönsten Starts meines Lebens: raue Hügel, schneebedeckt, steigen aus dem tiefen Nebel wie Geister, Schamanen, die Geister beschwören. Die Sonne, die alles kalte Weiß zu einem Teppich aus Spitzen und Tälern macht, eine Decke aus Weiß und Schatten, unter dem wie Zipfel eines Tischtuchs Pyramiden stehen. Hier erscheinen sie wie jene Narben der Erde, die sie sind – verwachsene Spuren urmächtiger Gewalt, Kraft der Zeit und Erde. Es zeigt – sie ist verwundbar und welche Schönheit aus Wunden erwächst. Ich stelle mir die schmalen Gebirgsstraßen vor, wie ich sie in Kirgistan gefahren bin – wie lächerlich hilflos der Versuch, diese Wunden zu meistern, wie lächerlich, die Gewalt überwinden zu wollen. Die Laster dort oben sind lebendige Zeichen, wie einfach es ist, den Menschen zu hindern. Die Erde ist gewaltig, gewalttätig und der arme Mensch kann nichts als in kindischem Zorn seine Mutter zu verfluchen – eine Eiswüste unter Wattebäuschen.

In Bischkek fühle ich mich gleich zuhause – bei der Ankunft warten Soldaten, wie wir aus dem Flugzeugexit steigen, ab hier wieder Zentralasien, ab hier wieder Strenge. Kilometerlang säumt den Weg vom Flughafen vermutlich längst obsolete Werbung von „Kunststoff Scheffer“, und hätte ich noch Energie gehabt, hätte ich den Fahrer angeschrieen, was er überhaupt wolle, 2000 Som, 30 Euro für die 40 Minuten – aber ich war zu schwach und hatte genug gehandelt, nachdem er 3000 wollte. Nun, ich habe das Geld und er vermutlich nicht. Ich sei ein guter Mensch, beim Aussteigen, und als hätte ich genug Ruhe gehabt, kam ich im Mantel der Tiefenentspannung todmüde an, um Geburtstag zu feiern – ein kulturweit-Freiwilliger der Frühjahrsausreise, und ein anderer Deutscher, die ganze Nacht, fröhlich, lustig, taumelnd attraktiv ein Schleier der Unterhaltung. Erwähnenswert kaum… doch, jene Gruppe Ethnologiestudenten aus dem fernen Tübingen, die in Kirgistan Feldstudien treiben. Das nenne ich ein Studium. Das Bett – der Boden – wartete vergeblich auf mich; um Viertel vor Sechs bin ich hineingekrochen und nur Stunden später von der Helligkeit ins Leben gerufen worden. Mein Magen hatte mich gewarnt und davon abgehalten, den Alkohol zu trinken, den ich gerne getrunken hätte; so ging der Tag vorüber – schmerzlos, konturlos, ereignislos. So war der Flug nach Taschkent langweilig, außer, dass ich es verpasst habe, die Flasche Wild Turkey 101 1 Liter für 17 Euro zu kaufen.

Den Bischkeker Flughafen, die Reihe vor dem Check-In, finde ich nicht anheimelnder als vor einer Woche, wo die Frauenstimme so säuselte, dass ich ihrem Ton verfiel und mein Metall vergaß – diese Reihe, sie erinnerte mich an die Bilder der Apokalypse, wo Massen warten und hoffen, unter den 144.000 zu sein – eine Kopfschmerzhalle und leider zu wenig Zeit, mich im Duty-Free-Bereich für das richtige Getränk zu entscheiden – der Whiskey, Hälfte des deutschen Preises, von Usbekistan ganz zu schweigen. Ich wünsche mir ihn an den Mund. Ein Totmacher für die Furcht. Immer denke ich an all die Beamten, Kontrolleure und Polizisten, die mir, wenn sie wollten, Böses antun könnten. Ich werde klein und ängstlich nur in Gedanken an ihre Macht, zurückzuweisen, zu verweigern und Privates zu öffnen, auszuschöpfen, Rechte der Person zu übersteigen und den tiefen Kern des Bösen zu offenbaren: Du willst doch töten! Es ist die Angst, mit offenen Armen ins Messer zu laufen und als sei man schuldig, schlägt man die Augen nieder vor den stolzierenden Blicken der gehorsamen Kinder, selbst vielleicht müde, aber ohne Frage und Gnade ihr Sold verrichtend – aus Angst, dann wieder selbst schuldig zu werden. Die müde Seele fürchtet sich umso mehr, ihr Widerstand ist lahm, und nach jeder bestandenen Prüfung, jedem überwundenen Blick und jeder Kontrolle, friedlich, möchte sie ein Kreuz in die Luft schlagen und für die Güte danken, diese arme Seele in Frieden ruhen zu lassen. Und wird dabei noch kleiner. Der Prozess – Kafkas große anatomische Fantasie, Vivisektion und genüssliche Ausführung der Bürokratie, so ist die Zeit. Die Unsicherheit steigt ergeben mit dem Versuch, die Reise sicherer zu machen. Am Ende steht ein Heide, der Kreuze schlägt und Gebete spricht, flach atmend den tief gebückten Geist zu vertreiben sucht, der seine Imagination besetzt und scharf umklammert hält… So lange bis ich sitze, ruhiger werde und mir sage, Air Kyrgyzstan ist nicht schlimmer als EasyJet. Den Rest habe ich vergessen.

Zu einer unverantwortlich normalen Zeit betrat ich also zum zweiten Mal den Taschkenter International Flughafen… Nicht schöner als beim ersten Mal, nicht lieblicher; der Duty-Free-Shop hatte keinen Wild Turkey und 40 Minuten dauerte es, bis ich mein neues Visum in den Pass gestempelt bekommen hatte. Man muss ausreisen, um ein Visum verlängern zu können, und ich muss meines verlängern – jetzt habe ich, was ich will und erspare die Einzelheiten. Visa in Usbekistan sind nicht die schlimmste, aber eine schlimme Sache. Endlich den grün-blauen Schein in der stolzen Hand haltend, fand ich meinen Rucksack, letzter des Fluges aus Bischkek, mitten im freien Raum liegend vor. Was sollte ich mir daraus machen, geschlossen war er noch, also schritt ich langsam, müde und unerwartet problemlos durch die Gepäckkontrolle, Zoll und stand dort, wo ich schon einmal stand – am ersten Tag, und bewunderte den breiten Asphalt, hinter dem die Taxifahrer schreien. Einer verfolgt mich bis ans Ende des Parkplatzes – ich weiß, dass jene teurer sind, will ein Auto von der Straße dort hinten nehmen; kein leichtes Unterfangen. Ein naher Abschnitt Bäume schützt mich und ich setze meinen Rucksack ab, die Sum zu nehmen, die ich in der vorderen Tasche gepackt hatte. Offiziell darf ich damit nicht einreisen. Ich ziehe den ersten Reißverschluss auf, den zweiten, greife hinein und stutze. Hunderttausend Sum. Das war nicht das, womit ich Bischkek verlassen hatte. Ich reiße sofort die anderen Taschen auf, sonst ist nichts weggekommen. Zuhause vergewissere ich mich – einige Sum, einige Som und Euros, die beide vor Müdigkeit dort gelandet sind – und meine Tugrik. Sie schmerzen mich, mein Souvenir, und wer kann mit ihnen etwas anfangen? Jetzt habe ich nur noch die Brüder Karamasow. Ein Taxifahrer ruft von der Straße, ob ich irgendwohin will. Ich zögere. Bleib hart, noch ein Stückchen weiter, dort vorne fährst du billiger. Ich gebe auf. Jetzt ist nicht die Zeit zu widerstehen. Nicht mehr.

 

Ulaanbaatar

Ulan-Bator ist eine faszinierende Stadt – neu, westlich orientiert und doch markant mit Spuren sozialistischer Herrschaft versehen. Je gewöhnlicher die Stadt dem europäischen Auge scheint, desto deutlicher stechen dann jene Elemente heraus, welche sie eindeutig dem asiatischen Kontinent zuordnen.

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Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt.

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Erinnerungen an die USA…

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Hotpot-Essen am ersten Abend – verdammt gute asiatische Pilze. Als wir später wiederkehrten, gab es Lammniere.

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Im Vergleich zu Taschkent: Mehr Verkehr auf kleineren Straßen…

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Der „State Department Store“, das zentrale Kaufhaus.

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Chingis Khan, der noch zentralere Platz.

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Vor dem State Department steht bereits ein Tannenbaum – auch das mutet europäisch an.

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UB – Smog 1

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Ausflug am Mittwoch.

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Sowjetisches Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten.

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Eines der beiden großen Kraftwerke in der Stadt; Hauptverursacher für den ganzen Smog (kein Nebel!).

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Am Rand der Stadt, auf der anderen Seite des Denkmals.

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40 Meter Stahl: Chingis.

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Unsere Gruppe. Danke für die Mütze, Flo!

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Wir waren reiten und sahen Weiten aus Schnee und blauen Himmel.

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Turtle Rock.

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Wir besichtigten ein buddhistisches, mönchloses Kloster. Die Pforten und den „Art Shop“ bewacht ein Hund.

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Der Pfad, welchen entlang der einsame Wanderer geht, ist rechts an den regelmäßigen Tafeln (buddhistischer Weisheiten) nachvollziehbar.

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Wieder in den Straßen der Stadt.

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So sieht Kälte aus. -25 Grad.

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UB – Smog 2.

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UB – Smog 3.

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Beatles-Denkmal vor dem State Department.

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Chingis Khan International Airport – zurück nach Bischkek, dann Taschkent.

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