Goethe Institut

Einzug der Herbstlichkeit

Langsam kommt die Lust, mehr zu schreiben – als den Blog, Erfahrungen, die festgehalten werden. Ein Roman? Drehbuch? Vielleicht. Warum nicht? Ich habe wieder begonnen, über Kunst nachzudenken, bereits in der Woche zuvor eingeleitet durch die Lektüre, nun zum zweiten Mal, des einführenden Kapitels der Dialektik der Aufklärung, „Begriff der Aufklärung“ und fortgesetzt in der Beschäftigung mit Filmtheorie. Ein sehr schönes Büchlein hatte die Institutsleiterin, Julia, man duzt sich ja im Institut, in ihrem Büroschrank stehen: „Texte zur Poetik des Films“ mit ganz großartigen Beiträgen aus der Frühzeit des Kinos von u.a. Hugo von Hofmannsthal, Alfred Döblin und Kurt Pinthus. Dieses ausgeliehene Exemplar hat in mir langsam, so oft ich eben Zeit zum Denken außerhalb des unmittelbaren Erlebens habe, die bekannten Gedanken wach gerufen, Überlegungen zur Poetik, zu Sprache und Format des Films. Gleichzeitig habe ich zu Beginn der Woche von einem Essaywettbewerb der Leipziger Zeitschrift Edit erfahren, Einsendeschluss 15.12.2015, und plötzlich reiften diesbezüglich in mir Ambitionen… Es bedeutet: In Schüben und sukzessive erwacht mein alter Geist, der von allem Erleben und der Müdigkeit zunächst gelähmt war, wieder und gibt mir ein Gefühl des Künstlertums, zeigt mir diese Ideale auf, welche ich mir in den letzten zwei Jahren aufgebaut habe, gibt mir also freien Mut zum Weitermachen, Weiterdenken. Ja, wenn ich nur frischen Wind in den durch Schule schlaffen Segeln gesucht hätte, dann könnte ich jetzt nach Hause zurückkehren, wenn sich das Erleben dem Geist unterordnet, die Eingewöhnungsphase spürbar dem Gesetzten weicht, der Routine. Ich habe mich für die Radikalkur entschieden, nicht den seichten Weg leichter Veränderung. Selbstverständlich kein Grund, nicht alten Pfaden zu folgen, geistig, denn gerade in den Bereichen der Kunst werden alte sehr schnell zu neuen Wegen und Kreuzungen tun sich auf, weil das Auge wieder sieht, was vorher nur der Körper gespürt hat. Wohin will ich? Das vermag ich nicht zu sagen und besser ist es. Ich lasse mich lenken, werde freilich keinen Roman schreiben in dem Jahr, und wahrscheinlich auch kein Drehbuch – die Zeit, so ist das, rennt und selbst wenn sich die Eindrücke mir in Zukunft nicht mehr aufzwängen werden; ich suche nach ihnen, ich werde gerne arbeiten, weil diese Arbeit Möglichkeiten zeigt und Welten, die ich zuvor nicht erträumt habe, ich werde keine Lust haben, der Zeit hinterher zu rennen und am Ende mit vollem Kopf und platzenden Ideen nach Hause kehren. Zwischendurch wird kaum Freiraum für mehr bleiben als Träumen und Planen. Das ein oder andere Gedicht wird sicher entstehen, die ein oder andere Geschichte, hingekritzelte Visionen, Exposés werde ich mitnehmen von hier, aber ein fertiges Produkt? Ich bezweifle es.

Es ist eine volle Woche gewesen, voll geistiger Stärkung und körperlicher Schwächung, aber vielleicht sage ich das nur aus Willkür, Liebe den Widersprüchen gegenüber. Bemerkenswert in jedem Fall die Temperatur, die montags mit Kälte begann – Die Uhr vor dem Goethe-Institut, auf die ich aus meinem Fenster provozierend hervorragende Sicht habe, zeigt elf Grad an, aber ich glaube ihr nicht. Diesen Sommer, meint Shomansur, der Sekretär der Institutsleitung und mein Gegenüber bei der Arbeit, habe sie auch einmal 64 Grad angezeigt. Vielleicht ist das Gehäuse von der Sonne erwärmt. Man sieht seinen Atem fast, es ist kalt. Abends kann man kaum mit dem Pullover rausgehen und die Füße verlangen nach dicken Socken. Aber auch das legt sich – der Dienstag erwartet mich mit blauem Himmel, voller Sonne und nicht zu kalter Luft. Im Gegenteil – die Frische erweist sich als erholsam, angenehme Kälte auf der Haut; man genießt das Wetter und sieht mit hoffnungsfrohem Blick das Thermometer am Mittwoch auf 22 Grad klettern, ignoriert die Unzuverlässigkeit der Goethe-Uhr, die übrigens Werbung einer Telekommunikationsgesellschaft trägt, und denkt an Sommer. Ein Irrtum, fatalerweise, als der Donnerstagmorgen mit hoch zugezogenem Pullover, ein Glück der mit Kragen, beginnt – sechs Grad sagt die Uhr, und ich laufe abends ein Stück im straßenerleuchteten Dunkel, Hände in den Taschen. Es ist schön, die erste Kälte, als einsamer Spaziergänger neben den Autos und Laternen; heute Nacht soll es Frost geben. Man glaubt es ohne Frage. Doch was am Tag zuvor noch Romantik, Lebenslust und Zuversicht war, wird freitags zunehmend verdrießlicher. Die Temperatur bleibt ähnlich, das Wetter auch, und im Kopf, in den Beinen und den müden Augen macht sich die Achterbahnfahrt der Woche bemerkbar. Wenigstens geht die Heizung ab heute, wobei Elmira doch kürzlich noch meinte, sie starte ihren Dienst – zentral – erst am „01. oder 15. November“. Mir soll es recht sein, das Bett ist warm und der Morgen des Samstag schlägt mich mit einem Himmel solch brutal leuchtenden Blaus, dass es kaum zu begreifen ist. Die Luft über der Haut ist wärmer, die erstmals übergezogene Jacke tags unnötig, verbreitet aber einen zufriedenen Schauer inneren Wohls und von Sicherheit. Der zweite Wetterschock der Woche – heute sitze ich wieder im T-Shirt vor meinem Computer, bei offenem Fenster, selbstverständlich blauem Himmel und wundere mich, warum ich immer noch nicht krank geworden bin. Zugegebenermaßen, die Sonne macht viel aus, und als ich heute Geld wechseln wollte, den Spaziergang zum Basar unternahm, war der Pullover recht am Platz. Etwas durcheinander hat mich das Auf und Ab doch hinterlassen und so stocke ich vor dem Haufen an Notizen, die ich mir für diesen Eintrag gemacht habe. Ich hoffe, ich bekomme sie alle unter einem Hut.

Die Programmabteilung hatte wieder einen Gast eingeladen, Barbara Heinrich aus Berlin mit ihrem Mann Peter Anders. Sie sollte einen Workshop für die zukünftige Direktion der Taschkenter Biennale 2016 halten. Diese Biennale gibt es unregelmäßig seit den Neunzigern und wird vom Staat (wie auch sonst…) getragen. Die Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin sollte also den auf internationalem Parkett eher unerfahrenen Künstlern und Kuratoren an sechs Abenden, die dann zu Nachmittagen wurden, Aufbau und Management einer Großausstellung wie z.B. einer Biennale an internationalen Standards nahe bringen. So hatte ich das Vergnügen, allen Sitzungen in Arbeitszeit beizuwohnen und… nun, ich habe eine Vorstellung von der Organisation der zukünftigen Leipzig-Biennale. Ach nein, das Konzept ist ja viel zu mainstream für die Stadt. Außerdem brachte es den Vorteil, dass ich, nachmittags nun kontinuierlich beschäftigt, nicht in die Verlegenheit kam, aus Zeitüberschuss die Kinderfilme weiter zu gucken. Nicht, dass man es mir übel nimmt, aber meine Motivation, „Rettet Raffi[ein Kuscheltier]!“ oder „Rico, Oskar und das Herzgebreche“ zu sehen, hält sich doch in Grenzen. Und ich habe meinen sechsten Wochenendarbeitstag hinter mir.

Arbeit wurde sowieso zunehmend durch Vergnügen ersetzt, die Schleife fängt beim Workshop and und zieht sich im Essen zu. Gleich am Montag kam Julia zur Mittagszeit mit Jacke und Tasche durch mein Büro: Ob ich mitkommen wolle, eine usbekische Regisseurin lade zum Essen ein. Etwas perplex ordnete ich meine Sachen und folgte getrieben. Mal ehrlich, wie soll man da Nein sagen? Kamara Kamalova ist eine 76-jährige usbekische Regisseurin, die beim „Schlingel“ 2014 den Publikumspreis erhielt und mit dem Institut bei unserem Kinder- und Jugendfilmfestival „Shumbola“ zusammengearbeitet hat. Da das Institut irgendwie auch in den Film verstrickt war, lädt sie zum Essen ein – Julia, Ravshan und alle, die mitkommen wollen. Ich will. Am Ende komplettiert die Runde lediglich der „Fahrer“ des Instituts, Zafar, nur vier Jahre älter als ich, der sich ebenso über die plötzlich Gelegenheit freut. Die Wohnung ist in einer guten Gegend, wir hätten kaum mit dem Auto hinfahren müssen. In ihre kleine Wohnung tretend, begrüßt sie uns eifrig und geleitet uns zum reichlich gedeckten Tisch auf dem ausgebauten Balkon, in ein zweites Wohnzimmer verwandelt. Sie zeigte uns ihre Preise, aus Moskau und einige kleinere, die ich vergessen habe (so perplex war ich, noch immer), und ein Foto von ihrem Besuch bei einem Filmfestival im Iran in den Siebzigern… Zu sehen ist der Schah und seine Schahbanu; jawohl, derjenige, welcher das Land kulturell öffnete – die Regisseurin erzählte von Frauen mit tiefen Ausschnitten und Tanz und Trank wie in Hollywood – und welcher von der islamischen Revolution überrollt wurde. Dem Chomeini folgte. Der sich für einen gemäßigten Islam und für eine demokratische, dezentralistische und soziale Gesellschaft aussprach. Freilich hat nicht der Islam daran Schuld, was dann geschah – der Schah wollte seine Gesellschaft in Sphären führen, für die er sie nicht genug vorbereitet hatte. In solchem Moment obsiegen traditionelle Kräfte.

Aber das Essen! Usbekisches Norin (dünne Nudeln mit Rind), Kaviar, Sülze, die Russen so mögen, in Soße eingelegter Wels, phantastisches Rindfleisch, sehr deutsch schmeckend, in dunkler Soße, dazu natürlich Brot und einfacher Salat – als Vorspeise. Anschließend wurde Plov aufgetischt; dazu Saft und usbekischer Weißwein – nicht mein Geschmack, sehr süß, klebrig und mit einigen Umdrehungen, doch nur der Fahrer kam tatsächlich darum herum, zu trinken. Dem Nachdruck dieser Regisseurin war es schwer zu entkommen und nachdem alle beteuerten, sie müssten noch Leute treffen, Wichtiges arbeiten und ich irgendwie übrig blieb, hätte ich um ein Haar noch Wodka trinken müssen – kurz nach 14 Uhr. Spätestens als sie meinte, sie habe noch eine Torte, stöhnten wir und bekamen tatsächlich nur Gebäck zum Nachtisch. Selten, muss ich sagen, habe ich so gut gegessen, ein Festmahl aus dem Nichts, sozusagen, währenddessen ich auch irgendwie nur mit halbem Hirn da war und mit dem anderen immer noch am Schreibtisch saß. Auf dem Rückweg erfuhren wir durch Julias Handy, dass unsere Concept Note, damit der Antrag auf das EU-Projekt, abgelehnt wurde – zu wenig Punkte in gruselig aufgespaltener Tabelle, klassifiziert im Protokoll als „ungenügend“. Schade, aber: Wer hat die Chance, an einem solchen Antrag mitzuarbeiten?

Bezaubernderweise sollte dies nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich an einem gedeckten Mittagstisch gerufen wurde; bereits am nächsten Tag war es wieder soweit. Gong, die Glocke klingt und hechelnd stürzen die Hunde zu Tisch. Ich gebe zu, die Woche war ein wenig sehr dekadent. Barbara Heinrich sollte einige Teile ihres Workshops mit den Ausrichtenden an der Hochschule „Kamoliddin Bekhzod“ für Malerei und Design wiederholen und erfuhr zum Auftakt von Julia, Ravshan und mir offizielle Begleitung. Wie erwartet wurden wir, inklusive dem Übersetzer, ins Direktorenzimmer der Universität eingeladen, auf hohe Stuhle gebeten und bekamen gezuckerten, schwarzen Instantkaffee serviert – aus außerordentlich hübschen Tassen. Das Zimmer selbst, klein in der Fläche, glich ziemlich genau meiner Vorstellung eines sowjetischen Direktorenzimmers und sein Inhaber, witzig, grinsend, wohlgeformt, der eines usbekischen Direktors. Nach dem nun zum zweiten Mal rezipierten Einführungsvortrag über Biennalen wurden wir in einem Schwung vom Direktor zum Essen eingeladen. Mit den Frauen fuhr er in seiner schwarzen Limousine voraus, Zafar folgte mit dem Rest. Ziel: das „Labi Hauz“, in dem wir ein vorbestimmtes Menü bekamen: köstliches, fettigstes Blätterteigbrot, Suppe, Salat, Schaschlik. Highlight dazu: süßer, usbekischer Rotwein – in etwa Traubensaft mit Alkohol, aber ganz fein und ohne eine Spur im Kopfe zu hinterlassen. Wodka blieb aus; der Direktor musste ja selbst noch arbeiten.

Dafür steckte ich später in der Woche meine Nase zu tief in ein… sagen wir, Getränkegeschäft, um einen Blick auf die Preise zu werfen. Mit großem Hallo vonseiten der Herren, die drinnen saßen, musste ich gleich, wie es immer so ist, Auskunft geben über mich, mein Leben… Das kommt mir schon normal vor und angenehmer ist, man erzählt es Leuten auf der Straße als den Polizisten in der Metro. Ich sage ihnen, inzwischen zum dritten Mal, ich sei 23. Und immer noch meinten sie, der Bart mache halt älter. Am Ende muss ich das Angebot, einen der Wodkas zu probieren ablehen: Es ist mittags und ein Probeschluck sind 50 ml. Vielleicht steige ich demnächst auf 25 Jahre um und gebe mich als abgeschlossener Student der Religionswissenschaften aus.

Apropos Alkohol – der Leipziger Allasch, den ich als Mitbringsel anbieten wollte, und der kleine Rigas Balzams, tatsächlich eine Flasche für Besonderes, liegen unangetastet in meinem Koffer und warten noch. Keine Sorge, ich trinke nicht viel, nur bei Gelegenheit – solche bietet sich ab und an – so auch diese Woche am Freitag, als ich vor dem Abschiedsessen (s.u.) der Gäste im Hotel Uzbekistan warten sollte, während sie eine Stunde hatten, sich fit zu machen. Zum Zeitvertreib empfahlen sie mir die kleine Bar im obersten, 27., Stock, abgesondert vom Restaurant, von der aus man einen weiten Blick über den Amir-Temur-Platz hat. Ansonsten verbrachte ich die Zeit mit der einsteigenden Lektüre des Adorno-Aufsatzes „Der Essay als Form“, wobei ich nicht lange brauchte zu kapieren, dass damit natürlich der wissenschaftliche und nicht literarische Essay gemeint ist. Spannend trotzdem, wie Adorno den Essay als Bewusstsein gegen die, wie er es nennt, „positivistische“ Tendenz der sachlichen Welterklärung setzt. Ich habe seitdem nicht weiter gelesen. Der Aufstieg im Fahrstuhl in den 26. Stock ging schnell voran – alles sieht sauber und ordentlich aus, mir gefällt das Hotel, entgegen den vom Reiseführer mit dem Wort „Ostalgie“ geschürten Erwartungen. Vielleicht ist das auch schon wieder Retro. Eine Treppe muss man noch per Fuß nehmen, bis dorthin reicht der Fahrstuhl nicht. Hinter einer zahnarztweißen Tür verbirgt sich ein Vorraum, ich frage mich, wo das Restaurant ist und störe kurz ein Brautpaar, das sich gegen jene Tür photografieren lassen will, aus der ich gerade trete. Ich entschuldige mich, gehe einfach geradeaus – und gelange prompt an die schwach beleuchtete Bar. Der Mensch, einsam, einige Wodkas und Weine, Säfte stehen herum – er schaut auf den Fernseher, amerikanische Action. Ich störe ihn beim Gucken und frage nach usbekischem Wodka – verschiedene für einen Euro. Ich nehme den neuen. Nicht besonders, aber okay. Bei so viel Fett, das ich hier zu mir nehme, könnte ich ab und zu einen vertragen… Mit Blick auf den Amir-Temur-Platz, den Kreisverkehr mit seinen bis zu acht Spuren. Auf diesem Ring kann jeder irgendwie fahren; hier ist genügend Platz für alle. Den Straßen nach vorne folgend, steht in der Ferne das weiße Senatsgebäude, fast europäisch oder amerikanisch-klassizistisch, und nicht weit davon die goldene Weltkugel am Unabhängigkeitsplatz, auf der das einzig verzeichnete Land ein überdimensioniertes Usbekistan ist. Die Selbstsicherheit, sich so zu präsentieren, haben sie. Und immer ist noch genug Platz, der besuchenden Nation zu schmeicheln. So war wohl dieses Wochenende eine Delegation japanischer Politiker zu einem Staatsbesuch angereist – davon jedenfalls künden die im Duo gehängten Fahnen Usbekistans und Japans, die nun alle zehn Meter die großen Straßen der Stadt zieren. Hinweisschilder auf zentrale Orte und Wege wurden aufgehängt; überall, wo es wichtig zu sehen ist, werden Reparaturen durchgeführt – auf meinem Weg in die Stadt sehe ich Arbeiter an einer Ampel, an einem Zaun auf dem Mittelstreifen und an Laternen. Auch der Alaiskiy-Basar wurde in den letzten Tagen renoviert; ein Tross an Mensch und Maschinen stand herum und bohrte, hämmerte, schweißte – auch für den japanischen Besuch, jedenfalls nach Elmiras Aussage. Es erinnert mich an Lettland, als mir erzählt wurde, wie in den Neunzigern die Straße zum Flughafen durch den maroden Rigaer Osten mitsamt den anliegenden Fassaden renoviert wurde, weil der damalige amerikanische Präsident den Staat besuchen kam. Während ringsum der Zerfall sich fortsetzt.

Apropos: Der Kurs des usbekischen Sum ist bekannt dafür, je nach Baumwollernte oder Dollarkurs, erheblich zu schwanken. Am Samstag bekam man für einen Euro über 6000 Sum – ein Anstieg von 10% in einer Woche, gefolgt von einer leichten Krise im Goethe-Institut. Wie man noch seine Miete bezahlen solle… Momentan also drückt die Regierung ihren „offiziellen“ Kurs also um eine satte Hälfte gegenüber dem realem Wechselkurs. Jeder Ausländer freut sich, weil er für sein Geld mehr kaufen kann und jeder Einheimische wird bleich, weil ein hoher Kurs die Herabwertung seines Geldes bedeutet – an unserer Pinnwand in der zweiten Etage des Instituts hat jemand den Kurs in A4 aufgehängt. Das Gehalt der Mitarbeiter wird grundsätzlich in Sum ausgezahlt, aber in Euro berechnet. Zur Umrechnung muss der offizielle Kurs herhalten. Je höher die Differenz zum Schwarzmarkt, desto weniger der eigentliche Wert des ausgezahlten Geldes. Ein Beispiel: Bei 6000 Sum pro Euro verdient der Sekretär des Goethe-Instituts immer noch seine 700 € im Monat – nach offiziellem, künstlichen Kurs. Er bekommt es in 3000 Sum pro Euro – die Hälfte des realen Kurses. Praktisch ist sein Geld soviel wert wie mein Freiwilligengehalt, 350 €. Und ich bekomme noch Kindergeld. Allein mein staatlicher – deutscher – Anspruch macht mich reicher als den Sekretär der Institutsleitung – selbst, wenn der Kurs nicht so hoch ist, jetzt umso mehr. Das ist unglaublich und macht demütig vor den Leuten.

Nach einem so bedauernswerten Thema, die kritische Seite, geht es nun weiter mit Beiläufigem, das ich nirgendwo untergebracht habe: Ich bin – Lebenstraum – in einem Lada gefahren, Elmira lässt ihre Wohnung – nicht die, in der wir leben, sondern die gegenüber, die irgendwie auch ihr gehört – renovieren (ich höre immer, wie sie sich mit den Arbeitern streitet; ein Temperament fährt die auf…) und bis einschließlich Samstag hatten wir wieder nur kaltes Wasser, weil der neue Hahn in der Küche unbedingt bei heißem Wasser stecken bleiben musste und nicht ausgehen wollte. Weswegen Alisher das Warmwasser kurzerhand abdrehte. So blieb es eine Woche und aus fünf werden elf Kaltduschen – ich fühle mich wie ein Held. Ach ja, und ich war, die Einladung von Kamara ausgenommen, dreimal im Restaurant in dieser Woche. Zweimal eingeladen, das dritte Mal eher gefragt, verwirrt, mitgetapst und landete dann im Restaurant, wo ich gar nicht hinwollte. So was passiert halt, dann muss das Budget für einen kurzen Augenblick herhalten. Zweimal eingeladen, sagte ich – Bekhzod, zum ersten. Das nächste Mal am Freitagabend, zum Abschluss des Biennale-Workshops. In einem Etablissment, das Carlsberg-Bier serviert; gewohnt dekadent also. Anwesend drei der besonders aktiven Teilnehmerinnen des Workshops, welche sowohl Barbara Heinrich als auch das Institut seit einiger Zeit kennen, sie selbst mit ihrem Künstler-Mann Peter Anders, Ravshan, Julia, ich als Delegation des Instituts und: „einer der wichtigen usbekischen Künstler“. Weißbärtig, lange Haare, Witz und Ernst zugleich im Gesicht, gesunde Figur – ihm wurde seit wohl schon einiger Zeit ein Reiseverbot verhängt; im Inland darf er nicht ausstellen. Ein Dorn im Auge der hiesigen lupenreinen Demokratie also. Und was er erzählte! Von einer Ausstellung in Berlin 2011, der einige Tage mit „viel zu trinken und Marihuana“ folgten, von seiner letzten längeren Reise, nach New York, irgendetwas mit 50 Jahre Woodstock und eine Fahrt, wenn ich es richtig verstanden habe, per Auto nach L.A.

Den Anfang machte „warmer Salat“, ein Nudelgericht, auf den kalter Salat mit Tomate und Zwiebeln folgte, daneben eine Brotauswahl. Anschließend wurde eine Palette ausgewählter appetizers serviert, eine Zusammenstellung an Manti (kleine Teigtaschen), eine Pfanne überbackener Pilze, und schließlich als Hauptspeisen je eine Pfanne Tofu und in Mehl gelegtes, gebratenes Rind, sowie Hühnerfrikadellen und kleine Hähnchenkeulen. Da jedes Gericht zweimal gebracht wurde, kamen wir zehn Leute nicht annähernd durch. Es blieb ein angefressener Berg Essen, was mal wenigstens ein Tunnel hätte werden wollen, und ein dicker Bauch – der Wodka zum Verdauen blieb aus. Am Ende, müde wie ich war, konnte ich nicht mehr als dem usbekischen Künstler bei seinem rauschenden Monolog zuhören, an die stille Künstlerin, starre Zuhörerin, neben mir gerichtet, der wie ein Wasserfall aus seinem Bart blubberte, dabei immerwährend die dröhnende Kulisse des Restaurants, Feierlaune, Freitag Abend, offene Räume im Hintergrund… Ein wenig kalt wurde es auch, der Nebenraum war wärmer. Kaum mehr als Wörter konnte ich mitnehmen von dem, was der Alte so anscheinend Schönes zu erzählen hatte, manchmal blickte er mich direkt an, manchmal verzog er das Gesicht zu einem Lächeln; dann funkelten seine Augen und er, sicherlich, erzählte von Widerstand und einem Leben, das er hatte, das er liebt. Es gibt Menschen, solch einer war er, bei denen jedes Wort Bedeutung gewinnt und schwer wirkt, ganz ohne dass dies die Intention des Redenden darstellt, ganz unabhängig vom Verständnis der Wörter, Symbole, einfach bedeutend – Erfahrungen, Erzählungen über Kunst und die Welt, und gerne hätte ich das verstanden, was er erzählte, mit diesem Lächeln immer wieder, das ihn irgendwie darüber stehen ließ. Keine Bekümmerung darüber, dass er nicht zu seinen Ausstellungen im Ausland reisen und das Inland ihn nicht sehen darf. Ein junges Kunstwerk von ihm, das demnächst in Berlin zu sehen sein wird, ist ein Teppich aus politischen Witzen. Erkenntnis der Woche: Man trifft hier verdammt viele interessante Leute.

Für die Eindrücke sind neun Stunden Schlaf zu wenig. In der nächsten Nacht, der zu heute, schlief ich fast zwölf, und nun ist gut. Nur nicht hier, auf dem Blog; ein paar Zeilen bleiben mir noch – so abrupt möchte ich niemanden entlassen. Es ist vielleicht sogar Zeit, einmal zu schweigen, ohne danach gleich mit doppeltem Aufgebot zurückzukehren. Wer weiß, was die Tage bringen – und wie schnell sie vergehen; wie viel Zeit dann noch bleibt. Es ist vielleicht illusorisch, eine Woche zu schweigen – noch, denn noch lohnt es sich nicht.

Regen in der Stadt

Fünf Wochen. Ich werde ungeduldig. Vor meinem Fenster flackert der Regen, ein riesiges Gemurmel dringt durch Glas zur mir, die Räder, die ewig über nasse Fahrbahn spritzen, das Hupen; Motoren beim Anfahren, Gas geben und das Rauschen des Wassers überall – wie aus dem Schlaf in einen Traum aufwachen, der dich nirgendwo hinführt. Du sitzt und wartest und – wirst ungeduldig. Denn nichts, das dir aus Träumen bekannt ist, aus guten wie aus schlechten, passiert tatsächlich, es taucht nicht auf. Erst dann beginnt der Zweifel an der Theorie des Träumens – aber real sieht es trotzdem nicht aus. Du irgendwo, wo weißt du immer noch nicht – als würdest du es je wissen? – dein Ohr empfängt beständig Geräusche wie eines, immerfort währendes, deine Augen wandern unruhig zwischen den Zeilen und eigentlich denkst du nur, bis deine Finger dir sagen, wir tippen und deine Augen dir sagen, wir sehen, da, deine Gedanken, schwarz auf weiß, auf diesem Schirm, Pixel, das wissen wir, obwohl es imaginär sein könnte. Das Flimmern, du weißt schon. Und der Nacken, der Rücken erinnern sich nicht an die Ruhe und wollen wieder ins Bett, von dem du weißt, glaubst, denkst oder nur fühlst, ihm gerade entstiegen zu sein. Wie war das Frühstück? Hast du gegessen? Der Mund schmeckt noch das Aroma nach, aber war das wirklich? Nicht bloß ein anderer Traum, aus dem du in diesen gleitest, in jenen des Schreibens und Regens? – Elf Stunden habe ich geschlafen und trotzdem will ich mich wieder hinlegen, am besten weiter schlafen. Heimweh? Nur, wenn man es so nennen will. Es gibt Schlimmeres. Mehr eine Sehnsucht nach Ruhe, Bei-Sich-Sein, also das Bekannte, Ältestbekannte vermissend. Das Bett ist immer noch unbequem für meinen Rücken, an den Lärm vor meinem Fenster habe ich mich noch nicht gewöhnt. Ebenso wenig an die Küche, in der ich gerne kochen würde, die aber so anders ist als zu Hause – Elmira und Alisher essen ja auch immer bei der Oma mit dem Rest der Familie, kochen allenfalls Buchweizen oder Haferflocken zum Frühstück auf – dementsprechend ist ihre Küche auch ausgestattet. Ich vermisse etwas die wohlbekannte Ernährung aus Leipzig – jeden Tag auswärts, in einer der Basar-Kantinen, zu essen, ist auf die Dauer nicht besonders reichhaltig. Ab Freitag konnte ich zufrieden sein: mal nicht beim Tartaren, sondern bei „Loschka Kartoschka“ (Löffel Kartöffel) russischen Schtschi gegessen: Kohl, Ei, sauer, Brühe, Gemüse, etwas Rind. Hat nach Medizin geschmeckt, aber tat mir gut – besser als die spontane Küche des Tartaren. Da sieht es immer ein wenig nach Breschnew aus, und das Essen schmeckt, auch wenn es gut ist, nach Sowjetzeit. Und am Samstag, das folgt unten.

Nein, es ist nicht alles schlimm und traurig, ganz und gar nicht. Am Freitag dachte ich mir, schade, dass ich jetzt zwei Tage nicht im Büro sein werde. Schade. Der Regen kommt langsam zur Ruhe. Eine Sensation – die ganze Woche schon ist es grau, mit heute haben wir den dritten Regentag. Das es hier so was überhaupt gibt, hätte ich nach den ersten vier Wochen glatt bezweifelt. Im Zuge des Wassers wird es kälter – Samstag noch 30 Grad, bis Dienstag auf 15 und Donnerstag auf 12 Grad gesunken – es fühlt sich kälter an. Ein hässliches Wetter, vielleicht auch daher so viele Gedanken. Man gewöhnt sich rasch an die Wärme; gestern, am Samstag, saß, las, schrieb ich in meinem Zimmer mit Jacke.

Die Woche gab mir viel Raum, auch das habe ich genossen. Nachdem die Institutsleiterin, Julia Hanske, und der Leiter der Programmabteilung, Ravshan Israilov, vom „Schlingel“ zurück waren, ist meine Aufgabe nun, diese zehn, elf, einer fehlt noch, Filme zu sichten – von „Ritter Trenk“ bis „Meine Tochter Anne Frank“. Fünf habe ich hinter mir, in drei Tagen. Sie sollen alle zu Uzbek-Kino, zur Zensur, die ihn freigeben muss, weil wir die Filme öffentlich zeigen – im Gegensatz zu jener anderen Filmreihe, von der ich einmal schrieb. D.h. keine intensiven Knutschszenen, kein Sex, keine Religion, möglichst wenig Gewalt. Die Entscheidung sieht nach Willkür aus. Am Freitag habe ich zwei Coming-of-Age-Filme gesehen, wahrscheinlich beide – schade, denn schlecht waren sie nicht – um abgelehnt zu werden. Sie drehen sich um je ein 15-jähriges Mädchen – Pubertätsprobleme, Selbstmordversuche, natürlich viele Hormone und Liebe, peinliche Erwachsene, die keinen Deut besser dran sind, und starke und weiche Jungs… Sie haben mich seltsam berührt – ich in meiner Starre, wie soll ich auf solche Filme antworten, der ich weder Gefühlswelten noch Träume eines 15-jährigen Mädchens kenne – fühle mich fremd in diesem Metier, und dass, obwohl es doch gar nicht so lange her ist, ich mich erinnern kann an jene Zeit, dass ich so alt war. Also ein Grund mehr zur Sehnsucht – nach der Vergangenheit. Wie golden sich Schmerz und Liebe in den Filmen ausnehmen, es erinnert mich an die vergeistigte Vergoldung meines Lettland-Jahres – quasi das Äquivalent auf irgendeiner weniger physischen Ebene.

Elmira sagte zu mir, ich, der ich zuhause keine habe, solle mich hier nach einer Freundin umgucken, denn „usbekische Mädchen machen, was du sagst“. Wenn ich mich in den Dienst der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, welche Schule so bigott proklamiert und doch untergraben hat, stelle, passt mir das nicht ins Programm. Sie ist nicht die erste, die so etwas gesagt, vielleicht auch gemeint hat. Ein usbekischer Künstler, den ich in der ersten Woche traf. Der Mann von Julia Hanske. Aber der ist ja auch Russe.

Seltsame Erlebnisse – sie gehen, und das ist das schöne an einem Auslandsjahr – nicht aus. Eines Morgens stehe ich im Bus. Es ist voll, wie immer, bald muss ich aussteigen – die letzte Station vor dem Alaiskiy – da redet mich jemand auf Französisch an: „Vous ne sortez pas?“ Ich wundere mich, trete zur Seite, soweit eben Platz ist, warum ich ihn verstehe, warum ist das Französisch oder war das nur Illusion, tagträumerische Verwandlung in eine vermeindlich französische Frage, was eigentlich ein genuschelter russischer Satz war? Wer sollte schon Französisch mit mir sprechen – sehe ich so sicher französisch aus, so parisien oder bohême – das kann nur ein Franzose sein? Nun, andere raten und oftmals („German?“) richtig – wenn nicht, heißt es Frankreich oder Großbritannien. Ich sehe aus, heißt das, wie aus reichen europäischen Staaten. Aber Französisch? Vielleicht habe ich den Satz nur geträumt und es war tatsächlich Usbekisch. Dennoch: Die Situation war echt und in ihr, den Fängen des Augenblicks, habe ich nicht gezweifelt, dass es Französisch ist, das ich höre und verstehe; erst die Erinnerung brachte den Zweifel – das kann doch nicht sein – oder? Es wird ein ewiges Rätsel bleiben; schön, dass die Realität nicht so glatt und einfach ist, wie es Mathematik und Naturwissenschaften es uns zuweilen glauben machen möchten. Dass noch etwas Komplexität spürbar vorhanden ist. Jene seltsamen Ereignisse, über die man sich wundern kann. Das ist schön.

Zu Beginn der Woche ist mir im Übrigen gleich eine großartige Beschäftigung zum Zeitvertrieb über die Gedankenspuren gelaufen: Lesen. Habe also noch am selben Tag Horvaths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und einen englischsprachigen Essay über Thomas Pynchons „Mason & Dixon“ aus den Weiten des Internets in mich aufgenommen und gesättigt verarbeitet. Um einiges interessanter als die Seiten des Goethe-Intranets. In seiner Beschreibung meiner Arbeitswelten scheint auch der Dienstag interessant – erst Russisch-Vokabeln gelernt (um einen Sprachkurs habe ich mich noch immer nicht gekümmert), Nachrichten gelesen und Artikel auf dem Goethe-Portal. Ein bisschen über Frank Witzels Deutscher-Buchpreis-Gewinner „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ gelesen. Einen hauchdünn nationalistischen, usbekischen Dokumentarfilm über die Rolle Usbekistans im „Großen Vaterländischen Krieg“, insbesondere die Aufnahme vertriebener Kinder aus den sowjetischen Bruderstaaten in diesem Land gesehen und einen Buchauszug zum Thema „Verdeckte, deutsche Interessen in Usbekistan während der Zeit zwischen den Weltkriegen“ gelesen. Ja, und natürlich alles mit Fug und Recht: Russisch lernen, meinte Julia Hanske, sei für mich wichtig und Arbeit. Neulich erwähnte sie, ich könne doch mal „Kruso“ lesen, das gehöre ja schließlich zum aktuellen Deutschland-Bild, welches das Goethe-Institut vermitteln will (Säule Drei: Deutschland) – in dieser Logik habe ich „Die Erfindung…“ für potenziell interessant befunden. Und der Dokumentarfilm stammt aus einer Reihe der Goethe-Institute der Region Osteuropa-Zentralasien (OEZA), im Prinzip die GUS-Staaten, die ich mir, so Julia, auch mal angucken könnte. Alles also bei weitem keine Spielerei, sondern ernstes Vergnügen. Ab Mittwoch war ich dann von der Belebung der Programmabteilung (der Leiter, Ravshan, ist einziges Mitglied) direkt betroffen, sodass nur wenig Zeit blieb für Nachrichten und Persönliches – wie die irgendwie missglückte, doppelte Reservierung (nicht Buchung!) eines Fluges mit Air Kyrgyzstan, wegen der ich nächste Woche mal zu einer „Aviakassa“ gehen und das klären muss. Naja. Das kommt davon, wenn man sich auf russischsprachige Websites einlässt.

Aber es deutet alles darauf hin, dass nach meinem Mega-Beitrag letztes Mal nun Ruhe in mein Leben einkehrt – ich denke an Zuhause, mein Leipzig, an Lettland, dass ich gerne dorthin zurückkehren würde, und denke über meine Zukunft nach. Und denke nicht, dass ich viel zu schreiben hätte – die Seiten füllen sich trotzdem und zuverlässig, denn meine Hände können es nicht lassen und irgendwie klebe ich an diesem Computer und lasse sie machen, ein wenig blind, das Ergebnis mehr des Ist als des Wie wegen lobend, stolz sein auf die Menge an Gedanken, gleich welcher Bedeutungslosigkeit sie anheim zu fallen scheinen; sie sind mir alle viel wert.

Eigentlich waren Samstag und Sonntag Ruhetage für mich; Lesen, Schreiben, Verarbeiten, Träumen, Erinnern – doch ganz ohne draußen konnte mein Entdeckergeist doch nicht, und da wir gerade nicht einmal mehr abwaschen können (der neue Wasserhahn in der Küche ist sofort kaputt), nahm ich mir vor, auswärts essen zu gehen; in einer Choyxona, vom Reisführer empfohlen. Da ich eh die Jacke schon anhatte, steckte ich mir einfach eines dieser Hunderttausender-Bündel, Stift und Zettel in die Taschen, nahm Brille, Uhr und Handy und ging aus dem Haus in eine kühle, feuchte Nachmittagsluft, unangenehm zunächst. Es riecht nach Amerika, es fühlt sich an wie Dezember. Ich gehe durch die kalten Straßen, dünne Jacke, Hände in den Hosentaschen – es ist kalt. Ein wenig spazieren zwischen den niedrigen Häusern, alle aneinander gepfercht, eng, jedes anders und spontan, irgendwie lebendig, alles zusammen. Nicht wie die sowjetischen Wohnblöcke nebenan oder die überladenen Jugendstilhäuser Europas. Alles einzelne Häuser, nebeneinander gewürfelt, so liegen sie nun da und sind doch ewig in Veränderung begriffen – ich komme an einem georgischen Restaurant vorbei, an einem Hotel, wegen Renovierung geschlossen, und an einer Baustelle, die halbe Straße offen, der Rest fester Lehm, kein Pflaster oder Asphalt. Das sind die Viertel, neben denen ich wohne, so sehen sie aus. Ein gefundenes Fressen für die Augen, nach Eindrücken lechzend – hier stürzen sie sich auf alles und sind froh, aus dem Institut, wie warm und sicher es sein mag, in die Wildnis entlassen zu sein. Ich gehe, die „drunk street“ entlang, wo sich Cafés an Spirituosenläden und Bars reihen, hinunter zum Mirobod Basar, biege nach links in die Nukus ko’chasi ein und bald, bei der russisch-orthodoxen Kirche wieder nach rechts, in die Straße zum Nord- und Hauptbahnhof. Die Kirche ist größer als ich beim letzten Mal dachte, merke ich im Vorbeigehen und mit ihrem Anblick und der Kälte – freilich nur nach angewöhnten 30 Grad – fühle ich mich noch etwas mehr dezemberlicher. Bald endet die Straße in jenem Platz, der, im Zickzack und Wirrwarr großer Prospekte, Unterführungen, bis zum blauen Bahnhof reicht und auf der rechten Seite, auf der ich sowieso wandere, steht ein flaches Gebäude, das „Café Buxoro“. Ich trete in den kleinen Vorraum ein, links ein Schild „Für Nichtraucher“, hinter dem sich ein schmaler, vielleicht langer Raum versteckt – der Hauptsaal ist rechts, für den ich mich entscheide und durch den ich in einen mittelgroßen Raum mit freigeräumter Mitte gelange – abends wird hier sicher getanzt. Plov haben sie nicht. Dabei wollte ich in ein usbekisches Etablissement, damit ich Plov bekomme! Nun gut. Was sonst? Schaschlik natürlich, Hammel. Zwei Stück. Was noch – ich fühle mich mit der russischen Karte in Gegenwart der herabblickenden Kellnerin überfordert, stottere, da schlägt sie mir Somsa vor. Von dem Vorschlag erlöst, bejahe ich sogleich. Tee? Ja, grünen. Ist aus. Schwarzen? Ja. Lepjoschka? Ja. Ich entspanne mich. Die Preise sahen auf den ersten Blick gut aus, der Saal ist wenig gefüllt, ich habe mich ungünstig gesetzt – nach vorne blicke ich auf drei Gesellschaften, alle mit einer Flasche Wodka am Tisch. Alleine trinken will ich nicht und wenn, hätte ich ihn gleich mitbestellen müssen. Lust bekomme ich schon, so ein bisschen. Hinter mir stehen einige halb besetzte Tische in dem nett gestalteten Raum – die Decke aus zusammengenähten Teppichen. Einfaches Ambiente. Als ich später gehe, ist es merklich voller. Lepjoschka und Somsa kommen bald. Ich warte noch etwas, aber der Schaschlik braucht natürlich seine Zeit, kann ja nicht einfach in der Mikrowelle warm gemacht werden wie das Somsa. Welches – ich übertreibe nicht – vor Fett trieft. Zugegebenermaßen bin ich erleichtert, dass ich es mit der gelieferten Gabel zerkleinern kann – Usbeken tendieren schnell dazu, die Hand in solchen Belangen überzubewerten. Das Somsa ist lecker, noch größer als die auf dem Alaiskiy, und hauptsächlich mit Gehacktem (Rind) gefüllt. Passend dazu also der Hammel, der mir bald an den üblichen Schaschlikspießen gereicht wird, plus diesem sauren Kraut, das standardmäßig Beilage ist, und dem Tee – wieder eine ganze Kanne. Ich verzehre genüsslich, ganz usbekisch, alles durcheinander – so eine Mahlzeit Fleisch ist doch was Feines. Am Ende bezahle ich für alles 3,50 €. Typisch ist auch die Musik in dieser Choyxona – russischer Techno, zwischendurch – ich horche inmitten der Lautstärke auf – eine Version von Schuberts „Ave Maria“, und anschließend zeitgenössischer Pop als Playlist. Als der DJ zu singen anfängt, gehe ich. Draußen ist es schon dunkel, die Kälte schlägt nicht tiefer in die Knochen als vorhin. Inzwischen, mit vollen Magen, zufrieden, fühlt es sich an wie an Weihnachten – Heilig Abend oder die Feiertage, egal. Während ich die Straße schnellen Schrittes hoch marschiere, weht europäischer Gesang an mein Ohr und ich verringere mein Tempo, berührt; aus der Kirche schwillt geistliche Chormusik. Erhebend, feierlich, wie der Klang zu mir herüber weht, und für einen Moment ist es zum Weinen europäisch. Ich lausche, schaue auf den blau-weißen Bau, barock-klassizistisch nachempfunden, doch unmissverständlich neo und modern. Die Straße und der Basar lassen diese kurze Illusion, wie sie da so vor mir schwebte, einmal mehr weichen und machen Platz für die Stadt. Wenn irgendwo in Taschkent abends etwas los ist, denke ich mir, dann hier, an der Mirobod ko’chasi, „drunk street“, wie sie genannt wird. Zuhause schaue ich mir noch Oleksandr Dowshenkos „Erde“ an und schlafe elf Stunden, um mit jenen Gedanken zu erwachen, mit denen dieser Eintrag begann.

Ich sehe, das Leben ist ein Kreis. Das Glück, das man hat, wendet sich zur Sehnsucht und zurück. Nichts, das besser wäre als dieser Lauf, diese Wiederholung – wie beruhigend, dass sie wiederkehrt, mich nicht verlässt, unter allem, das es sonst tut. Ich bin frei, und ich denke, ich werde mir abermals etwas zu essen suchen, vielleicht nicht ganz so romantisiert wie gestern. Nun, ich schreibe wieder, und vielleicht findet jenes, das nach Redaktionsschluss geschieht, Erwähnung im nächsten Beitrag, nächstes Mal. Und vielleicht, ich hoffe es doch, hört der Regen langsam auf, weichen die Wolken und machen Platz für den ewigen Sonnenschein, der sonst hier, in Taschkent, herrscht und alle Gedanken zu Töchtern der Liebe, alle Gefühle zu Söhnen des Glücks macht.

Taschkent [Bildserie!]

Bilder der unterschiedlichsten Gefilde, die ich bereits betreten. Diesmal ohne viel Text, das Konzept des „Chorsu“-Beitrags hat mir noch nicht gefallen…

Arbeit, Müh, Taschkent (2)

Nun ist es Oktober. Ereignisse aus der Vergangenheit kommen plötzlich hoch – am 13.10.2014 habe ich meine Fahrprüfung bestanden, am 18. sind wir in die USA gereist – und das ist jetzt ein Jahr her? Dinge werden Vergangenheit, nehmen Abstand, die eben noch so lebendig und nah vor meinen Augen flackerten – und wenn ich daran denke, wie dieser Moment, dieses Taschkent, bald auch nur Schatten und Erinnerung sein wird… Lebenslange Prägung, aber was einmal war, wird nicht wieder. Immer diese Müdigkeit, die mich vom Schreiben abhält, oder es zu einem Kampf gegen alle Worte, die nicht kommen wollen, gegen alle leeren Zeilen, macht… Dabei ist es schon das einzige, was ich außerhalb des Instituts mache – Blog schreiben.

Hier sitze ich, sowjetische Betonschönheiten vor Augen, Riesenhaftigkeit, Unheimlichkeit, schaue auf die Welt und denke über die Schnelllebigkeit der Tage nach. Diese Woche ist viel passiert – und viel vorbeigegangen. Samstag und Sonntag habe ich mit kleinen Ausflügen und mit dem Schreiben verbracht – Ausflüge in das Taschkent, das ich noch nicht kannte, verborgenere Winkel als die Sehenswürdigkeiten und üblichen Checklistenziele, welche von den Touristengruppen innerhalb eines Tages abgewandert werden. Habe mir Schuhe gekauft. Alisher meinte, sie reichten nicht für den Winter und ja, es sind nicht mehr als Halbschuhe. Ich bin optimistisch. Wenn nicht so viel Schnee fällt; denn Kälte lässt sich aushalten. Winterstiefel habe ich zu Hause, will ich nicht neu kaufen müssen. Vor acht Jahren, meinte Elmira, gab es einmal viel Schnee. Letztes Jahr dagegen nur für einige Tage – hier in Taschkent zumindest. Wer weiß, wie es in Ulan-Bator sein wird, wenn ich im November dorthin reisen werde – das Zwischenseminar von kulturweit wird dort stattfinden und ich rechne mit Kälte, Schnee vielleicht, ja – und die Reise selbst, über die Berge, dann Bischkek in Kirgistan. Ich hoffe, sie reichen und wenn nicht, muss ich mir andere besorgen, auch das wird mein Budget nicht umbringen. In den ersten drei Wochen habe ich durchschnittlich zwei Euro pro Tag ausgegeben – das ändert sich jetzt, wo der Alltag näher rückt, und ich weiß, dass ich nicht sparen muss. Man verliert diese vielen Scheine genauso schnell, wie man mit ihnen überschüttet wird; und bei weitem nicht alles ist billig hier – man kann aufpassen, dann sind zwei Euro pro Tag genug, exklusive besonderer Ausgaben, Shoppingtage etc. Die zwei Euro übrigens schließen das Mittagessen ein – nicht jeden Tag esse ich auswärts, bei so viel Außerregulärem, bisher drei Mal pro Woche. Ab knapp über einem Euro kann man beim „Tartaren“ essen – Suppe und Brot. Eine volle Mahlzeit mit genügend Auswahlmöglichkeit: Pelmeni, Borschtsch, Lagman, Lapscha oder Tefteli – bis auf Letzteres habe ich alle probiert; Lagman,dicke Nudelsuppe mit Fleisch und Gemüse, und Pelmeni, in Hühnerbrühe, sind meine Favoriten. In den Tagen der EU-Arbeit haben wir dagegen den Schnellimbiss vorgezogen: Somsa; 1500 Sum das Stück (schwarz: 5000 Sum = ein Euro), zwei sind eine volle Mahlzeit. Alternativ wird auf dem Alaiskiy noch Lavash als Fast Food angeboten, ein gerolltes Fladenbrot mit Fleisch vom Dönerspieß, Chips (!) und Gemüse – ist aber mit 7000 Sum teuer. Vielleicht war’s nur Ausländerpreis.

Um noch einmal den Bogen zum Beginn der Woche zu schlagen, jenem Montag, an dem ich in der „Delegation of the European…“-und-so-weiter war, hat mich die Institutsleiterin gleich in ihrem Auto mitgenommen – weil meine Wohnung praktischerweise auf dem Weg zu ihrer liegt. Im Zentrum der Neustadt, plötzlich, sahen wir vor uns einen Tross unheimlicher Fahrzeuge einbiegen, den sie dann überholte: Zwei Wagen verschlagenen Eisens, selbst die Räder scheinen aus Stahl. Bucklig, brutal, wie sie die Straße entlang rollen, verhalten aggressiv und unruhig: Braun in Braun, Metall an Metall mit dicken Nieten. Vorneweg Polizeischutz mit Sirene, hintan ein unauffällig dunkelgrünes, wahrscheinlich sowjetisches, wie die Wagen, Äquivalent zum Militär-Jeep mit drei zivil gekleideten Männern an Bord. Warum ich die Männer erwähne? Es ist eine Mischung aus Unsinn und Gefährlichkeit, diese Polizeipräsenz hier – die Männer müssten sich nicht in Zivil kleiden, ihre Zugehörigkeit zu dem blaulichtbegleiteten Geheimnistransport ist evident. Dass sie es trotzdem tun, wirkt unheimlich. Genauso sinnentleert sind jene Taschenkontrollen an den Zugängen zur Metro, die manchmal auch Unterführungen sind, die ich daher benutzen muss: Der Polizist fordert mich auf, meinen Rucksack zu öffnen. Ich mache das größte Fach auf, er sieht hinein und entdeckt einen Pullover, streift mit seinem Piepser einmal unten am Boden entlang, es piept und ich darf gehen. Polizeikontrollen an Parkplatzzufahrten: Man wird aufgefordert, die Heckklappe zu öffnen, der Beamte sieht einen Koffer und schließt den Deckel. Solche Aktionen sind ermüdend – man könnte alles in die Metro schmuggeln, solange es klein genug ist unter einem Pullover zu verschwinden und evtl. noch unten gepolstert, damit der Piepser nicht anspringt. Wenn man eine Bombe auf einen Parkplatz schmuggeln will, packt man sie in einen Koffer. Das sind Alltäglichkeiten, deren Sinnlosigkeit ihnen einen Grad von Gefährlichkeit verpasst – denn sinnlos heißt in dem Kontext Willkür. Es ist eine Demonstration von Macht, und dem Gefühl der Unterlegenheit entkommt man nicht – nicht jedenfalls, wenn man am öffentlichen Leben teilnimmt. Es wirkt ein wenig wie „Wir könnten euch jederzeit festnehmen.“ – eine Drohmaßnahme. Wie die Gerüchte, die mir Alisher erzählt hat: in Chilonzor, einem Taschkenter Bezirk, würden jetzt Menschen, die sich nicht ausweisen können, von der Straße weg festgenommen, um die Sicherheit des turkmenischen Präsidenten, der zur Zeit zu Besuch ist und in der Nähe weilt, zu garantieren. Ähnlich sieht dem die Sperrung von Skype. Tja, funktioniert eben gerade nicht im Staate Usbekistan. Aus technischen Gründen, versteht sich. Und was ist mit der seltsamen Verkündigung Elmiras letzten Sonntag: Montag bis Freitag nur kaltes Wasser. Warum? Der Staat oder die Stadt stellt den Bezirken fünf Tage lang das Warmwasser ab, um „für den Winter zu sparen“. Aha. Und am Ende ließ Alisher auf zwei Kanälen das Wasser laufen, fast eine Stunde lang. „Um die Rohre zu reinigen“, die jetzt fünf Tage nicht durchflossen worden sind. Aha. Immerhin, ich habe bemerkt: Eiskalt duschen ist grundsätzlich machbar. In derselben Zeit waren es draußen konstant über 30 Grad. Typisch Oktober.

Nach der stressigen Zeit mit dem EU-Antrag hatte ich mich dazu entschieden, mir am Dienstag ausgleichend frei zu nehmen und mich wieder etwas zu bewegen. Der Ausflug zum Chorsu-Basar hatte mir gut gefallen und nun wollte ich die alte Bausubstanz Taschkents genauer kennen lernen: mein Ziel war der Hast-Imam-Komplex im Norden der Altstadt, ein Platz, auf dem noch drei historische Bauten stehen. Mit der Metro zu fahren, ist immer noch nervig: Einer der Polizisten fragte mich diesmal, ob ich verheiratet bin. U menja zheny net. Und warum nicht? Auf dem Rückweg auch: Es gibt nichts Schöneres als ein Plauderstündchen mit Polizisten im Dienst. Ich will es ihnen nicht wirklich übel nehmen – auf den Basaren bin ich immerhin auf ähnliches Interesse bei Fleischhändlern, Passanten gestoßen. Ich wollte nicht wieder beim Markt beginnen, also fuhr ich mit der Metro eine Station weiter: Tinchlik. Aus den Kellern ans grelle Tageslicht stolpernd, erstmal stehen bleiben und die Orientierungslosigkeit abbauen. Sie vermindert sich nicht, auch nicht nach einem Blick in den Reiseführer, der diese Straßen hier nicht kennt – sie sind außerhalb seines Blickwinkels. Ich bin ja spontan und lauflustig, also marschiere ich in die beste Richtung los – eine lange, breite Straße mit Mittelstreifen, aus dem diese hohen Laternen empor ragen, die immer ein bisschen an Auswärts erinnern. Ich gehe auf der linken Seite, große Betonplatten, baumgesäumt wie die andere, an einem militärisch bewachten Schuppen mit herumstehenden LKWs vorbei, die sich bald verbreitet und in eine gewaltige Ebene öffnet – rechts die Straße, welche sich immer weiter von mir entfernt, je weiter ich gehe, dort vorne irgendwo eine Kreuzung, man sieht Plattenbauten in der Ferne, und eine Werbetafel. Zwischen mir und der Straße aufgeschüttete, umgegrabene Erde – ein Arbeiter schippt den ersten Haufen ab. Der Gehweg wird zu einer kleinen, asphaltierten Straße, deren linken Rand Schaschlik-Buden säumen; rechts bleibt der Schutt. Erst als ich die Querstraße erreiche, die sich weiter Richtung rechts bei den Plattenbauten mit jener anderen, der ich gefolgt bin, kreuzt, steht rechts ein Marktstand, der Melonen und Kürbisse anbietet – riesige Exemplare. Links kleine Läden; ich biege in diese Richtung ab, wo es am belebtesten aussieht – und erreiche sobald einen kleinen Markt: Brot, Schaschlik, ein wenig Gemüse und Obst. Ich trete auf das Gelände, schlendernd, hätte fast Lust, Brot zu kaufen, ohne wirklich Hunger zu verspüren, nehme links das kleine Tor in diese Gasse an Lehmhäusern, Schlagschatten – alles beige hier, spannend. Der Schatten macht das Foto kaputt, also gehe ich tiefer hinein, neugierig. Einige Mete weiter nun doch: rechts in einem dunklen Loch bäckt ein Pärchen Brot in einem kleine Ofen, um es draußen zum Verkauf zu stellen, in einer menschenleeren Gasse. Die beiden sind mir sympathisch und ich würde sie gerne unterstützen – ich schaue hinein, das ungezwungene Lächeln des Mannes überzeugt mich vollends. Sie sucht mir ein besonders gut aussehendes Stück heraus – für 1000 Sum, das fast zu heiß zum Anfassen ist. Zum Glück gibt es ja diese schwarzen Plastiktüten. Ein Drittel des Preises vom Brot auf dem Alaiskiy und geschmacklich eines der besten – ich überlege, ob ich den Weg noch einmal auf mich nehme, nur für dieses Brot, das ich verzehre, während ich die Einfachheit bestaune, die eintönigen Oberflächen, die schlechte Straße, fast menschenleer, viele sind sicher arbeiten, einige Handwerker auf den Dächern. Ich gehöre nicht hierher, fühle mich fremd, so mit meinem Rucksack, meiner Kameratasche, in Hemd mit Goethe-Kuli in der Brusttasche. Westler. Ich merke, wie die Situationen meine Kameras überfordern – die Lehmhäuser, „Slums“ – das ist keine seichte Touristenfotografie; ich sehe das Leben selbst, welches mehr fordert als rasch gescannte Pixel, den Blick eines Amateurs oder schöne Linien und Formen – das hier abzubilden, müsste ein Profi ans Werk und ich, leider, muss vor der Riesenhaftigkeit dieser Erde passen. Wie eine Reise in eine andere Welt hat sich das ausgenommen – Faszination pur, die ich dank der Leere beinahe ungestört auskosten konnte, ohne Scham, Hektik – ohne das Gefühl, ich müsste hier dringend raus. Ich will hier raus, aber noch lasse ich alles auf mich wirken, weil es so stark ist. Ich stelle mir das Leben hier vor und fühle mich reich und ignorant. Irgendwann bin ich wieder auf einer Straße, habe das ärmliche Viertel verlassen und denke mir, was ich dann zu solchen in Sierra Leone, Botswana, Indien sagen würde – man muss nicht immer gleich das Extrem sehen. Ein Junge in Schuluniform läuft zu mir vor, sagt etwas auf Usbekisch und als ich meine, Ja ne ponimaju, rennt er zurück zu seinen zwei Kumpels. Nacheinander kommen beide in der gleichen Art zu mir, laufen neben mir her, sagen aber nichts. Mir macht das nichts; bald biege ich an einer großen Kreuzung links ab, da sind sie schon nicht mehr hinter mir. Ich komme an barock nachempfundenen Gebäuden mit davor gedrungener Menschenmasse vorbei und wundere mich. Ich bin lange genug gelaufen, meine Schuhe sind nicht die besten und brauche eine Art Pause – schon fliegen die Eindrücke eher mechanisch an mir vorbei – was auch der Eindrucksvielfalt in dem Viertel zuvor geschuldet sein mag. Jedenfalls marschiere ich zur nächsten Bushaltestelle, die nicht lange auf sich warten lässt und nehme den erstbesten Kleinbus, auf dem „Chorsu“ steht – denn da wollte ich ja eigentlich hin, zum Hast-Imam-Komplex. Zuerst fand sich kein Sitzplatz für mich, doch die Fahrt sollte dauern und ich konnte bald etwas ruhen. Denn der Bus fuhr an sich, wie ich später bemerken sollte, ein Stückchen in die entgegengesetzte Richtung, wendete und fuhr dann Richtung Basar – nicht direkt, sondern mit Umweg: einmal komplett durch die Bo’ston-Mahalla. Mahallas sind Wohngebiete, Viertel, die eine eigene administrative Struktur besitzen und ziemlich verbreitet in Taschkent – so lassen sich Dinge auch einfacher kontrollieren… Also einmal durch enge Straßen, enge Kurven, unasphaltiert, abenteuerlicher Fahrstil des Fahrers, bis wir genau dort wieder herauskommen, wo wir eingebogen sind. Die Straße, sehe ich später, ist genau jene, die sich schon von der Wohnung, in der ich lebe, bis zum Basar zieht – und anscheinend noch ein ganzes Stück Richtung Norden geht. Vorbei an der Metro Tinchlik (ein Rechteck!), an schicken Kleidungsgeschäften, Juwellieren und mehreren (!) Supermärkten (für einen von denen bekam ich Tage darauf an der Haltestelle des Alaiskiy Werbung in die Hand gedrückt) vorbei bis zum Südrand des Basars, an der Kukeldash-Medrese. Mein Ziel liegt nördlich des Trubels, ich schätze aber den Südrand als Orientierungspunkt. Also einmal quer über das Treiben und Kaufen, mit kurzem Zwischenhalt nur auf der Toilette. Verwirrt, am Nordrand, stand ich nun, den Reiseführer in der Hand, die Realität vor Augen, und fragte mich, wo jene Straßen aus dem Buch hier zu finden seien. Da Zeit war, nur die Überlegung nicht, folgte ich einfach dem Weg, um ein grünanlagenumführtes Gebäude mit kreisrundem Grundriss und mit der nur englischsprachigen Aufschrift „Ministry for Public Education of the Republic of Uzbekistan“ zu entdecken. Die Treppen nach oben konnte man besteigen – ein Blick über Taschkent! Der nicht im Reiseführer steht und kostenfrei ist! Der Blick öffnete sich über den riesigen Chorsu-Basar, den Dunst, die Stadt, und tatsächlich, Richtung Norden, konnte ich die Minarette einer Moschee im typisch alten, beige gekachelten Stil entdecken – und obwohl mir der Reiseführer immer noch nicht weiterhelfen konnte, hatte ich nun eine Richtung. Eine Frau sprach mich an, interessiert, was ich lese – den Reiseführer, was heißt Reiseführer auf Russisch? – fragte mich ein wenig aus und am Ende bedankte sie sich für das Gespräch. Was für Aussichten als Europäer, so gehuldigt zu werden! Und ich denke wieder an das Viertel, das ich durchschritten habe. Ich verlasse den Turm und schlage jene Richtung ein, die mir mein Blick von oben diktiert. Laufe an einem neousbekischen Bauwerk vorbei, dahinter ein älteres, wieder ein ähnlich armes Viertel, ich überlege hinein zu gehen, tue es nicht. Die nächste Querstraße erlaubt den Blick nach links auf die Minarette, die ich gesehen habe, und ich freue mich, dass ich mich nicht verlaufen habe. Folge dem Ruf der Türme, große Betonplatten, auf denen ich gehe, hohe Bäume, aber kaum Schatten. Rechts reichlich verzierte, futuristische Plattenbauten. Irgendwann – endlich – komme ich an: Der Hast-Imam-Komplex ist ein weiter, neu angelegter Platz mit drei historischen Gebäuden – ein begehbares (wahrscheinlich mit Eintritt) Bauwerk in der Mitte, an den Seiten hier die Moschee – gewaltig – dort die Medrese Barak Chan. In ihr wird allerlei Kunsthandwerk verkauft: Koranständer, Holzschatullen, Keramik und Porzellan, Wasserpfeifen, Tonfiguren, Gemälde, Wandteller – schick, aber teuer. Den Rückweg trete ich, schon etwas zerrupft, tatsächlich durch das Viertel an, das mir aufgefallen war. Der Eindruck, den es hinterlässt, ist weniger stark als der des ersten, vermutlich auch meiner schwindenden Aufmerksamkeit, Kapazität mitzudenken, geschuldet. Mit noch mehr Eindrücken, Ballast, muss ich mich dringend setzen und finde bei oben genanntem Rundbau, im Rücken den Basar, einen erhöhten Treppenabsatz im Schatten. Zehn Minuten sitze ich da, den Reiseführer in der Hand, und praktiziere wohl so etwas wie erholsamen Wachschlaf – gelesen habe ich in der Zeit jedenfalls nicht. Auf dem gegenüberliegenden Absatz sitzt ein Mann im Anzug und telefoniert leise auf Russisch. Als ich irgendwann bemerke, dass ich trotz des Buches in der Hand nicht lese oder mir diese aufgeschlagene Karte ansehe, schlage ich es zu und mache mich wieder auf, bereits deutlich frischer – wie viel zehn Minuten Sitzen (im Schatten!) ausmachen; es ist erstaunlich. Mein Weg führt mich durch den Basar zur Metrostation; ich kaufe auf dem Weg fast ein kleines Tuch und tatsächlich grünen Tee und habe anscheinend noch genug Energie, nur bis zum Supermarkt zu fahren und den 15-minütigen Rückweg mit neun Litern Wasser auf dem Arm anzutreten. So werden 20 draus. Das erste Mal koche ich, in der Wohnung angekommen, für mich selbst: ganz einfache Tomatensuppe mit vielen Kräutern und fühle mich gleich viel wohler. Wie jeden Tag falle ich abends erschöpft ins Bett, stehe am nächsten Tag aber deutlich erschöpfter auf.

Andere Ausflüge führte ich am Wochenende durch: Samstag einfach eine mit dem Schuhe-Kaufen verbundene Wanderung entlang des Kanals Anhor, der die Stadt durchzieht, am Sonntag eine aufregende Exkursion an den südöstlichen Rand Taschkents, wo die Ausfallstraße weiter ins Ferganatal führt, zum Qoyliq-Basar. Erneut packt mich gleich die Fahrt – diesmal in der Marschrutka, diesen Gefährten, in denen man fast Platzangst bekommt, mit dem Rucksack auf dem Schoß, im vollen Auto, dazu Kinder, die keinen extra Platz bekommen… Ich meine aber die Vorstadt, Häuser, Zäune, aufgeplatzte Straßen, die Elektrischka (Vorstadtbahn), deren Gleise die Straße noch huckliger und zerfurchter machen; alles sieht alt aus; ich fühle mich in die Achtziger hineinversetzt. Tatsächlich scheint die Hälfte der Autos aus dieser Zeit zu stammen – oder aus einer noch früheren. Die Menschen, Läden sehen aus, wie in der Zeit stehen geblieben. Jene Chevrolets, die auch herumfahren, wirken selbst wie im falschen Film und man ärgert sich ein bisschen über die eingeschränkte Sicht aus den Marschrutka-Fenstern. Auch Qoyliq selbst, bzw. der zentrale Ausgangspunkt zahlloser Marschrutkas bei Qoyliq kommt wie eine Baustelle daher. Die Marschrutka nimmt die Abfahrt, nach rechts und über loses Geröll, Sand, wie ein aufgerissener und nicht wieder zugeteerter Fahrweg, zu den Überdachungen, wo sie anhält und ihre Fahrgäste entlädt. Ich sehe mich um, etwas perplex. Ein Chaos ist das hier! Nicht nur unter den Dächern, auch weiter vorne parken kleine Busse, Marschrutkas, alle durcheinander, wo eben Platz ist… Ich gehe ein Stückchen nach vorne, habe keine Ahnung, wo ich bin und wo der Basar ist, da tauchen auf der anderen Seite der Querstraße, welche von jener nach Fergana brückenartig überschlagen wird, hohe Hallen auf, fast wie ein ausgebrannter Jugendstil-Bahnhof, auf denen in großen, grünen Lettern „Qoyliq bazari“ zu lesen ist. Ein wenig taumle ich zwischen den quer stehenden Bussen und Autos auf dem dreckigen Sandboden umher, vielleicht ist es inzwischen auch Beton. Ich gucke mich um und es dauert, bis ich die Unterführung entdecke, direkt an der Querstraße, verstellt von weißen, hohen Fahrzeugen. Ich bin froh, dem Gerammel und Chaos des Busparkplatzes entkommen zu sein, denn die Unterführung ist leerer. Doch der Basar an sich, muss ich schnell erkennen, ganz und gar nicht. Wenn Chorsu der große Bruder ist – weitläufig, riesenhaft, mächtig, stolz und unerbittert – dann ist Qoyliq der kleine – auch gewaltig in Größe und Vielfalt, aber eng, unaufgeräumt, rasant und fluchend, dreckig – ein großartiges Terrain zum Bestaunen der Fremdheit. Und eines, vor dem man sich als Westler gerne abschottet und ein wenig froh ist, dort weg zu sein. Hier dominieren die Lebensmittel, Pflanzen gibt es nur wenige, Souvenirs und Handwerkskunst fast keine, und umringt wird die große Halle von kleinen Läden: meist Imbisse oder drogerieartige Geschäftchen. Hier ist vieles günstig zu haben, am Ende gehe ich mit Keksen, getrockneten Aprikosen (köstlich!), Zahnpasta, Lepjoschka und drei Granatäpfeln, nachdem Elmira gesagt hat, sie habe schon seit Jahren keine mehr gekauft, weil sie so teuer seien. Zugegeben, 50 Cent pro Stück scheint nicht wirklich teuer, aber dieses Jahr war die Ernte schlecht und, ehrlich gesagt, das sieht man den Früchten auch an. Gegessen haben wir sie noch nicht, der Granatapfel ist eine hier sehr präsente Frucht. Die getrockneten Schalen, sagt Elmira, seien gut gegen Durchfall, wenn sie als Tee aufbereitet werden. Wie gesagt, ich war froh, den Basar verlassen zu können, nach gut zwei Stunden Lärm, Gedränge, rohen Fleisches und lebendigen Fischen, habe mir aber dennoch vorgenommen, zurückzukommen – um Gewürze zu kaufen, noch einmal dieses Chaos auszukosten, bevor ich es in Deutschland nie wieder sehen werde – ein bisschen die Hirnmasse dehnen, die Reize überfordern, bis ich dazu die Gelegenheit nicht mehr haben werde. Und auch hier gilt: Sicher gibt es schlimmere Basare in Südasien, Südamerika, aber immer nur relativ zu dem, was sein könnte, zu denken, halte ich für keine besonders schlaue Sache. Ich schätze mich glücklich, dieses Chaos hier kennen zu lernen und wer mir von mehr Chaos erzählt, bitteschön. Dieses hier ist mir Herausforderung genug. Als abends Elmira und Alisher nach Hause kommen, stelle ich fest, dass ich gar nicht den ganzen Basar gesehen habe – hinter der Kreuzung geht es weiter: Kleidung, Werkzeuge und „für Renovierung“. Ein Grund mehr, wiederzukommen.

Wenn das EU-Projekt am Montag in Sack und Tüten war und ich am Dienstag frei hatte – was habe ich dann Mittwoch bis Freitag gemacht? Grundsätzlich: mich mit dem Intranet des Goethe-Instituts auseinander gesetzt, „Organisation“ und „Arbeitsgrundlagen“, d.h. was ist das für ein Verein, was wollen die, was machen die, wie machen sie es und wie sollen sie es machen – von der Zielvereinbarung mit dem Auswärtigen Amt über „Planung von Umzügen“ bis Personalaktenordnung habe ich alles gelesen. Zumindest die Einleitungen. Man merkt sehr schnell, wann nicht mehr weitergelesen werden muss; Sätze wie „Der Grad der Zielerreichung ist wesentliches Kriterium für den Erfolg“ flirren einem vor den müden Augen, pdf-Dokumente über die verwendete Abrechnungssoftware überspringt man guten Gewissens, aber immerhin gibt es unter „Kultur“ spannende Themen, Links, Texte und ein bisschen Inspiration, welche die Mühsamkeit der „Arbeitsgrundlagen“ irgendwie wett macht. Vielleicht habe ich die Aufgabe auch etwas zu genau genommen und hätte nur einen Bruchteil davon lesen sollen… „Das Präsidium hat folgende Aufgaben:“ Danke, nächstes Kapitel. Solche Tage gefallen mir – kaum etwas passiert, man liest und vergisst einige Dokumente, nur um sie gelesen und vergessen zu haben (das ist dann theoretisches Wissen, wie in der Schule), schaut aus dem Fenster in die abendgerötete Stadt, den Verkehr, lässt die Gedanken schweifen, entspannt, lässt die Ablenkung im Internet durch Artikel, Nachrichten, E-Mails geschehen und lehnt sich zwischen Mittagessen und Sonnenuntergang bei einem Kaffee aus der Maschine der Institutsleiterin zurück – solche Tage müsste es immer mal geben – nach Zeiten angesammelten Stresses und fehlender Ruhe bei sich sein… Die Leidtragenden sind Augen und Rücken, abends kündigen beide regelmäßig ihre Müdigkeit an – wenn der Rest des Körpers zu zäh ist aufzugeben, melden sie sich als erste krank. Das ist okay, wenn es meiner Gesundheit und gedanklicher Regung dienlich ist – und das ist es; ich schlafe und sie regenerieren ihre geschundenen Zellen… Bis zum Morgen, dann beginnt alles wieder von vorn.

Arbeit, Müh, Taschkent (1)

Es sind zwei Wochen vergangen, stürmischer und geschmeidiger als ihre Vorgänger – und im ersten Teil außerordentlich arbeitsam, weshalb ich den üblichen Soll, ein Beitrag pro Woche, nicht erfüllen konnte und kann. Es geht hier um mehr Zeit und der Text ist lang, wirklich lang – ich habe ihn aufgeteilt; am Anfang steht die erste Woche.

Die Tage beginnen schneller zu drehen. Ihre Achse; mein Kopf, gar nicht schwindelfrei, der sich lieber umblickt, staunend, auf alles vor und hinter seinen Augen, als jammernd über die Stunden zu ziehen, dunkle Gewitterwolken vor sich her treibend. Nun, ich habe genug zu tun. Mittwoch zehn, Freitag elf, Samstag und Sonntag je neun Stunden im Büro (inkl. schneller Mittagspause) – das EU-Projekt fordert seine Opfer. Der Dienstag nächste Woche ist dafür frei für mich. In drei Wochen an fünf Wochenendtagen im Büro – die Statistik kann sich sehen lassen. Wird aber nicht in gleicher Weise fortgesetzt werden; jetzt z.B. ist erstmal Ruhe. Die Institutsleiterin und der Chef der Programmabteilung sind in Chemnitz beim „Schlingel“, um Kinder- und Jugendfilme für unser Festival Ende April zu sichten. Im November wieder, meinte sie, würde ich am Wochenende arbeiten – und für den Moment war es nicht die schlechteste Beschäftigung. Wer darf schon an einem EU-Antrag mitschreiben? Der Antragstext, an dem wir – die Institutsleiterin und der Leiter der PASCH-(Partnerschulinitiative)-Abteilung, die beiden Köpfe des Projekts – die meiste Zeit gearbeitet haben, wurde von den zwei Projektkoordinatoren in vier Tagen auf Russisch geschrieben, ohne vorheriges Konzept – 17 Seiten – und für uns von einem ganzen Team in nochmal so vielen Tagen ins Englische übersetzt. Von dieser Grundlage ausgehend, haben wir im Prinzip jene Arbeit geleistet, für welche die Autoren keine Zeit hatten: die genaue Überlegung, was zu schreiben sinnvoll ist, was die EU hören will, damit wir das Geld bekommen, und was eigentlich dieses Projekt so großartig macht, dass es sich von alle anderen Einreichungen abhebt – sowohl, was Prägnanz als auch Wichtigkeit angeht. Grob: es geht um „Menschen mit eingeschränkten körperlichen Fähigkeiten“ und Seminare, die sie weiterbilden, um Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Inklusion zu erhalten und im besten Fall als Multiplikatoren zu fungieren. Denn bisher gilt anscheinend, was in meinem Reiseführer die Überschrift „Behinderte“ rechtfertigt: „In Usbekistan ist nichts behindertengerecht gebaut, und Behinderte nehmen am öffentlichen Leben nicht teil.“ Erlebnisreich, diese Aufgabe mitzugestalten, bis zur Abgabe des Pakets mit den vier Exemplaren zu begleiten – das ist dann schon Montag und gehört eigentlich in die nächste Woche; kontinuitätsbewusst passt es hier besser. Nicht nur durfte ich mit den beiden anderen zu diesem Zweck zur „Delegation of the European Union to the Republic of Uzbekistan“ fahren, sondern wir kamen auch zur rechten Zeit, um eine Privatführung durch die Räumlichkeiten geboten zu bekommen, die sich im „International Business Center“ eine Etage mit der Weltbank teilen. Der Mann, der uns empfing, und die Institutsleiterin kannten sich irgendwie, sodass er gleich eine spontane, kurze Führung angeboten hat. Beim Herausgehen merke ich: die einzige Zugangstür hat einen Handsensor. Wie auch immer der funktioniert, er sieht cool aus – und sicher. Der Mann erzählte uns noch, wie die Sektion „Finanzen und Verträge“ (oder so) ganz aufgeregt sei, weil wir als Antragsteller an die EU diese heiligen Hallen doch nicht einfach so betreten könnten… Im Anschluss zogen wir den Feierabend vor und setzten uns bei Bier und Steak in ein gutes Restaurant – eingeladen von der Institutsleiterin. Ein für mich, muss ich sagen, überaus angenehmer Abschluss, der weit über meinem Praktikantenstatus lief.

Ein Witz dazu am Rande: Als die beiden Vertreter des Goethe-Instituts auf dem Vorbereitungsseminar zu Gast waren, meinten sie zu uns, wir könnten ruhig auf den Status „Freiwilliger“ beharren, denn wir seien, im Unterschied zu Praktikanten, von deutschen Steuergeldern bezahlte, priviligiertere Praktikanten (das war jetzt meine Formulierung) als die Praktikanten, die es beim Goethe-Institut auch gibt. Es macht, möchte ich darauf antworten, gar keinen Sinn, hier auf irgendwelchen Begrifflichkeiten zu beharren. Ich werde Praktikant genannt, als Praktikant vorgestellt und höchstens Insider kennen den Unterschied zum Freiwilligen. Ehrlich gesagt, mir ist das relativ egal, solange ich weiterhin so gut behandelt und bezahlt werde. Roughly.

Sieben Tage zurück, wieder Montag: Betriebsausflug, Team-Building. In den Bergen, gute zwei Stunden Fahrt von Taschkent – schon die Fahrt dorthin ein Erlebnis. Hätte ich ununterbrochen aus dem Fenster gefilmt, es wäre ein fantastischer Film gewesen. Im Stile Straub-Huillets, aber die zerfurchte Seelenlandschaft usbekischer Gesellschaft – so viele Bilder, so viele Sujets, jedes einzelne könnte ein Film sein: in der Stadt riesige, leere Sowjetbauten, bunt und futuristisch, breit und Maul offen aufstrebend, der Straße entgegen gähnend, mit offenen Treppenhäusern, verbretterten Fensterlöchern und die Farbe verwaschen – so traurig wie eindrucksvoll. Liqour-Stores, kleine Märkte und Drogerien lösen die Stadt auf, bringen ihren Rand näher. Überall wird gebaut: Beton, dreckige Farben, wie zufällig vermischt, kreieren eine fremde Atmosphäre. Babuschkas auf der anderen Seite, die mit dem Finger nach unten auf ein Taxi nach Taschkent warten; noch sind es die Ausläufer der Großstadt, der wir entfliehen; langsam wird es spannend. Ein Eselkarren mit zwei alten Männern anderer Generation zieht seinen Weg in die Gegenrichtung, ich sehe ihm nach, solange ich kann. Kleine Häuslein, Gärten, „allotments“ am Wegesrand, immer in Sammlungen, dann isolierte, enge Gehöfte, alt und gedrängt, eine Stadt auf 400 m²; davor Männer in Schwarz und mit Bärten. Ringsum weite Fläche, bis auf die Platanen am Straßenrand. Immer wieder vor den Gärten und Höfen gehen Menschen ihrem Tageswerk nach, und ich bestaune sie, diese Unordnung, alles wirkt spontan, und sie selbst so alt, gebeugt, sind wahrscheinlich nicht sonderlich betucht – arbeiten aus Notwendigkeit, nicht Freude, und mit etwas Glück liegt die Freude in diesem Leben. Ein Rind am Asphalt, friedlich grasend – nicht das letzte auf der Fahrt. Noch häufiger sieht man diese Reihenhäuser, zehn nebeneinander, drei Reihen, alle modern im gleichen Stil, helle Fassade, hässlich gleich. Auf der Rückfahrt erfahre ich, dass irgendeine usbekische Volksbank sie dorthin gesetzt hat, und nicht nur in der Nähe von Taschkent, sondern im ganzen Land. Reihen hoher Platanen sind mir angenehmer. Und immer wieder diese Menschen dort… Ummauerte Siedlungen, wie mittelalterliche Städte, aber moderner: aus Lehm, Stein, Plastik, Holz und alt, Dreck und Rost. Wieder diese Spontaneität, Sandstraßen, Staub, Strom und Gas verlaufen oberirdisch in weit verzweigten Leitungen, Masten, die aus dem Erdboden ragen wie Stangen. Ein klappriges Auto fährt durch den Staub, als sich eine der schnurgeraden Wege meinem Blickfeld öffnet, Kinder spielen – sie sehen wie Kinder aus. Uns kommt ein sowjetisches Fahrzeug entgegen, mit Pferdeanhänger – einem Anhänger jedenfalls, auf dem die Pferde dem Fahrtwind geöffnet stehen, ihre Mähnen flattern. Ostautos passieren uns häufig – hier wie in der Stadt sind sie ein üblicher Passant. Kleine Industrieanlagen, später eine größere. Chemie, sie sehen aber still gelegt aus. Brachflächen mit Wasserlachen, kleine Flüsse, Inseln, Rinnsale zwischen den Bächen, mal steppenartig einfach hohes Gras, dann kurzhalmige Wiesen, auf denen friedlich Ziegen, Schafe, Rinder grasen. Einmal, zwischen den Pfeilern einer teilweise oberirdisch nach Kasachstan laufenden Pipeline, Pferde am Bächlein, über dessen Brücke wir rauschen. Pferde und Rohre begegnen uns auf der Fahrt noch mehrmals. Eine Landschaft wie karge Winter, zerrüttet, kalt, feindlich, obwohl es warm ist. An einer Lache, die wie passieren, stehendes Gewässer unter so vielen in dieser mondzerfurchten, endlich nassen Landschaft, sitzt einsam ein Angler, sein Sowjetwagen wartet auf der morgendlichen Wiese mit offenen Türen. Und im Fernen die Berge, die erst kaum mehr als Sandhügel waren, Ausläufer des Tian-Shan, das in Kirgistan zuhause ist und dann nach China weiterwandert.

Kurze Einblicke in ferne Leben, meistens Armut, immer Alltag; ich fahre an ihren Gesichtern vorbei und lasse mich fangen von diesem Ausblick in ein Dasein, das ich in ähnlicher Form zwar in Filmen gesehen habe – Armut in Mexiko (Bunuel), Italien (Pasolini), Deutschland (Rosselini), Russland (Tarkowskij) und im „Dritten Kino“ – hier aber ist es echt und flieht rasch vor meinen Augen vorbei, ohne mich mehr zu berühren als für diesen einen Moment, nur ein Ausdruck, ein Blick, keine Bewegung, ein Bild dieser fremden Spannung, die ihnen Leben ist. Und irgendwann vereinzeln sich die Zeichen der Wohnhaftigkeit, Bewohnbarkeit, die karge Landschaft nimmt überhand und die Berge rücken vor. Wir nähern uns dem Rand Usbekistans, der Grenzen Kasachstans und Kirgistans – ich schreibe und halte meine Kamera bereit – noch dauert es, bis wir ankommen.

Die Fahrt die Serpentinen hoch, die Berge – glücklicherweise sind die Straßen auch hier breit – bringen Erinnerungen hoch an die Auffahrt zum Kraterrand des Vesuv – warum? Der Vergleich hinkt. Vielleicht eine ähnliche Erwartung – nein, falsch, die Landschaft, Fremdheit, Spontaneität, die mich sogar in Taschkent an Italien hat denken lassen. Und die Pflanzen hier, in den Bergen, ähneln tatsächlich der Vegetation um den neapolitanischen Golf. Unnötig zu erwähnen, dass Anschnallen überflüssig ist. Die Straßen werden schlechter – auch das wie im südlichen Europa, das ich kenne. Doch irgendwann wird jeder Vergleich mit Italien obsolet – die Berge! Wie sie über diesen See hinausragen, kleine Orte hier und da, Hotels oder Wohnungen – ein Naherholungsgebiet für die betuchtere Stadtgesellschaft – nicht umsonst wohnt der Präsident in Nähe, und nicht umsonst hat sich der Avenue Park, unser Ziel, diesen Platz ausgesucht, ein Hotel mit Freizeitanlage zu errichten. Ich bestaune die Bergketten, auf die man von hier direkte Sicht hat – unten ein Strand, an dem ich leider nicht war.

Wir haben eine Hand voll Zimmer, um unsere Taschen abzustellen, dann geht es los zum Frühstück. Eigentlich wurde zum Beitrag zum Buffet aufgerufen, das muss ich wohl verpasst haben. Genug ist trotzdem da, und dank des Frühstücks, das ich mit Elmira in der Wohnung hatte, kann ich mich darauf beschränken, süße Kleinigkeiten zu naschen und Kaffee zu trinken. Ich bin gerade am Überlegen, ob ich doch etwas Herzhaftes essen soll (wann wird wohl das nächste Essen stattfinden?), da ruft mich einer, der Techniker, ITler am Institut, und fragt mich, ob ich Wodka möchte. Im ersten Moment ein wenig verblüfft, kann ich weder ja noch nein sagen – eindeutiges Zeichen, mitzukommen, auf den Topchan – eine Art ausladendes Bett mit einem Tisch in der Mitte, um den man sitzt, liegt, mit speziellen Kissen, die Grundlage jedes sommerlichen, feuchtfröhlichen Miteinanders. Ich durfte diese Art Essgelegenheit bereits am zweiten Tag meines Aufenthalts genießen, als ich mit dem eingeladenen Fotografen (s. vorherige Einträge) abends bei der Institutsleiterin eingeladen war und wir australischen Weißwein getrunken haben. Stattdessen, pünktlich um Zwölf, der erste Wodka des Tages. Wo es in Deutschland heißt, kein Bier vor Vier – zu allem Überfluss kam dieser Spruch später am Tag aus einem der usbekischen Münder, zu mir gewandt – „Sagt man in Deutschland so, ja?“ Aber was macht schon ein kleines Wässerchen… Oder anderthalb. Hätte ich gewusst, was nun dieses „Team-Building“ heißt, ich hätte auch mehr vertragen.

„Team-Building“ ist, wenn sich Erwachsene wie Kinder benehmen (dürfen) und das lustig finden. Basteln, Malen, sich Sticker auf die Haut kleben und verkleiden, Wettbewerbsspiele à la Sackhüpfen (in den Verkleidungen) spielen – bloß die Zuckerwatte hat gefehlt. Und all jene Vergnügungsfahrten, wie man sie vom Jahrmarkt kennt. Dafür gab’s gefärbtes Zuckerwasser mit Kohlensäure, das wir wett trinken durften. Immerhin konnte man verwirrt am Rand stehen und sich aus dem meisten raushalten. Einen Esel musste ich führen, der arme, der überhaupt nicht so schnell wollte, wie die blöden Menschen wollten, dass er wollen sollte. Geführt wurde die ganze Aktion von einer als Indianerhäuptling verkleideten, halbwegs jungen Dame, während der Beschäftigung ihrer Zöglinge immer wieder ihre Schminke überprüfend, deren metallisch laut verstärkte Stimme mich manchmal an Schwarz-Weiß-Bilder und Sowjetpropaganda erinnert hat. Man möchte ja aber solchen Berufen nicht die Existenz absprechen. Bestimmt lustig, irgendwelchen Erwachsenen dabei zuzusehen, wie sie im Wettrennen rote Smileys auf ein Blatt Papier malen – welche Gruppe am Ende die meisten geschafft hat – wie sie beim Tauziehen umfallen oder beim Hockeyspielen mit einem Melonenluftball und Besen statt Schlägern sich gegenseitig über den Haufen rennen. Oder einfach blöd verkleidet herumlaufen; ich habe das Beste draus gemacht, indem ich nichts gemacht habe. Bei der letzten Aufgabe, einem Knobelspiel – wie bei der Mathe-Olympiade – konnte ich mich, dank der locker gelassenen Zügel durch unsere Indianerhäuptlingin, weitgehend von der Gruppe absentieren und u.a. den Pool der Anlage bewundern – im Hintergrund massiv die kahlen Berge in zahlreichen Brauntönen, als Grenze zwischen hier und da, Rand des Geländes, eine Reihe hoher Platanen, und dann das Becken – leer gepumpt, inzwischen, aber dieses Blau der Kacheln ergänzt die Situation zu einem denkwürdigen Fotomoment – mein Apparat liegt im Zimmer. Mir muss es reichen, den Blick mit meinen Augen zu erfassen und zu behalten. Ich gehe näher, um das Becken herum, um von der kleinen Steinmauer auf die Berge zu schauen, da bemerke ich die Bar am hinteren Rand des Pools – dass dort eine war, hatte ich schon wahrgenommen, aber jetzt sehe ich erst, wie – die Bar ist so gebaut, dass man von außen gar nicht herankommt – bestellen kann man nur auf blau gekachelten Hockern, die sich nun weit aus dem Becken empor strecken – wenn der Wasserstand die sommerliche Höhe hat, kann man schwimmen und, bei entsprechendem Verlangen, sich auf diese Hocker im Wasser setzen und einen Drink bestellen. Vermutlich leere Dosen und Flaschen stehen noch im Regal – Glenfiddich, weiterer Scotch, auch Jack Daniels und Jim Beam – wahrscheinlich auch anderes als Whiskey, so sehr habe ich nicht darauf geachtet.

Froh, dass das ganze vorbei war, dachte ich nun an jene Spaziergänge, zu denen Möglichkeit gegeben werden sollte und ja, die sollte es geben– aber erst nach dem Mittagessen. Also (nach ausgiebigem Abwaschen der Malfarben aus dem Gesicht) auf den Topchan gepflanzt und irgendwie landete ich wieder bei den richtigen Leuten, sodass es nicht lange dauerte, bis erneut angestoßen wurde. Salate und Brot standen bereits, Schaschlik sollte auch folgen, in drei Gängen: Hammel, Rind und Huhn, jeder begleitet von noch einem Schlückchen und noch einem Schlückchen… Genug, um (ich schließe mich kurz aus) mit dem weiblichen Nachbar-Topchan zu flirten und Sprüche herüberzuklopfen – den Reaktionen nach zu urteilen, müssen von der Gegenseite einige ganz solide Antworten gekommen sein. Als ich lache, fragt mich jemand, ob ich das denn verstünde – tue ich nur sehr eingeschränkt, obwohl es immerhin auf Russisch und nicht Usbekisch ist. Ein anderer Deutscher, der PASCH-Leiter am Institut, meint daraufhin grinsend: „Um den Inhalt dieser Konversation zu verstehen, muss man sich ja nur die Menge an getrunkenem Wodka anschauen.“ Am Ende waren es zwei Flaschen (gerade mal um Vier – Zeit, Bier zu trinken). Aber der Schaschlik war lecker. Und, ehrlich, geschadet hat es mir nicht und zu viel war es auch nicht. Damit hatte sich allerdings mein Spaziergang erledigt und ich konnte die wunderschöne Landschaft einmal mehr aus dem Busfenster beobachten und – fotografisch festhalten. Was bei dem Straßenzustand keine allzu einfache Aufgabe war. Und wieder diese Bilder: Ein malerischer Sonnenuntergang – kurz und intensiv, wie Sonnenuntergänge hier sind – ein Schäfer mit auf den Rücken gespannten Gewehr, der seinen Tiere über die Furt begleitet; Kinder, die vor abendlich roter Industriekulisse, verstaubtes Abendlicht, einsam am glitzernden, verheißungsvollen Fluss auf erdiger Wiese Fußball spielen; später der Taschkenter Fernsehturm, der zwölfthöchste der Welt, der über der Ebene aufragt, obwohl noch weit, weit weg; ein sowjetischer „Wolga“ mit sechs Kisten Trauben auf den weiß-schmutzigen Körper geschnürt – im halb offen stehenden Kofferraum viele weitere; dann voll mit Kürbissen und anderem Gemüse beladene Kleinsttransporter, die irgendwo nach Hause wollen; am Ende Stau am Rand der großen Stadt, und Verlängerung der Fahrtzeit. Als ich einmal aus dem Fenster sehe und mir die Autos anschaue, bemerke ich: einen Heuwagen, einen Tanklastwagen, einen Kleintransporter – und sieben Chevrolets. Die gibt es hier wirklich oft. Verständlich wird das, wenn man weiß, dass in Andijan eine Fabrik von Daewoo, südkoreanischer Vater der Marke Chevrolet, stationiert ist, und diese Autos also billiger sind als andere, Importe. Natürlich endete der Tag nicht im Stau, sondern mit der obligatorischen Müdigkeit, und der Aussicht auf den Dienstag, Arbeitstag, mit vielen Kleinigkeiten zu klären wegen des EU-Projekts, und noch viel mehr Arbeit, nachdem sie geklärt waren. Nun, da sie geklärt sind, reicht es mir, oben auf das Ergebnis verwiesen zu haben. Der Prozess ging relativ unaufgeregt vonstatten – ich durfte schließlich einen ganzen Absatz („Methodology“) alleine überarbeiten, d.h. im Prinzip neu schreiben – wie wir uns eben die Definition von „überarbeiten“ zurecht gelegt hatten. Samstag, bereits stumpf vom ständigen Bildschirm-Glotzen, wurde ich nach der Arbeit gleich von der Institutsleiterin und ihrem Mann zu einer Party eingeladen – jemand feierte Abschied. Sie wollte eigentlich nach Deutschland, aber die usbekischen Behörden hatten ihr für dieses Land, in dem schon ihre Schwester lebt, keine Ausreisegenehmigung erteilt – jetzt geht sie nach Australien. Diese Feier fand in jener Deutschen-WG statt, in der auch die andere Leipzigerin (s. vorheriger Beitrag) wohnt, und wurde deswegen stark von Deutschen frequentiert – Gruppenbildung war unvermeidlich. Immerhin trifft man interessante Leute: so den Japanisch-Dolmetscher, der von einem Auftritt mit seiner Band kam und während des Wodkatrinkens von Karma sprach (auf Englisch), oder die deutsche Mitarbeiterin im Goethe-Institut Berlin, die einige Wochen in Taschkent war und demnächst fest im Oman arbeiten wird. Glücklicherweise scheint es kurzfristig keinen Unterschied zu machen, ob ich zehn oder fünf Stunden schlafe – am nächsten Morgen war ich nicht müder als sonst. Sonntag mein erster Stromausfall – aber auch der nur angedeutet, irgendein Wackelkontakt, und ganz unaufregend. Alle wichtigen Dokumente, an denen wir gerade gearbeitet hatten, blieben intakt und bald stellten sich rechnerübergreifender Laufwerkzugriff und Internetverbindung von selbst wieder her. Allerdings hatten wir am Tag zuvor in allen Räumen des Instituts kein Wasser – naja, bis auf den Aufenthaltsraum. Wozu der PASCH-Leiter kommentierte: „In diesem Haus gibt es unklare Zusammenhänge.“

Ich bin froh, dass mir einiges zugetraut wird, ich vor Herausforderungen in verschiedener Hinsicht gestellt werde. Als am Freitag der nächsten Woche, 09.10., die stellvertretende Institutsleiterin, ebenfalls eine Deutsche, mich dem neuen Verwaltungsleiter vorstellte, tat sie das mit den Worten: „Der schlaueste Praktikant, den wir je hatten, habe ich gehört.“ Da bleibt einem nur, das Schmunzeln, aus Schmeichel und Belustigung ob solch direkter Worte, zu unterdrücken und sich zu fragen, wie man diesen Eindruck hinterlassen haben könnte.

Versuch an einem Kreis

Die zweite Woche – vielleicht der Punkt, an dem sich mein Da-Sein zu unterscheiden beginnt von jenem des Touristen – an dem die erste Dinge Alltag werden. So etwas zu beobachten ist beruhigend; es sagt: Man kommt an. Man IST da, und wird bleiben. Ich hatte überlegt, einfach meine Woche zu beschreiben, Einblick zu geben in Alltag und Struktur meiner Arbeit, aber… es ist mir doch zu langweilig und irgendwie anspruchslos. Ich möchte literarisch werden, ausholen und weit schweifend über meine Seelenlandschaft fahren, jene Eindrücke des Auges wiederholend, verwandelnd, komprimierend auf abstrakter Ebene nacherzählen, dabei gleichsam einem Märchen in unmissverständlich belletristischer (pathetischer) Sprache die Distanz erhalten zu mir, zum Leben, denn – ich kann nicht die ganze Zeit herumlaufen und reflektieren, in welcher Bedeutung ich dieses soeben, vorhin, letzte Woche Erlebte zu sehen habe, Teil welches lebensverändernden, einschneidenden Prozesses es ist und welchen Beitrag es leistet zu einem anderen Ich – oder eine höhere, andere Realität erfahrbar macht. Das immerhin kostet Anstrengung, Überlegung, Kraft – die habe ich noch nicht. Denn Müdigkeit begleitet mich, die des Neubeginns, Anfangens, es schleppt sich hin, über die Tage, und ich verstehe meinen Körper, dass seine Antwort auf mein Fordern am frühen Abend bereits Ablehnung signalisiert – und Erschöpfung, ja, aber nicht jene, von der ich im zweiten Eintrag schrieb. Nicht die „Erschöpfung des Europäers“, der so durch die Fremde wandert und zähneknirschend seine Identität zerpflückt, der erledigt von seinen körperlichen Beschwerden den geistigen Rückzug antritt und bei sich ist aus zitternder Selbsterhaltung, aus dem Klammern an das eigene Ich oder das, was davon noch bleibt, wenn der Rest versagt, der Körper – die Erschöpfung der zweiten Woche ist anders; sie ist Sanftmut, ein Streicheln des Kopfes, Komm, leg dich hin, sie ist weich und lächelt, wenn sie winkt. Ihr Kommen ähnelt einem Abgleiten nicht in die Höhlen von Schmerz und Notwendigkeit, sondern Vertrauen und Aufbau. Wenn die ersten – die ersten sind die schwersten – Schranken abgebaut sind, kann sich der Kopf, das Ich im Denken, akklimatisieren. Aber sie ist auch eine Erschöpfung des geistig Rastlosen, der so viel in seinem Kopf bewegt, den es nach Ruhe dürstet und nach Beisein des Denkenden, Schöpfenden, jenes Teils meines Ichs, das mir der Anker während zwei letzter Jahre Schule war. Es war diese Woche wieder, dass ich Lust bekam, dass mich das altbekannte Verlangen packte, nach Lesen, Schauen, Kunstrezeption und –produktion – nein, eher ersteres, denn Produktion, dafür ist alles noch zu viel, und der Blog genügt mir als Abfluss meiner Wallungen, meines geistigen Treibens – das und der Schlaf, die Träume, die mich süß empfangen – genug der ersten Worte, ich habe noch viele weitere zu verlieren und schenke sie gerne aus.

Indem ich mit einem Abriss dessen beginne, was meine Woche war: Montag ein ruhiger Beginn, aller Anfang ist träge. Eine kurze Einführung ins CMS (Content Management System), das ich lieber anderen überlassen würde, und Arbeit an einigen Kleinigkeiten – Papieren, die noch waren, Beginn der kurzen Schrift an die Institutsleiterin wegen einem überregionalen Projekt, zu dem zur Rückmeldung aufgerufen wurde. Essen: Kantinen-Borschtsch auf dem Basar. Dienstag ein schöner Arbeitstag, den ich tatsächlich frisch rekapituliert und protokolliert habe – die ausführliche Beschreibung also unten. Wichtig: ein neues, großes Projekt, das ganz schnell über die Runden muss. Sehr abwechslungsreich und deshalb Grund für mehr Worte der Mittwoch: aus irgendeinem Grund, der vielleicht mit Ausstellungen, Politik oder Wochenende zu tun haben mag, feierte die Weltsprachenuniversität in Taschkent den Europäischen Tag der Sprachen (26.09.) am 23.09. Die Uni selbst ist wahrlich kein sehenswerter Bau, aber traditionell war das Goethe-Institut (wie das British Council und eine französische Vertreterorganisation) vor Ort. Stände verschiedener europäischer Länder (u.a. Deutschland, Frankreich, Georgien, Lettland, Rumänien, Spanien, Slowakei, England, Ukraine) waren zentral irgendwo aufgebaut und als Goethe-Institut stellten wir uns einfach an den deutschen Tisch, unser Banner daneben. Ich hielt mich von dem Gedränge eher fern, man will ja nicht ständig fotografiert werden. Obwohl es sehr nett ist, den strahlenden, hoch motivierten, usbekischen, deutschsprechenden Mädchen zu erzählen, woher man kommt – als würde sie nichts glücklicher machen, als mit Originaldeutschen, deren Sprache sie studieren, Small Talk zu betreiben und Fotos zu knipsen. Ich merke immer wieder, dass man als Ausländer (insb. Europäer, insb. Deutscher) hier eine Art „besonderen Stand“ hat – einige Tage später sprach mich einer auf Russisch an, ich sagte, ich spräche nicht besonders gut und habe seine Frage nicht verstanden, er fragte mich, woher ich käme: Deutschland. Was ich hier mache, „You know, it is very interesting for me.“ – mit einem Deutschen zu reden…

Ich musste natürlich unbedingt zum lettischen Tisch, voller Hefte über Riga, verschiedene Unis; alles auf Russisch. Nur das Banner, dessen Logo ich kannte: Latvia. Best enjoyed slowly. Als ich ein Gespräch zu beginnen versuchte (in dieser wunderschönen Sprache, deren Wörter in meinem Mund so schnell Russisch werden), meinte die Hüterin des ganzen Papiers, hinter dem Tisch im Schatten sitzend, sie verstehe, aber spreche leider kein Lettisch. Trotzdem haben wir uns – Englisch – unterhalten und sie meinte, ich könne doch mal bei einer der Botschaftsveranstaltungen kommen. Gerne. Wenigstens die Rede des lettischen Botschafters, ein Hüne mit Sonnenbrille im mafiagrauen Anzug, habe ich mitbekommen – die kürzeste von allen. Was nicht unklug war, denn das Rednerpult (nachdem man die Technik aus dem Saal, in dem vormittags die unwichtigeren Reden über Spracherwerb und Mehrsprachigkeit gehalten wurden, hinaus transportierte) stand, schattenlos, der prallen Sonne (prall ist das falsche Wort, scharf trifft es eher) preis gegeben (durch die blöde Klammer hat nicht einmal das Wortspiel – „der prallen Sonne preis“ funktioniert) – wo war ich? Die Sonne. War wirklich knallig an dem Tag. Was noch zu erwähnen wäre, ist die deutsche/deutschsprachige community in Taschkent, die man manchmal sieht, und meist wohl bei Veranstaltungen wie diesen. Nur, dass ihr wisst: es gibt eine. Donnerstag Feiertag – islamisches Opferfest, oder Beginn desselben; ich kenne niemanden, der es zeremoniell begangen hat. Dennoch bedeutete es einen freien Tag für mich – der einzige dieser Woche, weil ich am Samstag und Sonntag (s.u.) arbeiten musste – wie ich ihn genutzt habe, liest man in dem anderen neuen Eintrag (mit Bildern!) über den Chorsu-Basar. Mehr habe ich an dem Tag nicht gemacht. Dafür war der Freitag wieder einer der Büroarbeit – Lesen, Begreifen, Zusammenfassen, alles auf Englisch. Es ging um das große Projekt; ich musste aus internen (geheimen!) Protokollen und finanziellen Bilanzen bestimmter „Maßnahmen“ die Zusammenfassung eines zurückliegenden Mega-Projektes schreiben, welche eben nun nötig war. Ich weiß nicht, wie viel zu viel wäre – wir als Goethe-Institut bewerben uns bei einer offenen EU-Ausschreibung in Usbekistan um ziemlich viel Geld und der englische Antrag ist eine Heidenarbeit, die wir praktisch spontan zu übernehmen beschlossen haben. So läuft das.

Wie bereits gesagt, bestand mein Wochenende aus Arbeit, aber angenehmer: über die beiden Tage fand im Institut der zweite Teil eines Fotografieworkshops statt, den der aus dem zweiten Beitrag bekannte Fotograf begleitete – es ging um die Präsentation einer Aufgabe, welche die Teilnehmer während der vorangegangenen Woche zu erarbeiten hatten: eine Fotoserie zum Thema „Der Basar“. Am Samstag schaute ich ihnen noch viel zu, Sonntag lieber zwei Filme an, oben, in „meinem Büro“ – Sichtungen für eine ab Februar 2016 stattfindende Filmreihe. Die „Arbeit“ hielt sich also an den beiden Tagen in Grenzen, als Vertretung des Goethe-Instituts und theoretisch Ansprechperson der Programmabteilung musste ich vor Ort sein.

Ich komme wirklich viel mit einer Internationalität in Kontakt, die ich aus Deutschland nicht kenne, die sich selbst in Lettland meist zwischen deutsch-russischen Grenzen bewegte. Es ist allerdings auffällig, wie oft ich den Vergleich zu Lettland ziehe – ein Jahr in der Fremde ist einzigartig, und ein weiteres fühlt sich wie Widerholung an. Ich denke oft, wie ähnlich Elmira meiner lettischen Gastmutter scheint; die Jugendlichen hier und da sehe ich im Kopf oft zusammen, mein Zimmer fühlt sich plötzlich wie jenes an, in dem ich in Inčukalns schlief, schrieb, arbeitete – nur der Wald fehlt, das liebe Schweigen der Bäume, die Ruhe dieses kleinen Ortes, das Lauschen auf etwas da draußen – hier ist alles viel härter, stumpfer – Großstadt – weniger rosagold, wie ich mein Lettland zu verklären tendiere… Außerdem scheinen die Momente des Wiedererkennens kurz, dann ist Elmira wieder Usbekin und ganz und gar nicht jene lettische Mutter mehr. Dann höre ich wieder in ihrem usbekischen Gespräch ein lettisches Wort und ich lächle, weil mein Verstand mich austrickst – es ist ja gut, die Erinnerung an Lettland – ein Zauberjahr, rosagold verklärt…

Das Protokoll wird fortgeführt: Mir schien, ich erwähnte es, der Dienstag, 22.09., ein für die Arbeit, den „Alltag“ hier, sehr charakteristischer Tag, deshalb werde ich nun verarbeiten, was ich mir notiert habe. Der Wecker klingelt um halb Acht, derselbe Klingelton seit Jahren: „Sunday Morning“ von The Velvet Underground. Mein altes Handy, auf dessen letzten Seufzer ich langsam warte. Ich stehe auf, mein Rücken schmerzt etwas, ich muss auf die Toilette – nichts Besonderes bei neun bis zehn Stunden Schlaf pro Tag. Ich bin bestimmt trotzdem müde. Gehe ins Bad, auf Toilette, in die Dusche – das Wasser braucht lange, um warm zu werden, und ist es einmal warm, dann ist es heiß – Frühstück. Ich setze Wasser auf – Gasherd, Teekanne – und fange schon an zu essen: Kefir, Balsam für den Magen (fast so gut wie Wodka), und das berühmte, helle Rundbrot – Lepjoschka. Die Teekanne bläst Wasserdampf, der Deckel klappert, ich gieße den Teebeutel zum vierten Mal auf, lasse nur kurz ziehen und schmeiße ihn weg. Mein Tipp für Bauchschmerzen-Aufenthalte in Usbekistan: Kefir, Brot und dünner Schwarztee – es gibt nichts Besseres. Kurz nach halb Neun verlasse ich die Wohnung, sperre wieder ab, und gehe mit meinem (schnell gepackten) Rucksack die Treppe herunter – seltsam ungleichmäßige, häufig ganz niedrige Stufen. Immer dabei: Wasser (Hydrolife aus dem Tian-Shan statt Nestlé), Thermosbecher, Fotokamera, Block, Stifte und ein Tüte voll Geld. Ganz nebenbei: Geld zählen macht Spaß. Wenn man bei Achtzig angekommen ist und sich nicht sicher, ob man sich verzählt hat, dann wieder von vorne beginnt… 1000 Sum, der übliche Schein, das sind 20 Cent. Mehr als 5000 auf einem Stück Papier geht nicht. Man kauft ein, 11.000 Sum, und zählt elf Scheine ab – ohne Kleingeld und „Haben Sie vielleicht sieben Cent?“. Obwohl mich jemand fragte, ob ich (bei 6000 Sum, die ich ihr gab) nicht noch 200 hätte – also vier Cent, der kleinste Schein. Hatte ich nicht und sie musste mir 400 (zweimal 200) zurückgeben, ansonsten hätte sie mir 500 (ein weiterer Schein) geben können. Diesen kleinen Verlust muss man verkraften können, auch wenn ein Einkauf nicht 11.000, sondern tatsächlich 10.960 Sum kostet – und wieder: zu Zeiten des Lats war das in Lettland ähnlich, das Aufrunden der Summen wegen fehlender Kleinstwerte.

Der Bus, den ich jetzt gewohntermaßen nehme, Linie 38 oder 57, ist mit 1000 Sum neben der Metro das günstigste Transportmittel – ein Platz in der Marschrutka, die Elmira immer nimmt, kostet 1200. Mir gefallen diese grünen Mercedes-Busse, aus denen man den Weg entlang die Stadt sehen kann. Etwa 20 Minuten dauert die Fahrt bei dichtem Verkehr; ich steige am Oloy (Alaiskij) Basar aus. Zu diesem Zeitpunkt hat der Kontrolleur meist gegen jenes Entgelt Tickets von seiner Papierrolle verteilt; vorher steigt er an den Haltestellen aus, bekommt von den Entsteigenden das Geld in die Hand gedrückt und sprintet, im Anfahren des Fahrzeugs, nach vorne, um vor dem Schließen der Tür (der Fahrer reguliert das schon entsprechend) aufzuspringen.

An diesem Morgen muss ich zu UMS, der Telefongesellschaft, bei der ich eine Karte erworben habe. Irgendwie soll ich sie freischalten und weiß nicht, wie. Nach dem Besuch in dem auch an den Schalter fast leeren Gebäude bin ich auch nicht schlauer, denn der unmotivierte Mensch am Infodesk sagt mir etwas auf Russisch, das ich nicht verstehe. Heute spricht niemand Englisch. Also gehe ich wieder. Später kommt mir in den Sinn, in den hintergelagerten Raum zu gehen, wo zwei „Kassa“-Schalter die richtigen Assoziationen wecken, die richtige Anlaufstelle sind. Nun gut.

Viertel nach Neun bin ich auf Arbeit, d.h. an jenem Schreibtisch, von wo aus ich dies ins weite Netz stelle. Ich begrüße die, die da sind, andere kommen im Verlauf des Tages und grüßen mich – ein sehr nettes Klima; alle grüßen sich gegenseitig, ich fühle mich zugehörig. Das erste, das ich an meinem Arbeitsplatz mache: Facebook und Googlemail. Was man so macht, wenn man zu Hause (!) kein Internet hat. Ich sende eine Mail an meine Eltern, die ich am Laptop in der Wohnung vorgeschrieben und nun auf einem USB-Stick mitgebracht habe und kläre mit der Institutsleiterin meinen Urlaub zum Zwischenseminar – so halbwegs.

Um Viertel nach Zehn beginnt der wöchentlich dienstags auf Zehn angesetzte Jour Fixe der Programmabteilung, ein wichtiger Punkt, um Informationen zu den verschiedenen Projekten, teilweise laufend, teilweise in Vorbereitung, auszutauschen. Ich führe Protokoll. Heute sind außer der Institutsleitung und dem Leiter der Programmabteilung noch zwei Kulturmanager dabei: das große EU-Projekt wird diskutiert und beschlossen, die Arbeit verteilt; keine Zeit darf verloren werden. Als die beiden gehen, gönnen wir uns eine kleine Pause und ich darf mir (darf ich auch regulär) einen Kaffee in der Maschine der Institutsleiterin machen – so richtig, aus gemahlenen Bohnen… Ansonsten nur (im Supermarkt nicht nur) Nestlé Instant Kaffee. Die anderen Themen handeln wir so schnell es geht ab und sind um halb Eins fertig. Das Protokoll tippe ich sofort in eine standartisierte Tabelle ab und habe später einige Schwierigkeiten mit CMS-Inhalten – Ankündigung von Veranstaltungen. Wer also auf www.goethe.de/taschkent geht und auf „Veranstaltungen“ klickt, der wird u.a. meine Arbeit (hauptsächlich Copy-Paste) bewundern können. Großartig. Ich verlagere alle weiteren Aktivitäten in der Hinsicht auf die andere Praktikantin aus Leipzig (!), die schon länger als ich da ist und ein halbes Jahr bleibt.

Ich drucke alle Unterlagen zu diesem Projekt aus, das uns stark beschäftigen wird – 27 Seiten Guideline, 44 Seiten Antrag und einige Annexe – Bürokraten-Englisch. Ich fange an zu lesen. Nebenbei – ist mir nicht abwechslungsreich genug – Mail-Check auf Outlook (intern) und Googlemail. Alle Aufgaben, die mir hier zufallen, trage ich ab nun in das blaue Goethe-Institut-Notizheft, das ich vom Partnertag auf dem Vorbereitungsseminar mitgenommen habe, ein – mit jenem grünen Goethe-Kuli aus derselben Quelle, den hier jeder besitzt (und benutzt). Irgendwann wird es mir zu viel und ich gehe eine halbe Stunde auf den Basar, um zu Mittag zu essen – alleine diesmal, zum „Tartaren“. „Wahrscheinlich hat der Laden hier irgendwann mal einem Tartaren gehört.“ Der „Tartar“ ist eine spontane Küche mit einigen Tischen, die einiges anbietet – zur Sicherheit nehme ich, wie gestern, Bortschtsch und Brot für 5000 Sum. Lagman, eine typisch usbekische Suppe mit Fleisch, Gemüse und dicken Nudeln, ist hier sehr gut – und ebenfalls günstig. Etwa Zehn vor Vier bin ich wieder am Platz und lese bis um Fünf die vertrackten Guidelines. Man muss halt manchmal erst dahinter kommen, was gemeint ist und denkt sich, das hätte man auch kürzer halten können. Ich hätte z.B. gerne gewusst, warum ausgeführt wird, wie man eine doppelte Sendung, also zwei Anträge vom selben Antragsteller, im Unterschied zu einem, abschickt, wenn zu Beginn ganz klar und ohne Aber gesagt wird, dass ein Antragsteller in keinem Fall mehr als einen Antrag stellen kann. Da wundert man sich. Im Anschluss blättere ich den Antrag durch und lese das Allgemeine, stelle die Relevanz der relevanten Passagen fest und spreche mit der Institutsleiterin ab, was ich am Freitag zu tun haben werde – nicht das im Übrigen, was ich dann tatsächlich gemacht habe.

Es ist Viertel vor Sechs und ich verlasse das Institut in die abendliche Stadtluft – vielleicht ist gleich Sonnenuntergang, der passiert bereits hier ziemlich schnell – obwohl Taschkent auf der Höhe von Neapel liegt, oder Istanbul. Doch mein Weg führt mich nicht direkt nach Hause, ich gehe noch auf den Basar – bis Dämmerung stehen viele der Händler noch dort. Alles, was ich will, ist eine Lepjoschka, ein Rundbrot, zum ersten Mal direkt aus der Quelle – zuvor nur aus dem Supermarkt, in Plastik verpackt, aus Angst vor den Keimen und Durchfall, Schmerzen… Trotzdem spaziere ich durch die Reihen und schaue mir an die Angebote an – das war, entgegen der Chronologie der Beiträge, bevor ich auch den Chorsu kennengelernt habe.

Mit dem Brot verlasse ich den Basar in Richtung Metro, das erste Mal. Die übliche Taschenkontrolle, noch bevor ich die Unterführung betreten darf, 1000 Sum wortlos gegen einen dieser Plastikchips, und ich gehe in die Station, finde die rechte Richtung und so gut wie wartezeitlos kommt eine Bahn. Zwei Haltestellen, dann steige ich aus – gehe die Treppen nach oben, durch an Burgen erinnernde Gänge (nur ohne Ritterrüstungen und Teppichen an den Wänden) und bin natürlich am Ende auf der falschen Seite der Kreuzung. Noch einmal runter, an einem Polizisten vorbei, der mich bei vormaligem Passieren wegen meines Bartes angesprochen hatte – wo ich wohne, was ich mache, ob ich ja kein – das sagte er nicht – Terrorist sei (auch hier der Freispruch, Deutsch zu sein) – und schließlich am richtigen Ausgang raus, den Weg nach Hause, nicht weit.

Manchmal fahre ich mit dem Bus bis zum Supermarkt, der zufällig günstig und in Laufnähe zur Wohnung ist – das sind im Übrigen beide Supermärkte, die der deutsche Reiseführer in Taschkent nennen kann – und habe, als ich einmal von dort einen alternativen Weg, durch interessante Wohnviertel genommen habe, folgenden Absatz geschrieben, der sehr charakteristisch ist für die Art und Weise, wie ich vieles hier empfange, empfinde, wie ich die Eindrücke unmittelbar spüre (Achtung, Stilwechsel):

Die Szenarien, die meine Augen einfangen, empfangen, begierig, verwirrt aber gefesselt aufnehmen, sind oft stark – so stark, dass ich mich nicht traue, sie zu fotografieren, aus Angst ihnen den Glanz zu nehmen, diese fragilen Bilder mit meiner unbeholfenen Technik zu zerstören – wechselnd erinnern sie mich mal an US-amerikanischen Midwest-Charme, mal an jene mediterranen Städtchen der Sorrentiner Halbinsel, mal sieht alles sehr arabisch aus, obwohl ich dort nicht war – und dann der unübersehbar russische Einfluss, sowie die eigene, folkloristisch usbekische „Tradition“… Aber diese weiten Straßen, innerstädtisch achtspurig, Glasfassaden, oberirdische Stromleitungen queren ausbesserungsbedürftige Straßen, chique gesicherte Neubauvillen face to face zu fünfstöckigen, außen unrenovierten Plattenbauten – das könnte Amerika sein. Dann diese kleinen Anzeichen südländischer Pflanzen überall, das Chaos auf den Straßen, die dicht-an-dicht Läden, das ewig sonnig immer noch heiße Wetter, die Abgase, Autos aller couleur, mit ihren abgewirtschafteten Wohnblöcken, dem maroden Charme der Altbausubstanz – das könnte Sorrent sein. Ohne Wasser, ein entscheidender Unterschied. Doch dann betritt man den Amir-Temur-Platz im Zentrum der Neustadt und denkt sich, so kitschig, riesig, leer – das muss etwas Eigenes sein. Die Mischung zwischen neuosbekischer und sowjetischer Architektur ist eigentlich beißend fürs Auge. Es nicht vielleicht nicht schön, es ist ganz sicher kein Sorrent (der Vergleich hat mich selbst etwas erschreckt), aber diese Spannung, überall greifbar, eben offen sichtbar, die fasziniert mich zu Tode. Sie erweckt Leben und lässt Gegensätze so akut dramatisch, so plakativ, klar sichtbar werden, dass einem der Atem stockt – auch das erinnert mich an die andere Seite des Atlantiks, der hier so fern ist…

Achja, die Stadt – und abends, das Schöne an ihr, so viel – ich hätte Lust, hinauszugehen in die warme Luft zu lachen, genießen – aber die Müdigkeit, sie hält mich hier in diesem grünen Zimmer und hier bleibe ich, hier ist es warm. Nur der Rücken mag das Bett nicht – muss schon damit klar kommen. Sonst schläft er alleine auf dem Boden. Genug Platz für alle Körperteile, die nicht mitkommen wollen. Ich bin wieder zurück in meinem Zimmer, zurück von den Ausflügen in die letzte Woche und all den Wirrungen, Irrungen im Kopf, von den sprunghaften Erinnerungen, sie lebendig zu halten; Hauptsache auf dem Papier… Lange dauert es nicht mehr, lange kann ich nicht mehr, bald ist es fertig, wenigstens dieses, in aller fragmentarischen Beliebigkeit, allen Unterbrechungen und abruptem Schwingen in die nächste Ecke, wohin Gedanken lenken…

Es ist eben nicht möglich, so den Bogen spannend, die Reflexion über das eigene Treiben konstant aufrecht zu halten – man wird verrückt; muss sich auch mal erlauben, unordentlich zu sein, die Struktur zu verlieren oder das Ziel – kann nicht ewig Literatur produzieren; sind meine Finger aus Gold? Andererseits darf das Streben danach, Pathetik, Wahrheit, Verbundenheit, nicht aus dem Auge verloren werden. Wenn man sich aus Angst, sich zu überfordern, gar nicht mehr fordert, dann rinnt das letzte Flüsslein Blut in die Leere und der Kopf sinkt immer tiefer. Wenn man an einem bestimmten Punkt nur sagen kann: Die Arbeit macht mir Spaß… Die Leute sind nett… Und ich fühle mich wohl… Dann hat das Bewusstsein versagt – es finden sich immer Probleme, immer Stellen, an denen zu rühren ist, man kratzen kann, sie aufzuspüren allerdings braucht nichts mehr als Bewusstsein, wache Nerven. Mit der Aufmerksamkeit in Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Schlaf sinkt die Energie, die Kontrolle schaltet sich aus und irgendwann ist der Atem das einzige Lebenszeichen. Ich falle am Abend vor Müdigkeit um und gehe doch nicht ins Bett – denn eigentlich muss ich noch oder sollte, fühle mich verpflichtet zu und würde gerne noch – es bleibt die Pflicht und nichts vom Schönen passiert, lässt sich passieren, wenn ich unruhig warte, während ich nur müde bin – zu müde, um es wahrzunehmen, das Schöne nun. Vielleicht sollte ich heute damit anfangen, mir klar zu machen, dass ich nicht zu warten brauche: darauf, dass ich etwas beginne, gleich unter die Decke und Schluss. Nun schreibe ich und habe wieder eine Ausrede – und ihr müsst das alles lesen, mein Gott… Hoffentlich sind eure Augen offener als meine… Vielleicht beschließt es ganz gut diesen Beitrag, wenn im letzten Atemzug, der letzten Fingerbewegung, die immer langsamer vorangeht als die vorige, wenn mit den letzten Zeichen, die vor meiner Netzhaut flackern, huschen, die Wände und Stühle hochgleiten, verschwinden, mit dem letzten Wandern des blauen Auges, nach oben, auch auf dem Papier der Vorhang fällt, die Schwärze bleibt: doch mit der Gewissheit aufzuwachen, wiederzukehren: in eine anderen Zeit, gereinigt, freier – was für ein Traum!

Chorsu [Bildserie!]

Der zentrale Basar vor Taschkent: ein riesiges Labyrinth an Händlern unter Baldachinen, ein Menschgetümmel an allen Ecken und durch die Gassen und Straßen die heiße Sonne, der blaue Himmel – Schlagschatten wie aus Wüstenfilmen. Anderthalb Liter Wasser und eine Kanne Tee habe ich innerhalb dreier Stunden getrunken – also ohne den Verlauf des restlichen Tages zu berücksichtigen; wer mich kennt, weiß, dass ich wenig trinke – eigentlich. Und nicht die Menschen, sondern die Waren sind die Hauptakteure, Hauptattraktionen – hier stehen Säcke mit Körnern, Samen, Mais dicht an dicht, dort irgendwie höhergelegt eine riesige Kreuzpassage mit Ausstattungshändlern, Schuhmachern, Schneidern; irgendwo dazwischen Kaffeekannen, Wasserhähne, Teekannen, Küchenmesser, Teppiche; dann die Tische voll Trauben, Bananen, Pfirsichen, Nüssen – ich hatte den Eindruck, hier – und wieder bin ich überzeugt nicht zu übertreiben – gibt es nichts, was es nicht gibt. Das Ausmaß des Areals, über das sich all diese Augenweiden hinweg reihen, ist beeindruckend. Und es macht definitiv keinen Sinn, herzukommen, um etwas Spezielles zu kaufen – außer als eingefleischter Basarkäufer vielleicht.

Ich als Ausländer werde häufig angequatscht, wie ich heiße, woher ich komme („Da, Germanija, ja znaju – Hände hoch!“), werde eingeladen, an ihren Ständen zu kaufen, Porzellan und Teegeschirr, will ich gerade nicht, danke. „Can I write your contact, because I want to study in Germany. Maybe you can give me advice.“ Auch das nicht, tut mir Leid, und an der Zeile von Juwellieren, Kramgeschäften, drogerieähnlichen Läden vorbei, und irgendwo draußen, vor all dem Trubel, geradeaus die Metrostation und die letzte Meile, die letzten aufdringlichen Geldwechsler, bevor die Navoj ko’chasi den Markt im Süden begrenzt.

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Für meinen Ausflug hatte ich den Donnerstag zur Verfügung, als muslimischer Feiertag (man hörte von ihm in Blogs anderer aus Tadschikistan und Ghana) auch in Usbekistan ein Grund zur Schließung des Goethe-Instituts. Elmira und Alisher, sowie ihre Familie begingen ihn nicht. Mir aber gab er Raum zum Tourismus; deshalb hier ein eher nüchterner Bericht, keine emotionalen Schlagwellen… Beginn war für mich die Metro – nicht zum ersten, nein zum zweiten Mal inzwischen. Zunächst lief ich zu einer der laut Reiseführer sehenswerten Stationen und stieg hinab – 1000 Sum pro Fahrt und einen Plastikchip, den man nicht behalten soll und, anders als in Sankt Petersburg, auch nicht behalten will. Die Beamten vor den Drehkreuzen hatten leider anscheinend sehr wenig zu tun, und nutzten die Gelegenheit, mich und meinen Pass ausgiebig zu kontrollieren. Am Ende sollte ich ihnen halb auf Russisch, halb auf Englisch erklären, was so meine Arbeit in der Programmabteilung des Instituts ausmacht und durfte schlussendlich gehen – nicht ganz angenehm, allein die Uniformierung provoziert Nervosität… Man merkt eben doch manchmal so eine Art unangenehme Atmosphäre, unangenehme Stimmung in der Luft – auch wenn es Ausländer erstmal besser haben als Usbeken. Ich kann wenigstens relativ sorglos (auf Deutsch, Englisch) reden; ob das auf Russisch oder Usbekisch so geht? Nachteil ist der Argwohn auf Seiten der Behörden. Man muss aber auch hier den Antitypus verteidigen: Zweimal bereits haben mir Polizisten sehr nett weitergeholfen. Alisher meinte neulich zu mir, die Polizisten hier seien nicht wie in Deutschland – hier seien alle unfreundlich und korrupt, in Deutschland alle freundlich und hilfsbereit. Na, da wüsst ich aber Leute, deren Halsschlagader deutlich anschwölle bei solcher Aussage… Der Qualitätsunterschied jedoch ist signifikant. Man bekommt, und ich verlasse natürlich die berichtende Ebene (Widerspreche ich mir? Dann widerspreche ich mir eben.), hier ein bisschen mit, wie sehr Deutschland stilisiert wird, und plötzlich sehe ich klarer, kann mir eher vorstellen, wie Leute aus Ländern, denen es wirklich dreckig geht, dieses Land in Mitteleuropa, aus dem nicht viel mehr als Wirtschaft, Recht und Reichtum (und Bier) über die Grenzen des Kontinents schallt, zum heiligen Land, zum Paradies stilisieren und ihr größter Wunsch ist, dorthin zu gelangen, wenn gleichzeitig so viele Deutsche sich zunehmend abwenden, von der Politik, der Wirtschaft, sich entkoppelt fühlen und sich mit dieser Eigendynamik über ihnen, die sie nicht kontrollieren können, unwohl fühlen… Der deutsche Ruf eilt aller Wirklichkeit voraus. Weiter im Text, am besten mit einem Bild:

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Die Metro darf man nicht fotografieren (als Kind des Kalten Krieges kann sie zu einem Atombunker umfunktioniert werden), also habe ich den Platz daneben genommen: Der stolze Juri Gagarin (kann mich jemand berichtigen?) vor einem den russischen Astronauten gewidmeten Denkmal und irgendwelchen Regierungsgebäuden. Daher heißt die Metrostation hier: Kosmonovtlar. Die einzelnen Stationen übrigens sind sehr schön und teilweise, wie hier, thematisch ausgestaltet, mit verzierten Säulen und Wänden. Es ist schwer zu beschreiben und fotografieren darf ich es nicht, nur deswegen nach Taschkent zu kommen, muss auch nicht sein, aber wenn man mal da sein sollte, könnte man sich die Metrostationen (Welche? Guckt im Reiseführer nach…) ruhig anschauen.

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Anfangs bin ich von der Metrostation „Chorsu“ nach Süden gelaufen, das entlang, was ich oben als „letzte Meile“ bezeichnet habe. An der Navoj ko’chasi, der ich (mit ihren sich verändernden Namen) von hier bis zur Wohnung von Elmira und Alisher folgen könnte, dem Südrand des Basars, steht die (laut Reiseführer) Medrese Kukeldash (links, s.u.). Da ich eigentlich wegen des Marktes dort war, habe ich keine weiteren Erkundungen angestellt. Im zentralen Hintergrund eine Moschee.

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Dieselbe Moschee aus anderem Blickwinkel – ich fand diese Leere so schön.

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Ein sinnbildliches Motiv – o.g. Medrese (nun rechts) vor einem unfertig in den blauen Himmel ragenden Betonskelett. Alt und Neu, identitärer Wandel, politische Stagnation, all so was – ihr wisst, was ich meine.

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So leer sah es zwischenzeitlich aus, im Hintergrund der „Fleisch-Dom“ – Erinnerungen an Ich-weiß-nicht-was, Bilder, die man gesehen hat, aus arabischen Ländern der Sonne… Hier (nach 20-30 Minuten) hatte ich bereits eingesehen, dass ich die Sonne meiden, den Schatten suchen und meine Wasserflasche nicht schonen sollte. Weiß ich, welche Temperatur herrschte, es brannte ordentlich was runter.

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So sah es innen aus, im von mir so genannten „Fleisch-Dom“, um den sich die Baldachine scharen. In diesen Vitrinen, von denen eine leere im Vordergrund zu sehen ist, bieten dutzende Händler in bestimmt sechs oder sieben kreisförmigen Reihen um diese Säule im Zentrum verschiedenstes Fleisch an – für den europäischen Supermarkt-Blick eine kleine Überforderung. Und, füge ich im Hinblick auf meinen Magen hinzu, sicher auch für die europäische Hygiene-Küche. Vegetarier hätten ihren Spaß.

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Später: ein Schnappschuss nach außerhalb des Marktes – solche Szenerien sind es, die mich manchmal an die USA erinnern. Auch wenn das Ambiente ganz klar sowjetisch geprägt ist: die Weite, die Ecken und der Beton sind Charakteristika, die ich aus meinem kurzen Aufenthalt in Übersee heraus mit Amerika verbinde.

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Kurz nach dem vorherigen Bild dieser Blick Richtung Garküchen (dort, wo die festen Gebäude beginnen und das Licht vom Rauch geschluckt wird). Zum Schluss habe ich mich unter jene Dächer gesetzt und beeindruckend gewürzten Schaschlik (hier fast selbstverständlich Hammel) gegessen. Dazu Brot und Tee, natürlich. Das Fleisch wird zur Eigenwerbung vorne an der Straße gebraten (wie das duftet!), der Kunde dann unter die Dächer gelockt, an einen Tisch gesetzt und rustikal bewirtet – ansonsten stehen entlang der Gebäude Händler, die selbstgemachte Somsa – typische, gefüllte, krosse Teigtaschen – anbieten. Der Schaschlik ist hier billiger als sonst – eine volle Mahlzeit (es wurde standardmäßig eine Salatbeilage gereicht) hat mich 9000 Sum gekostet, also unter zwei Euro Schwarzmarktpreis oder drei nach offiziellem Kurs.

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Als ich zur Halle ging, in der Brot verkauft wird (ein ganzer Raum mit diesem fantastischen Weißbrot – Lepjoschka – was für ein Geruch!) und neugierig in einen Raum mit Backöfen schaute, winkte mich der eine Bäcker herein, fragte mich, woher ich komme, wie ich heiße und forderte mich auf, seinen Ofen zu fotografieren – die nassen Teigfladen klebt er mit einer Art Kissen an die Wände, wo sie auch hängen bleiben, bis er sie mit einer Art Kescher wieder „einfängt“, wenn sie fertig sind. Solcher Nettigkeit zuliebe fühlte ich mich gezwungen, eines der ofenfrischen Stücke zu erwerben – für gnadenlos günstige 700 Sum (offizieller Kurs: ca. 25 Cent, Schwarzmarkt: 14 Cent). Zu Beginn der Woche hatte ich auf dem Alaiskiy Basar neben dem Goethe-Institut noch ein (zugegebenermaßen deutlich größeres) Brot für 3000 Sum gekauft.

Tatsächlich wurde ich während meines Besuchs wiederholt angesprochen, von Leuten, die wissen wollten, wer ich bin und so… Man fällt hier auf als deutsche Bartträger.

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Das war also der Chorsu-Basar… Lohnend nicht nur für einen Besuch, aber mehr als ein paar Stunden waren in der Hitze auch nicht empfehlenswert. Hört sich an wie irgendwie zu gut? Nun, ich denke, als Kontrast zu meinen beiden ersten Einträgen lässt sich das bejahen; ich habe mich gut gefühlt an dem Tag.

P.S.: Natürlich ist der Basar eigentlich sehr voll, doch ich bevorzuge die Leere zum Fotografieren – das stille Ineinander der Bauten und Formen, sämtlich menschgemacht und doch ohne Mensch. Mir gefällt die abstrakte Anwesenheit des Schöpfers, ohne dass er im bildlichen Sinne zu sehen wäre… Ohne daraus eine Philosophie konstruieren zu wollen; ich war nur bei wiederholtem Besehen der besseren Bilder erstaunt, wie Bilder eines so gedrängten, vollen Platzes, wie es der Basar (im Allgemeinen) ist, solch fanatische Leere aufweisen können – das versuche ich (nicht zuletzt vor mir selbst) zu erklären.

P.P.S.: Das Ganze kann einfach nicht enden, ohne dass ich doch noch einen negativen Kommentar loswerden muss. Es ist mir unangenehm, als Tourist über den Basar zu gehen, wenn ich weiß, dass er ohne mich besser auskommt – der Nutzen liegt hauptsächlich in dem Treiben, das ohne mich stattfindet und indem ich es beobachte, fotografiere, mache ich zur Attraktion, was zuvor nur Alltag war. Als Fremdkörper bringe ich in diese Menge eine Deutungsebene, die sie gar nicht besaß – und wenn aufgemerkt wird, dass Touristen kommen, weil sie dieses Treiben, für sie exotisch, so spannend finden, dann findet ein Wandel statt, ein Wandel zur Repräsentation anstatt purer Auslebung des Alltags – als ungestörte, kleine eigene Welt ist der Basar am schönsten, und so möchten Touristen ihn gerne sehen. Je mehr kommen, desto mehr wird dies unmöglich. Der Basar selbst wird zur Ware und verkauft seine Identität.

Erschöpfung eines Europäers

Die erste Woche ist vorbei – eine voller Müdigkeit, Begegnungen, Erlebnissen, neuen Eindrücken, die auf mich niederprasselten, dass mir ganz blumig wurde, eine Woche voller Durchfall und Bauchschmerzen. Das ist hier normal, und was soll ich sagen, mit meinem selbst in Deutschland hin und wieder versagenden Magen. Sie sagen, ein, zwei Wochen geht das so für die armen Ausländer – ich hoffe, dass es bald nachlässt – es wird langsam anstrengend, bei allem außer Brot und Kefir mit Schmerzen zu reagieren – nein, so schlimm ist es nicht, oder zumindest: Ich merke, dass es besser wird.

Die Tage hier strengen mich sehr an. So sehr, dass ich abends oft zu müde zum Schreiben bin – selbst wenn ich will, Fragmente für den nächsten Blog – die Worte fallen wie Stein, mein Hirn, eine einzige breiige Masse, zieht sich über das Papier und lässt die Silben wie schwarze Augen scheinen, die mich anstarren, mir zuflüstern: Du kannst nicht mehr; mach das morgen. Mehr als in Leipzig flattern mir am Tag Worte, Satzfetzen durch den Kopf, die ich später vergessen habe. Die Anstrengung: es ist einmal die Großstadt – ich bewege mich bis jetzt ausschließlich in zentralen Bezirken – mit all dem Lärm, den ich nachts auch durch geschlossene Fenster höre, den Abgasen, die mir beim Lüften meines Zimmers entgegen wehen und jeden Stadtspaziergang begleiten. Ruhe gibt es nur im Büro, in dem ich letzte Woche überraschend selten war. Am Donnerstag fand die Eröffnung einer Arno-Fischer-(Fotografie-)Ausstellung in der Galerie der Nationalbank von Usbekistan statt, zu der ein Fischer-Schüler und Fotograf, Frank Gaudlitz, eingeladen war – deshalb war ich jeden Tag der Woche dort – Vorbereitungen, praktische Hilfe etc. Ungefähr Ähnliches wird einen der beiden großen Teile meiner Arbeit am Goethe-Institut ausmachen – Programmarbeit, Veranstaltungsmanagement, wenn man so will. Der andere Teil wird aus Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bestehen – davor, weil das so viel mit dem Computer zu tun hat, graut es mir ein bisschen. Im Institut habe ich einen prominenten Arbeitsplatz – gegenüber des Sekretärs, direkt neben der Institutsleitung – jener der ehemaligen, zur Zeit unbesetzten PR-Stelle.

Dieser erste Punkt meiner Arbeit hier, Begleitung der Vorbereitungen zu oben genannter Ausstellung (natürlich bin ich erstmal kaum mehr als mitgelaufen) hat Ausblicke gezeigt, die mir größtenteils gefallen haben… Nach der Ausstellung hat das Institut alle Beteiligten aus den eigenen Reihen und von der Gallerie zum Essen in ein kirgisisches Restaurant eingeladen. Jenes Essen, das vorab, hat mir glücklicherweise nicht viel Schmerzen bereitet – und war nebenbei ziemlich gut. Solche Abendessen sind faszinierend – man hat mit Leuten zu tun, die zusammen die ganze Welt bereist haben; ausgenommen, fast schon symbolisch: Afrika. Da sitzt die Institutsleiterin: in den Niederlanden studiert, drei Jahre Moskau, zwei Jahre Peking, vier Jahre Novosibirsk, seit zwei Jahren in Taschkent. Dazwischen in ihrer Tätigkeit alles Umliegende bereist. Da ist der eingeladene Fotograf: zehn Jahre jede Saison einige Monate in ganz Russland, fünf Jahre Osteuropa, anschließend zehn Jahre jeden Winter in Südamerika, besonders: Bolivien und Peru. Länder, die er geografisch besser kenne als Deutschland, sagt er. Da ist ein Videokünstler aus Samarkand ukrainischer Abstammung, der ausgiebig Osteuropa bereist, u.a. zwei Jahre lang den Sommer in Lettland verbracht hat, viele Jahre in Großbritannien lebte und auch in Mittelasien weit herum gekommen ist („Ah, you know, Ashgabat is more real, but Astana is like: We want to be more European than Europe“). Dazwischen Usbeken, deren Umgangssprache noch immer Russisch ist – selbst untereinander reden sie nicht immer Usbekisch. Was mir kleintellerrandigem Deutschen das nicht imponiert hat! Ich, der ich immerhin mit Asien den dritten Kontinent betreten habe, Deutsch und Englisch fließend spreche, der ich mal Lettisch fließend beherrscht, Latein, Russisch und Französisch zu lernen begonnen habe… Obwohl ich nicht weiß, ob ich ernsthaft zu solcher Runde dazugehören wollen würde, ob diese Abstecher ins Unbekannte, in die Welt, mir nicht genügten, ob ich nicht lieber bequem in meinem Leipzig sitzen und von dort urteilen würde – ich musste die ganze Zeit an dieses mit solchem Lebensstil verbundene, übermäßige Fliegen, diese Umweltbelastung, denken…

Mein Gewissen wird hier ständig konfrontiert – das hört nicht bei fehlender Mülltrennung und dem omnipräsenten Nestlé auf (selbst die russische Schokolade, die ich zum Preis zweier großer Weißbrote gekauft habe, ist von Nestlé Rossija) – der Abgasgeruch, das Wasser (eine schmerzfreie Experimentierzone; hatte ich nicht irgendwann im Geounterricht gehört, Usbekistan sei unter den Ländern mit höchstem Pro-Kopf-Wasserverbrauch?), die Plastiktüten wie in den USA – nur, was viel Geld kostet, damit wird gespart… Irgendwann scheint der Punkt gekommen zu sein, an dem einem das egal wird – man kann nicht jeden Schritt überprüfen, untersuchen – das wäre schon wieder eine eher deutsche Angelegenheit. Ich sollte mich vielleicht mehr entspannen, als unbedarfter Jugendlicher aus der Welt-Schutzzone Europa auch nicht so schnell urteilen. Wir verdienen auch hier ganz gut unser Geld – Firmen wie Nivea, Nestlé sind kräftig vertreten – und haben ihren Preis. Anders ist es bei den Autos – man könnte meinen, Daewoo habe mit seinem Chevrolet Matiz (bzw. Spark) einen Musterhit gelandet – hier fährt er überall, und das meine ich wortwörtlich, herum. Die großen, grünen Stadtbusse allerdings sind von Mercedes-Benz. Ansonsten besteht das öffentliche Verkehrssystem aus kleinen, grünen Bussen und den noch kleineren Marschrutkas – neben dem Wodka ein weiteres charmantes, russisches Überbleibsel. Metro bin ich leider immer noch nicht gefahren, weil ich erst seit Freitag meine Registrierung habe – immerhin musste ich doch kein Geld dafür zahlen, wie ich anfangs dachte. Sehr praktisch sind wirklich private Taxis, also beliebige Fahrzeuge, die neben dem an der Straße Wartenden anhalten, um ihn gegen etwas Geld irgendwohin zu bringen. Funktioniert ausgezeichnet. Und ja, es ist – außer vielleicht nachts – sicher.

Stärker als in Lettland, aber mit ähnlichem Bewusstsein, spürt man auch hier den Reichtum besonders Deutschlands, wenn man die Wohnungen sieht, die Einkäufe – ja, man kann hier durchaus billig leben, nur wenn man auf bestimmte Produkte nicht verzichten möchte, muss man zahlen – Brot, Wasser, das Gemüse auf den Märkten, Grundnahrungsmittel wie Reis sind günstig zu bekommen; Schokolade und Süßigkeiten, Kosmetikartikel und Kleidung werden zur Luxusware.

Manchmal, während dieser anstrengenden Woche, musste ich mich sehr zusammennehmen – einfach, weil die Erschöpfung überhand zu nehmen drohte. Im Endeffekt war ich dennoch jeden Tag im Büro, habe jeden Tag mitgemacht, zumindest für ein paar Stunden. Es ist ein unschätzbarer Wert, sich selbst zu etwas zwingen zu können – trotz Bauchschmerzen zur Arbeit zu fahren, weil ich weiß, sie gibt mir mehr, als sie mir abverlangt, trotz Müdigkeit tief im Fleisch den Marsch anzutreten, durch elend lange Straßen laufen, ohne zu wissen wo man ist und wie man dort ankommt, wo man hin will – ich hatte von Beginn an die falsche Richtung eingeschlagen – ja, zur Not lässt man sich mit einem privaten Taxi nach Hause fahren, schläft in zwei Nächten mehr als 24 Stunden, ist danach wieder auf den Beinen, ohne zu bereuen – Erfahrungen sind gut, tun gut, mir, der eingelullten Seele aus dem Luxuszirkus Europa. Es stimmt schon, wir sind dort drüben wie in einem Kokon, ganz weit weg; es ist ein Glücksfall für mich, dieser Festung den Rücken zu kehren; es ist eine Notwendigkeit, dass es alles zurückfällt – Marie Antoinette kann nicht ewig stehen und sagen: Wenn sie kein Brot haben, sollen sich Kuchen essen. Dabei ist das erst der Anfang – und ich verstricke mich wieder in apokalyptischen Szenarien. Ich glaube, ich habe sie in der letzten Woche vermisst. Es ist gut, dass ich wieder anfange zu denken in dieser stickigen Luft, dass ich endlich aus dem goldenen Käfig Europa krieche und einen Eindruck davon bekomme, was wir noch ignorieren. Es tut mir gut, ich spüre es schon jetzt, und dieses Gefühl des Sich-Öffnens wiegt alle Bauchschmerzen auf; bis zum erneuten Augenblick des Schmerzes, in dem ich am liebsten nur schlafen würde, tief und lang… Ich realisiere, ich bin nun ein Einzelner, die nächsten zwölf Monate, elf ja nur noch, wenn ich eine frühere Abreise einplane (das ist der Fall; mein Nachbereitungsseminar fängt am 27. August an); endlich alleine! Es bedeutet schon Freiheit, hier zu sein, sein zu dürfen und diesen Status zu haben – das Goethe-Institut hat Status, erlaubt sich Sachen.

Die Ignoranz Europas ist ja nur die eine Seite – auf der anderen stehen eben Dienste wie kulturweit, die vielleicht tatsächlich daran interessiert sind, die Welt zu retten, falls ich mir diese plakative Äußerung herausnehmen darf. Ja, ich kann. Ich war sicher etwas naiv, in meiner Bewerbung zu schreiben, diese gemeinschaftlichen Dienste bereiteten den Boden für so etwas wie den Weltfrieden – darum geht es vielleicht gar nicht mehr, dieser Traum ist vielleicht der Realität von etwas gewichen, das sich so schwindelerregend fortpflanzt, so riesige Türme stapelt, die alle auf ihren Ingenieur, den fatal geirrten aufgeklärten Europäer herabzustürzen drohen… Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Nicht Europa gilt es zu retten, sondern darum, den Rest der Welt vor jener Verblendung zu behüten, welche Europa heimgesucht hat, den Menschen vor jener Hybris zu warnen, die seine Festung, sein zurückgezogenes, kleines Stück Erde Stein für Stein, alle eigene Arbeit, Kunst und Wissenschaft, abträgt, und zum Steinbruch anderer macht. Man kann darüber viel philosophieren und ich nehme mir einiges heraus, diese Behauptungen so an die Oberfläche platzen zu lassen, ohne Hintergrund und Vorwort; immerhin ist es direkt, spontan, unzensiert hierher gespült; das ist mir viel wert.

Etwas lag mir noch auf der Zunge: es hat auch mit Distanz zu tun: Ich fühle mich hier eher wie solch europäische Künstler im Exil, dem selbstgewählten, das ihn fasziniert, inspiriert, zu dem er sich aber jede Heimlichkeit versagt; seine Loyalität gilt dem Zuhause, in das er zurückkehren wird. Wie ein Korken schwimmt, tanzt, er mit der fremden Masse, um für sich und seine Arbeit Gewinn daraus zu ziehen – das war in Lettland anders; in jene Kultur habe ich mich herzlich hinein gegeben, sie gleichsam gelernt, verstanden. Ich fürchte, auch wenn es für Mutmaßungen etwas zu früh ist, hier wird es anders. Das Goethe-Institut ist wie eine Insel: sicher, trocken, aber in gewissem Sinne von der Bevölkerung, dem Land, dem Leben, isoliert. Nun, der Vorteil ist, dass ich nicht gleich einem dritten Land meine Heimat versprechen muss… Das Jahr wird schnell vergehen und am Ende stehe ich wieder da und muss mich neu orientieren in meiner Heimat, hoffentlich Leipzig – mal sehen, was die Zeit so bringt. Ihr Vergehen hat hier etwas Magisches, Surreales – mehr als die Tage unterscheiden sich die Ereignisse; alles fließt, aber nicht wie panta rei, sondern eher wie Schnee fällt – langsam, schwer, nach unten – oder diese traumreichen Nächte, aus denen ich aufwache und die zum Kontinuum der Schwerelosigkeit gehören. Diese erste Woche war wie eine wuchtige Abteiltür, die zugezogen wird. Jetzt sitze ich hier, weiß nicht viel mehr darüber, wer oder warum ich bin, kann mir immerhin inzwischen vorstellen, wo ich bin – in Taschkent, einer Stadt, die tatsächlich schon – vorsichtig – diesen Sehnsuchtsschimmer beginnt auszustrahlen, diese Aura der Wehmut, der ich so gut in Lettland begegnet bin. Ich habe für mich nichts geklärt, doch sehe, dass ich mich nicht durchs Gebüsch schlagen muss, vor mir ein Weg liegt, den ich gehen kann. Das Goethe-Institut ist ein Anker, eine Basis, von der ich nicht viele Schritte gehen muss – meine 20 Jahre sind kein Garant für Sicherheit; dass ich sie dennoch habe, dafür bin ich dankbar.

Der erste Tag

13.09.2015

Ich bin angekommen. Die erste Nacht war trocken, warm. Obwohl jetzt der Himmel bedeckt ist, kriecht die Temperatur in meinen Körper. Es ist Viertel vor Eins hier; Alisher (24) schläft wieder, die Mutter Elmira (52) ist weg. Sie sprechen beide exzellent Deutsch, keine Verständnisprobleme also. Ich dachte heute morgen, ich benötigte Instruktionen für dieses fremde Land, aber das war wieder zu Deutsch gedacht. Ich bin noch müde, vom Flug und von der Nacht – halb Zwei usbekischer Zeit sollten wir in Taschkent landen, von Leipzig über Tschechien und Bulgarien nach Istanbul (Umsteigen, Warten), dann über Sochi und am Südrand dessen, was mal der Aralsee war, entlang in die Wüste, einen kurzen Schlenker durch Kasachstan, um Kurs auf meine neue Heimatstadt zu nehmen. Ein sternklarer Himmel, dies Warnleuchten an den Tragflächen und auf dem Grund Lichtpunkte, die mir sagen: Da wartet etwas auf mich. In der Tat muss ich das Land neu entdecken, vom Flughafen angefangen: Der erste Soldat überwachte bereits den Einstieg in die Mercedes-Shuttle-Busse; unter den Leuten Touristen und Damen mit langen, bunten Kleidern, Plastiksäcke und –tüten. Die Fahrt fühlte sich vertraut an, vorbei an den Flugzeugen der staatlichen Uzbekistan Airways in den Landesfarben Grün, Weiß, Blau, zur Passkontrolle. Die Damen mit den langen Kleidern und meine Sitznachbarn, die im Flugzeug auf Russisch miteinander gesprochen hatten, liefen zu jenen vier Schaltern: Für usbekische Bürger; den größeren Rest zog es zu jenen zweien: Für ausländische Bürger. Auf Usbekisch, Russisch, Englisch. Die Kontrolle vollzog sich ohne Probleme; ich hatte schon Angst gehabt, weil der Beamte in Leipzig zu mir meinte, hoffentlich erkennen sie dich auch in Taschkent – mein Passfoto scheint aus einer anderen Zeit; vor Lettland.

In dem Saal dahinter ein schwer zu erfassendes Durcheinander an Menschen, Plastiktüten, Koffern – die kamen tatsächlich bald auf den Fließbändern angerollt. Die Zollerklärung, entgegen den von Reiseführern und Internetseiten geschürten Erwartungen, bereitete mir wenig Sorgen – hoffentlich klappt die Ausreise genauso gut. Was rede ich, das sind elf Monate bis dahin… Auf die (englische) Frage an einen der herumlaufenden Beamten zuvor, wo ich diese Zollerklärungen überhaupt bekäme, drückte der mir einen Stapel von 30 Exemplaren in die Hand – falls einer von euch welche braucht… Trotzdem dauerte der Prozess und gegen halb Drei zog ich meinen Koffer aus dem Gebäude an die rauchwarme Stadtluft. Überhaupt hatte ich im Verlauf des Tages den Eindruck, dass Abgase einen ungesunden Anteil an der Luft hier haben. Unter einem Baldachin mit mindestens 20 Metern Abstand zum Flughafengebäude (die durften nur einbahnig überquert werden) riss sich eine rufende Menge Taxifahrer um die Touristen, hier und da lugte auch eine Tafel mit einzelnen Namen. Meinen entdeckende, folgte ich Alisher durch die Masse auf den Parkplatz zu seinem Auto. Mit der Frau vor der Schranke, als er aus einem Bündel Geldscheine die Gebühr bezahlte, redete er Russisch.

Die kurze Fahrt glich eher einer Need-for-Speed-Reise – Ampeln und Vorfahrtsregeln gibt es zwar, aber an der Existenz von Tempolimits und Spurbegrenzungen hatte ich auch im Verlaufe des Tages mehrmals Grund zum Zweifeln. Letztere gibt es nicht überall, z.B. auf dem riesigen, kreisverkehrartigen Rund vor meinem Fenster. Die Stadt scheint stark befahren zu sein, Sonntag war das kein Problem, und nachts hatten wir die gigantischen Straßen (es gibt sonst auch kleine) fast für uns alleine. Die Diversität der vorbeifahrenden Autos ist beeindruckend – BMW-SUV’s, japanische Kleinwagen, 90’er-Jahre-Limousinen, Busse und Kleinbusse, einige Ostalgiekarossen und einen Traktor mit Strohladung habe ich bereits aus diesem Fenster gesehen. Weiß und Silber beherrschen das Treiben; die praktischsten Farben für den Sommer. Direkt gegenüber ein Blinkschriftzug und das Grand Mir Hotel. Sichere Gegend, höchster Stock – vierter oder fünfter. Hellhörig, Plattenbau. Nur ruhig ist es nicht, wohl keinen Tag in der Woche.

Alisher hat mir nachmittags und abends die Stadt gezeigt – per Auto. Einige Male nur sind wir ausgestiegen und herumgelaufen, so an einem Park in der Nähe des hoch aufragenden Fernsehturms und am Amur-Timur-Platz, dem zentralen Punkt der Stadt, dessen 200-jähriger, schattenspendender Baumbestand vor einigen Jahren zugunsten von kontrollierbaren Bäumchen und Sträuchern abgeholzt wurde, und wo auch jenes kaum genutzte Regierungsgebäude steht, für dessen Errichtung der Staat deutsche Handwerker gefordert und nur teilweise bezahlt hat. Im Sommer, so Alisher, könne man sich hier gar nicht aufhalten. Wiederholt wurden es in diesem Jahr fast 60 Grad in Taschkent – unvorstellbar für mich.

Vor dieser abendlichen Spazierfahrt war ich zum Essen eingeladen; bei der alzheimererkrankten Oma. Gekocht, abgewaschen haben die Frauen (Elmira und die Frau ihres Neffen, Alishers Cousin), die sich dabei auch nicht helfen lassen wollten, während die Männer sich um die 88-Jährige gekümmert oder fern gesehen haben. Extra für mich wurde ein englischer Kanal gewählt: Russia Today. Beim Essen lief dann eine Castingshow – DSDS auf Russisch. Ich war froh, dass ich im Anschluss die Comedians (ebenfalls Russisch) nicht verstanden habe. Froh war ich auch, dass ich von meinem ersten usbekischen Abendessen nicht gleich Bauchschmerzen bekommen habe – obwohl traditionelle, ausgelesene Speisen auf dem Tisch standen, denn Alisher hatte Geburtstag, was ich erst beim Anstoßen verstanden habe. Ohne Wodka. Dann aber auch ohne Messer. Eigentlich wurde alles, außer der Kartoffelsalat, mit der Hand gegessen, so auch die bei den anderen Mahlzeiten, die ich zuvor mit Alisher eingenommen hatte: Drei-Uhr-Nachts-Schmaus und Frühstück. Während das bei Brot und Wurst keine Rolle spielt, war ich nun doch dankbar über ein ohne Nachfrage gereichtes Messer, mit dem ich mir die Aufnahme von kleinen, weichen Teigtaschen (fleischlos gefüllt!) erleichterte – sehr lecker, ich schätzte mich glücklich, solch Festtagsessen gleich zu Anfang miterleben zu dürfen.

Ein anderes Kapitel hier ist die frisch vom Vorbereitungsseminar aufgedrückte Idee der Nachhaltigkeit. Nestlé überall, besonders auffällig das „Pure-Life“-Wasser, dessen rücksichtslose Gewinnung zur akuten, großen Dürre in Kalifornien beigetragen hat. Jetzt steht eine Flasche in meinem Zimmer. Mülltrennung gibt es nicht, Leitungswasser ist billig (und nicht trinkbar). Als Alisher kurz vor dem Abwaschen noch mal ins Nebenzimmer verschwand, ließ er das Wasser in den Abfluss laufen. Die Luft erwähnte ich bereits – die Abgase. Immerhin habe ich Geld gewechselt – bin nun im Besitz eines ganzen Stapels an Scheinen und fühle mich reich. Naja, fast. Morgen muss ich versuchen, mich registrieren zu lassen – ein unerwarteter Kostenpunkt, der nötig ist, damit ich z.B. Metro fahren darf und eine usbekische Karte für mein Handy kaufen kann.

Jetzt ist der Tag zu Ende, ich habe bestimmt einiges vergessen, das ich nicht sofort nachliefern werde. Im Idealfall schiebe ich in einer Woche ein Paket nach; bis dahin erlebe ich erst einmal die Stadt, die Gesellschaft, die erste Arbeit… Es fällt, so merkte ich deutlich, schwer, ganz am Anfang nicht in Stereotype zu verfallen, deshalb hüte ich mich, zu bald wieder zu schreiben. Die Stadt, um mal einen Antitypus zu verteidigen, finde ich wunderschön. Ja, ich bin kein Mensch der Großstadt, aber Paris, Neapel, Chicago, Rom fand ich trotzdem schön – wie lange sich das hier hält? Taschkent ist keine europäische Großstadt und auch keine US-amerikanische, und dass hier keine zehn, sondern zwei Millionen Menschen wohnen, macht es einmal erträglicher. Die Straßen sind breit und von hohen Bäumen gesäumt. Die neousbekischen Bauwerke ragen in den Himmel wie Traumfänger – trotz ihrer Einsamkeit strahlen sie eine Sicherheit aus, die sie sich vor all den zerbrechlichen Altstädten im mediterranen Raum behaupten lässt. Es ist keine typische Schönheit, kein Charme, eher eine Zurschaustellung von irgendetwas; eher expressiv und abwehrend als introvertiert und einladend. Mir gefällt das; ich sehe diese Bauten als Zeugnisse kontemporärer Stadtkultur. Taschkent, so kommt es mir vor, erschafft gerade seine eigene Schönheit, zwischen Sowjetwahnsinn und usebekischem Stolz.

Es ist schwer, das Erlebnis eines einzelnen Tages, in all seiner Niedrigkeit an Bedeutung und Reichtum an Eindrücken, wiederzugeben. Jetzt, abends, ist es wenigstens kühl. Ich sitze ich hier und denke, wie kann ich nur ein Jahr hier bleiben? Vielleicht sollte ich doch die Wohnung wechseln – nicht jetzt, aber wenn ich mich eingewöhnt habe. Ein riesiges Zimmer, während Alisher und Elmira auf Sofas schlafen. Und irgendwie geht es doch, denn die Zeit geht noch immer Sekunde auf Sekunde und ich bin immer noch der Körper, den ich aus Deutschland kenne. Letztendlich präsentiert sich mir mein Gepäck in diesen Minuten als gänzlich unpassend, triefend vor Unwissenheit und Überfluss, denn nun merke ich, was ich wirklich bin – nicht das Zeug, in dem ich spazieren gehe, nicht, was ich lese, sondern wie ich mich fühle, die Integrität als Ich. In diesen Minuten weiß ich nicht mal, ob das so stimmt.

Eins sehe ich sicher: Ich bin eingetreten in eine neue Zeit und auch wenn ich mich in Momenten wie diesen zurück wünsche, in das bestimmte, bittere, heimatliche Deutschland, weiß ich doch, hier bleibe ich und dieser Zwang wird mich verändern.

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