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Goethe Institut

Das Letzte von etwas

Absatz. Ich bin zu Hause, aber der Blog ist unbeendet. „Das Letzte von etwas“, ein begonnener Artikel, wartet in der Spur, vernachlässigt von mir, der ich kurz vor dem Nachbereitungsseminar von „kulturweit“ vielleicht wieder angekommen bin. Ich habe eine Reise mit Wandern an den Rhein hinter mir, mein Ausgleich zu Altem und Antrieb zu Neuem, in wenigen Tagen geht es los. Was mache ich mit dem Begonnenen? Es ist ganz modern, ich schiebe es nach, mit Vorwort und Epigraph, es könnte den Untertitel „Ein Fragment“ tragen – so wie die Reise, diese lange Zeit, ein Fragment war und immer nur sein kann – die Übergänge funktionieren nahtlos und eher im Austausch – ich stelle mir vor, ich sei ein Stausee, die Erfahrung der Damm und das Tal ist das Alte, in das ich fließen muss (Der Damm hat mich anstauen lassen, es besteht eine Differenz zwischen Ich und dem alten Leben), aber nicht mit vollen Rohren durchgepeitschter Erkenntnis, sondern langsam, dass der Boden des Alten, auf den ich langsam Fuß setze, nicht überfordert wird von dem Wasser, dass es aufnehmen kann und nicht überflutet wird.

Wir springen in den Juli, im Zeichen der Ruhe…

 

Im Zeichen der Ruhe ein letzter Seufzer von Arbeit, dann Zusammensacken in die mürbe Stille und Nichtstuerei, herrliches Gedankentreiben. Es ist das Letzte von etwas, und Hesse hat übersehen, dass vor dem zauberinnewohnenden Anfang das Ende kommt, das schmerzt und müde macht. Ich habe das lange, sich hinziehende Ende gewählt, nach der letzten Arbeitswoche blieben mir noch zehn Tage zur freien Verfügung, in denen ich mir die Zeit zum immer schmerzlichen Abschied nahm. Allerdings ist dieses lange Ende auch ein gutes, die Reflexion verschiebt sich nach vorne. Ich habe mit dem Land abgeschlossen, die Stätten, die mir viel bedeuteten, ein letztes Mal besucht und in mich aufgenommen. Zwei, drei der Leute hatten sich früher verabschiedet, am Donnerstag der vorletzten Arbeitswoche, weil sie dann in den Urlaub verschwanden, am Freitag war ich in den Bergen. Es war ein dienstliches Angebot aus der Sprachabteilung, sie wollten einen Muttersprachler für die besten Zöglinge im ganzen Land, die Gewinner der Spracholympiade Deutsch, 12 Podestler und 16 sonstig Eingeladene, und ich sagte zu, alleine aus Abwechslung und Spaß an Neuem, aber auch, weil ich so noch einmal in die Berge kommen konnte, in denen ich nur ein einziges Mal, im September oder Oktober beim Betriebsausflug, gewesen war, nun also ein zweites Mal, in denen die Höhenatmosphäre deutlicher zum Zuge kam.

Mir wurde gesagt, es sollen noch je eine Person vom British Council und von der Alliance Francaise, welche in die französische Botschaft eingekoppelt ist, mitkommen, aber den ganzen Tag über habe ich keine ähnlichen Personen gesehen, nur zwei Englischlehrerinnen, darunter eine ganz junge, waren vor Ort mit uns unterwegs. Denn auf Arbeit entfielen nur die zwei Stunden zwischen Ankunft mit dem gemieteten Autobus, in dessen schwer verhängtem Inneren der Schlaf nach kurzer Nacht nur ein fiebriger, schwerer und tropischer war, und Mittagessen, wenn man es denn so nennen will, solch ein zweifelhaftes Hackfleisch jedenfalls habe ich sonst nirgendwo gegessen. Ich war noch müde, weil ich mich am Vorabend dazu überwunden habe, das Fußballspiel gegen Frankreich zu sehen, als wir nach einem gemeinsamen Abend noch die Fans an die in den K.O.-Spielen immer ein Public Viewing ausrichtende Deutsche Botschaft geleiteten. Eigentlich erfolgte der Eintritt auf Einladung, einige Plätze wurden via Facebook verteilt. Ich war eingeladen gewesen, hatte aber guten Gewissens nicht zugesagt, nun stand aber am Einlass eine mir bekannte Dame, und da war es dann plötzlich schwer, nicht doch noch, als VIP sozusagen, auf das großzügige Gelände zu schlüpfen, nicht ohne vorher eine Deutschlandfahne von einem weiteren Bekannten auf die Wange geschminkt zu bekommen, der an jeden Besucher zwei Gutscheine für wahlweise Bier oder Würstchen aushändigte. Der Botschafter hielt eine Rede, kurz vor Anpfiff, und kurz bevor wir noch hingeschlüpft waren, aber nicht gewohntermaßen in Anzug und Krawatte, sondern tatsächlich einem Deutschland-T-Shirt, das seinen Bauch viel schöner in Szene setzte als das offizielle Dress. Nein, er ist ein sehr netter und guter Mensch, unser Herr Botschafter. Man traf auf jede Menge bekannte Gesichter, eine Fraktion von der französischen Botschaft und ihren Landsmännern sorgte für den erheiternden Gegenpart zu jenem Gejohle, das sich immer dann los trat, wenn ein deutscher Spieler den Ball auch nur mit der Zehenspitze berührte. Ich entschied mich selbstverständlich zunächst, von meinem Gutschein zwecks alkoholischer Abendführung Gebrauch zu machen, der ganze Zirkus um Fußball, vor allem das Gegröle der einschlägigen Fans ist mir furchtbar fremd, aber mit ein bisschen Alkohol ganz amüsant zu tragen. Wobei ich natürlich im Blick behielt, dass der morgige Tag um sechs Uhr mit dem Wecker beginnen würde und ich sowieso wenig Zeit zum Schlafen hätte, auf dem Fakt aufbauend, dass der gemeinsame Abend schon zu zwei oder drei Bier geführt hatte. Daher tauschte ich bei fortgeschrittenem Spiel meinen zweiten Coupon gegen ein Würstchen, ungeduldig (und ein bisschen hungrig) ein nicht ganz durchgebratenes, der Meister am Grill suchte mir noch das Schönste heraus und am nächsten Morgen wachte ich mit ziehenden Bauchschmerzen auf, und zwar noch vor Sechs Uhr. Es ist aber unglaublich, wie schnell in diesen Zeiten der Himmel wieder hell wird. Insgesamt waren mir vier Stunden vergönnt, immerhin, denn es gab keine Nachspielzeit. Auch das Spiel gegen Italien am Samstag zuvor hatte ich gesehen, in kleinerer Runde in irgendeiner riesigen, bis auf Couch und Fernseher in einem der acht Zimmer leerer Wohnung im obersten Stock an einem wunderbar friedlichen Innenhof, die selbst einem Bassisten gehörte, der als einziger unter uns vier für Italien kämpfte, und das meine ich wortwörtlich: Am Ende stand er mit nacktem Oberkörper vor dem Bildschirm und zitterte förmlich nach der Niederlage. Wie gesagt, ich nehme Fußball nicht so ernst, noch dazu nahm mein Hirn durch den Alkohol eine Abkürzung und schaute wahrscheinlich nicht so genau hin, denn ich war ein bisschen erstaunt, als alle von einem solchen Nervenkiller sprachen. Ich schiebe die Schuld mal auf den vietnamesischen Bananenrum, der natürlich nicht das erste Getränk des Abends war, und den der Italien-Fan nur mit den Worten kommentierte: Schmeckt tatsächlich nach Banane. Das tat es, und zwar in einem Maße, dass ich morgens mit einem Bananengeschmack im trockenen Mund aufwachte, einer gruseligen Erinnerung an diese Flasche, wo tatsächlich kein einziges Wort in mir bekannten Schriftzeichen zu lesen war. Bilder von Bananen waren drauf.

Also weckte man mich, wir waren in den Bergen angekommen, wo, wusste ich auch erst, als ich die Augen aufschlug. Es handelte sich um ein Kinderferienlager, erinnerte im Ganzen aber eher an eine Zeit, die ich nur aus Filmen und Büchern usw. kenne, an Pioniere, rote Halstücher, so was. Zerknittert fragte ich zuerst nach einer Toilette, machte mich, so gut es auf diesen Dreckslöchern ging, frisch, und folgte den anderen den Weg hinunter zu mehreren Pavillons, wo die Sprachgruppen saßen und uns erwarteten. Der Lagerkommandant – man stellte ihn mir als Начальник лагеря vor, ein Terminus, der nicht anders für die Leiter der GULags gebraucht worden ist – kommentierte das Ganze nur mit den substanzlosen Worten: Ein gutes Lager. Als wollte er sagen: kein GULag. Mich begleitete eine usbekische Deutschlehrerin, und wir wurden bei Eintritt in den Pavillon klar mit einem dreisprachigen „Guten Morgen“ begrüßt, wozu die Zöglinge ruckartig aufstanden und sich nicht eher setzten, als die Lehrerin es ihnen erlaubte. Auch, wenn uns in Begleitung des Natschalniks eine Schülergruppe den Weg kreuzte, fingen sich unter hektischem Zeichen der Lehrerin an, uns eine einstimmige Begrüßung entgegen zu schmettern. Ein gutes Lager halt. Das ansonsten aber sehr grün und bunt war, zwei natürliche Wasserquellen aufweisen konnte und in wunderbarer Lage in den Bergen lag, die ganze Gegend ist ganz wundervoll und trägt hier den Titel „Usbekische Schweiz“, was sich schon wieder wie eine Parodie anhört. Die Schüler waren hier wohl schon eine Woche, und je nach Gebrauch fuhren die Lehrer jeden Morgen ins Lager und verbrachten so viel Zeit vor Ort, wie nötig. Ich war müde, naturgemäß, und wusste nicht so viel mit diesen Sieben- und Achtklässlern anzufangen, also dirigierte ich ein paar Namensspielchen im Kreis, dann war eine Stunde herum. Leider sind die usbekischen Schüler betont begriffsstutzig, ganz abgesehen von dem zweifelhaften sprachlichen Niveau einiger – andere hingegen haben geradezu perfekt geredet für ihr Alter, da ist mein Russisch keinen Deut besser – also muss man den meisten alles dreimal erklären, und selbst wenn es 27 vor ihm richtig gemacht haben, wovon man sieben Leuten noch einmal erklären muss, worum es geht, in drei Sprachen, kann es sein, dass der Letzte völlig verständnislos und stumm da steht und sogar überrascht scheint, dass er jetzt an der Reihe ist. So etwas gibt es sicher auch in Deutschland, hier beziehe ich alles sofort auf die Diktatur, in welcher die Bürger so blöd wie möglich gehalten werden, ja keine Bücher lesen oder so. Umso mehr fallen die auf, die clever und scharfsinnig sind. Nach diesen für meinen Begriff erfolglosen Spielen machte ich es mir einfach und teilte in fünf Gruppen auf, die mir jeweils drei Fragen zu Deutschland stellen sollten, und meistens waren das uninteressante, die mich jeder zweite Taxifahrer fragt, oder solche zu Geografie, die ich erstaunt beantwortete, so gut ich konnte. Erzählte noch ein wenig über das deutsche Schul- und Studiensystem, verabschiedete mich mit einigen Geschenken, die mir das Goethe-Institut mitgegeben hatte (Merchandising-Artikel) und verschwand nach der üblichen Welle an Fotos, sogar ein Autogramm musste ich denen geben, die einen Goethe-Notizblock erhalten hatten. Schade nur, dass meines so hässlich ist. Das Essen glich, ich erwähnte es, üblem Kantinenfraß, im Hack waren wohl sämtliche Teile des Tieres verarbeitet worden, ein wenig schimmerte es auch noch rötlich, die Soße war verkocht und ach, naja, Hauptsache, es gibt etwas zu essen, wovon ich keinen Durchfall bekomme. Was Fleisch angeht, bin ich wohl recht resistent, ich esse hin und wieder auf dem Basar diese frittierten Teigtaschen mit Innereien für zehn Cent pro Stück, wenn ich das erwähne, gucken mich einige immer ganz perplex an, aber diese Schrottigkeit hat etwas, das mir gefällt. Der Natschalnik führte uns nach dem Essen über das ausgedehnte Gelände mit Blick auf die Gipfel, selbst auf ca. 1000 Meter oder ein paar hundert Meter höher, und zeigte uns u.a. den Swimmingpool, an dessen Becken ein, wie er sagte, Weltmeister in irgendeiner seltsamen Sportart dick auf einem Sonnenstuhl lag, oder den Sportplatz, der unglücklicherweise gerade gewässert wurde, sodass wir den Matschpfützen ausweichen mussten, aber immer mit dem wunderbaren Blick auf die Berge und einer wahnsinnig schönen Luft, die die Lungen mit Kraft und Leichtigkeit füllt. Am Ende des Tages war ich zwar erschöpft und schlief lange, aber ich merkte, wie mir dieser Tag in den Bergen Schwung gegeben hatte, und Lust, die ich vorher im Zuge einer zunehmenden Entschwindung des Geistes nach Deutschland vermisst hatte, wie gut mir, in einem Wort, die Bergluft getan hatte, denn das wird es wohl gewesen sein, sechs Stunden unter freiem Himmel. Denn nun führten uns die Verantwortlichen auf einen Spaziergang, fuhren uns mit dem Bus zu einem wuseligen Parkplatz, von wo aus der Weg zum Gipfel führte. Die meisten der Lehrerinnen blieben im oder am Bus, es gab hier genügend Zerstreuungen – motorisierte Karts warteten darauf, dass jemand auf diesem Riesenspielzeug herumgefahren werden wollte, Männer kamen auf mich zu, ihr Pferd am Zügel und fragten, ob ich reiten wolle, eine Choyxona war schmal besucht und eiferte um Gäste – wir waren ja mit sieben, acht Personen immer noch eine große Gruppe – aber uns führte die Straße durch ein rostiges Drehkreuz nach oben, und der Natschalnik zeigte auf die von hier aus zu sehende Bergspitze, hinter der sich, oben angekommen, noch weitere, höhere Gipfel zeigen sollten – dahin wollten wir. Und als ich schon dachte, immerhin waren anderthalb Stunden eingeplant, sie dachten daran zu laufen, wurde ich schon enttäuscht. Der Usbeke ist kein Läufer, das beweist sich vielerorten, auch hier. Eine alte, abenteuerliche Sesselliftvorrichtung lief mit Rucken und Zucken, dennoch beflissen und beförderte Gäste für 10.000 Sum hoch – an der Tafel las man, auf knapp 2100 Meter – und wieder hinunter, sicher kein schlechtes Geschäft. Die Sessel am Lift waren aus gutem, sowjetischen, grün gestrichenen Eisen, das Seil hing deutlich durch, als unsere Gruppe vier oder fünf Doppelsessel  hintereinander beanspruchten, aber wir kamen heil oben an. Als Sicherheit diente nur eine Stange, die man sich über den Schoß legte und im Zweifelsfall sicher wieder weg geflogen wäre, man kuschelte sich also weit nach hinten und genoss den Ausblick. Irgendwo las ich über diesen Lift, er sei die ultimative Kur für Schwindelkranke, Schocktherapie. Oben ein hübscher Blick, oder einige, nicht viel mehr, in einem Land, in dem die Erde sonst so platt ist wie bei uns in Leipzig, aber das höchste der Gefühle, und jetzt auch für mich Luftgenießer eine willkommene Abwechslung zur dumpfen Großstadt, darum geht es ja. Die Aussicht ist also nicht weiter beschreibenswert, hübsch war sie eben. Von der aufgeschütteten Ebene, auf denen die gelbrostige Gipfelstation und ein Tisch mit Wasser und Snacks zum Verkauf standen, führte ein Weg über einen mäßig schmalen Grat zu… ja, dem Felsen, der den Weg begrenzte. Am rechts gespannten Zaun ebenso wie an einem Baum, der links am Hang wuchs und den Blick erheblich bereicherte, ebenso wie an der Absperrung am Fels, die sagte, hier nicht weiter, waren Tücher geknotet, wie ich sie z.B. in Termiz gesehen hatte, Wunschtücher, und die Menschen glauben daran, dass ihre so geknoteten Wünsche wahr werden, ein hübscher Glaube, der dem Ort außer Luft und netter Aussicht noch einen interessanten touch gibt. Für mich war sowieso der Sessellift das Spannendste, und ich freute mich, als wir alle wieder herunterfuhren. Lange waren wir dort gewesen, auch ich genoss die Weite, die es sonst nur in den Hauptadern Taschkents gibt, und die wunderbare Luft, so frei von Gasgeruch und der Wind, der kühl durch die Kleidung fährt, und trotzdem steht man lieber im Schatten. Die Lust an der Hitze sollte ich dann am folgenden Tag erleben. Als wir abwärts fuhren, freute ich mich schon und dachte, wir wären früher fertig als geplant, weil ich einer der Shum-Bola-Volontärinnen versprochen hatte, zu ihrem Geburtstag zu kommen, und gerne noch ein Stündchen geschlafen hätte, aber es sollte natürlich anders kommen, genauer gesagt, zum Wodka sollte es kommen. Unten angekommen, setzten wir uns in den Schatten auf eine Wiese, wir, das waren jetzt meine Betreuerin-Deutschlehrerin, eine Lehrerin für Russisch und die junge für Englisch, der Natschalnik, ein Ministeriumsmitarbeiter, der das ganze Camp organisiert hatte und ein beleibter Mann, der irgendwie mit einem Fotografen von der Presse kam, mit dem er oben albern herumgespielt und lauter sinnfremde Fotos gemacht hatte, sein Partner schien auf dem Weg verloren gegangen zu sein. Jener Ministeriumsmitarbeiter übrigens, der mit uns im Bus die Strecke von Taschkent gefahren war, kam mir von Beginn an vor wie eine aus der Zeit gefallene Entsprechung des sowjetischen Mannes. Ich habe einige Schauspieler im Kopf, andere Sportler, Politiker, Künstler, und irgendwie alles an ihm erinnerte mich an diese alten Aufnahmen, vor allem aber sein Gesicht und seine Sprache schienen mir wie aus der Zeit gefallen und ich wunderte mich den ganzen Tag über, wie dieser Mensch so aussehen kann, als würde er in einer sowjetischen Komödie der Sechzigerjahre mitspielen. Er hatte nun das Picknick organisiert, schön sowjetische Wurst in Weißbrötchen in Plastiktüten aus alten Turnsäcken, und den Wodka, der aus Andijan kam, ein Liter, genug für uns, zumal die Frauen aus Standesgründen weniger tranken als die Männer und ich – leider Gottes – zählte zu den Männern. Ein paar Tage später erfuhr ich zufällig, dass der Konsum von Alkohol (und Zigaretten) in Usbekistan gesetzlich ab 21 Jahren erlaubt ist und wunderte mich ein wenig, dass ich das ganze Jahr über unbehelligt diese Güter erwerben und trinken konnte, und nicht nur ich, sondern auch andere, jüngere. Von solchen Gesetzen, an die sich niemand hält, scheint’s nicht nur eines zu geben, Thema Anschnallpflicht, Blinken, und einige Kuriositäten, die einem zu Gehör kommen. Zu Ende der Pause war der Natschalnik schon angetrunken und erzählte mir auf dem Weg nach unten, er besäße einen Club in Sergeli, dem äußersten und südlichsten Bezirk Taschkents, der mit dem „Festland“ nur über eine große Kreuzung verbunden ist, in dem Striptease getanzt würde, „конкретный“, sagte er, und wollte meine Nummer haben, mich anrufen, weil er dann und dann in Taschkent sei und mir den Ort zeigen wolle. Ich gab ihm die Nummer, er rief nicht an. So wie eben die siebzehn Male zuvor, dass ich Usbeken (meist betrunkenen) meine Nummer gegeben hatte. Auf der Busfahrt schlief ich, vom Alkohol begünstigt – so schlecht war das gar nicht – zwar unruhig und heiß, aber immerhin bei glühend rotem Sonnenuntergang vor den Scheiben und Dämmerung, als ich auf dem Weg ausstieg und für 2000 Sum ein Taxi nach Hause nahm.

 

Blecherne Lautsprecherdurchsagen im Lager

Auf die einstimmige Begrüßung der Kinder bei Entgegenkommen des Natschalnik und Gästen des Lagers wendet sich ersterer zu mir: „Классно, да?“ („Cool, oder?“).

Alle loben den Ort, die mitfahrenden Lehrerinnen inbegriffen, und ich weiß nicht, ist es aus Höflichkeit, denn sie loben auch das Essen, das nun unter aller Sau war. So funktioniert Diktatur, irgendwie sind alle geblendet.

Dieses Lager kostet pro Woche so viel wie ein Deutschkurs des Goethe-Instituts im Trimester.

 

Wie gesagt, wollte mich eine der Volontärinnen noch bei ihrer Party begrüßen, die ihre Eltern ihr gegenüber erst am Tag vorher angekündigt hatten, daher hatte sie schnell ein paar Freunde zusammen gekratzt. Am Ende war ich auch froh, dass die Familie aus Non-Alkoholikern besteht, den Toast habe ich trotzdem auf Russisch ausgebracht, das geht inzwischen schon ganz gut, auch wenn ich mehr als nur zwei Sätze sage. Das Anstoßen ist ja hier immer mit Reden verbunden, und dann wurde es, der Abend verlief sehr friedlich und hübsch, halb Zwölf, als wir gingen.

Ich war froh über den Schlaf auf den Busfahrten, denn mein Vorhaben bestand, am Samstag nun auf den Quylik zu fahren, und dafür soll man nicht zu spät aufstehen. Schließlich schaffte mich irgendwann zwischen Neun und Zehn die Hitze aus dem Bett, besonders, wenn ich spät nach Hause komme, ohne abends die Fenster zwei Stunden offen zu halten oder drei Stunden die Klimaanlage an hatte, ist es morgens sehr früh schon unerträglich. Mein Zimmer ist mit Abstand das heißeste der Wohnung und dagegen hilft nichts als unermüdliches Lüften, Wind, Luftbewegung. Wenn ich mich abends hinlege, ist das Kissen, das Laken, die Decke so aufgewärmt, dass es mir wie eine Wärmflasche ist, die plötzlich den ganzen Körper umfängt. Wenn ich zwei Fenster offen habe, komme ich nicht umhin, mir gelegentlich die vom Durchzug gekühlten Beine zuzudecken und wache dann auf, wenn sie schweißnass sind. Wenn nur ein Fenster – das meines Zimmers – offen steht, ist es ab Zehn nicht mehr auszuhalten, und das meine ich wortwörtlich. Mein T-Shirt ist zu beliebiger Tageszeit in meinem Schlafzimmer, am Schreibtisch oder beim Fegen, nach zehn Minuten durchnässt. Lange kann ich mich nie darin aufhalten, und deshalb gelingt es mir in diesen Tagen für gewöhnlich nicht, vor zwölf Uhr ins Bett zu gehen, denn erst um halb Elf beginnt der Durchzug, die Kühle, und ich lasse ihn ein wenig wirken, während ich schreibe, am Computer lese oder einen Film schaue… Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, welche Temperatur ein Thermometer anzeigen würde. Google spricht meist von 40 bis 43 Grad zum Hitzehöhepunkt, der gegen vier Uhr nachmittags eintrifft, aber ich glaube, die Stadt ist heißer. Diese weiten Flächen Asphalt, die Häuser, die Autos – die gemessene Lufttemperatur bezieht sich ja auf Stationen, die außerhalb des Verkehrs liegen, wenn ich stehen bleibe an der Ampel ohne Schatten einer großen Kreuzung, brennen meine Füße, als steckte ich in Stiefeln, dabei laufe ich barfuß in Sandalen, und ich beginne zu schwitzen. Bewegung ist gut, denn sie schafft Gegenwind. 29 Grad sollen es morgens um Neun sein, wenn ich aus dem Haus gehe, sagt Google, in Wahrheit aber war ich an den schlimmsten Tagen der Woche durchnässt, bevor ich auch nur die Metro erreicht hatte. Metro ist bei dem Wetter besser als Busfahren, nachmittags will ich es gar nicht versuchen, schon morgens ist es sehr unangenehm und die plötzliche Nähe zu all den schwitzenden Fahrgästen hat etwas von Nacktheit, das mir nicht gefällt. Jetzt, zum Glück, besteht keine Notwendigkeit mehr, Bus zu fahren – weil die Arbeit vorbei ist.

An jenem Samstag wollte ich also nach Quylik, jenem quirligen Basar, den ich im Herbst zweimal besucht hatte, der nicht nur als der günstigste, sondern auch lebendigste Lebensmittelbasar der Stadt gilt, zurecht. Ach, welches Treiben! Ich hatte ein Taxi nehmen müssen, weil die Marschrutka vor meinem Haus schon zu voll war, und auf dem Weg bereute ich, nicht öfter hergekommen zu sein, so wie ich bei jedem Yangiobod-Besuch denke, hierher müsste ich häufiger kommen.

 

Stapel/Haufen/Lager an Tomaten, Gurken, Pfirsichen, Äpfeln, Melonen und Aprikosen in verschiedensten Formen, Pflaumen, Karotten, Auberginen, Karfiol und Paprika, Knoblauch, Zwiebeln und …

Frauen in ihren bunten Kleidern, fröhliche Muster, knöchellange Gewänder

Überall der Geruch von Brot, süßen Melonen, süßlicher Pfeffer, nach Tomaten, auch der strenge Geruch in der Halle nach Schweiß, alten Kleidern, Gewürzen und Weihrauch, der stechende Geruch neben den sanitären Anlagen

Immer wieder auch Miliz, sie sind paranoider geworden, seit Istanbul wahrscheinlich

Fleisch – Ochsenfüße, Leber, Pferdewürste, Zungen, gefüllte Därme und unidentifizierbares, wolliges Zeug zwischen Knorpel und Fett

Ich bin zu scheu zum Filmen, habe Angst, dass jemand zuschaut, dem das nicht gefallen könnte, der mich anspricht – ich will keinen Ärger.

Als ich auf einem Zaunpfosten sitzend mich ausruhe, schauen mich die Passanten kritisch an, lungern kann man zuhause. Der Basar ist ein Platz der Arbeit und des elenden Alltags, ich als Zuschauer kann ihn genießen, als fremd und unnahbar, aber für all diese Leute bedeutet er mehr als das. Sie verstehen für gewöhnlich nicht, wenn ich erzähle, mir gefielen diese Märkte – Quylik, Yangiobod, Ippodrom. Weil es für sie nur Stress bedeutet, kein Erlebnis des Fremden ist.

 

Und ich ging, irgendwie wunderbar aufgelöst in der Hitze, völlig im Einklang mit all dem Chaos um mich und dem Schweiß auf meiner Stirn – jemand hatte einmal zu mir gesagt, Thema schreckliche Hitze, man gewöhne sich auch nicht daran. Aber in jenem Moment, als ich durch die brennende Sonne zwischen den rennenden Menschen hin- und her wankte, genoss ich sie, nicht masochistisch selbstzerstörerisch, sondern weil die Schauer, die sie mir über den Rücken jagt bei Überkörpertemperatur, genauso schön waren wie Kälteschauer oder der Regen, wenn man ihn will, wie er die Haut benetzt, durch das lächerliche T-Shirt hindurch. Und zurück hatte ich die Nerven, mit einer Marschrutka zu fahren, heiß, die Tüten zu meinen Füßen, als gäbe es kein anderes Leben auf der Welt.

Aber das gibt es, und davon kündet der Abschied, dem man sich langsam ergeben muss. Die letzten Arbeitstage war ich kaum am Arbeiten. Es fiel mir schwer, diesen Platz mit dem hellen, breiten Schreibtisch, dem klimatisierten Zimmer und der tollen Lage im Institut aufzugeben, an dem ich so gerne gearbeitet, gelesen und geschrieben habe. Die ganze Etage war so beseelt und schön, am schönsten in der Mittagszeit oder abends oder morgens, wenn es ganz still war und man sich ganz auf die Tasten oder Zeilen geben konnte. Einige Berichte galt es noch, zusammenzustellen, aber das gelang im Endeffekt problemlos schnell, dann räumte ich den Computer von persönlichen Dateien frei, löschte meine Chronik im Internet, sortierte tatsächlich meinen gesamten Mailverkehr aus dem Jahr, der im Posteingang liegen geblieben war und löschte alle gesendeten Elemente, dann schloss ich alle Fenster und fuhr den Computer nicht ohne Seufzer ein letztes Mal herunter. Ebenso schwierig war es, von den Leuten Abschied zu nehmen, Mann für Mann die Hand zu schütteln, von Mal zu Mal schwerer, weil ein Abschied Wiedersehen heißt, aber viele Abschiede nicht. Nun, darüber kann man hinweg sehen, wenn man beinahe in Deutschland ist, denn dann – tatsächlich – hat man den Zauber des Neubeginns schon in der Brust, die nicht so sehr vom Schwermut des Verlassens gefüllt sein kann.

 

Ein letzter langer Abend mit dem verrückten, nonkonformistischen Farid:

Ich war gerade losgelaufen, auf Geratewohl, zur Not, falls Farid nicht mehr anruft, dachte ich, eben einfach ein Spaziergang oder ein einsamer Besuch im Bardak. Dann rief er natürlich doch an, und wir trafen uns jeweils nach langen Spaziergängen aus unterschiedlichen Richtungen bei Hamid Olimjon, zwei riesige Straßen, die sich als Brücke und Unterführung neben den gewaltigen Hochhausblöcken treffen, welche zu beiden Seiten im Viertelkreis wie Wachtürme die Stadtausfahrt beobachten. Diese sowjetischen Klötze von 17 Stockwerken haben etwas Gewaltiges, und werden anscheinend hip, denn ein, zwei westliche, offensichtlich neue Cafés stehen hier herum, wo wir uns treffen. Gleich nebenan ist sein Büro, wir trinken, er zeigt mir etwas Musik, er muss in die Elvis-Bar, um jemandem etwas zurückzugeben, ich komme mit. Dort treffen wir auf seine Freundin Juna, bleiben aber nicht lange, weil der Abend so spät erst begonnen hatte, ist es trotzdem schon nach ein Uhr, und wir machen uns in eine beliebige Richtung auf. Da mussten die beiden noch einmal zurück, hatten einen Beutel Klamotten in der Bar vergessen, und ich wartete solange auf sie, an den Zaun gelehnt, gegenüber einer „Dental Clinic“. Als sie wieder auftauchten, gingen wir ein paar Schritte, diskutierten, wohin nun, einigten uns auf einen Ort, da stürzte wie aus dem Nichts ein Ast der mächtigen Platanen über unseren Köpfen auf eben jene Stelle am Zaun vor der „Dental Clinic“, an der ich vor wenigen Minuten auf die beiden gewartet hatte. Das war in der Tat etwas gruselig, aber es sollte weder ein böses Omen für die Nacht gewesen sein, noch ein größerer Schock. Wir spazierten wenige hundert Meter, da meinte Farid, wir sollten uns ein Taxi nehmen, aber der Mond fesselte uns, der gelb über den Bäumen hing, ganz tief, und nur nach Minuten war er verschwunden. Wir standen vor einer Brücke über den Kanal und Farid erzählte, er sei früher dort unten Kajak gefahren. Es gab eine Treppe zum Ufer, das noch eine hüfthohe Mauer vom Wasser trennte, das hier rann und in Stromschnellen sprudelte, ein Parkour von Stangen war mittels über den Strom gespannten Seilen aufgebaut, und er erzählte uns, wie er vor sieben Jahren hier das letzte Mal gewesen war, mit 19, als er dann mit dem Rafting aufgehört hatte. Wir setzten uns auf zwei große Blöcke an der Brandung, genossen den Blick, die Kühle des Wassers (denn auch nachts ist es heiß), und so blieben wir eine Weile, mit unserem in schwarzen Plastiktüten verhüllten Bier an dem sprengenden Fluss, unterhielten uns über Rimbaud, ich erzählte von Celan, Juna von Puschkin, Farid von seiner Jugend. Als wir aufstanden und gingen, kam Farid wieder eine Idee, er erzählte von Somsa ab vier Uhr morgens, und weil alles so tief friedlich ist in der Nacht, stimmte ich zu.

Wir gingen durch den kleinen Wald vor der K.T.Comba, liefen eine Trepe links hinab, zu einem am Fluss entlang führenden Weg, wie Plagwitz vor 15 Jahren ausgesehen haben muss. Rechts erhoben sich festungsartig die beleuchteten, mehrfach gesicherten Mauern des Präsidentenkomplexes, seiner Privatwohnstätte (Maison) in Taschkent. Wie wir so liefen, tauchte vor uns ein achtstufiger, künstlicher Wasserfall auf, der vielleicht irgendwohin Energie liefert. Rechts führte ein schmales Treppchen nach oben, auf deren oberen Absätzen wir uns niederließen. Wie in Stalkers Zone oder dem Mauerstreifen fühlte sich das an – hinter uns eine Sicherheitszone, alles leer, beleuchtet, dann wilde Natur, auf der anderen Seite erhob sich ein wunderliches Bild mit einem, zwei hell gestrichenen Häuschen, eines mit Licht über der Tür, inmitten eines Hains von schmalen Birken, hier eine Stahlbrücke mit Schranke, das Geländer schwarz-weiß verblichen wie auch gegenüber die verwachsenen Steinstufen hinunter, über dem angelaufenen Beton, dort Wildnis und das Rauschen des Flusses, ein Bild so friedvoll, dass ich mich gar nicht satt sehen konnte und am liebsten noch einmal mit Fotoapparat gekommen wäre. Aber die Paranoia bringt mich davon ab.

Wir verließen das Gelände rasch in einen Wohndistrikt, fanden irgendwann in den leeren, weiten Straßen ein Taxi, kamen um halb Fünf am Chorsu-Basar an, Westseite. Dort bauten sie gerade den Morgenbasar auf, den man ja sonst vor lauter Schlaf nicht sieht, den wir, weil das Somsa noch länger nicht fertig sein würde, kurz besichtigten. Kistenweise Obst stapelte sich hier – Pfirsiche, Pflaumen, Weintrauben, Nektarinen, Aprikosen – die Verkäufer saßen auf dem Heck ihrer Ladas, verkauften aus den offenen Kofferräumen ihrer Damas oder stapelten die Kisten in hohen Reihen vor den Maschinen. Dazwischen Auberginen und Tomaten, rechts ging es weiter mit Gemüse, Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch. Hier werden hauptsächlich große Mengen verkauft, in Kilogramm kann man weniges erwerben. Dafür ist es natürlich günstiger. Am Gemüse herrschte noch das Chaos des Aufbaus. Kleine Damas und Händler mit voll beladenen Pferdewagen schoben sich durch die Menge, Reifen und Füße immer handbreit nebeneinander. Rücksichtslos drängten sich die Menschen an all den Ladungen, Zwiebeln, Kartoffeln, vorbei, immer Wange an Wange mit den Autos oder Karren, die als Anhänger für Autos genutzt und hier von jungen Männern gezogen werden, deren Rufe, Platz, Platz, über den Markt schallten. Rechts parkten Lieferwagen, meist auch mit Kartoffeln, Zwiebeln, teilweise Reis, Karotten oder Eiern, und einer musste tatsächlich noch einparken in dem Gewirr, ein sechs Meter langer, wie es schien, Milchwagen. Der Faszination dieses Markttreibens erliegt man völlig, und auch hierhin wäre ich liebend gerne mit Kamera zurückgekommen. Dann sind wir durch den großen Ark auf das eigentlichen Basarareal gelangt, vor uns die gigantische Domkuppel, unter deren grünlich schimmerndem Blau das ganze Fleisch verkauft wird, emsig sahen wir durch die Dämmerung in den beleuchteten Fenstern die Menschen machen und bereiten. Sonst bauten alle Händler erst auf, und an einer Stelle standen zwei mit ihren Kesseln und bereiteten Plov vor. Der eine langte mit einem riesigen Schieber das in schäumendem Öl kochende Fleisch, das in drei Holzkisten gebracht worden war. Im anderen Kessel blubberten die Karotten, daneben standen ein riesiger Sack Reis und eine Tüten Kichererbsen, die der zweite Händler dabei war, in eine gelbe Plastikschüssel zu schütten – sie waren durchweicht, wie man sie fertig auf dem Basar bekommt, also in 1 bis 2 Stunden Kochzeit zu garen. Zwei Kanister Öl standen beiseite, die wohl je drei Liter gefasst haben müssen, in dem einen war noch ein Drittel übrig geblieben. Das Fleisch stand unter beständigem Feuer, wozu der Zweite immer wieder Holz nachschob – die Kisten, in denen das Fleisch gelagert wurde, die er mit seinen sandalbeschuhten Füßen zersplitterte und die einzelnen Scheite in die Flammen unter den Kessel warf, die sofort gierig aufloderten. Die Hitze des Feuers drang über zu uns und wir beschlossen, zurück zum Somsa zu wandern, das direkt gegenüber des inzwischen aufgebauten, quirligen Morgenbasars lag. Die Händler riefen ihre Waren aus, wir nahmen den Weg über die Straße, wo uns andere begegneten, die aus dem Kofferraum ihres kleinen Lieferwagens ganze, geschorene und gesäuberte Schafe, zum Zerkleinern bereit, hoben und in metallene Einkaufswagen warfen, wobei die Beine mit den abgetrennten Füßen immer wie Gummi schlackerten. Nur dort, wo der Kopf gewesen war, sah man das Rot verblichenen Lebens. Nebenan luden wieder andere aus ihrem Damas unzählige Hühnchen, verkaufsfertig in schwarzen Plastiktüten, auf einen der großen Pferdewagen, direkt neben dem geruchsintensiven Abfall, welcher sich schon nicht nur auf den Container beschränkte, sondern im Umkreis von einigem Metern darum herum lag. Hier begann eine Arkade, unter der sich wohl normalerweise drei oder vier Somsabuden öffneten, heute aber war Samstag und nur einer hatte geöffnet. Die Teigtaschen aus dem Tandirofen waren immer noch nicht fertig, aber wir bekamen schon Tee, setzten uns und ließen unsere Müdigkeit spielen. Der grüne Tee – lose Blätter, wie ich sie auch zuhause habe – tat wunderbar gut, und als die Somsa endlich kamen, deren Hitze umso mehr. Der stämmige Usbeke rief nun alle paar Minuten seine heiße Ware aus, gegenüber begann der Basar zu brodeln und zu allem Überfluss hatten wir direkten Blick auf den Sonnenaufgang um ca. halb Sechs. Ich war schon vorher im Taxi halb zu Boden gesunken, und nun zog es mich wieder hinab, aber am Ende ist man ja doch immer schnell zuhause, selbst als Nachtwanderer, der um sechs Uhr heimkehrt. Ab neun Uhr wachte ich häufiger auf, verschwitzt – die Wohnung hatte während meiner Abwesenheit nicht viel an Hitze verloren – und nur der leichte Wind konnte kühlen, der Durchzug, weil ich nachts zwei Fenster offen ließ. Die Müdigkeit behielt mich an jenem Tag dennoch bis Drei im Bett.

 

Ein Grund meiner Usbekistanverdrossenheit:

Ich habe auch einfach genug davon, mit all den fremden Leuten zu reden, die wissen wollen, woher ich komme, wie ich heiße, wie es in Deutschland mit den Flüchtlingen läuft usw. Es sind Fragen, die mir so oft, ich weiß nicht wie oft, gestellt wurden, und jedem Taxifahrer, der schweigt, bin ich unendlich dankbar. Mit der Zeit gibt es nichts Anstrengenderes, als diese ewig gleichen Fragen zu beantworten.

 

Ein letztes Mal Yangiobod. Wie oft war ich dort? Sagen wir, aus Schönheit, neun Mal, obwohl es auch zehn oder elf gewesen sein könnten. Aber zehn ist eine glatte Zahl, langweilig mathematisch und steril, ein technisches Pensum – neun ist ungerade, widerstrebt der Ordnung und hat als Produkt aus Drei mal Drei eine heilige Trinität.

Geruch nach Schaf und Weihrauch

Ich habe Fotos gemacht und wurde erwischt, man ermahnte mich, der Typ war außer sich, siehe Nizza, Istanbul, überall, meinte er, wo viele Leute sind, sei das Fotografieren verboten – sie sind hier alle paranoid, und das macht mich ebenso ängstlich. Sie riefen den Начальник безопасности (Leiter der Sicherheit, wieder dieses alte Wort „Natschalnik“) – Väterlich nahm er mich an der Hand, über den Basar, ich hatte schon Angst, er würde mich zur Miliz bringen. Er wollte meine Daten aufschreiben, bis ich ihm gesagt habe, in einer Woche flöge ich ab und dies sei mein letztes Mal – dann ließ er mich laufen.

Später landete ich bei der Miliz, weil ich außen (!) Fotos gemacht hatte, der Natschalnik kam und schaute mich mitleidig an, Alisher musste meinen Pass – den ich nicht dabei hatte, blöderweise, ein gravierender Fehler – dorthin bringen.

Erkenntnis: Man muss eine gewisse Fähigkeit entwickeln, den Leuten zu sagen, was sie hören wollen über ihr Land, dabei naiv und klein spielen, dann werden sie eigentlich immer ganz nett, auch wenn ihre Machtposition tatsächlich Respekt bis Furcht einflößt.

 

Fragmente

Als ich mit einigen der Volontäre von „Shum bola“ unterwegs war, sah ich in den kleinen Sprinkleranlagen bei Oybek Regenbogen in den Wasserstrichen. Ich hatte mich mit drei von ihnen noch einmal getroffen, eingeladen waren alle. Sie sagen, eine Frau soll bis zum Ende ihres Lebens ästhetisch und schön aussehen, dass auf den Banknoten keine Schriftsteller zu sehen seien, weil die immer gegen die Autoritäten waren, und dass es Usbeken verboten ist, sich tätowieren zu lassen. Wovon maximal die Hälfte stimmt, bloß welche?

 

Bierentwicklung: „Sarbast“ von Carlsberg Uzbekistan war mir anfangs ein eklige Brühe, die ich nicht getrunken habe, am Ende ein völlig normaler Geschmack, so gewöhnt man sich an alles, selbst ans Bier.

 

Peter Herbst, der ZfA-Lehrer in Fergana, der nächstes Jahr nach Taschkent versetzt wird, sagte zu mir zum Abschied (nach meinem Friseurbesuch): Jetzt siehst du wieder aus wie Ende 20. In Fergana, meinte er, zu „Shum bola“, hätten ihn die Mädchen dann gefragt, wer denn der „ältere Herr mit dem Bart“ sei – Bärte gelten als Alterssymbol.

 

Ich habe noch einmal für diese Lehrerin Aufnahmen eingesprochen, für das Deutschlehrbuch, man erinnere sich an das erste Mal, das irgendwo beschrieben war. Das Gebäude war betitelt mit „Center (sic) of the Development of Multimedium (sic) General Education Programms (sic) under the Ministry of Public Education of the Republic of Uzbekistan“. Die Lehrerin aber schenkte mir zum Abschied ein riesiges Paket mit Nüssen, getrockneten Früchten, Süßem und Salzigem, usbekischen Spezialitäten, die ich aus Platzgründen nicht alle mitnehmen konnte.

 

Epigraph

Es gab noch bewegte letzte Tage, in denen ich viel unterwegs war und u.a. darum diesen Text nicht habe beenden können. Mit einer wenige Tage zuvor angereisten Deutschen war ich tatsächlich noch ein ALLERletztes Mal auf dem Yangiobod. Am selben Tag, als ich auf der Waage sah, dass mein Koffer noch ein paar Kilo Platz hatte, kaufte ich drei Bücher, die sich hervorragend in meine Sammlung einfügen. Den letzten usbekischen Abend habe ich, wie es sich gehört, teilweise im Bardak verbracht, damit die Stätten der Sehnsucht endlich bedient und fertig, voll gelebter letzter Tage, konnte ich abreisen. Sonntag um 22 Uhr war ich am Flughafen, viel zu früh, aber ich wollte nichts riskieren, unbedingt diesen Flug bekommen, unbedingt weg aus diesem Land, auch wenn ich noch den Begegnungen nachweinte, aber der Wille hinaus war stärker. Mein Koffer wog 30 Kilogramm, dazu einen aufzugebenden Rucksack mit sechs. Die PASCH-Abteilung hatte mir beim Abschied einen weiteren Rucksack geschenkt, so konnte ich mehr mitnehmen als geplant, hatte mehr Platz. In der letzten Woche hatte ich begonnen, alles wegzuschmeißen, was ich nicht partout brauche, um mit möglichst wenig Gewicht über die Grenze zu kommen. Den neuen Rucksack auf dem Rücken, meine Stofftasche „Halldór Laxness“ in der Hand, so lief ich zum Schalter, als der Flug aufgerufen wurde. Sie checkte mich bis Leipzig durch, und wieder meinte sie, den Rucksack könne ich doch mitnehmen. Beide. Sonst hätte ich Übergepäck zahlen müssen, damit hatte ich gerechnet, durfte das aber nur in Sum tun, hätte damit aus der Schlange treten müssen und an anderem Schalter zum staatlichen Kurs wechseln – das war es mir nicht wert und wieder – wie in Bischkek – nahm ich ein Teil mit ins Handgepäck, auf das Risiko hin, dass ich einiges daraus verlieren würde. An der Sicherheitskontrolle später suchten sie einen Flaschenöffner, den ich nicht drin hatte, nahmen meine angebotene Schere in Besitz und quängelten noch über Brotstempel, als typisches Souvenir ließ der nette Herr es aber durchgehen. Vorher Zollkontrolle, danach erst die Ausreise. Ich schwitze sowieso, hasse diese sogenannten Sicherheitsmaßnahmen, sie sind Folter für’s Gewissen, jeder hat Dreck an der Stange, wir suchen den Verbrecher. In einer meiner Taschen fanden sie Münzen, wollten sie sehen, und ich, völlig nervös, keine Ahnung, was sie meinen könnten, räume eine Tasche aus, nichts drin, bis ich in der anderen, oben liegend, mein Portemonnaie mit deutschen und türkischen Münzen sehe, erleichtert, sie sind zufrieden, Passkontrolle, ich darf ausreisen – raus, raus! Sitze nach der Kontrolle – Schuhe aus, alles aus, piept trotzdem, wieder die totale Nacktheit gegen eine willkürlich agierende Macht – elendig lange am Gate, hier gibt es nichts zu tun. Eine Bar gibt es, an die ich mich irgendwann setze, ein Paulaner Hefeweizen trinke und ein Wasser kaufe, und zwei Duty-Free-Shops, von denen einer geschlossen ist. Beim Aufruf erhebe ich mich, mein Herz springt, als ich durch die Ticketkontrolle geleitet werde und ins Flugzeug, Turkish Airlines, endlich wieder Europa! Nirgendwo sagt jemand was zu meinen zwei Gepäckstücken, obwohl doch überall steht: Eine Tasche plus ein persönliches item, ich habe zwei Rucksäcke und eine Tasche, aber bin heilfroh, dass niemand mich anspricht. Istanbul – fast neun Stunden Aufenthalt. Ich sitze, trinke, kaufe mir ein Buch, esse, lese nicht eine Seite, dafür blättere ich in Gorkis „Nachtasyl“, im Original, esse wieder und schlendere mit meinem schweren Gepäck durch die Duty-Free-Meilen, überall haben die Restaurant die gleiche Karte, die Schnitzel mit Kartoffelsalat schmecken aber gut und der sieben Jahre alte Rum auch, nur der Magen-Darm-Trakt ist vom Flug noch immer etwas deformiert, braucht lange, um sich zurecht zu biegen. Dann sitze ich lange am Gate, immer dieses zerreißende Warten zwischen den Welten, man ist nicht hier noch dort, und irgendwann das Boarding, ich sitze in der zweiten, letzten Maschine, schließe die Augen und bete nur noch, dass mein Gepäck auch angekommen ist. In Leipzig zögert die Dame an der Passkontrolle noch, mich mit meinem alten Foto durchzulassen, dann blättert sie, sieht das Visum für Usbekistan, murmelt ein unverständliches Achso und lässt mich passieren, wunderlich, dann mit Herzklopfen ewiges Warten auf das Gepäck, ist es angekommen? ja!, also am Zoll vorbei, der mit einer Familie beschäftigt ist, in die Arme meiner Familie.

Ich kann glücklich sein. Der letzter Akt von Widerstand gegen das Land ist geglückt, ich habe eine Ikone geschmuggelt, im Januar erworben, weder von usbekischer, türkischer, noch deutscher Seite beanstandet, ich habe sie. Ich habe mehreres verschwiegen. Auch, dass ein Europäer Ende Juni verprügelt worden ist vor seinem Haus, offensichtlich geplant. Vielleicht noch andere, kleine Dinge, letztendlich ist das Warum egal, ich will nur nicht unehrlich abtreten, so was darf nicht ungesagt bleiben, aber man soll sich auch nicht zu viele Gedanken darüber machen. Ich für meinen Teil bin da raus – und sollte ich zurück kehren, dann hoffentlich nicht für lange, denn so spannend (spannungsvoll) in allen Facetten Usbekistan auch ist, so sehr man den Rand des Blickfelds umschreiten, ermessen, erforschen kann, so weiß ich doch, wo meine Heimat liegt, und das ist Deutschland. Hier liegen die Natur, gesellschaftlichen Debatten, Geschichte und Kunst, mit denen ich mich befasse, die ich kenne, es wäre schwierig für mich, das Land für immer zu verlassen.

Das sage ich jetzt. Jetzt heißt ausruhen, entspannen, im Oktober beginnen die Studien, ein nächster großer Schritt – und von allen großen Schritten soll Usbekistan nur einer gewesen sein, damit kann man enden.

Abgeschossen

Es gab ein paar kühle Tage, seltsam, sagte man, im Juni. Jetzt sind es wieder über 30 Grad, die Chilla beginnt vielleicht, andere Dinge neigen sich ihrem Ende zu. Das Ilkhom hat Pause, ich war beim Saisonende dabei und melancholisch verzaubert, ich denke, ich sollte beim nächsten Mal davon berichten, ein letztes Mal Theater.

Die Arbeit ist angenehm geregelt, das letzte große Event, unser Sommerfest, ist vorbei – was für ein Aufwand, und ich habe mir in der einen Woche praktisch einen ganzen Arbeitstag gespart – für mich, freilich, gibt es kein Konto für Überstunden, dafür nehme ich mir den ganzen August frei, weil es so wenig für mich zu tun gäbe und ich lieber in Deutschland sein mag als hier, das Leben wird sehr anstrengend, und alles im Blick auf den nahen Abschied wird noch zäher, als es eigentlich schon ist. Sommerfest, sagte ich. Im Vorhinein war bereits klar, das würde alles ein bisschen kompliziert werden, weil knapp organisiert – Mitte Mai, als ich zum Team dazu stieß, gab es nur einen verwirrten Zeitplan von Anfang April, die Hälfte Fragezeichen, seitdem hatte sich niemand mehr um irgendetwas gekümmert. Ich saß also brav in den Meetings und ärgerte mich, dass niemand etwas tat, kümmerte mich um meinen Teil – Volontäre suchen, mit einer Lehrerin Liana das Programm erstellen – hatte noch mit einigen Nachwehen aus der Programmabteilung zu tun und kam deshalb sehr schleppend in den Vorbereitungsprozess hinein bzw. fragte mich nicht wirklich, was anderes könnte ich tun, sollte getan werden. Da sich diese Frage auch die anderen nicht zu stellen schienen, blieb man dann plötzlich allein, als die Leiterin der Sprachabteilung, de facto in dem Fall Projektleitung, eine Woche vor dem 17. Juni nach Moskau abreiste – zugegeben, zu ändern war das nicht – und erst am Tag vorher zurückkommen sollte. Am Montag fragte mich der Verwaltungsleiter, Felix, Ich will jetzt endlich wissen, was passiert da, was müssen wir von der Verwaltung machen? Als er am Nachmittag Zeit fand, ging ich mit ihm das gesamte Gelände ab, erst theoretisch, auf einem weißen Blatt Papier, dann praktisch in der heißen Nachmittagssonne. Um Sieben waren wir fertig und ich schuftete mit dem Hausmeister Zafar noch 1200 Halbliterwasserflaschen in den Keller, die uns Nestlé dankbarerweise nur vor die Tür gestellt hatte, weil sich niemand dafür zuständig befunden hatte, für einen Transport ins Haus zu sorgen. Schrieb noch ein paar Mails, dann war es Acht, und der Stresspegel gesetzt. In den nächsten zwei Tagen war ich also praktisch Ansprechpartner für die Verwaltung: Wo wie viele Tische/Stühle, Wer von der Technik, Hausmeister, Putzkräfte wird wann, wo gebraucht, Wie bringen wir das an, Wer ist dafür zuständig, wollte gleichzeitig die Listen und Einsatzpläne für die Volontäre fertig machen, traf mich leicht durcheinander mit ihnen, half den anderen Abteilungen, die bei keinem Treffen dabei gewesen waren, mit allgemeinen Informationen, besprach die organisatorischen Details mit den Kolleginnen der Sprachabteilung, als müsste ich auch das Catering abwinken, und dabei hatte ich keine Zeit mehr, meine Moderation auf der Bühne vorzubereiten. Glücklicherweise war ich hier nicht allein, sondern bekam eben diese Liana zur Seite gestellt, die sehr aktiv alles vorbereitete, sodass mir nur die Improvisation übrig blieb. Am Mittwoch hatte ich leider versprochen, um 18 Uhr das Plauderstündchen zu übernehmen und anschließend einen Teil des Pub Quiz‘, Donnerstag endlich fühlte ich mich elend, und musste andere durch Mitleid dazu bringen, dass sie mir Aufgaben abnahmen, sodass ich um sechs Uhr gehen konnte. Die Leiterin der Sprachabteilung brachte mir am Freitag irgendwelche natürlichen, heilenden Medikamente mit, sodass ich wenigstens durch die Gegend laufen und schauen konnte, ob die Vorbereitungen funktionierten. Wenigstens jetzt, so schien es, war alles in seinem Gange. Der Verwaltungsleiter flitzte umher, Liana machte sich für die Bühne bereit, die Leiterin der Sprachabteilung und ihre Kollegen übernahmen die Koordination von Catering und so gut es ging auch die der Volontäre, denn ich war müde, krank und weil ich mir am Abend zuvor beim Einsteigen in die Wanne das Knie aufgeschlagen hatte – so müde muss man einmal sein – humpelte ich leicht. Zum Glück war das Wetter wieder angenehm, Wolken zerrissen erst, als unser Fest bereits im Gange war und tauchten die Szenerie für einen Moment in Hitze, dann in goldgelben Lack und abends wurde es wenig kühl. Auf der Bühne improvisierte ich, nutzte die Vorlagen von Liana und schaffte es sogar, auf Deutsch und auf Russisch zu moderieren, woraufhin eine der anwesenden Volontärinnen von Shum Bola auf Facebook schrieb: Felix, dein Russisch ist schon fast perfect! Alles gut also, der Botschafter war anwesend und zufrieden, die Veranstaltungen außen und innen waren hervorragend besucht und die Präsentationen der Kursgruppen, die den Hauptbestandteil des Nachmittags bildeten, waren von einer teilweise großartigen Qualität, kreativer jedenfalls, als ich befürchtet hatte – in so einem Land, das Kreativität dogmatisch unterdrückt. Ich strauchelte also durch die Menge, konnte weder zum jungen Zauberkünstler, noch zur Modenschau, die jeweils zweimal im Veranstaltungssaal stattfanden, übersprang die Präsentation der Lehrer, und genoss dafür die Sonne, die Band, die Karaoke – naja – draußen. Später kam ich sogar etwas zur Ruhe und redete bei Grillhähnchen, Obst und Keksen mit Bekannten – auf Englisch. So etwas macht einen glücklich – wenn man, obwohl krank, auf drei Sprachen sprechen kann, dein Einsatz sich ausgezahlt hat und die Leute glücklich sind und sagen, so eine Party habe ich noch nie erlebt, das ist toll. Wir haben auch alkoholfreie Cocktails ausgegeben, aber davon habe ich ebenso wenig Gebrauch gemacht wie von dem Angebot mit dem Büchertausch von der Abteilung Information und Bibliothek oder des PASCH-Quiz‘ zum Goethe-Institut – nun, da ich bei der Erstellung der Fragen dabei gewesen bin, wäre das auch unfair gewesen. Ansonsten bediente ich mich an kaltem Kvas und Wasser und ließ das Ende auf mich zukommen, schon mit zitternden Beinen und keinem Kopf. Aufräumen. Was muss wohin – keine Ahnung. Am Ende bin ich so fertig wie lange nicht mehr. Ich habe 13 Stunden am Stück gearbeitet, bin eigentlich krank und sollte das durch mangelnde Aufmerksamkeit noch einige Tage mit mir herumtragen, obwohl die guten Medikamente noch für zwei weitere Tage reichten, in denen ich versuchte, ein wenig herunterzufahren.

Es war ein langes Wochenende. Das Sommerfest hat mich mitgenommen, die Hitze nimmt mich mit – der unruhige Schlaf, alles Fenster offen für ein bisschen Wind – und ich brauche Ruhe. Wenn ich eines daraus gelernt habe, dann das: Man muss frühzeitig Verantwortungen delegieren, sonst geht man unter. Während der letzten Woche haben mich alles gefragt, Felix, ist das so okay, Felix, wie machen wir das, und hinterher kamen Leute unaufgefordert zu mir und meinte, man habe gemerkt, dass ich eine Hauptrolle gespielt hätte, man bedankt sich, ich bin innerlich stolz, auch wenn ich das Gesicht des Missmuts trage. Als Trost für den Stress bekomme ich Lob aus allen Ecken und dieses rosa Hemd, das mir Liana für die Bühnenmoderation aus dem Projektbudget gekauft hat, plus eine Fliege, die ich aber aus berechtigten Zweifeln noch nicht anprobiert habe.

Flashback, Sonntag. Ich wollte nach langer Zeit wieder raus, in die Stadt eindringen und plane einen Trip zum Ippodrom – der Name klingt schon gewaltig, noch viel mehr, wenn man weiß, es ist ein Basar für Kleidung und Stoffe, hauptsächlich – und nicht nur ein Basar, sondern drei, die aneinander gepflanzt eine unglaublich riesige Fläche ausmachen, auf der die Stoffe in solch hundertfacher Ausführung verkauft werden, dass einem glatt schwindlig wird – das ist der echte Basar, und ich liebe es, mich davon ermüden zu lassen, denn müde wird man schnell auf diesen bebenden Leviathanen der Erde. Ich fahre mit der Metro bis zur letzten Haltestelle, Olmazor, steige auf, in die wieder heiß-heiße Luft, lass mich von einem Taxifahrer schnappen und warte in der steigenden Sonne darauf, dass er Mitfahrer findet. Ich habe mich extra sommerlich angezogen, meine neuen Sandalen, in denen ich barfuß stecke, und eine lange, beigefarbene Hose, welche die Beine vor Sonneneinstrahlung schützen. Ohne Sonnenbrille sehe ich schon seit Anfang Juni nichts mehr. Als wir losfahren, sind es weniger als fünf Minuten, der Fahrer lädt uns irgendwo ab und zeigt nur ins Getümmel. Einer auf dem Hintersitz sprach ein paar brüchige Sätze Deutsch mit mir. Also gehe ich los, umgehängt eine kleine Tasche mit meiner Kamera und genügend Geld, in der Hand eine Flasche Wasser. Hier spannt sich ein großer Markt mit quadratisch angelegten Passagen, die zwischen den bis oben behängten Ladenreihen entlang laufen – fertige Produkte gibt es hier, am Rand warten Verkäufer von Souvenirs, Tand und Schwachsinn, sowie kleine Fast-Food-Buden, die Somsa oder Gumma anbieten. Während ich durch die Zeilen streife – drinnen ist es zu dunkel für die Brille, aber ohne sehe ich nicht richtig – gucke ich mich konstant nach Hosen um – ich will eine aus Leinen für die hohen Temperaturen, und schon im zweiten Geschäft, das ich betrete, werde ich fündig. Sie passt, sieht ordentlich aus und ich bekomme sie zu einem gut annehmbaren Preis – 90.000 Sum, das sind 14 Euro. Weil ich so gut gelaunt bin, lasse ich mir noch einen billigen Strohhut Made in China aufquatschen, den ich gleich aufsetze und merke, meinem Kopf geht’s gleich besser. Wenigstens fasse ich so den Willen, hinüberzugehen, auf den nächsten, angrenzenden Basar, von dem mir der Taxifahrer erzählt hatte, er sei teurer – und tatsächlich finde ich ihn später weit nicht so anheimelnd wie den ersten. Zunächst geht es durch einige sonnige Gassen, mit hartem Schatten, der von den Ständen steil nach unten fällt, und ich bin froh über meinen Hut. Dann mündet der Weg an einen Eingang, ein Portal, und mehrere Küchen werben um ihre Plätze in schattigen Holzpavillons mit „Mikroklima“ – Schläuchen oder Rohren mit winzigen Löchern, aus denen das sprühende Wasser die Luft kühlt und im Idealfall hoch genug angebracht ist, nicht den Besucher nass zu machen, nicht immer erfolgreich. Ich wandere weiter und stoße bald auf eine ähnliche Passage wie drüben, aber mit scheinbar engeren Gassen, oder vielleicht sind sie auch nur mit mehr Zeug vollgestopft. Als ich stehen bleibe und mir Gürtel ansehe, werde ich gleich von drei Seiten gerufen, ein Mann fasst mich im Weggehen am Arm und zieht mich fast gewaltsam zurück, dann gehe ich eben in die andere Richtung fort, ein wenig flotter. Weil mich diese Hemden mit usbekischen Mustern und Farben interessieren, frage ich bei einem Händler nach, das Stück hatte ich schon drüben gesehen, und tatsächlich ist es hier um ein Drittel teurer als auf dem ersten Markt. Aber dieser ist dafür voller, gewaltiger, enger. Auch draußen packt mich die Orientierungslosigkeit und mir bleibt nichts übrig, als mich treiben zu lassen, obwohl ich schon gerne raus würde oder wissen, wo ich bin. Einer Frau kaufe ich noch ein Taschentuch ab, als Schweißtrockner leisten sie gute Dienste. Dann sehe ich rechter Hand eine weitere, groß überspannte Halle, diesmal durch Säulen gehalten, und ebenfalls quadratisch durch kleine Häuserzeilen zu einem Netz aus breiten Gassen getrennt. Hier wehen große Bögen aus Stoff, ich gehe hinein und fühle mich endlich exotisch – links und rechts Schneider, die ihre Stoffe vor der Türe stapeln, die selbst auf großen Tischen vor ihren Kabuffs liegen und träge dem Verkehr der Leute zusehen, das ist doch das, was ich suche. Am Ende finde ich ein allzu nasses Mikroklima und links einen Ausgang, also folge ich dem Weg und gelange an den Rand einer spiegelnden Blechkappe – ein Parkplatz, ein großer. Ich laufe den Weg entlang zu einem riesigen Ark, der vom Eingang des Basars kündet, rechts noch die Rückseite der Läden, hinter mir ein Schriftzug: Abu-Saxiy Bozori, so heißt das Riesenbaby. Und gegenüber ist noch ein Riese – der Bek Baraka, aber das spare ich mir doch lieber. Ich mache noch einige letzte Fotos von den Autokaravanen, die zur Ausfahrt anstehen, da spricht mich am Ausgang einer der Polizisten an und sagt, zeig deine Kamera, du darfst keine Fotos machen. Und dann musste ich, von zwei grünen Hasen schief beäugt, alle Bilder löschen, die ich soeben auf dem Basar gemacht hatte. Glücklicherweise haben sie nicht die Videos sehen wollen, da war nämlich noch das, wo ich einen 500-Sum-Schein verbrenne. Wahrscheinlich würde ich dafür ins Gefängnis kommen, auf dem Schein ist die Amir-Temur-Statue im Zentrum der Stadt zu sehen. Es nützt nichts, an der Staatsgewalt komme ich nicht vorbei, ich beschwere mich auch nicht, grolle ein bisschen, bin aber eigentlich zu beseelt. Und erst im Nachhinein fällt mir auf – da waren überall Polizisten, an jedem Ein- und Ausgang, als müssten sie den Basar besonders bewachen. Später am Tag bin ich auf dem Mirobod-Basar, nun neu eröffnet, und auch hier wird jedes Tor von zwei Männern in Grün mit Schlagstock bewacht. Als wäre Basare zentrale kriminelle Umschlagplätze. Nur Geld tauschen geht dann wohl nicht so einfach. Die Dame, die seit Beginn des Jahres in dieser Beziehung meine Vertrauensperson war, ist seit der Renovierung des Mirobod-Basars verschwunden, und ich weiß nicht, warum. Damals ging ein Ruck durch den Dollarkurs und alle haben gesagt, das war künstlich – welche Währung geht schon für zwei Tage um 15 Prozent nach unten, um sich danach in der Mitte einzupendeln? Jedenfalls ist sie weg, und ich musste mir eine Alternative auf dem Alaiskiy suchen. Vom Ippodrom leicht genervt, wandele ich nun eine fremde Straße entlang, hinter mir das Portal und der riesige Schriftzug, und wie alles überdimensioniert ist wie in weitläufig kalten Industriegebieten, so scheint auch hier die Sonne nur in graublechsilbernen Flächen, und Schatten unter den großen Türmen gibt es keine. Ein Chaos, Autos stehen rings herum, Betonblöcke trennen die Spuren, drei in jede Richtung, aber das ist schon normal für mich. Ich mache lieber keine Fotos, noch immer stehen Polizisten herum, fast habe ich Angst, gefragt zu werden, was machst du hier, wohin willst du – fast habe ich auch noch Lust, nach Quylik zu fahren, ich brauche noch Lebensmittel. Aber als ich ein Auto anhalte und mein Ziel nenne, verlangt er unverschämt viel – wahrscheinlich bin ich weiter entfernt, als ich glaube, ich kenne ja nicht einmal die Richtung. Diese Straße scheint die große Ringbahn um die Stadt zu sein und nach Quylik ist es demnach eine unbekannte Distanz geradeaus, aber ob ich in die rechte Richtung blicke? Ein wenig noch laufe ich die fußgängerfeindliche Strecke entlang, entschließe mich doch, zum Mirobod zu fahren, um einzukaufen, denn von dort sind es nur noch Minuten nach Hause.

Angekommen, erlebe ich einen leichten Schock. Der Basar ist wieder unter den Schirm gezogen, in dessen Stahlstreben vorher die Vögel so laut geschrien haben, je abendlicher, desto lauter. Jetzt schreien keine Vögel, wer weiß, wie sie die fern halten, und es tönt nur leise dudelnde Radiomusik. Die Atmosphäre ist furchtbar, wie ein Supermarkt unter freiem Himmel – alle Waren stecken in blauen Plastikschalen, ich hatte es lieber, als sie sich auf den Tüchern stapelten. Mehr als das Nötigste kann ich nicht einkaufen, sonst werde ich wütend, verlasse diesen Ort, dem alles Leben ausgesogen ist, und schlafe unruhig, unruhig, was habt ihr getan?

Die Woche nach dem Sommerfest beginnt ruhiger. Alles renkt sich wieder ein, und wir sind gespannt auf SHOS, wie macht sich die usbekische Regierung und was passiert da wirklich. Im Vorhinein wurde so viel spekuliert, schon Wochen vorher Angst gemacht und aufgeplustert – einer Studentin hatte man gesagt, filme besser nicht in der Innenstadt, das war fünf Wochen vorher. Ich habe noch vor 14 Tagen ungestört die Bauarbeiten auf dem Alaiskiy gefilmt. Von einer Ausgangssperre war die Rede, von der ich nichts bemerkt habe, aus zwei Quellen wurde mir gesagt, der Dollar sinke auf 3500 Sum – was bemerkenswert gewesen wäre, hätte die Regierung es geschafft, den natürlich Kurs zu drücken – aber trotzdem sorgte ich vor, sodass ich nicht während der Konferenz hätte wechseln müssen. Zwei Wochen vorher gab es die Meldung, vom 16. bis zum 24. Juni würde die Stadt für jeglichen Auto- und Bahnverkehr gesperrt, alle Inlandsflüge seien ebenfalls gestrichen. Tage darauf dementierte das Innenministerium, auf das sich die entsprechende Zeitung berief, die Meldung. Welche Farce! Als ob die Medien nicht vom Staate kontrolliert würden, als ob sie nicht genau wüssten, was sie tun, wenn sie solche Meldungen in die Welt setzen – und es klappt. Alle machen sich Sorgen, oh, ich wohne außerhalb, was soll ich tun? Die Zeitung hatte dazu aufgerufen, sich über die beiden Tage frei zu nehmen und nach Chirchik oder in die Berge zu fahren, dort sei es eh kühler. Und tatsächlich ist die Stadt über den 23. und 24. Juni deutlich leerer als sonst. Der Tartare, bei dem ich essen gehe, läuft nur auf halber Kapazität und behauptet, es seien ja gar keine Arbeitstage. Wir freuen uns schon, dass niemand uns verbietet, zu arbeiten. Man kommt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, weil man nie weiß, welche Straßen heute gesperrt sind, Taxiunternehmen dürfen nur von 09 bis 15 Uhr fahren. Am ersten Tag laufe ich von der Amir-Temur-Straße rechts die Navoi entlang, sehe dem schönen Spiel der Fontänen vor der Nationalbibliothek zu und genieße den Anblick von der Ampel, über die ich auf den Rashidov-Prospekt gelange – von hier bietet sich die einmalige Sicht auf vierspurige Innenstadtmagistralen, die bis zum Rande des Sichtfelds fahrzeuglos sind, elend leer.

Eigentlich wollte Julia am Tag zuvor nach Buchara fliegen, weil wir dort gerade ein Seminar zu Kulturmanagement ausrichten lassen, zu dem sie Gäste u.a. aus der usbekischen UNESCO-Kommission und des Schweizerischen Büros für Zusammenarbeit geladen haben, um über ihre Arbeit zu sprechen – so soll es eben auch die Direktorin des Goethe-Instituts Taschkent sein, das immerhin alle Kosten des Projekts inklusive Unterkunft und Verpflegung der Teilnehmer trägt. Leider ist der chinesische Präsident früher gekommen, hat sich mit Karimov getroffen und Buchara besucht, sodass die Touristenmetropole für den Tag komplett geschlossen blieb, eine Geisterstadt, meinte Julia, die nur durch einen pfiffigen Taxifahrer auf großen Umwegen zu ihrem Seminar kam. Ausgangssperre herrschte sowieso, unter den Holztüren sah man die Füße der Bürger, die wie Peeping Tom den ihnen entzogenen Blick erhaschen wollten. An den Eingängen der sonst so lebendigen Stadt mit ihren Geschäften und hochpreisigen Touristenführern standen Lastwagen quer, die mit ihrer Wucht die Einfahrt versperrten. Erst abends wurde alles wieder geöffnet, die Dame von der UNESCO, die solange in einem anderen Hotel warten musste, kam endlich hinein, und Julia, glücklicherweise pünktlich für ihrem Flug, heraus.

Die Tage der Konferenz verliefen für uns sehr ruhig. Ein ungewöhnlich bewölkter Himmel gab Anlässe zur Spekulation, ob man da chemisch nachgeholfen hätte, weiß ich, ob das funktioniert. Am Donnerstag war ich abends aus, zu einer Abschiedsfeier, und die eingeladenen Usbeken verließen die Runde rasch wieder, aus Angst, während SHOS zu lange weg zu bleiben, ich blieb bis Elf und auch mich störte keiner. Natürlich hatte ich meinen Pass mit. An der Straße, die einen Zugang zu jenem … bietet, der wiederum zum Flughafen führt, stehen ebenfalls hohe Laster, Autos dürfen nicht passieren. Was von dem hoch angesetzten Treffen bleibt, ist mehrheitlich negativ. Ein riesiges Hyatt Regency (Wer dort leben soll, ist mir unklar), kalte, tote Basare, die Stadt hat sich ein noch gleicheres, unbestimmteres, usbekischeres, banaleres und leereres Gesicht gegeben als zuvor – allein die Renovierung so vieler Abdeckungen über den Schaufenstern, beige laufende Aluminiumbänder, die plötzlich überall zu sehen sind, war grausam. Der Alaiskiy sieht nun aus wie ein Märchenschloss, auf seinem Markt stehen Pferdewagen und in ihnen ausgestellte Waren, ausgestellt wie die ganze Inszenierung. Als ob hier jemand Obst auf einem Pferdewagen transportierte! An jedem Produkt hier sind Preise genannt, daneben gibt es eine Halle mit Brot, das ausgestellt ist wie die Roggenprodukte einer deutschen Bäckerei. Mein Gott, wir sind auf einem Basar, der Preis steht nicht fest und das Weißbrot ist überall dasselbe. Ich empfinde es als Stich in der Brust, wenn sie so tun, als sei dieser Markt etwas sehr traditionelles und auch, wenn es den Leuten nichts auszumachen scheint. Jeder Idiot sieht, wie tot das Ganze ist, da gehe ich lieber in den Supermarkt – da wird mir wenigstens nichts vorgeheuchelt. Ja, es gibt neu asphaltierte Straßen, ausgebesserte Bürgersteige, … Für mich wirkt alles wie die Manifestation der Unfreiheit, die den Usbeken aufgezwungen wird, nur mit der bösen Zunge, das ist alles für euch und euer Wohle. Die neuen Bushaltestellen, klimatisiert, an zentralen Punkten im Netzwerk, sind Glasvitrinen, Terrarien, ein Käfig mit zwei Bänken und der Illusion der Freiheit. Hier halten keine Stäbe den Panther, und wenn er gegen das Glas rennt, dann sagen sie, Lauf, lauf, oder wir müssen annehmen, du willst nicht.

Es ist eine leere Zeit, in der ich schreibe und mich beschwere. Es ist eine Zeit, in der Leute die Stadt verlassen, um über den Sommer nicht zu verbrennen – ab Ende Juni sind plötzlich alle Deutschen weg, außer wenigen Nachzüglern. Die letzten gemeinsamen Treffen und Essen, von denen es so viele gab, einen Hauch der Wehmut hängt an ihnen, wie wenn man Freunde verliert, und doch überschattet die Härte des Moments den Abschied. Irgendwie bin ich streng, kühl, steif, ich höre auf, mich zu wandeln. Als ich vom Ippodrom zurückkam, war die Erschöpfung eine andere wie die nach Shahrisabz, nach meinem ersten Quylik-Besuch oder gar das erste Mal Chorsu im September. Mich begann es zu reizen, dass überall Stacheln sind und die Tritte auf diesem Boden schwer, und ich war froher, wegzukommen, aus meiner stillen Heimat, dem schon längst Gekannten, als gesättigt vom Gesehenen. Ich nehme so viel auf, immer noch, aber ich spüre die Neugier versiegen und die Rufe nach Ruhe lauter werden – Ruhe, wie ich sie nicht nur alleine finde, einfach das Bekannte, an das ich mich klammern kann, denn das Land, die Stadt sind immer noch schwer und ich ein leichter, naiver Charakter. Meine Augen brennen vor Müdigkeit, weil sie alle Bilder so tief aufnehmen. Andererseits weiß ich genau, was ich vermissen werde, wenn ich zurückkomme: die omnipräsente Fremde, überall die Gesichter, deren Schnitte anders sind als meine, der Hauch von Exotik inmitten der pulsierenden Metropole oder den gähnend leeren Zeilen hundert Meter weiter, aber immer Menschen, die ich nicht satt werde zu beobachten, bestaunen – hübsche Mädchen, stolze Frauen, Koreaner und Kasachen, die Usbeken barfuß in ihren Sandalen, daneben russisch aufgetakelte Mädchen, die mit trippelnden Schritten den Bürgersteig entlang rotieren, und junge Schülerinnen in ihren Schwarz-weißen Kostümen, wie sie auf den Bus warten. Braungebrannte Arbeiter im dreckigen Unterhemd und Shorts, Anzugträger bei 40 Grad und kein Schatten – all das nehme ich gierig auf, denn das Anders gefällt mir, weil es nicht langweilig wird. Ich hätte die Fremde gerne länger genossen.

Schlussstriche ziehe ich beim nächsten Mal. Aber die letzten Wochen zu rekapitulieren, lässt sich in folgenden Licht sehen: Der Alaiskiy ist tot, der Mirobod ist tot, alle sind weg, hinterlassen das Land in Katerstimmung – das böse Ende hat uns allen klar gemacht, wo wir uns befinden. Ja, ich bin ein wenig frustriert, und müde sowieso, freue mich auf meine Heimkehr und ein Leben in Leipzig, der Stadt, der ich nach wie vor unbedingt erlegen bin, und ziehe die Tage so kurz wie möglich, lasse mich treiben, aber nicht gehen, um nicht plötzlich einzubrechen. Ich spaziere kontrolliert durch die Stunden, mit der Nase im Wind und den Ohren aufgestellt, ich will eigentlich nicht dabei sein, wenn etwas passiert. Und so viel könnte jederzeit passieren. Ein starkes Erdbeben habe ich verpasst, weil ich einkaufen war. Sonst ändert sich nichts. Ich bin auch müde von dieser Form, Blogschreibenmüssen, ich muss, weil ich sonst nichts zu schreiben habe, oder aber, weil nichts so einfach ist, wie Erlebtes zu schildern, man hat einen Faden, das Schwierigste, was zu schreiben, ja, fällt plötzlich weg, man weiß, wo man hin will und die einzige Gefahr besteht darin, sich in seinem Selbstmitleid zu verlieren, oh, ich kenne sie nur zu gut. Der nächste Artikel, das sind dann „Letzte Besuche“ oder „The Last Goodbye to Everyone“, aber das letzte ist es gar nicht. Alle fliegen weg, wie die zehn kleinen Negerlein, husch, bin ich – fast – alleine. Das Deutsche Haus steht leer, für einen Moment, fast alle sind ausgeflogen, die Vögel, die deutschen und viele, mit denen ich in Kontakt stand, doch es ist ein stetiges Hin und Her, mal kommen sie, mal gehen sie, nur die Tendenz, lediglich die Tendenz zeigt in Richtung Leere, aber ich bin nicht der letzte Mensch, der dieses Land verlässt und wenn ich es verlasse, werde ich glücklich sein. Und traurig, aber das versteht sich von selbst. Die Botschaft bietet ein Public Viewing an – Deutschland gegen Italien, am Samstag, im Bardak ist sicher immer etwas los, für den, der freitags oder samstags nach 12 aus der Stille eintritt, und irgendwie wäre es nicht so schlimm, sich zuhause in seinen Computer zu versenken oder sein weißes Blatt Papier anzustarren, bis der Weiße Linien wachsen, irgendwie wäre es auch nicht schlimm, mit ausgedachten Kopfschmerzen im Bett zu liegen und sich vorzustellen, was alles passieren könnte, denn: je weiter die Grenzen, desto freier die Möglichkeiten, wenn keine Bindungen bestehen – die der Arbeit löst sich am 15. Juli auf – dann rotiere ich wahrscheinlich Tage um die eigene Achse. Ich beginne, mich zu lösen, mich zu befreien, damit ich beim Abschied nicht so viel Gepäck habe, schon bin ich in Deutschland und sehe den Moment, It’s time to say goodbye – Davon mehr beim nächsten Mal.

Beginn der heißen Tage

Der erste Schweiß rinnt von der Kopfhaut hinab, erst werden die Haare am Hinterkopf und Nacken feucht, dann sinken die Tropfen langsam am Hals entlang und, wenn sie auf dem Weg nicht stehen bleiben, weiter auf die Schultern oder den Rücken. Bald ist der Hinterkopf gänzlich schweißkalt und man wünscht sich ihn kahl geschoren, das ganze Haupt, einfach um der Verwünschung nasser Haare willen. Die Achseln schwitzen sowieso, auch die Brust und der Rücken, besonders wenn ich mit dem Rucksack unterwegs bin, aber nichts ist so schlimm wie der nasse Kopf, denn die Haare trocknen nicht, lassen sich nicht mit meinem Taschentuch, das jetzt ein Schweißtuch ist, aufwischen – sie bleiben salzig nass, bis ich mich ins Bett lege und auf dem Kopfkissen die Feuchtigkeit an meiner Kopf- und Nackenhaut unangenehm empfinde. Dann folgt eine Nacht im Hin- und Herwälzen, aus Hitze, die noch im Zimmer steckt, weil der Tag sie nicht los lässt, dann kaum ein traumreicher Schlaf und zuletzt wache ich gegen 5 Uhr morgens auf, weil es jetzt plötzlich sehr frisch ist, wenn das Fenster zur Gänze offen steht. Die Sonne ist schon auf und vor wenigen Tagen war es halb Sechs, ich erschrak und dachte, ich hätte verschlafen, so hell stand der Himmel, und es war keine Wolke, mir den roten Strahl der Sonne zu zeigen, der noch einige Gebäude in ihrem Wachen begleitete. Wenn ich zehn Minuten vor Neun aus dem Haus gehe, ist die Hitze schon da.

Der Sommer ist gekommen, um zu bleiben. Wie anders kann man es formulieren, wenn sich auf den Basaren Maul- und Himbeeren, unterschiedliche Aprikosen und Kirschen, Pflaumen, Johannisbeeren, Honigmelonen, Wassermelonen, Pfirsiche und viele andere Früchte, Gemüse häufen? Wie anders kann man es formulieren, wenn die Tage brütend heiß sind, sodass ich an den Wochenenden bei kontinuierlich offenen Fenstern mal ohne Hemd, mal mit, an meinem Computer sitze, dabei grünen Tee trinke oder Früchte esse. Das, und hier kann ich jeden Übermut verstehen, ist wahrlich eine Pracht – wenn auf den Basaren die Händler Schlange stehen, überall sind Früchte zu erwerben, eher überreif als matt-sauer, wenngleich noch nicht so zuckrig süß wie sie wohl im Julia, August werden, die Melonen, und man fühlt sich für einige Momente tatsächlich im Paradies, für das einige Usbeken ihr Land wohl halten. Gerade habe ich eine Honigmelone gekauft, die erste – saftig und kühl, die Hälfte habe ich schon gegessen – hier, in die Früchte, geht gerade der beträchtlichste Teil meiner Ausgaben, aber dafür spare ich an Gemüse, Reis und Kartoffeln habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gekauft, weil eben die Früchte und ein paar Liter Wasser den Magen schon füllen, ohne mehr einer Portion Plov oder Schaschlik zu bedürfen. Bei den „Tartaren“ gibt es seit Mitte Mai auch Okroschka, eine kalte Suppe – das Konzept habe ich schon in Lettland probiert, hier ist es nun Brühe mit Kefir, Gurken, Ei, Fleisch (darf nicht fehlen) und Kräuter – wunderbar, denn alle anderen Suppen machen den armen Körper unnötig schwitzen. Wenigstens im Institut ist die Luft gut gekühlt, unsere Klimaanlage arbeitet unermüdlich, für meinen Geschmack ein wenig zu sehr – es ist ein Schock, zum Mittagessen aus dem Gebäude zu treten und gegen die Hitze wie eine Wand zu laufen. Im Büro müssen ab spätestens Drei die Rollos herunter, sonst verglüht man. Die Hitze lässt erst wieder ab Sechs nach – um Acht geht die Sonne unter – sukzessive wird dann die Luft kühler, der Himmel angenehmer und die Temperatur sinkt auch nachts nicht unter 20 Grad – und das ab Ende Mai. Die große Hitze steht uns noch bevor, die Usbeken nennen sie „Chilla“ – weil dann wohl nichts übrig bleibt als Sitzen, Tee trinken, Hemden vollzuschwitzen und zu schlafen.

Die Sonneneinstrahlung verwöhnt meine kalkweiße Haut mit etwas Bräune – freilich alles im Rahmen meiner deutschen Möglichkeiten, denn je heißer es wird, desto mehr juckt es mich und ich sehe die Röte vorsichtig sprießen. Der Sommer ist auch die Zeit des Müßiggangs und der leichten Gedanken – es ist eine Zeit, in der alles wegschwimmt, weil die Sonne so lange braucht, unterzugehen, alles wird langsam und gemächlich, nur der Verkehr bleibt dreckig und schwer. In der Hitze verschwimmt alles wie ein Traum. Die vom Anfang meiner Erzählungen bekannte Uhr vor dem Goethe-Institut, deren Thermometer nicht sehr verlässliche Daten anzugeben berühmt ist, war endlich wieder an und zeigte mir einmal 45 Grad. Jetzt ist sie wieder aus. Laut Google sind es bis zu 42 Grad am Tag. Da wird es verständlich, wenn die Betonflächen und Parkplätze mit einem Gartenschlauch abgespritzt werden, wenn überall – vornehmlich an Plätzen, wo sie gesehen werden – Wasserpumpen stehen und das umliegende Gras verschwenderisch bespritzen, und wenn diverse Restaurants draußen zwischen den Reihen der Gäste von oben einen Sprühnebel regnen lassen, um die Luft abzukühlen. das könnten sie ruhig auch in den Bussen anbringen. In diesen heißen Tagen ist der Unterschied zwischen einem Mercedes-Bus und dem Fegefeuer geringfügig. Einer postete neulich, warum muss ich 50.000 Sum für eine Saunasitzung bezahlen, wenn ich für 1.200 Bus fahren kann? Die Mercedes sind an die Hitze nicht gewöhnt und wenn die Maschine schnaufend steht, an einer Ampel oder Haltestelle, wenn der Luftzug des Fahrtwindes durch die engen Fenster plötzlich stoppt, bricht wie auf Kommando der Schweiß wieder aus, und ich bin besonders anfällig, jedenfalls im Vergleich zu den Usbeken. Einmal und nicht wieder. Danach war mein Taschentuch so nass, dass ich es auswringen konnte und nicht zurück in die Tasche stecken wollte. Weil die Busse nun keine Alternative mehr darstellen, steige ich auf die Metro um. Der Vorteil ist zweifacher Natur: Ich komme aus dem Institut an die grelle Nachmittagshitze, lenke meine Schritte um kaum 50 Meter nach rechts und kann in den kühlen Untergrund treten. Zweitens: Ich vermeide die anstrengenden Staus, die Sonne auf den spiegelnden Blechdächern und die Menschenmengen im Straßenverkehr. Ich muss mich halt daran gewöhnen, dass meine Taschen angeguckt werden – Durchsuchung kann man diese lächerlichen Geduldsrepressalien ja nicht bezeichnen – dass ich hin und wieder meinen Pass zeigen muss. Dann geht es abwärts, dort ist es kühl. Wenn ich auf dem spiegelblanken Boden der Haltestelle Adbulla Qodiriy nur wenige Minuten warten muss, in der Weite der Halle nur noch wenige Fahrgäste im Vergleich zum Raum, werde ich unruhig, und ich weiß nicht, warum.

Immer wenn ich in der Taschkenter Metro sitze, muss ich an Paris denken. Ich weiß nicht woran es liegt – ob es der Geruch ist, das Rattern, unebenmäßig, das Großstadtgefühl oder ein Nachleben der ersten Stadt, in der ich andauernd in diesen Untergrundschächten gefahren bin. Vielleicht riechen alle Metros gleich, nach abgesessenen Sitzflächen, schwitzigen Metallgriffen und einem nostalgischen Geruch nach Altem, nach Geschichte. So viele Menschen, wie sie hier ein- und aussteigen, sie alle lassen einen Teil ihres Parfüms, ihrer Hautzellen, vielleicht nur als geringes Gefühl, im Wagen zurück, wenn sie aussteigen, und diese Vielzahl an Menschen – unter ihnen dutzende, hunderte bemerkenswerte Personen, die man nie anders kennen lernt als durch diesen typischen Metrogeruch – spürt man bei jedem Atemzug, atmet man selbst tief in die Lungen ein. Vielleicht sammelt der Untergrund die Gerüche der Menschen, sodass er überall gleich riecht. Und auf den Bahnsteigen schieben Frauen mit Kopftüchern unablässig ihre Wischtücher vor sich her, auf den Stiel gestützt, und der Steinboden glänzt und glänzt und glänzt. Dann steige ich in Ming O’rik aus – Tausend Pfirsiche – und muss umsteigen, bevor ich den richtigen Ausgang nehmen kann. Auf dem Weg zu Oybek, die quer drüber liegt, folge ich der Traube an Menschen die Treppe hoch und den langen Gang entlang, der zum Atombunkernetz gehört – extravagant gestaltete Sowjetlampen leuchten stolz den Weg, das Surren der Klimaanlage ist nicht fern. Auf dem Boden ist es nass, auch jetzt noch, Mitte Juni, und die Leute versuchen, die weitläufigen Pfützen zu umgehen, die nicht höher als ein oder zwei Millimeter stehen, aber durch ihre ständige Anwesenheit schon Schlieren auf den Kacheln hinterlassen haben. Dass mittendrin zwei, drei Eimer stehen, die Tropfen aufzufangen, mag da lächerlich wirken. Von den Gleisen zu Oybek kann ich nun noch eine Treppe nach oben laufen, durch die schwere Hängetür und die weite Unterführung auf die richtige Seite der Straße laufen. Das ist manchmal nicht einfach, denn obwohl die Orientierungspunkte angegeben sind, weiß man, erst recht, wenn man neu in der Stadt ist oder diese Station selten anfährt, selten, welcher Ausgang der richtige ist. Ich finde meinen inzwischen. Der Weg führt mich vorbei an „Les Ailes“, einem Fast-Food-Laden, dann folgen ein Möbelgeschäft, noch eines und eins für Kleider, ich biege links beim Mini Market in die Mahalla, folge der Straße nach rechts und lasse mich an der Müllsammelstelle vorbei durch die Bäume, den Schatten treiben, der mir auf der Straße verwehrt geblieben wäre. Zentral auf die scheppernde Eingangstür zu, die drei Stockwerke hoch und dann – in der Wohnung – beginnt das Schwitzen und hört nicht auf, ehe ein guter Wind mich im Durchzug kühlt.

Ich habe keine Klimaanlage. Die Wohnung heizt sich über den Tag signifikant auf, und ich bin machtlos dagegen. Elmira und Alisher wohnen zur Zeit eine Tür weiter, wo ich meinen Aufenthalt vor dem Umzug im November begann, weil die Wohnung wieder einmal nicht vermietet ist, also habe ich dir drei Zimmer für mich allein. Es sind richtigerweise zwei: von der Eingangstür aus öffnet sich links das große Wohnzimmer mit zwei Nischen, je einem Bett und Schrank – hier schliefen die beiden, als wir zu dritt wohnten. In die andere Richtung geht ein schmaler Gang links am Bad vorbei in die Küche, deren Fenster genau gegenüber von dem der einen Nische liegt. Gegenüber der Badtür, den Raum zwischen Küche und Wohnzimmer zu einem Rechteck ergänzend, liegt mein Zimmer. Hier ist es üblicherweise am wärmsten. Nachmittags fällt hier scharf die Sonne ein und nur ein Drittel der Fensteröffnung ist auch aufsperrbar, sodass der Wind meist langsam geht und durch den leichten Vorhang gedämpft wird, der den Sonneneinfall mindern soll. Rollos habe ich keine. Ich dusche zwei Mal am Tag, doch es wird langsam zu wenig. Durch den Zug halte ich es für besser, ein T-Shirt anzuziehen, und meist ist bald sehr warm darin. Wenn ich, wie jetzt, am Computer arbeite, erhöht sich die Raumtemperatur noch einmal mehr. Ich glaube, ich werde nach diesen Blogs nur noch im Institut arbeiten und mir einige Arbeit mit nach Hause nehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich so sitzen und schreiben kann, wenn es noch wärmer wird – und das wird es. Die Chilla hat noch nicht begonnen. So wie ich es verstehe, sollte ich tagsüber am Tageslicht im Schatten wandeln, um der Wohnungshitze zu entkommen. Ich habe bereits meinen Bart angemessen gestutzt, weil ich dachte, es würde mir Kühlung verschaffen. Ich habe mir Sandalen gekauft, für vier Euro, in denen ich dann barfuß gehen kann, und falls ich Socken brauche, dann nur weiße, dünne. Eine Kappe fehlt mir noch, gegen die Sonne. Wahrscheinlich werde ich mir eine zusätzlich Hose besorgen. Eigentlich dachte ich daran, mir eine lange Leinenhose maßschneidern zu lassen, also einen Investition in die Zukunft – aber bei den zu erwartenden Graden sind kurze Hosen vielleicht besser. Immerhin wirkt meine Hautfarbe gesünder, bis auf die paar rötlichen Stellen. Ein Problem, vielleicht das Problem der nahen Zukunft ist der Schlaf. Mein Zimmer hat um Zehn oder Elf eine Temperatur erreicht, die es mir möglich macht, einzuschlafen – nichtsdestotrotz schwitze ich, wache auf, fühle mich morgens zerknirscht. Unter meinem Kopf lege ich austauschbar zwei kleine Handtücher, die den kalten Schweiß besser aufsaugen als der Kissenbezug und ein angenehmeres Gefühl bieten. Meine Wochenenden werde ich auf längere Nächte, kürzeren Ausgang beschränken. Vielleicht sind all die Maßnahmen einfache Paranoia, aber wenn ich mir meinen Schweißablass und meinen Wasserkonsum angucke, dann bekomme ich leichten Schwindel, wie das wohl weitergehen mag – ich bin immerhin noch bis zum 25. Juli da. Vor wenigen Tagen habe ich das erste Mal auch nachts noch geschwitzt. Bruch.

Im Goethe-Institut ist noch keine Ruhe eingekehrt. Uns steht die letzte große Veranstaltung bevor, das Sommerfest, zu dem 800 Teilnehmer erwartet werden. Weil wegen SOC die Universitäten schon am 10. Juni geschlossen wurden und alle Studenten ohne Taschkenter Registrierung auf ihre Dörfer zurück müssen, weil außerdem Ramadan ist, wissen wir nicht, wie viele tatsächlich kommen werden – aber die Planung ist aufwendig. Eine Bühne mit Wettbewerben zwischen den Kursgruppen, eine Make-Up-Künstlerin, die sieben 20-minütige Workshops durchführt, Carlsberg, die uns Kvas sponsern, korzinka.uz (der Rewe Usbekistans) mit Grillhähnchen, eine Bar, die jedem Teilnehmer einen alkoholfreien Cocktail anbietet, im Veranstaltungssaal gleichzeitig ein Zauberkünstler, der zweimal auftritt, eine Modeschau der Hochschule für Kunst und Design in Taschkent, sowie irgendwo einen Büchertausch und ein Quiz zum Goethe-Institut. Ein quirliges Fest soll es werden, und der Organisationsaufwand ist absehbarer Weise groß. Da wegen Fehlzeiten, Urlaub, Feiertagen etc. die Personalie der Sprachabteilung, die sich einzig für das Projekt zuständig zeigt, im Mai stark zerrüttet wurde, begann die Arbeit sehr langsam, soll heißen: Als ich dann Mitte Mai zum Team dazu stieß, war außer den Genehmigungen noch so gut wie nichts fest, überall standen Fragezeichen und immer noch wird es sehr viel spontaner, so habe ich das Gefühl, als letztes Jahr. Damals war es eine Nacht der Kultur, organisiert von den Ortskräften der Öffentlichkeitsarbeit und der Programmabteilung, die wesentlich mehr Erfahrung in Events solcher Größenordnung haben und auf den Fotos sieht alles sehr schick aus. Dieses Jahr erwartet uns eine unterhaltende Version, ich mache natürlich trotzdem mit, ich weiß ja, wie viel es bedeutet, hier eine Veranstaltung erfolgreich zu Ende zu bringen – weniger für uns als für die Teilnehmer. Höchster Zweck ist allerdings Werbung, denn – ich erwähnte es vielleicht schon irgendwo – für die Gehaltserhöhung für die Mitarbeiter müssen wir selbst aufkommen, indem wir die Kosten für die Sprachkurse erhöhen – und verlieren Kunden. Es ist eigentlich eine Schande, dass unsere Mitarbeiter nur die Hälfte von dem bekommen, was ihnen zusteht – ich erinnere: Wir müssen in Landeswährung auszahlen, nach staatlichem Kurs. Die Hälfte behält der Staat. Aber eine weltweit agierende Organisation wie das Goethe-Institut kann nicht auf einzelne Fälle wie diesen Rücksicht nehmen, und wenn es das täte, und die Spannung noch größer würde, müssten sie irgendwann sagen, sorry, wir können uns euch nicht mehr leisten. Also ran an die Bouletten, das Sommerfest wartet, danach noch einige Berichte und meine Tätigkeitsbeschreibung für kulturweit, und Büros aufräumen, Ruhe hoffentlich…

Andere Projekte warten nicht auf uns. Zu einer Sommerschule in Buchara wird Julia kurz hinfliegen, für einen Vortrag, das war’s. Im April noch hatte ich von einer neuen Ilkhom-Inszenierung gesprochen, die fiel aber aus. Offiziell hieß es, die Regisseurin musste aus Krankheitsgründen zurück nach Nowosibirsk fliegen, die Schauspieler erzählten mir anderes, dass sie das Theater aus Geschmacksgründen verlassen habe. Da musste ich grinsen, schade natürlich, hoch schade, aber sie wird ja nachgeholt, die Aufführung. Nur wann genau – irgendwo im Herbst – und selbst, welcher Stoff, ist noch unklar. Der Prozess und der Brief an den Vater waren es ja, die abgesagt wurden, Das Schloss steht nun im Raum – ich könnte mir auch eine Dramaversion der Verwandlung in diesen Hallen wunderbar vorstellen. Hauptsache, sie machen es. Von einem Besuch unter den mehreren, die waren, möchte ich noch erzählen – Ibsens Gespenster, zu denen ich im Februar gehen wollte. Jetzt, Ende Mai, wurde es erst wieder aufgenommen, im Juni spielen sie es noch einmal. Freud hätte sein höllisches Vergnügen gehabt an dieser Inszenierung, in der scheinbar jeder mit jedem Sex hat, Blowjobs angedeutet werden und ein zentraler Charakter, Oswald, das erste Mal in einem Bademantel, einer Unterhose und zwei Strapsen auf die Bühne kommt. Alles, was Ibsens Vorlage an psychosozialer Tiefe bietet, wird hier schonungslos ausgeschöpft – so sehr, dass die Schauspieler gar nicht mehr hinterherkommen mit ihrem Springen und Tanzen, diabolischem Tanzen, verteufelten Sprüngen – es mag der einzige Kritikpunkt an der Performanz sein, dass ihre Bewegungen oft hektisch sind, die Ruhe das Extreme im Bild noch verschärft hätte, hier aber in der Panik und Getriebenheit der Spieler verwischt, sich zu einem unscharfen Bild verzerrt, während doch die Anlage so großartig und – für usbekische Verhältnisse – geradezu visionär ist, weil doch der Text, ein klassischer Text, auf ein Minimum zusammengekürzt wurde, um den Bildern und Allusionen Raum zu geben, sich zu entfalten – das zerstört die Hektik im Kleinen, im Großen darf man nicht meckern, schon gar nicht beim Ilkhom, das unter schwierigsten Bedingungen seine künstlerische Existenz aufrecht erhält. Ein Stück aus dem Repertoire darf im nächsten Jahr nicht mehr gezeigt werden, weil es mit Vergewaltigung, Selbstmord etc. die Normen und Geister der usbekischen Kleinbürokraten sprengt und empört wenden sie sich ab. Was der Schweizer Botschafter nach der Ermordung des Gründers und Leiters Mark Weil im Jahre 2007 gesagt hat, stimmt noch heute: „Ilkhom theatre is the only place in Tashkent where some thinking is going on. The rest of the country is just affirming, stating, showing off, but there is no reflection.“ Ibsens „Gespenster“ spielt man hier seit drei Jahren – ein Wunder, finde ich. Denn während die Anspielungen in den meisten Stücken nur anekdotenhaften Charakter haben und jederzeit ausgelassen werden können, gibt es einige Inszenierungen, deren Protest oder Provokation immanent sind – so ein Stück des Nationaldichters Abdulla Qodiriy, der im 20. Jahrhundert das Schicksal eines angedeutet Homosexuellen schildert, den die sozialen Konventionen der usbekischen Gesellschaft ihm unverständlicherweise sein ganzes Umfeld zugrunde ziehen, wobei die usbekische Ordnung von Tradition und zwanghafter Anpassung aufs Schärfste kritisiert wird – aber in einem Maße an Intelligenz, dass man von der Gewalt des Stoffs, wohl auch als Patriot oder Zensurwächter, nicht kalt gelassen wird – immanente Provokation. So auch unser Ibsen. Man mag, hatte man sich nicht mit dem Stoff beschäftigt, überfordert gewesen sein vom Minimalismus, mit dem sie die gekürzten Passagen vortrugen, das Ausmaß des Unverständnisses kann ich, aufgrund meines sowieso eingeschränkten Verständnisses der russischen Sprache, nur sehr bedingt beurteilen. Im Zentrum stand das Bild, dazu wurde der Text wie ein Brandbeschleuniger gespritzt, als bedürfe es Ibsen gar nicht, die Geschichte zu erzählen – und als wäre es eine urmenschliche Geschichte von Trieben, Gewalt und einem Fluch, der sich von Mensch zu Mensch fortpflanzt wie ein Krebs, ein Geschwür, dass ganze Gesellschaften erfassen kann, die wie Oswald am Ende im Lichte der aufgehenden Sonne das Beil nehmen und durchdrehen.

Das Ilkhom wird mich bald verlassen. Im Juni sind schon nicht mehr alle Inszenierungen auf dem Spielplan, ab Juli machen sie zu und haben bis September Pause – einer der Schauspieler meinte neulich zu mir, er wolle Urlaub, sehr, und trank noch einen Schluck Wodka. Das Schicksal des Theaters ist klar. Es ist gegen das Establishment und gegen die von oben diktierte Ordnung – damit muss es über kurz oder lang scheitern. Ihre Ausdauer ist das Bewundernswerte an ihnen, ihre Überlegenheit, trotz allem, und wie klug sie die Autoritäten hintergehen. Es ist jetzt sowieso zu warm, sich anzustrengen oder auszugehen. Ich freue mich auch auf den Urlaub, auf die freie Zeit mit Büchern, leerem Papier, Filmen und meiner Wenigkeit, die ich immer fest dabei habe wie ein zusammengepresstes Stück Taschentuch in meiner Faust. Es sind nur noch Wochen bis zur Sommerschließung, die Zeit wird schwer und heiß. Was erwartet mich? Weitere Wochen bei 35 bis 40 Grad (oder irgendwann auch mehr) am Tag, 10 bis 15 Sonnenstunden pro Tag und einer Regenwahrscheinlichkeit von zehn bis null Prozent. Ich werde plötzlich dankbar sein, dass auf jeder Wiese im administrativen Zentrum eine Sprinkleranlage pro Quadratmeter steht. Ich werde auf das Busfahren verzichten, stattdessen Metro oder Taxi nehmen. Ich werde literweise Wasser, Tee und Saft trinken, und Früchte essen. Ich werde nachmittags meinem Zimmer fernbleiben, werde, wenn ich nach Hause komme, das Fenster aufreißen und für Durchzug sorgen, werde es beim Einschlafen sperrangelweit offen stehen lassen und erst, wenn ich klamm aufwache, in der plötzlichen Kühle, die in den Morgenstunden den schweißnassen Körper durchzieht – weniger als 20 Grad können es gar nicht sein. Da gilt es, das Fenster zu schließen und traumlos schwer die letzten Stunden bis zum Aufstehen, Essen, Arbeit ertragen. Mit dieser Aussicht wälze ich mich noch einmal in meinem Bett und ermahne mich zu geringerer Larmoyanz.

Das usbekische Maß

Mai. Es sei ein nasser Frühling. Seit Tagen schwebt morgens das Licht unter einer Wolkendecke, es regnet und nachmittags folgt die Sonne über blendend blauen Himmel, der immer ausschaut, als habe man ihn frisch gestrichen, aber auf jeden Fall gesund – sodass man seinen Augen gar nicht trauen will, hängt am nächsten Morgen die dichte Decke wieder vor dem Fenster. Aber die Temperaturen sind angenehm, kühler als von den Hiesigen erwartet – wie ein leichter Junisommer. Die Sonne kann aber schon ganz schön warm werden, 30 Grad vielleicht. Ich fühle mich gut, zumindest nach einer solch einnehmenden Zeit rastloser Beschäftigung, nach der eine Woche Ruhe unabdingbar war. Jetzt kann, will ich wieder schreiben.

Aufgrund der starken Wechselwirkung der Ereignisse habe ich beschlossen, der unweigerlichen Verärgerung meiner eins, zwei, drei Leser zum Trotz, wieder mal einen riesenhaften Block zu schreiben – ich liebe dann doch zu sehr die Pathetik und das Überdimensionierte, Größenwahnsinnige – deshalb wahrscheinlich passe ich ganz gut in dieses Land, das gerade alles tut, um eine Reihe architektonischer Veränderungen in der Hauptstadt umzusetzen, die wie ein flotter Einfall wirken – ШОС zhe budet – die Shanghai Cooperation Organization (deutsch: SOZ), in denen die Demokratien dieser Erde (Russland, China, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgistan, Kasachstan) zusammenkommen, um ihrerseits über Wirtschaftsangelegenheiten zu reden. Dass Indien und Pakistan im Prozess des Beitritts befindlich sind, macht die Sache zwar gewaltiger, aber nicht besser. Da Usbekistan den momentanen Vorsitz einnimmt, werden sich die Staatsoberhäupter aller Mitgliedsstaaten und jener mit Beobachterstatus wie Weißrussland am 23. und 24. Juni in Taschkent treffen, wichtige Dinge besprechen und wieder abhauen. In den letzten drei Monaten vor diesem diplomatisch gewichtigem Treffen, bei welchem Usbekistan den Restdiktaturen zeigen will, wie sehr es mit der Welt mithalten kann, zu sagen, in diesen anderthalb Monaten ein gewaltiges Hyatt Regency im neousbekischen Stil zu errichten und ein, zwei Basare umzubauen und eine Häuserzeile über ein, zwei Kilometerchen zu renovieren, dazu kleinere Arbeiten hier und da an Bürgersteigen, Bushaltestellen, Fassaden zu sagen, alles kein Problem? Nun, plötzlich jedenfalls sind Arbeitskräfte da, die Gerüste, aus denen ein Hyatt wird, standen bereits bei Julias Ankunft vor drei Jahren, ein Supermarkt gegenüber, der seit meinem ersten Tag leer steht, wird wiedereröffnet, mehrere der besten Straßen der Stadt werden vorsichtshalber noch einmal asphaltiert, Gehwege werden überall neu verlegt, plötzlich geht etwas, plötzlich arbeiten sie alle… Sie haben kein Geld, die Lehrer an den Schulen pünktlich zu bezahlen, außerhalb der gängigen Routen für Touristen und Business bröckelt es an allen Stellen, Infrastruktur wird nur dort gebaut, wo sie von Ausländern gesehen wird, während Lehrer in Nukus mit Hühnchen bezahlt werden. Das ist kein Witz, davon hat ein lokaler Radiosender berichtet, und die BBC hat die Meldung dubliziert – die Kommunen bekommen kein Geld, und zwar wortwörtlich. Letztes Mal mussten sie das Jahresgehalt in Kartoffeln und Karotten auszahlen, dass es jetzt lebendige Küken gibt, in Wert eines Jahresgehalts, ist natürlich noch viel irrsinniger. Auch in Taschkent kommen die Zahlungen spät an, drei, vier Monate verzögert. Dabei sollten die Banken durch den gedrückten Kurs eigentlich genug Geld machen… Und jetzt bauen sie alles um, völlig uninteressiert daran, welchen Nutzen es für die Stadt, die Infrastruktur und die Leute im Nachhinein haben wird. Wer wird im Hyatt Regency schlafen? Wozu dann wurden die Basare renoviert, die seit jeher Orte der Begegnung sind, wozu die kalte Glattheit, alles neu, spiegelblank und tot? Damit die Ebbe in den usbekischen Staatskassen nicht sichtbar wird, machen sie einen auf Reichtum und Modernität. Und das in letzter Minute, als wäre es ihnen im Februar eingefallen: ШОС же будет! Что делать! Massenbau.

Wenn ich mir vorstelle, mit welcher Qualität, bei diesen Myriaden an Arbeitern, die nicht alle professionelle Bauarbeiter sein können (s. Shahrisabz), jene Mauern hochgezogen werden, und mich umsehe und feststelle, ich bin in einem Erdbebengebiet, dann muss ich leise mit den Mundwinkeln zucken. Hätten sie es richtig machen wollen, hätten sie früher anfangen sollen. In einem Monat geht es los, und die Stadt ist eine Baustelle. An einer zentralen Kreuzung haben sie Kameras an der Ampel installiert – dass das den Verkehr beruhigen wird, können selbst sture Beamten nicht ernsthaft glauben. Das Lachen vergeht mir, wenn ich mir den Alaiskiy anschaue. Der ist ein wahres Opfer der Misere, sein buntes Leben wird nun eingeäschert, wie in Shahrisabz die Straßen und Häuserzeilen. Es wird alles wieder aufgebaut (für das SCO-Treffen reicht zur Not auch eine Fassade), aber trotzdem tut es weh, sämtliche Läden einmal ausgeräumt und ausgebrannt zu sehen, bevor sie beginnen können mit ihrem Handwerk, das lächerlich plump und bereits im Entstehen kaputt scheint. Angefangen hat alles mit dem großen Baldachin, unter dem die Früchte und Eier, das Gemüse und anderes verkauft wurden, hier entstehen nun nagelneue, glänzende Gebäude, die im Gegensatz zu ihren sowjetischen Vorläufern wohl keine Jahrzehnte überdauern werden. Man sieht, wie die Gerüste Form annehmen und kann sich den Plan der Architekten vorstellen – der neousbekische Stil, in dem auch Shahrisabz gehalten ist, in dem das Forum am Amir-Temur-Platz und das gleichnamige Museum protzen – Bauten, von denen die Farbe abblättert, noch ehe sie zehn Sonnenkreise stehen. Und hier und dort Schutt und Staub, neulich bin ich über die Baustelle gelaufen, als störte es niemanden, wahrscheinlich solange, bis ich den Fotoapparat zücke. Später habe ich die Probe aufs Exempel gemacht und die Videokamera mitgenommen, hat auch keinen gestört. Habe ich Fotos vom alten Alaisky? Wahrscheinlich nicht, wer hätte ahnen können, welche Schnapsideen den Leuten dort oben kommen, im Suff oder im Breschnewschen Gehirnzerfall, wer weiß. Ich bin ja kaum betroffen, kenne den Markt keine sieben Monate, andere sind mit ihm aufgewachsen. Seine Kennzeichen werden ausgewaschen, das Erbe um jeden Preis ausradiert, alles muss neu sein, glänzend und schick, ersetzt durch kaltes Plastik, Fassaden, die nach einer Hand voll Jahren brüchig sind. Ihn, typisch für die Basare, zierte ein großer Ark, ein Bogen, dessen wuchtige Gestalt keine andere Funktion hatte als dem Besucher mit großen Lettern zu künden: OLOY BAZAR – der im Sommer Schatten bot, unter dem ich vor wenigen Wochen Schutz suchte vor einem Regenguss und unter seiner Hand einen Lavash aß – und nun ist auch der Vergangenheit, das Beste wäre ja, einen neuen zu bauen, aber sie scheinen etwas gegen schattenspendende Bauten zu haben. Das Gleiche passiert ja den Bäumen, die zu sowjetisch wachsen. In Fergana holzen sie die alten Platanen ab (Einst waren die Straßen stolze Alleen, jetzt umgeben sie tote Klötze, aus denen nichts Lebendiges starrt…), mit der scheinheiligen Begründung, ihr Holz verbreite Krankheiten, lässt sich prima als Baumaterial verwenden. Stattdessen werden notdürftig Kastanien und überflüssige Nadelbäume gepflanzt, die Lieblingspflanzen des Präsidenten, die hässlich sind, klein und keinen Schatten geben. Vor dem Tor des neu verkleideten Hauptgebäudes, das wohl zu dick war, um spontan abgerissen zu werden, wird es statt Platanen einen weiten Platz mit spärlich besäten Beeten geben, Bänke stehen herum, als ob sich jemand bei 40 oder 50 Grad in die Sonne setzen würde. Nur der Brunnen, dessen Fontäne wie die vor dem Opernhaus die Form einer Baumwollknospe hat, bleibt stehen. Ähnliches passiert dem Mirobod-Basar – einmal wird alles ausgeräumt, geputzt und mit beigefarbenem Aluminium verkleidet. Solange die Stände mit ihren blauen Sonnenschirmen auf den Parkplatz quetschen, enge Gassen und platzsparend aufgetürmte Waren lassen, gefällt er mir sogar besser, als unter dem großen Dach, in dessen Gerüsten immer die Vögel kreischten. Wir alle jedenfalls sind gespannt auf ШОС, wie es hier heißt, das Treffen der Mächtigen – das ursprünglich im September geplant war, dann Monat für Monat nach vorne rutschte. Dummheit liegt in dem Gedanken, in drei Monaten ein riesiges Hotel hochzuziehen, inklusive Inneneinrichtung und Garten. Wenn die Grundpfeiler schon seit Ewigkeiten dort stehen, wer hatte denn die blöde Idee, überhaupt damit anzufangen? Jetzt beeilen sie sich und machen sich selbst lächerlich. Ach, es gibt genug Grund zur Aufregung in diesem Land, und ich nutze sie alle – kein Wunder, dass ich erschöpft bin. Aber manches ist ja bei uns nicht anders. Wenn da ein Event mit internationaler Elite wartet, wird alles geputzt und gewaschen, und wehe, ein Auge schwenkt hinüber in die schmutzigen Straßen, dorthin, wo das Leben passiert. Nur traue ich uns Deutschen zu, die Zeitplanung ein wenig angemessener zu arrangieren. Auf ein Wort von O’zbekkino Ende April hieß es sogar, das Ganze soll vom 16. bis 21. Mai stattfinden, das wäre dann doch zu gewagt gewesen. Aber die Gerüchte sprießen sowieso ins Kraut.

Doch alles Jammern und Wehen vergeht, wenn es auf etwas Großes zusteuert, das wie ein Felsbrocken aus der Sonne oder wie ein Eisberg aus dem tiefen Ozean stakt, undurchdringlich, weil die Zukunft konkrete Gestalt annimmt. Das Durchschiffen und Laufen gleicht einem Marsch mit Tunnelblick nach vorne, immer nach vorne, wechselseitig auf die eigenen Füße und bis zur nächsten Kurve starrend, dabei den eigenen Atem verstärkt wahrnehmend, bis die freie Luft einen fängt und man vor lauter Obacht kaum die Macht des Eises spürt, die vorher so drohte. So eben sind Projekte, irgendwie klappt alles, und mit Julia und Ravshan sitzen zwei im Institut, die das, was sie machen, einfach können – das Kinder- und Jugendfilmfestival „Shum Bola“, die Übersetzung unseres Partnerfestivals „Schlingel“, findet nun zum dritten Mal als dessen Ableger in Usbekistan statt. Meine Aufgabe bestand als kleineres Mitglied der Programmabteilung hauptsächlich in der Betreuung der Volontäre, die wir per Aushang im Institut gesucht hatten, und die Koordination des Rahmenprogramms. Da dies die erste Erfahrung hinsichtlich der Größenordnung für mich sein sollte, wurde mir meine Russischlehrerin Kristina zur Seite gestellt, denn wir erwarteten einen großen Aufwand an Arbeit und Koordination. Ravshan war die ganze Zeit damit beschäftigt, dass alle Filme liefen, wie sie sollten – dass die Technik da ist, wenn sie gebraucht wird, die Filme korrekt abgespielt werden – Irgendetwas ist immer los, und einer muss bei den Filmen dabei sein, um im Notfall Alternativen zu organisieren. Besonders in diesem Land kann man, das wird uns in Fergana eine Lehre gewesen sein, nichts den lokalen Kräften überlassen, wenn man Erfolg nach westlichen Maßstäben erstrebt. Es geht hier nicht um eurozentrische Perfektion, sondern um eine Frage der anerzogenen Mentalität, Verweis: Fergana. Da die Delegation im Vergleich zum Vorjahr zahlenmäßig stark angewachsen war, rannte Julia fast den ganzen Tag mit ihnen durch die Stadt – Rundfahrten, Besuche und ein kaum ergiebiges, weil kontrolliertes Gespräch mit lokalen Filmemachern. In dem Fall war es gut, dass ich nicht ganz alleine mit meinen 16 Leuten da stand, sondern jemanden zur Seite hatte, die Arbeit aufzuteilen.

Die Vorbereitungen liefen über Monate. Wir hatten drei Wochen zuvor die Ticketvergabe gestartet und dazu eine eigene Telefonnummer eingerichtet. Wie im letzten Jahr hatten wir Schulen aktiv angeschrieben – uns wurde mitgeteilt, das sei jetzt schwieriger als früher, die Lehrer können nicht einfach mit ihren Schülern von dort verschwinden – wir hatten aus Angst vor fehlendem Publikum erstmals Werbung im Radio geschaltet, sowieso unseren Internetpartnern Bescheid gegeben, so möglichst viele Kanäle bedient und schließlich lief die Vergabe der kostenlosen Karten exzellent – am Ende waren alle in fremden Händen. Was relativ zu sehen ist. 100 Karten pro Film hatten wir bereits an O’zbekkino vergeben, das hatten sie sich gewünscht, die wollten sie selbst verteilen. Zusätzlich, weil wir grundsätzlich angebrachtes Misstrauen gegenüber usbekischen Behörden und ihren Aussagen mitbringen, verteilten wir Karten für die volle Kapazität des Saals, und stockten die Sitzplätze mit Plastikstühlen auf. In der finalen Woche druckte ich schließlich hunderte Quizzettel und Ausmalvorlagen, die ich aus dem weiten Internet herausgesucht hatte, legte mir alle Preise, Stifte, Blätter zurecht, überprüfte noch mal alle Pläne zur Aufgabenverteilung, Zeiteinteilung und was ich sonst nicht alles für Tabellen und Listen erstellt hatte und dann – sollte es losgehen.

Bereits einen ganzen Tag vor der Eröffnung am 28. April flog Elias Rodriguez aus dem Filmbereich der Goethe-Zentrale in München ein, der sowohl Julia als auch Ravshan von diversen Deutschlandbesuchen ihrerseits kannte, und uns gleich eine Reihe neuen Inputs für unsere abgesagte Filmreihe mitbrachte. Am Tag der Eröffnung selbst folgten Michael Harbauer, Leiter des „Schlingel“-Filmfestivals in Chemnitz, plus drei seiner Kollegen – eine sollte die Filme an- und abmoderieren, zwei weitere waren hauptsächlich für PASCH da, um Workshops an Schulen durchzuführen – und der Produzentin des Eröffnungsfilms „Nussknacker und Mausekönig“, Katharina Wagner. Am Mittwoch hielten wir ein zweites Treffen mit den Volontären ab, das erste Mal im Kino. Der Eingangsbereich streckt sich ab der Kasse, bald durch eine Glaswand und dem Kontrollschalter vom Herzen des Kinos getrennt, 200 Meter in den Raum hinein und mündet in einer Treppe nach oben. Hier ist links die Cafeteria, treppab ein Speiseraum, rechts geht es zu den Toiletten und zum Lager, hier stehen zwei Spielautomaten und ein Paynetschalter. Die Treppe hinauf geht es geradeaus und noch ein paar Stufen hoch zu mehreren Sälen unterschiedlicher Größe – unserer war der links hinten mit einem Fassungsvermögen von 450 Plätzen. Doch bleibt man nach der ersten Treppe stehen, zieht sich eine große Wand links hinunter, um die herum man eine weitere, breite Treppe hinauf erreicht, zu einer großen, leeren Fläche, geradezu einem kleinen Saal und links dem großen, berühmten, der dem Kino seinen Spitznamen gab – „Panorama“, weil der Raum, an dem der Rest von außen wie ein Anbau wirkt, kreisförmig errichtet ist. Die Leinwand ist riesig. Am Samstag traten auf dem Vorhof hunderte dieser grünen Männchen in Uniform zum Appell an und versammelten sich anschließend in dem gigantischen Saal, ließen dabei die Tür offen – nur leider sprach der Bühnenredner auf Usbekisch. Hier, vor diesem Rundbau, auf der großen Fläche, war die Zentrale der Volontäre. Julia, Ravshan und ich waren schon öfter hier gewesen, hatten zuletzt Klapptische, Stühle und vier Banner mit dem Goethe-Logo gebracht und im Lager verstaut. Die Volontäre hatte ich eine Woche zuvor kennen gelernt. Auf den Aufruf kamen 20 Rückmeldungen, zum ersten Treffen erschienen 18, zum zweiten nun, einen Tag vor Beginn 16 – eine großartige Quote. Zwar waren im Verlauf der Tage immer wieder die Hälfte abwesend, krank oder einfach nicht da, letztendlich erschienen von diesen 16 aber alle mindestens an zwei Tagen und ich war am Ende ausgesprochen zufrieden mit ihnen – auch wenn es zu dem Zeitpunkt nur sechs oder sieben gewesen sein mochten. Aber keine Spur von dieser usbekischen Lethargie, der man bei Erwachsenen ständig begegnet, stattdessen Lebensfreude, Lustigkeit, Eifer – und noch Wochen, Monate später wurden neue Fotos auf Facebook gepostet, Erinnerungen geteilt – ein großer Erfolg. Wir hatten ein Zimmer ganz am Anfang der Eingangsmeile, gegenüber der Ticketkontrolle – den Raum des Verwaltungsleiters, der abschließbar war, mit Venezianischer Spiegelfolie beklebt und in dem wir all unser persönlichen Hab und Gut ließen, sowie die Technik, die Schreibwaren, Preise und Papiere, wenn wir mit der Tagesarbeit fertig waren.

Obwohl die Eröffnung erst um halb Drei beginnen sollte, bestellten wir die gesamte Gruppe am Donnerstag um Zehn ins Kino. Aus den Lagerräumen mussten die roten Klapptische getragen werden, die Plastikstühle und jene bunten aus Metall, da waren noch verstaubte blaue, die wir aus Befürchtung von Überfülle in den Saal trugen und oben standen unsere Rundtische – das alles musste vor unserer Zentrale aufgebaut werden, die wir uns mit Tischen und Stühlen gemütlich einrichteten. Die Klapptische wurden aneinandergereiht und ergaben eine ausgestreckte Malecke mit Platz für 30 bis 40 Kinder, dahinter die Metallstühle und runden Tische, weil die beiden Frauen vom „Schlingel“ einen einfachen Bastelworkshop zur Eröffnung anbieten wollten. Direkt hinter unserer Ecke standen zwei Massagesessel, die wir leider vom Strom trennen mussten, unserer Technik zuliebe. Der Besitzer kam dann am dritten Tag und beschwerte sich, er würde ja so kein Geld verdienen – Blödsinn. Erstens sind die Stühle bescheuert billig und zweitens habe ich in den vier Tagen auf den zwei baugleichen, die an der gegenüberliegenden Seite standen, nur einen einzigen Nutzer gesehen. Aber sie waren eine willkommene Sitzalternative zu den kurzen Sesseln vom Kino, in denen man sich nicht anlehnen konnte, die wir sonst in unserer Ecke aufgebaut hatten. Wie im letzten Jahr hatten wir tausend Luftballons in verschiedenen Farben bedrucken lassen („Shum Bola“ auf der einen, „Schlingel“ und GI-Logo auf der anderen Seite), und einige hundert verteilten wir gleich für die Eröffnung überall im Kino, vom Eingang hin bis zu unserem Hauptquartier, bis hin zum Saal und auf der Bühne, wissend, sie würden von den Kindern zu Scharen geplündert und geraubt werden. Für die Tische hatten wir weiße Decken und einen durchsichtigen Plastiküberzug, damit die Kinder mit unseren Stiften nicht die Decken beschmierten. Das Ganze deckten wir mit Programmheften und den Ausmalmotiven für den jeweiligen Tag, dazwischen die Bunt- und Bleistifte, die wir besorgt hatten. Alle Stühle wurden einmal abgewischt, alles aufgeräumt und sauber zurecht gelegt, die Banner standen an ausgesuchten Stellen – zwei im Saal, zwei gut sichtbar auf dem Weg zu uns Volontären, zum Rahmenprogramm – und die Technik war aufgebaut. Vom letzten Jahr blieb ein Fotodrucker inklusive ausreichend Papier und Farbe, um Bilder der teilnehmenden Kinder, vor der Vorführung aufgenommen, bereits nach dem Film zum Mitnehmen, an zwei dafür aufgestellte Tafeln gepinnt, präsentieren zu können. Im Institustslaptop, der mit einer transportablen Soundanlage verkabelt war, lag eine CD mit Kinderliedern, die ich digital im Ordner zum letztjährigen Fest gefunden hatte. Ich hatte mir sogar die Mühe gemacht, alle Lieder auf eine ähnliche Lautstärke zu skalieren, damit wir die Musik einfach laufen lassen können, ohne ständig am Regler drehen zu müssen. Damit war alles vorbereitet – der Saal war geschmückt, im Eingangsbereich stand stolz unser Pressestand, den Temur und Zafar vom Institut mühevoll aufgebaut hatten – dort standen nun einige Volontäre, die Besucher zu begrüßen und das Programm zu verteilen – und sowieso waren wir alle bereit für die Eröffnung. Ich wechselte mein Arbeitsshirt gegen ein weißes Hemd und strich mir einmal durch die Haare, spritzte mir auf der Toilette Wasser ins Gesicht und war gerüstet. Eine knappe Stunde vorher schneite nun die Delegation herein, die sich bisher im günstigerweise direkt gegenüber befindlichen Hotel ausgeruht hatte, Harbauer brachte acht schwarze „Schlingel“-T-Shirts mit, sowie Haribos für die Volontäre (Ich wies die Mädchen am Eingang gleich an, die Shirts überzuziehen), und man stellte sich einander vor.

Elias wollte Fotos machen, auch ich hatte einen Apparat aus dem Institut mitgenommen, aber meine Künste sind doch eher lahm und in den dunklen, langen Sowjethallen macht sich die Arbeit mit dem Licht schwer. Erst langsam strömten Kinder durch die prominent mit unseren Plakaten beklebte Eingangsallee. Als die Bewegung in Schwung gekommen war, waren aber alle Gedanken zerstreut und man konzentrierte sich darauf, was zu tun war – die Malecke wurde grundsätzlich von mehr Kindern belagert, als an den Tisch passten, denn der Saal war noch gesperrt und die Massen wussten nicht, wohin mit sich und ihrem Kindergeschrei. Heute wollte eine der Volontärinnen für die Fotowand knipsen, ich konnte mich herumtreiben und den allgemeinen Zustand beobachten. Elias wurde als Bartträger (genau aus diesem Grund) für ein Interview abgewiesen, das dann Oybek, ein Institutsmitarbeiter, der bereits die Ticketbestellungen entgegen genommen hatte und nun eine Umfrage unter den Besucher durchführen sollte, stellvertretend übernehmen musste. Nach mehreren dringlichen Bitten wurde der Saal geöffnet, auch wenn die Moderatorin, Harbauer, Ravshan und Julia mit ihren Vorbereitungen noch nicht ganz fertig waren. Ich musste schnell dafür sorgen, dass einige meiner Mädchen – denn das waren die allermeisten Volontäre – in den Saal huschten und die erste Reihe freihielten, immerhin sollten auch Vertreter von O’zbekkino und dem Kino anwesend sein, ganz abgesehen von unseren Gästen. Unsere Vorbereitung war dermaßen erfolgreich, die Volontäre so gewissenhaft, dass ich, sobald nach dem ersten Mal der Ablauf klar war, auch hätte abwesend sein können, so selbständig erledigten die Volontäre ihre Arbeit, sprachen sich untereinander ab und teilten sich auf – so etwas habe ich in Usbekistan noch bei keiner Gruppe erlebt – diese Einigkeit und Hilfsbereitschaft, gleichzeitig eine so tiefe Dankbarkeit. Im Vorfeld hatte ich eine Reihe von Tätigkeiten erstellt, die zu jeder Vorführung zu beachten sind – vorne am Eingang müssen Leute mit dem Programm stehen, die die Zuschauer begrüßen und ihnen den Weg zum Rahmenprogramm und zum Saal zeigen, die Malecke muss von mindesten drei Volontären betreut werden, es müssen im Saal Plätze freigehalten werden und andere zugewiesen. Dann kehrt für eine Weile Ruhe ein. Nach jedem Film gibt es ein simples Quiz mit drei Fragen, und kleine Preise wie Ansteckbuttons, Silikonarmbänder und Süßes werden verteilt. Die Preise müssen vorbereitet werden, die Antworten eingeprägt, sofort nach Beginn der Vorführung muss der Drucker gestartet werden, all die aufgenommenen Bilder der Kinder auszuspucken, denn der Prozess dauert lange. Idealerweise fällt das Mittagessen in eine dieser ruhigen Pausen, aber in dem Punkt waren wir abhängig vom Erscheinen unseres Sponsors, der in großen Taschen hochwertige Gerichte in Papierschachteln brachte, Servietten, Besteck und Wasser. Wenn nach der Vorführung die Massen sich durch die enge Tür quetschen, müssen dort die Zettel für das Quiz verteilt werden, an den Fotowänden muss jemand stehen, die Quizteilnehmer nach oben zu lotsen und darauf hinzuweisen, dass Fotos, auf denen man sich oder sein Kind sieht, zum Mitnehmen gedacht sind, des Weiteren ist an der Zentrale ein ungeheurer Ansturm an Kindern zu erwarten, die allesamt ihre Antworten überprüfen lassen wollen, dem mit mindestens vier oder fünf Volontären begegnet werden muss. Wichtig: Man muss aufpassen, dass die Kinder nicht unsere Bleistifte mitnehmen – ich glaube, von 36, die wir mitgebracht hatten, verblieben am Sonntag die Hälfte.

Wie halt Eröffnungen so verlaufen, verlief auch diese – mit Worten von vielen Seiten: Julia vom Goethe-Institut, Harbauer vom „Schlingel“, Herr Musaev als Leiter von O’zbekkino, Katharina Wagner als Produzentin des Eröffnungsfilms, und wo nötig wurde es von unserer Übersetzerin ins Russische transferiert. Auch unser Maskottchen Sebo Sharipova betrat kurz die Bühne. Sie ist die Enkelin unseres großzügigsten (und in diesem Jahr einzigen) Sponsors, „Bek“, der nun eigentlich Farhod Sharipov heißt, den wir aber nach seiner Restaurantkette benennen. Er selbst arbeitet gar nicht mehr, ist aber Herr über ein Imperium von 18 Restaurants in Taschkent und zwei oder drei in Samarkand. Dieser Mensch und seine Firma sind sehr wertvoll für uns – nicht nur sponsert er Abendessen für die gesamte Kompanie, sondern auch das Catering für die Volontäre zum Mittag. So erlauben wir uns, seine zehnjährige Verwandte als Maskottchen einzusetzen. Zum ersten Jahr haben sie dann tatsächlich ein Musikvideo aufgenommen, in dem die Kleine singt: „Kino, Kino, …“, mit usbekischem Text, ein Ohrwurm, der uns die nächsten Tage alle verfolgte.

O’zbekkino wollte das Festival im Vorhinein nicht bei einem deutschen belassen und schlug zunächst vor, usbekische Spielfilme neben den deutschen zu zeigen – was wir glücklicherweise abwenden konnten. Am Ende legten sie uns eine Liste von 12 animierten Kurzfilmen vor, die vor unseren acht Spielfilmen gezeigt werden sollten – natürlich sprachen wir uns dagegen aus, dass mehr als zwei Kurzfilme vor unserem laufen, und im Endeffekt war das ganze Programm völlig durcheinander. Mal lief einfach gar keiner, weil die Techniker keinen bekommen hatten, einmal liefen zwei und ansonsten der eine von beiden Seiten gewünschte, wobei nicht klar wurde, nach welchen Kriterien die Kurzfilme ausgewählt wurden. Eine Legende, in der unser Held in einem Land, das Kirgisien ähnlicher sah als Usbekistan, sich für sein Volk opferte, indem er die feindliche Armee in die hohen Berge führte und verhungern ließ, wurde vor einem Kinderfilm gezeigt.

Bei uns liefen die meisten Titel mit einem Voice Over, das live von Zarina eingesprochen wurde, eine Studentin, mit denen Ravshan und Julia lange zusammengearbeitet haben und die demnächst in Europa weiter studieren will. Sie ist eine derjenigen, die das Land verlassen sollten, bevor sie sich für ihre Mitbürger zu Tode schämen oder von ihren Mitbürgern zu geistigem Tode usbekisiert werden. Ihr Deutsch ist ausgezeichnet, sie sprach für uns die russischen Dialoge über den deutschen Ton. Nur „Meine Tochter Anne Frank“ als einzig genehmigter Jugendfilm lief mit russischen Untertiteln, und der Eröffnungsfilm bekam eine rustikale Synchronisierung verpasst, die eher dem lettischen Fernsehsynchron entsprach, wo der ursprüngliche Text noch immer unter der anderen Sprachfassung liegt, um sich die Trennung der Sprachspur vom restlichen Ton und das präzise Aufsprechen auf die Münder zu sparen.

Während der Reden und Vorfilme stelle ich mich hinten in den Saal – er ist leerer, als ich erwartet hatte, aber gut gefüllt, vielleicht 400 Leute, mit 50 freien Plätzen kann man leben. Nun ist klar, dass die Entscheidung, unabhängig von den O’zbekkino zur Verfügung gestellten Tickets die volle Saalkapazität zu vergeben, richtig war. Die üblichen Worte und Sätze höre ich zufrieden, nach dem Vorfilm gehe ich hoch zu meinen Volontären, die bereits die Malecke abräumen und mit der Hilfe unseres Technikers Temur den Drucker gestartet hatten. Plötzlich, als sie das Quiz vorbereiten wollen, fällt es mir siedend heiß ein – ich habe vergessen, die Fragebögen mitzubringen! Schnell rufe ich Shomansur an, der im Institut ist, und bitte ihn, die an meinem Platz gesammelten Blätter in eine Kiste zu tun und ins Kino zu fahren – wir hatten ihn extra als Backoffice gebucht. Die klügere Idee sprach er aus, nämlich dass ich ins Institut komme und die Quizzettel selbst abhole. Shomansur steht mit einem Karton draußen, ich renne aus dem Taxi, schnappe mir das Gut, bedanke mich und steige in ein nächstes Taxi, das mich zurück ins Panoramakino bringt. Gut, dass Taxis hier so schnell gefunden sind.

Der erste Tag hinterlässt mich völlig fertig. Es war heiß, auch wenn das Kino angenehm klimatisiert ist, aber das ständige Gehetze, Herumgerenne, weil hier etwas fehlte, und dort etwas zu richten war, meistens aber nur aus Anspannung und Kontrolle – Ist alles da, tausend Mal durchläuft das Hirn dieselbe Schleife, geht alle angelegten Pläne und Tabellen physisch mit den Händen und mental im Gedächtnis durch, gibt durch den Mund Anweisungen an die noch unsicheren Volontäre und fragt sich immer wieder zurück – Was ist die beste Art, das durchzuführen, und wie muss alles aussehen? Wenn dann der Tag vorbei ist und die Anstrengung mit den Besuchern wegfliegt, kippt der Kopf zurück und lässt den Körper die Anspannung spüren, die in ihm liegt. Es war nach Vier, als wir fertig waren, aufgeräumt und die Volontäre auf morgen neun Uhr bestellt hatten. Uns blieben zwei Stunden, bis die Karawane vom Hotel Shodlik Palace los ziehen und am „Sayyor“ auf Bek stoßen sollte. Ich fuhr zunächst mit Ravshan ins Institut mit dem Ziel, gleich Fotos auf Facebook zu stellen. Irgendwie hat das aber nicht geklappt (Wieso, erinnere ich mich nicht mehr) und als ich merkte, wie sehr ich eine Dusche nötig hatte, entschuldigte ich mich und rannte so fix wie möglich auf die Straße, ein Taxi anzuhalten, nach Hause. Dort angekommen, kümmerte ich mich erst um einen Kaffee, stieg dann in die eiskalte Dusche und kam pünktlich heraus, um losgehen zu müssen – nur den Kaffee konnte ich doch nicht einfach so stehen lassen. Ich rief Julia an, schlug ihr vor, direkt ins Restaurant zu kommen, das ich noch das „Nur“ zu sein dachte, als sie mich darauf hinwies, dass wir ins „Sayyor“ gingen, dessen Ort beim „Parkentskiy“-Basar ich nicht annäherungsweise kannte – nie dort gewesen. Musste also doch erst ins Hotel fahren, um mich mit den anderen zu treffen. Für mich bedeutete das weitere Minuten Stress, in denen ich das Koffein gierig in meinen müden Körper fließen ließ, und dann wieder die Treppen runter, um die Ecke durch das gusseiserne Tor auf die Straße und rasch ein Taxi geschnappt. Dem Fahrer legte ich auf die übliche Summe 2000 Sum oben auf und befahl ihm, mich so schnell wie möglich zum Shodlik zu bringen – bei Abendverkehr und den vielen Ampeln eine recht aussichtslose Sache – immerhin raste er wie ein Teufel die Auffahrt hinauf und kam direkt neben dem Auto zu stehen, wo Ravshan lächelnd angelehnt stand, und alle auf mich gewartet hatten. Fünf vor Sieben, zehn Minuten zu spät. Ich habe mich an die hiesige Mentalität angepasst, würde ich sagen – schwer zu glauben, dass vor fünf, sechs Jahren von mir noch die Rede ging, man müsse mich eine halbe Stunde später bestellen, wolle man, dass ich pünktlich käme. Mit der Verspätung kalkuliert man hier ja. Die Fahrt führte tatsächlich in einen Bereich der Stadt, in dem ich noch nie war, den ich in der nächsten Woche aber noch dreimal durchfahren sollte. Das Sayyor war Beks erstes Restaurant in Taschkent, war aber abgebrannt und nun hat er es als sein Hauptquartier wieder aufgebaut, ein neousbekisches Gebäude mit viel Tand und Kitsch – Wir werden nach kurzem Herumirren vom Hausherr empfangen und kurz durch das Gebäude geführt. Auf der zweiten Etage ist ein Selbstbedienungsrestaurant untergebracht, wir aber werden außen entlang geführt in den Thronsaal, das Heiligtum – ein großer Raum mit vier massiven, bunt ausgestalteten Säulen, dazwischen – zwei große Rundtische mit Platz für jeweils neun Personen, von der Mitte bis an den Rand mit Salaten, Vorspeisen und kalten Appetizers geschmückt, aber das brauchte noch gar nicht unsere Aufmerksamkeit. Die Wände waren bemalt, in kärglich künstlerischem, aber unschwer an die alten usbekischen Maler erinnernden Stil, den Verlauf der – was sonst – Seidenstraße dargestellt. Auf der vierten Wand war die Route nachgezeichnet, die anderen drei waren wieder in drei Bilder, drei Etappen geteilt – die Mongolei, China, Afghanistan, Samarkand, Buchara, Choresm, Konstantinopel, Köln und Spanien, wenn ich mich recht erinnere. Selbstverständlich nimmt Usbekistan ein Drittel der Bilder ein, und selbstverständlich ist keine Rede von Ländern wie Kasachstan oder Kirgistan, Tadschikistan – aber das nahm ich eher mit einem Schmunzeln auf, noch nicht so sehr böse. Verschiedene Familienmitglieder der Dynastie „Sharipov“ hatten in Personen auf den Malereien ihr Abbild gefunden – er, der alte Bek, sein Sohn, der das Geschäft der Familie führt, seine Enkelin, sein Bruder – vielleicht noch mehr, aber davon sprach er nicht. Ein goldener Diwan mit hölzernem Tisch markierte die Stelle, an dem er Verträge zu unterzeichnen pflege – ein heiliger Raum. An den ersten der beiden reichen Tische durften alle wichtigen Leute, wir zogen um an den zweiten und hatten dort unseren Spaß – solange, bis ich sah, dass die Leute des ersten um Julia und Harbauer begannen, die Shotgläser zu heben. Leider war ich der einzige an unserer Runde, dem es danach gelüstete, eigentlich waren wir bei Weißwein hängen geblieben. Trotzdem ließ ich mein kleines Glas auf dem Tisch, weise, wie sich herausstellen sollte. Zu uns auf die freien Plätze stießen nämlich drei bei O’zbekkino beschäftigte Künstler – ein Regisseur, ein Mischmeister (Ton) und ein Filmschauspieler. Die beiden ersten bekamen auch gleich Durst und ich hatte endlich Leute, mit denen ich anstoßen konnte. Beides, Wein und Wodka wurden immer wieder fleißig nachgeschenkt – in einem wirklich unnötigen Takt – und neben eine Platte gegrillten Gemüses kam auch das Hauptgericht – gebratenes Fleisch in den üblichen Variationen – Rind, Hammel mit Knochen, Hühnchenkeulen, Pferd… Eine solche Menge an Essen wie an diesem Tag habe ich selten gesehen – im Nachhinein kommt es mir wahrhaftig vor wie ein Sultan und sein Gefolge beim Hochzeitsessen. Die geliebte Enkelin begann dann (Muss sie nicht ins Bett?), „My Heart will Go On“, sowie diverse usbekische Diskolieder zu singen und wir waren wohl alle schon zu angetrunken, um zu unterscheiden, ob das jetzt Playback war oder nicht. Auf jeden Fall fing man an zu tanzen und zu ein, zwei Runden ließ ich mich überreden, nach Sebo spielte der DJ weiter. Ich weiß nicht genau, wie viel Wodka geflossen war, aber ich sehe mich noch am Ende, als O’zbekkino gegangen war, vor der versammelten Delegation stehen und ein Gedicht rezitieren – ich nehme an, es war Brecht, „Erinnerung an Marie A.“ Es gibt auch ein Foto. Resümee: Bek ist Oberschicht, Bek ist Überfluss, Bek ist Wodka in Flüssen.

Am nächsten Morgen aufzustehen war schwer. Doch dem Wecker gehorche ich, glücklicherweise war die Dusche kalt. Sie hatten uns wieder das Warmwasser abgedreht. Das geschieht in jedem Bezirk, um eine Woche versetzt, je vor und nach der Heizungssaison – warum, hat mir noch niemand beantworten können. So wenigstens komme ich nicht in die Versuchung, meiner Gemütlichkeit den Vorrang einzuräumen – schwere Morgen erfordern schweres Geschütz. Eine eiskalte Dusche reicht da völlig. Dass dann der Kaffee das Hirn verwöhnt, mag nebensächlich sein, denn es ist der Körper, der nicht will. Ich nehme eine Tablette Ibuprofen 400mg, das müsste reichen. Ich bin ja nicht tot. Ich verzichte auf ein Frühstück, sondern brauche die Zeit lieber, mir Gedanken zu machen – sie aus dem dumpfen Sumpf der Erinnerung zu ziehen, wie immer, wenn der Abend zuvor keine scharfen Kanten mehr hat. Keine fünf Minuten nach Neun, wie vereinbart, stehe ich im Kino und beginne, meine Volontäre zu dirigieren. Kristina kommt heute später, bis dahin mache ich es alleine. Ravshan trudelt bald ein und sagt verschmitzt, Erstaunlich, dich nach so viel Wodka so lebendig zu sehen, klopft mir lachend auf die Schultern und verschwindet. Der erste Film beginnt um Elf, der zweite um halb Drei, dann ist Schluss. So lange Kristina nicht da ist, versuche ich meine Volontäre zu den nötigen Aktionen zu bewegen, merke aber sehr schnell, dass sie bereits ohne mich zurecht kommen und lasse sie einfach machen – ein großartiges Team, ich hätte sehr viel mehr an Strenggläubigkeit und Unselbständigkeit erwartet. Später lasse ich mich in einem der ausgestöpselten Massagesessel nieder und stehe nur auf, wenn Kristina eine Frage hat oder etwas Wichtiges zu tun ist – wie zum Mittagessen. Es ist gut, zu sitzen, Wasser zu trinken und zu ruhen, auf Standby zu laufen, wenn der Körper das Gift ausspült und sich nicht darauf konzentrieren kann, das Hirn zu bedienen.

Tag zu Tag verringert sich die Zahl der Helfer, und immer routinierter läuft alles, obwohl es nicht immer dieselben sind, die kommen – ein harter Kern von vier oder fünf Mädchen bleibt, der Rest wechselt mit den Bequemlichkeiten. Am Samstag schicken wir sie alle in „Meine Tochter Anne Frank“, den einzigen Jugendfilm in diesem Jahr, und viele folgen dem Aufruf, sind gerührt und erschrocken vom Dargestellten. Auch daran liegt mir viel, dass die Leute sich nicht den Illusionen über Deutschland hergeben, die hiesig kursieren, sondern dass in ihnen Gedanken geweckt werden, die hinausgehen über eine Lehrbuchseite mit Hörtext zum Thema „Deutsches Essen“. Der Abschied am Sonntag geht schwer – alle umarmen sich gegenseitig, mich übermannt, ehrlich gesagt, mehr die Erschöpfung, und doch weiß ich es zu schätzen, mit ein paar Jugendlichen, mal jünger, mal älter als ich, die meisten weiblich, gearbeitet zu haben. Wie in Urgench spüre ich diese Lebensfreude auf mich überspringen und dann weiß ich wieder, was ich verpasst habe. „Shum bola“ ging in die dritte Runde, und was für uns Arbeit und Organisationsaufwand bedeutete, war für die hiesige Bevölkerung Befreiung und Lösung vom reglementierten Alltag, selbst für die Erwachsenen ist die Welt der Freiheit, die sich in den deutschen Kinderfilmen so phantastisch aufmacht, herrlich und anziehend, denn hier werden auch sie wie Kinder gehalten. Resümee Taschkent: Glückliche Kinder, glückliche Erwachsene und alles mittendrin, nahezu reibungslose Organisation unsererseits, überwältigende Rückmeldungen. Unbedingt beibehalten! (Jetzt weiß ich, wieso Ravshan und Julia sich so darauf gefreut haben.)

Von den Tagen kann ich mir erlauben zu schweigen und die drei restlichen Abende vergingen wie gehabt in Dekadenz und schwerem Genuss, Betäubung der Kritik, die noch gar nicht aufzukommen bereit war. Am Freitag waren Julia, Harbauer, Elias und Katharina den Tag über in Samarkand, für einen kurzen privaten Ausflug innerhalb der Arbeitszeit. Ravshan, Zarina, unser Fahrer Zafar und die drei Restdeutschen hatten also den Abend im „Kish-Mish“ Kafe für uns. Die Fahrt führte und in einer Gegend nördlich des Zentrums, an einer zentralen Straße, einige hundert Meter von der weißen Moschee entfernt, in einem typischen Bek-Gebäude – braun mit goldenen Ornamenten und Zierden. Der Eintritt schien edel und die Kellner waren elegant gekleidet, führten uns an einen Tisch am Rand des Saals, von wo aus der gesamte Raum gut zu überblicken war. Links reihten sich einige Separees aneinander, bis am anderen Ende eine Treppe in den zweiten Stock führte. Rechts war eine Tanzfläche und an der Wand der DJ. Ganz hinten gab es noch eine Bar. Das Interieur war neu und glatt, aber beeindruckend. Zwei künstliche Bäume ragten aus dem Holzboden und verschwanden in der hohen Decke, auf der ihr Geäst, sowie ein blauer usbekischer Himmel weitergesponnen wurden. Die Kronleuchter in dieser Halle waren selbst aus Holz und beherbergten auf ihrem oberen Rand kleine Städtchen – Häuser, geschnitzt, offensichtlich im Stile Bucharas, mit erkennbaren Minaretten, Mausoleen, Medresen… Ihre einfache Schönheit brauchte mich einen großen Teil des Abends, bis die Unterhaltung auf der Tanzfläche mir andere Reize bot. Das aufgetischte Menü war perfekt, für mich das beste Mahl in dieser Reihe des Festivals: Salate aus frischen Zutaten, frühlingsleicht und doch nach Wahl mit Sahne beliebig in die Schwere geführt, hervorstechend kleine Zucchiniplättchen mit Quark an Rucola und Walnüssen. Wie in solchen weiten Hallen üblich, wurde der Gesprächsatmosphäre zum Trotz laut Musik gespielt, wir hörten kurzen Live-Gesang und damit begann das Abendprogramm auf der freien Fläche, die nachher auch zum Tanzen gebraucht wurde. Einige reizende Damen kamen auf die Bühne und vollführten einen noch sehr traditionell verhafteten Tanz, mit gewundenen Tüchern noch so gut wie voll bekleidet. Ihnen folgten männliche Äquivalente, die angezogen waren wie Sternchen der 70er und mich deutlich weniger mit ihren Künsten bannten. Dann kamen dieselben Damen wieder, verändertes Outfit, deutlich weniger Stoff und mehr Haut, und tanzten wieder einen noch bodenständigen Tanz, der bald durch eine Pause im Programm unterbrochen wurde. Für uns bedeutete das unser Hauptgericht – Wachteln auf einer mehrstöckigen Platte, zur Ergänzung mit einer Fleischauswahl von Pferd bis Huhn, auch Dolma, Wachteleier und andere typische Kleinigkeiten lagen so verführerisch auf dem Tablett, dass keiner es anrühren wollte. Als dann erneut Tänzer auf die Bühne traten, war von den 70ern keine Spur mehr – hier standen ein usbekischer Tänzer, Michael Jackson und ein junger Breakdancer, die sich abwechselnd ihre Tanzkünste unter Beweis stellten – während dieser seltsamen Vorführung verschwand ich kurz auf die Toilette und fand, als ich wiederkam, Bauchtänzerinnen auf dem Parkett vor, die eben auf ihrem Platz blieben, und hüftewackelnd durcheinander wirbelten. Das ist der Höhepunkt der Dekadenz, dachte ich mir, und nahm mir einen der Vögel, unter dem ein Häuflein Kartoffelbrei zur Beilage versteckt war, biss hinein und stieß auf einen saftig heißen Kern – gefüllt mit Tomate, Paprika und Oliven in einer Sahnesoße. Da kam die Tänzerin leider im falschen Augenblick an unserem Tisch – sie wollen ja immer ein Almosen, um ein bisschen tanzend stehen zu bleiben und sich den Augen der großzügigen Spender zu zeigen. Von uns war keiner vorbereitet, und ich konnte nun wirklich nicht von meiner Wachtel lassen, so zart und fleischig wie sie war, zog ich sie dem Blick auf diese Frau, vergebe mir Gott, vor. Beim nächsten Tisch fand sie sich einen Mäzen, der sie minutenlang bei sich hielt, indem er ihr, Stück für Stück wie man einen hungrigen Hund füttert, Geldscheine zusteckte, und sie tanzte weiter und weiter für ihn, den man gebannt in seinem Sessel beobachten konnte, die Augen etwas abwesend, aber betont genussvoll nach oben gerichtet, wahrscheinlich an ihrem bewegten Körper entlang wandernd und die Muster und Falten der Haut bestimmend. Die zweite Frau, die sich zu uns wagte, konnten wir dann doch nicht enttäuschen, die drei Männer – Pflicht! – kauften sich eine kurze Zeit wackelnder Bauch. Die Tänzerinnen sind ja ganz hübsch, wenn sie durch den Raum wirbeln, oder in genügend Abstand ihre Kunden bespaßen – aber direkt vor mir würde ich so eine Darbietung wohl kaum haben wollen, bei dieser Art von Tanz tritt mir einfach eine gute Masse Fleisch zu nah. Es folgte der Teil des Abends, in dem von den Gästen erwartet wurde, dass sie endlich betrunken sind und die Tanzfläche wurde geöffnet. Nur ich wollte nicht. Als die anderen zurück kamen, folgt einer unserer „Schlingel“-Damen ein betrunkener Usbeke, der sich zu uns gesellte, lange Reden schwang und mit uns auf den Erfolg der Mediziner anstieß, die seine Frau einer erfolgreiche Augenoperation unterzogen hatten – Glück gehabt, dass die Angesprochene keinen Alkohol trinkt, sonst hätte sie sich ein Glas Wodka mit unserem Gast teilen müssen. Ich erinnere mich nicht an den nächsten Morgen, außer, dass er mit kaltem Wasser begann – es war vielleicht der unspektakulärste Tag, und der Leser ist müde, deshalb habe ich nichts weiter, als zum Abend zu springen. Das Sim Sim kannte ich. Nicht aber den dekadenten Luxuskeller mit Plastikgold, Plastikkristall, Polstermöbeln, Säulen und einem DJ, dessen Musik in ihrer Lautstärke die Grenzen des Ertragbaren sprengten. Wirklich. Zur Vorspeise gab es unter anderem exzellente Zungenvariationen – wobei mir natürlich der Geschmack nicht das ehemalige Tier evozierte, so gourmet-gebildet bin ich nicht. Und zum Nachtisch heiße Schokoladencreme in einer Art krosser Schokoladenhülle – gibt’s bestimmt auch bei uns, nur der Name ist natürlich weg – serviert mit Vanilleeis – himmlisch. Zwischendrin – Laut. Bauchtänzerinnen, die sich an Ausländer ran machen. Ich habe diesmal sogar freiwillig gezahlt, der Lebensstil nimmt einen sehr schnell ein – es war auch eine hübsche und ich dachte mehr an ihren Unterhalt als an meine Freude. Wie viel werden sie wohl verdienen, bei einem Auftritt pro Abend, zehn Minuten Tanz – wechseln sie die Etablissements? Von einem Restaurant zum nächsten und am Ende in Bars? Ganz sicher, sonst lohnte sich der Job ja nicht. Am Ende waren wir froh, aus dieser Hölle hinaus zu sein, wir hatten keine Ohren mehr – aber Harbauer, Elias und Katharina waren durchaus noch bereit, in eine Lokalität geführt zu werden und mit Julia und mir fanden sich durchaus willige Begleiter. Die Rede fiel erst auf die Elvis-Bar, dann wendete sich das Blatt und der Gedanke und wir fuhren ins Bardak – nach einer kleinen Pause. Wir setzten uns in die abgeschiedenste Ecke, hinter dem Pooltisch, und trafen trotzdem – abgesehen von den kurzen Barbekanntschaften, denen ich kurz ein Hallo entgegen warf – auf Farid, der wild durch die Gegend sprang wie immer und unsere überraschten Gäste auf Englisch vollplapperte. Irgendwann stand Julia auf, zu gehen, weil sie am Sonntag, 01. Mai, mit ihren Kindern das orthodoxe, also russische Osterfest feiern musste. Zum Glück machte Farid ebenfalls bald die Fliege und die drei konnten sich ganz in der Atmosphäre dieses seltenen Ortes ergeben – sowohl Katharina als auch Elias sollten danach behaupten, von gleichgeschlechtlichen Partnern angemacht worden zu sein. Das hielte ich nicht für möglich – wenn es nicht im Bardak gewesen wäre, der Ort ist seltene Freiheit. Beim Austritt hielt Harbauer inne und meinte, Ist das nicht krass – der Unterschied zwischen der Welt da drin und hier draußen? Zwischen Pool, Rauchern, Alkohol und billiges Essen, warmer Rauch und Körper, Frisuren, Piercings, Backgammonspieler zwischen Schwulen und Halbschwulen, Gesichter, wie man sie auf der Straße selten trifft. Und dies: forcierte Ruhe, kalte Oberfläche des Steins oder Plastiks, am Rand eines Einkaufszentrums, menschenleer und unweit des Senatgebäudes. Es ist einmal mehr schön, hier zu sein.

Die Abende fallen gegeneinander immer mehr ab. Jeder Tag macht dich nur müder, du freust dich auf die süßen Träume, die doch noch vom Alkohol trinken, jeder Tag verläuft gleichgültiger und normaler, rasanter und hinterlässt weniger Spuren. Der Abend im „Nur“ also glich eher einem müde getönten Abschiedsessen, denn wir dachten auch: Die Zeit der Dekadenz ist vorbei, jetzt läuft für uns der Tag nicht auf den Abend zu. Wir gedachten der vergangenen Freuden mit Rotwein oder Bier, mit köstlichen Salaten und zwei großen Platten Fleisch – keine Überraschungen. Den Tänzerinnen entkamen wir hier, weil unser Kellner wohlweislich einen Stuhl vor den Eingang unseres Separées stellte. Ich hätte sie, schon aus Gelegenheitsgründen, gerne noch einmal gesehen, doch auch das war in dem Moment kein Ding von Wichtigkeit. Ich hatte doch mein Essen, meinen Wein, Wärme, Gesellschaft, Licht und Lachen – Wir mussten uns schließlich auf dem Rückweg von jenen verabschieden, die nicht mit nach Fergana kommen sollten und verabredeten uns mit den anderen auf acht Uhr Abfahrt, d.h. viertel vor Acht am Hotel. Die leise Fahrt nach Hause, der Gedanke, Ravshan muss wieder erst auf sein Dorf zurück, wie gesegnet bin ich da mit meinem Schlaf, dann Träume, sicher süße wie immer, und ein Aufstehen um sechs Uhr. Die zurecht gelegten Sachen schnell in den Rucksack, das geht ganz fix, und mehr nehme ich nicht mit. Mein Laptop nimmt viel Platz ein und ist schwer, ich habe Tolstoj und Mandelstam mitgenommen. Zeit zu lesen hatten ich nie. Und dann geht es los, ich frage mich, ob Elmira und Alisher wissen, dass ich jetzt eine Woche lang weg bin, lasse aus Versehen eine halbe Zitrone auf dem Tisch stehen, und – fiel mir ein – schmutziges Geschirr.

Taschkent war wundervoll. Die Arbeit mit den Volontären: ein Traum. Alle jung und frisch und so glücklich… Die Arbeit im Kino, mit dem Herumlaufen, der zur Routine werdenden Betreuung: genau das Richtige, mich wieder aus den Gedanken zu reißen. Wer zu viel auf einer Stelle läuft, schläft ein. Das Essen mit Bek: Grotesk viel und großartig genüsslich. Der Luxus wird Normalität und die Gewohnheit eine verwöhnte Zunge. Es fällt mir noch schwer, mich nicht sehnsüchtig an jene vier Abende zurückzuerinnern, wenn ich vor meinen gewählt kargen Mahlzeiten, gezwungenermaßen einfache Gerichte aus Gemüse mit Reis oder Kartoffeln sitze, mein Stückchen Brot, und in großen Schlücken den Tee aufnehme, um am Ende das saftige Fleisch der Zitronenscheibe von der Schale zu reißen und als Nachtisch zu verspeisen. Obwohl die Wahrheit dieses Bildes, wie so vieles, der literarischen Ästhetik weichen musst – es ist ein verdichtetes, das sollte von vornherein klar sein.

 

Zweiter Teil. Fergana

Wir fahren nach Fergana. Durch die Pappelalleen des Taschkenter Umlandes über die Berge, den Pass in das Flachland um die Highways in einem weit entfernten Illinois. Aber so schnell kann die Fahrt nicht beginnen. Zwei Autos sind zwar schon da, aber ein drittes fehlt. Also fahren die wichtigen Personen pünktlich los (eine halbe Stunde nach der geplanten Abfahrtszeit) und lassen Zarina und mich am Hotel zurück. O’zbekkino wartet auch noch, sie haben die Autos ja bestellt, aber einen eigenen Wagen. Weil die Ankündigung lautete, man warte auf einen Spark, stiegen die wichtigen Personen zu je dritt in einen Cobalt. denn der Spark ist klein und hat keinen Kofferraum, die Deutschlandreisenden sollten also bequem sitzen können. Noch eine halbe Stunde später bekamen auch wir ein Auto, ebenfalls Cobalt. Ich stellte meinen sperrigen Rucksack auf den Vordersitz, in den Kofferraum packte Zarina ihre Sachen. Als wäre das vereinbart, treffen wir uns mit dem Rest des Teams an der Schlange zur Passkontrolle und Registrierung zum Eintritt in das Ferganatal, im umgitterten Käfig, mit Stacheldraht geschützt, damit ja kein Terrorist, nachdem er sich hier rein begeben hat, flieht. Oder aus Schutz gegen Bären. Auf der neuen Bahnstrecke Fergana-Taschkent rollt uns schon ein Testzug mit leeren Anhängern für den Güterverkehr entgegen. Die Verbindung soll in diesem Jahr für den Güterverkehr geöffnet werden, Personen sollen unbestimmte Zeit später folgen. Viel werden die Züge nicht fahren, denn die Spur ist eingleisig. Später steht ein Bahnhof im Nichts, gegenüber eine Ladenzeile, die Vorbeifahrende neben einem Toilettenbesuch zum Kauf von Kurt, Mandeln und Nussknabbereien, getrockneten Früchte und anderen Lebensmittel bzw. Toilettenwaren einlädt. An den Ständen entlang wandelnd, weist mich Zarina auf kleine, gelbe Kügelchen hin – getrocknete Kichererbsen. Ich nehme 200 Gramm, leicht gesalzen sind sie und sicher gut zum Bier. So was essen sie hier ja gerne dazu, ihr Bier ist auch alleine kaum zu genießen. Manchmal. Gleich zweimal wurde unser Fahrer, sein Schicksal verfluchend, von der Polizei als Raser angehalten – dabei fuhr er noch ganz in Ordnung. Ein wenig schief vielleicht, aber nichts gegen den Fahrer von Julia, Elias und Harbauer, der in Fergana im Kreisverkehr rückwärts fahren wollte. Dann können wir wieder die Berge bestaunen, die Werbung auf den Hügeln, worunter alle drei usbekischen Parteien weiß zwischen den Firmennamen der Banken, Versicherungen und Technikproduzenten stehen. Korruption scheint das rechte Stichwort.

Die Fahrt durch das Tal verlief dieses Mal kürzer und fliehender als bei meinem Ausflug über Andijan nach Osch. Einmal noch mussten wir aussteigen, uns ein zweites Mal in eines der legendären handgeschriebenen Bücher zur Registrierung eintragen lassen, versuchten alle zu schlafen, und waren müde und kraftlos, als wir gegen Drei vor den Türen des Hotels anhielten. Die Fahrer verständigten sich gegenseitig, einer wusste, wohin und die anderen folgten ihm so gut es ging, dabei umherschwirrend zwischen den Spuren, dass einem schwindlig werden konnte. Das Hotel Asia Fergana liegt sehr zentral, wenige dutzend Meter entfernt von der Regionalverwaltung, auf die – am Platz des ehemaligen russischen Forts – eine zentrale Achse der Stadtplanung des letzten Jahrzehnts schnurgerade zuläuft, die al-Farg’oni-Straße. Ihr Namensgeber, ein Gebildeter, wie sie viele der usbekischen Städte glorifiziert haben, besitzt ein mächtiges Denkmal im zentralen Park der Stadt, in dem auch aufgehübschte russische Kolonialbauten und typisch sowjetische Attraktionen inklusive einem Riesenrad zu sehen sind. Wir haben eine halbe Stunde, uns frisch zu machen, die Zimmer zu sehen, bevor es los geht zum Mittagessen, auf das uns das Hokimiyat einlädt. Wir haben sowieso das Gefühl, sie, und nicht O‘zbekkino, bezahlt unsere Unterkunft. Das war die Abmachung – wir übernehmen die Kosten für Taschkent, inklusive Hotelkosten, in Fergana aber soll unser Partner seinen Anteil tragen und für uns die Unterkunft übernehmen. Die Zimmer sind hell und freundlich, groß und sauber, ich habe ein Doppelbett und bin damit zur Gänze glücklich. Die Taxifahrer warten auf uns und bringen uns zum Restaurant, Green Club, der als moderner Biergarten designt ist, sie essen wohl auf gleiche Rechnung, nur an anderem Ort als der Rest der Delegation, bringen uns nach dem Essen ins Hotel zurück und machen sich dann wohl auf nach Taschkent. Die Runde ist müde, trotzdem bestellen wir Bier – man gönnt sich ja sonst nichts, und ist aus der Hauptstadt verwöhnt – und einige Salate, dann jeder ein Gericht seiner Wahl, für mich darf es eine hervorragende Portion Rinderzunge sein, in Scheibchen, mit Käse überbacken – ich esse es ohne Anstand, scheinbar hat sich meine Manie endgültig verflüchtigt und ist einer Pragmatik des Augenblicks gewichen. Ungeachtet dessen, dass wir gerade gegessen haben, wird auf Acht das Abendessen im Hotel angesetzt, uns bis dahin Freizeit gegeben. Eigentlich war ein Besuch plus Technikcheck des Kinosaals für die Eröffnung angedacht, doch der muss ausfallen, die Gäste dürfen ruhen. Offiziell heißt es zunächst, wir sollen lieber nicht aus der Delegation ausscheren, d.h.: uns nicht der gewaltsamen Obhut von O’zbekkino entziehen, ich aber treffe mich trotzdem mit Peter Herbst, dem ZfA-Lehrer in Fergana, auf einen Kaffee im „Traktir“ (Gasthaus), einem der besten Restaurants und Cafés vor Ort. Die einzige andere Deutsche, Simone, deren Geburtstag zufällig heute ist, ist noch beschäftigt, wir sehen sie dann später zum Essen. Peter führt mich anschließend auch durch den nahen Park, ich koste den Besitz einer halbwegs guten Fotokamera aus und schieße einige Bilder. Als Fotograf des Festivals vonseiten des Instituts durfte ich in der alten Kameratasche meines Vaters die Canon 550D des Technikers auf die Reise mitnehmen. Ihre Bildqualität ist in Ordnung, das Objektiv wechselbar, und vielleicht bekommt man sie gebraucht günstiger… Ich überlege, mir eine neue Kamera zu kaufen, von dem Geld, das ich hier spare. Wir drehen noch eine Runde mit dem Riesenrad, unkaputtbarer Sowjetstahl, ruckelt etwas, aber dann ist man ja wieder auf dem Boden – er zeigt mir die Stadt und meint, das war mal alles sehr grün. Dann haben sie aus baumbestandenen Alleen kalte Straßenlinien gemacht, fällen die Platanen mit dem Vorwand, sie verbreiteten Krankheiten und ersetzen sie im besten Fall mit Kastanien. Auf dem Weg ins Hotel erzählt er mir ein bisschen von seiner Arbeit, den Schulen – das habe ich alles schon einmal gehört, und werde es auch noch einmal hören – aber die Geschichten bleiben beeindruckend, er ist auch so ein Erzähler, der sie gut darbringen kann. Im Lyzeum lernt er nur noch mit sechs aus sechzehn Schülern, weil die anderen keine Lust haben – ihm ist das lieber, als wenn sie im Unterricht stören, so bekommen die, die etwas lernen wollen, wenigstens die angemessene Förderung. In der Schule in Margilan, die ältere der beiden Schwesterstädte, die langsam an verrotteter Industrie, Drogen und Männerschwund (wenn es hier keine Arbeit gibt, wandern sie als Gastarbeiter nach Russland) kaputt geht, ist das Chaos perfekt, der Lehrer übt gar keine Macht mehr aus, die Kinder machen, was sie wollen, und das tagein, tagaus. Schimpft man mit ihnen, sind sie eine halbe Minute später wieder laut, fordert man sie auf, das Handy herauszurücken, das in der Schule verboten ist, weigern sie sich. Verbote verstehen sie nicht, es hilft nur noch, sie einfach vor die Tür zu setzen und zuzuschließen. Das ist zwar verboten, aber selbst der Rektor, ein Schlägertyp, weiß sich nicht zu wehren. Andere gehen mit dem Rohrstock durch die Gänge, der deutschen Lehrermoral widerstrebt das ein wenig. Er ist ganz froh, glaube ich, da zum Sommer raus zu kommen. Insgesamt scheint die Gegend langsam zu zerbröckeln, große soziale Spannungen warten auf ihren Ausbruch. Für das traditionelle Margilan, wo eine zu besichtigende Seidenfabrik vom Sowjetruhm alter Tage kündet, ist Fergana noch immer eine westliche Stadt, voll von Mädchen mit kurzen Röcken, modernen Ess- und Trinkgelegenheiten und Ablenkungen vom usbekischen Leben. Viele Väter seien Alkoholiker, oder eben fern in Russland, die Frauen haben nicht die nötige Energie, die Kinder zu erziehen, und die Schule ist ein unverstandener Ort. Perspektiven sehen die Kinder sowieso nicht, wozu lernen? Es gibt keine Arbeit, außer in Russland oder vielleicht auf dem Bau, Erfolgreiche haben genauso wenig Aussicht auf Karriere wie Schulabbrecher, man muss gewieft sein, um was aus sich zu machen, und erzogen wird, wenn, zu Gehorsam und Dummheit. Einige verschiebt es ins Illegale, Peter erzählte von einem, der auf dem Schulhof mit seinem Handy auf- und abgeht, seine Geschäfte regelt, was das für Geschäfte sind, kann man sich denken. Aber diese trostlose Atmosphäre hat von mir noch nicht so sehr Besitz ergriffen, dass ich rundweg negativ denken würde, ich bin noch in der Dekadenz und Fröhlichkeit der Taschkenter Tage gefangen, und genieße den warmen Abend. Im Hotel treffen wir auf Simone, Julia kommt hinzu, wir tauschen Glückwünsche aus, reden gleichsam über Probleme, auch wenn Julia sich dann umdreht und, mit dem Blick auf einen Vertreter von O’zbekkino, zur Ruhe mahnt, man wisse ja nie. Auch davon hat Peter erzählt, von den Spionen und Vertretern der staatlichen Ordnung, die hier wohl auffälliger als in Taschkent herumsitzen, von leisem Zischen und Flüstern, das unter den sowieso vorher mit den Autoritäten abgestimmten Fragen bei einer Lesung unliebsame Fragen unter den Zuschauern abwürgt – hier werden schon mal mehr oder weniger indirekte Drohungen ausgesprochen, man stößt auf die häufige Präsenz grauer Herren. Schließlich waren auch bei unserem ersten Essen Männer dabei, die uns nicht vorgestellt wurden, die einfach dasaßen. Aber wir sind alle müde und ich kann nicht an die Existenz einer solchen Macht inmitten dieser deutschen Freiheit, wie wir sie repräsentieren, glauben, will es auch nicht. Kurz schauen auch zwei Schülerinnen vorbei, oder Studentinnen – die eine, laut den beiden einer der begabtesten hier, schaut in ihrem kleinen Wuchs beeindruckend wach und durchtrieben aus. So muss man hier wohl sein, wenn man es zu etwas bringen will. Zum Abendessen gibt es natürlich Wodka, und sie waren ein bisschen beleidigt, als wir fragten, ob sie uns den denn so pupswarm servieren wollten. Den zweiten stellten sie dann kalt. Ansonsten konsistierte die Mahlzeit mit Salaten, Suppe und Fleisch aus typischen Bestandteilen, Bek, der mit seiner Frau und seine Enkelin dabei ist, tagträumt, erzählt von neuen Projekten und wie toll es doch wäre, ein deutsch-usbekisches Filmprojekt mithilfe des „Schlingels“ auf die Beine zu stellen, und das Sujet habe er schon im Kopf – zwei Kinder, ein deutsches, ein usbekisches, treffen sich und erzählen vom Frieden. Propaganda, klingelt es in meinem Kopf, aber nicht deutlich genug, mich wirklich abzuschrecken, das sollte noch kommen. Umso tiefer ich im Schlaf bin, umso tiefer sitzt der Schrecken am Morgen. Mit der Ausrede der Müdigkeit taperten wir in unsere Zimmer, unter den Deutschen mit der Abmachung, uns in einer halben Stunde vor dem Hotel zu treffen, klammheimlich sozusagen uns zu einer kleinen Bar aufzumachen, die unweit des Hotels in Laufnähe läge. Auslöser war nicht nur das Bedürfnis, Abstand von Bek und O’zbekkino zu finden, sondern auch, auf Simones Geburtstag anzustoßen, privat also. Die „Bravo“-Bar ist klein und gemütlich, wir waren aber auch die einzigen Gäste – um diese Zeit. An Getränken gab es praktisch nichts zur Auswahl außer einem Wodka – zum Glück einen laut Peter und Simone trinkbaren – und einem gezapften Bier, das ganz gräulich schmeckte und niemand auszutrinken vermochte. Dafür besorgten die Kellner für uns Baltika-Flaschen aus einem nahen Geschäft und der Abend wurde lang, feucht und lustig. Nachdem wir auf dem kurze Heimweg um die Ecke zum Hotel bogen, meinte Peter noch zu mir: Na, hast du die beiden Kerle gesehen, in dem Auto dort? Ich habe ja inzwischen ein Auge für die Typen. Da wurde mir dann trotz der alkoholbeschwingten Fröhlichkeit etwas mulmig zumute, und im Hotelzimmer betrachtete ich kritisch die goldgelbbillige Tapete.

Müde beginnt der nächste Morgen, die aus Taschkent etablierte eiskalte Dusche erweist ihren berauschend klaren Dienst. Ohnehin bin ich den Alkohol gewöhnt, und auch mit einem Kater lässt sich zur Not arbeiten. Nein, eine Tablette habe ich nicht genommen, mich dafür beim Frühstücksbuffet and Omelett, Spiegelei und Würstchen bedient. So eine rohe Stange Lauchzwiebel tut ihr Übriges und von der Kaffeepampe muss man drei Tassen trinken, um den Effekt zu spüren – hier ist Nestlé ausreichend. Wir fahren zum Kulturpalast des Ferganaer Oblasts für den Bild- und Soundcheck, werden dazu mit einem alten Bus, wie er in Samarkand oder Termiz den öffentlichen Nahverkehr bedient, abgeholt – das Vehikel wurde von O’zbekkino für den ganzen Tag gechartert, immer wieder legen wir unsere Strecken damit zurück. Das ist ganz im Sinne des Diktums, niemand solle aus der Delegation ausscheren, die unsere politischen Freunde uns aufoktroyiert haben. Denn O’zbekkino agiert nicht alleine, hinter ihnen steht das Hokimiyat der Stadt Fergana, dass noch mehr Interesse an einer Einheitsveranstaltung hat, und im Gegensatz zu O’zbekkino finanziellen Spielraum. Eine Woche vor Beginn des Festivals ließ uns die Behörde mitteilen, das Asia Hotel, das einzig annehmbare in der Stadt, sei zu dem Zeitraum ausgebucht – als wir unsere ursprüngliche, vorsichtige Reservierung auf das Goethe-Institut wieder storniert hatten. Aber es findet sich immer ein Weg und wahrscheinlich musste das Hokimiyat nicht einmal für unsere Unterbringung zahlen. Man muss dann eben einfach Platz machen für Gäste der Stadt. Der sogenannte Kulturpalast ist ein weißes, neousbekisches, riesiges Gebäude auf einer gigantischen Freifläche innerhalb der Stadt, wo vorher sicher eine lebendige Mahalla ihre Herberge fand. Man hat allgemein sehr viel hier gemacht – früher, sagte Peter, waren die Straßen lange baumgesäte Alleen, und die Häuser waren in einem Stil, der den alten russischen Kolonialhäusern glich, die nun als Zierde ausgestellt im sogenannten Park stehen. Wie in Shahrisabz ist die Freifläche ein Schachbrett, kümmerlich bepflanzt mit Tannen, kein Schatten. Einige Parkbänke säumen die flachen Wege, auf denen man spazieren soll – unhinterfragt die Motivation, das zu tun. Ansonsten ist die Anlage leer, und der weiße Palast ragt wie ein ägyptische Pyramide in die feindlich gestaltete Landschaft. Wie er einsam auf einer riesigen Brachfläche inmitten er Stadt steht, großzügig umzäunt und bewacht, fühlt man sich bei der Einfahrt, als betrete man die Verbotene Stadt. Das Ego, das hier drin steckt, sprengt alle Maßstäbe. Aber wir freuen uns, und staunen, nicht nur den beobachtenden Usbeken zuliebe, auch einfach aus Ungläubigkeit am Wahnsinn, den dieses Volk geritten hat. Die Eingangshalle glänzt wie ein barocker Herrschaftspalasts, der Saal ist groß genug für ein Rockkonzert, was hier natürlich niemals stattfinden würde. Wir zögern, wohin stellen wir unsere Banner, zwei haben wir mitgebracht, damit sie nicht untergehen, und entscheiden uns für den Platz vor dem Eingang zum Saal, an jeder Seite einer. Die Eingangshalle hat eine Empore, von der aus man ebenfalls in den Saal gelangt, wie auch in das Kabinett der Techniker. Während die anderen besprechen, um sich für die Probe bereit zu machen, nehme ich die Fotokamera und schieße das ein oder andere Bild – von oben, von der Seite. Zwei Frauen kommen immer wieder an mir vorbei und befestigen eine Hand voll Luftballons an der Bühne. 200 hatten wir in etwa mitgebracht, 50 verteilten sie im Raum, vom Rest haben wir über die Dauer des Festivals nichts mehr gesehen. Sie ist hübsch, die Luftballons verteilende Dame, aber sie schaut so abwesend und läuft blind, sie wird wohl nicht viel zu lachen, erst recht nichts zu denken haben. Dann gehe ich auf die Empore und erhasche einen Blick in den Technikerkabine – Holztreppe, Holzboden, ein Sofa, ein Mischpult und ein Computer mit zwei Bildschirmen, alles eher unkompliziert zusammen gestellt und ziemlich leer. Das ganze Haus scheint mehr oder weniger Schrott zu sein – gebaut wurde alles vor zwei, drei Jahren – die meisten Stühle klappen nicht mehr von alleine nach oben, der weiße Überzug sieht nicht besser aus als die billigen Laken in den Nachtzügen der usbekischen Eisenbahn und der Teppich, auf dem alles steht, erinnert an die 40 Jahre alte DDR, graubraunverstaubt in Einheitsmustern. In ihrem Bauwahn, in ihrer Eile, die jetzt gerade in Taschkent live zu beobachten ist, haben sie das Fundament nicht professionell errichtet – der Palast sinkt auf dem sumpfigen Boden langsam ein. Wenn man jemanden fragt, ist das natürlich alles Unsinn. Fast tausend Menschen passen hier hinein, wir hoffen inständig, dass Hokimiyat und O’zbekkino den Saal auch halbwegs voll kriegen, denn wir haben keine Kontakte, außer zu den beiden hoffnungslos arbeitenden Deutschen, Simone und Peter, und keine Möglichkeit, unser eigenes Publikum zu organisieren. In der Mitte der Decke ist eine blaue Himmelillusion mit weißen Wölkchen gemalt. An der Wand links und rechts der Bühne hängt je ein LED-Monitor, also Bildschirme aus hunderten LED-Lampen, die bei Bespielung ein Bild ergeben, im Off-Zustand aber durchlässig sind und im richtigen Blickwinkel die Wand dahinter freigeben, wie ein Netz. Als der Film beginnt, schauen wir alle ein bisschen fragend, dann marschiert Haubauer wütend, Julia und Ravshan im Gepäck, nach oben in den Technikerraum. Ich sitze mit Elias zusammen und bekomme im Vorbeigehen vom „Schlingel“-Direktor das entgegengeschleudert, was ich gesehen habe, aber nicht in Worten ausdrücken konnte. Das Bild war zu hell, der Kontrast zu niedrig, die Sättigung zu hoch, das Format stimmte nicht, der Film spielte zu schnell und mit seltsamem Ton, es herrschte ein Farbstich ins Rote – und der verdammte Saal hallt unerträglich. Nach einer kurzen Visitation wurde erstmal das Problem mit der Geschwindigkeit gelöst, dann verstanden wir, dass der Ton doppelt lief: Einmal synchron zum Visuellen, in 24 Bildern pro Sekunde. Gleichzeitig lief er mit 25 Bilder pro Sekunde, was bedeutete, dass wir in immer längeren Abständen den Ton aus der Zukunft hörten. Der Tontechniker war an jenem Tag krank, deshalb kannte sich keiner aus und niemand konnte helfen. Die Dienst habenden Leute spielten die DVD mit Windows Media Player ab. Harbauer war außer sich, ich eigentlich auch. Katharina, die Produzentin des Films, mahnte zu Ruhe. In einem elendig langen Prozess kopierten sie die Datei von der DVD auf ihren Computer und wir hofften, es würde dann besser werden. Wenn nicht, da waren sich Harbauer und Julia einig, würden sie die Vorführung absagen. Es ging aber dann doch, und nur noch Bildqualität und Format verblieben. Wir testeten den usbekischen Trailer für einen kommenden Actionfilm, der vorgeschaltet werden sollte, weil O’zbekkino das Projekt produziert hatte. Auch der sah grauenhaft aus. Trotzdem kamen sie zu uns und meinten, bemerken zu müssen, die Qualität müsse an unserem Film liegen, ihrer funktioniere doch tadellos – für solche Bemerkungen würde ich ab und zu gerne Ohrfeigen austeilen. Immerhin stellte sich nach einer wieder elend langen Diskussion heraus, während derer wir unten saßen, fernab vom Schuss, und jeder seine Kommentare dazu gab – Wir hätten gestern herkommen sollen usw. – dass es eine Fernbedienung zum 20.000 Euro teuren Beamer gab, die aber nicht im Technikraum, sondern hinter der Bühne sei. Auf Englisch, weshalb sie niemand hier bedienen könne. Wir hätten es wissen sollen, müssen. Die Technik in diesem Saal ist einen Haufen Geld wert, und es weiß einfach niemand, sie zu bedienen – das, wenn mich jemand fragt, ist typisch usbekisch: Einfach kopieren, unbesorgt über die Praktik, denn das wichtigste – ist der Anblick. Besonders wenn Ausländer da sind. Wir folgten dem Techniker hinter die Leinwand: Die Fernbedienung war zugegeben komplex, aber innerhalb von einer Minute hatte Elias die Farbmängel beseitigt, eine Feinjustierung wollte da niemand, so erleichtert waren wir, dass der Film lief, und zwar mit einfachem Ton, mit ordentlichem Bild, das Format hatte jeder vergessen und wir, nach diesem ersten Schrecken, verließen den Palast in Richtung Hotel. Eine halbe Stunde blieb uns, dann wollte O’zbekkino uns zum Ort des Mittagessens bringen, schnell mit uns essen und weiter zur Eröffnung fahren, die halb Drei stattfinden sollte. Warum in diesem engen Zeitplan ausgerechnet eine 20-minütige Fahrt Platz finden musste, um dann mäßig gute Salate und ein zähes Stück Kasan Kebab mit Kartoffeln in Ölsoße zu essen, danach fragt auch niemand mehr. Warum es zu dem Fleisch keine Messer gibt, schon – das Haus hat keine, die einfache Antwort. Wir bekamen dann für die Runde von 15 Leuten zwei Küchenmesser, die wir uns teilen mussten, Vorteil: Die waren wenigstens scharf. Mein Nachbar tropfte mir einen Teil seiner Fettsoße auf meine beige Hose und wir dampften rasch ab, zum Palast, wo alle Kinder bereits auf uns warteten. Später erfuhren wir, dass manche seit zwei Stunden dort saßen, weil man sie statt um halb Drei um Eins bestellt hatte. Vor dem Gebäude gab es Fotos, Blumen, einen holla Empfang, und wir, stolz wir Oskar, machten uns auf in der „Künstlerraum“, von dem aus ein Zugang hinter den Vorhang bestand. Betreten haben wir sie allerdings dann von vorne, denn hinter dem Vorhang kann man schlecht Reden halten. Ich stieg zunächst mit rauf, machte Bilder von der Masse – 1000 Kinder sind eine beeindruckende Anzahl, besonders weil jeder einzelne Platz gefüllt war. Brandender Applaus, sie stehen auf ihren Plätzen. Ich gehe von der Bühne, die kleine Treppe herunter und springe im Saal umher, während die Reden laufen – eine vom Hokimiyat, eine von O’zbekkino, eine von Julia, eine von Harbauer, eine von Katharina. Ich mache Fotos. Jemand übersetzt an einem zweiten Mikrofon. Jedes Mal – brandender Applaus. Als sie die Bühne verlassen, hört er gar nicht mehr auf. Die Delegation setzt sich in die Mitte des Saals, von wo aus sie schnell die Szenerie verlassen kann, für mich ist kein Platz mehr, also hocke ich mich vorne neben den Reihen nieder. Zuerst kommt Sebo und sing ihre beiden Lieder – My Heart Will Go On und jenes usbekische, das in einer endlosen Wiederholung der Zeile „I am a disco dancer“ ausklingt. Das Publikum reagiert begeistert. Ich mache Fotos. Es läuft „Kino, Kino“ – beeindruckend, auf der großen Leinwand, aber es wird deutlich, dass die von Elias getätigten Einstellungen nicht übernommen worden sind, das Bild ist wir vorher – zu gesättigt, zu wenig Kontrast, zu hell, rotstichig. Wozu haben wir die Einstellungen denn gespeichert? Manchmal ist man nahe daran zu verzweifeln. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht gedacht, dass der vorhin getestete usbekische Trailer tatsächlich zum Zeigen gedacht gewesen war – oh, das war er. Die lange Version vor dem usbekischen Zeichentrickfilm, die kurze danach. Ein Actionfilm, der diese Kinder im Alter von acht bis 12 Jahren wahrscheinlich wenig interessieren wird, aber man muss ja seine Eier zeigen, und dass man Dinge erledigt bekommt. So ein Schrott.

Unser Film beginnt. Immerhin stimmt der Ton, auch wenn man bei der Akustik wenig von der russischen Synchronisation mitbekommt. Dann raschelt es im weiten Raum hinter mir – Schüler stehen auf und verlassen den Saal. Nicht eine Klasse, mehr. Immer mehr stehen auf und verlassen den Saal, zu Scharen gehen sie! Ich bin schockiert. Die Delegation sitzt nicht mehr an ihrem Platz – wo sind sie? Beschweren sie sich, fragen sie nach? Ich stürze aus dem Saal, frage nach – eine Frau, die im Kino arbeitet sagt, sie verstehen kein Russisch – was ist mit den ganzen russischen Reden? – eine andere sagt, sie müssen zum Nachmittagsunterricht, der zweite Block beginnt bald. Nein, die anderen sind im „Künstlerraum“ und lachend unterhalten sie sich. Mit laufender Unlust, der Hiob zu sein, winke ich Ravshan heraus und sage ihm, er soll mal einen Blick in den Saal werfen. Dort ist Völkerwanderung. Ich stoße auf Simone und auf Peter, muss mich in Redelautstärke unterhalten, um der Gewalt des Raschelns und Gehens entgegen zu wirken. Ravshan sehe ich nicht mehr. Dann gehe ich wieder hinaus, wie in Trance. Julia und Harbauer geben ein Interview, Ravshan steht daneben und übersetzt für die Kamera und das Mikrofon. Hinten laufen Schüler die Treppen herunter und verschwinden aus der Tür. Ich flüstere es den anderen zu, die Produzentin sieht ihren eigenen Film in solchem Armageddon, ich bin völlig neben mir. Asya, der ich gar nicht mehr ins Gesicht schauen will, kneift die Lippen zusammen. Sie sammeln unsere Sachen, wippen auf den Zehen, Zarina sagt mir, sie wollen, dass wir gehen, draußen stehe schon der Bus. Als die beiden endlich fertig sind, greife ich wütend vor O’zbekkino Julia ab, und als sie fragt, meine ich, schaue nicht in den Saal, du kriegst einen Herzinfarkt. Wir öffnen die Tür, entgegen den Beschwörungen von Asya, wir sollen doch schnell ins Auto – Julia kippt die Kinnlade herunter. Von den gefüllten 1000 Plätzen sind maximal 150 besetzt. Die Zahl hat sie genannt, ich denke es waren weniger. Wie ein Geisterhaus sah es aus, und schwer vorstellbar, dass hier vor 15 Minuten noch 1000 wie begeisternd klatschende Kinder saßen – wie Zombies, so spricht Julia seitdem davon. Wie Nordkorea, alle in derselben Uniform, wie Zombies – von den Reden werden die meiste nichts verstanden haben. Wieso organisiert O’zbekkino solche Schüler? Fergana war als russsische Stadt gegründet worden, noch immer gibt es eine Vielzahl an russischen Schulen, warum werden uns uniformierte, krankhaft homogene Diktaturopfer vor die Nase gesetzt? Natürlich bleibt uns nichts übrig, als zu gehen. Wir sammeln uns, sie drängen immer noch. Vielleicht ist irgendetwas passiert, erhöhte Sicherheitsstufe oder einfach wegen der kommenden Universiade, einem landesweiten Schülerwettbewerb, dass sie uns schnell in den Bus quetschen wollen – und niemand sagt etwas über das soeben Geschehene, die Usbeken sind fröhlich wie immer. Wir rufen nach Kaffee, sie fahren uns an einen seltsamen Fast-Food-Imbiss, wir sagen, wir wollen richtigen Kaffee und müssen ihnen dann einen Ort nennen, an dem es so was gibt – das Traktir. Sitzen, verdauen – die ersten Fragen, Erkenntnisse. Peter stößt hinzu und erzählt, der Film wäre nicht einmal bis zu Ende gelaufen, hätte einfach irgendwann gestoppt. Als wir am nächsten Tag noch einmal vor Ort sind, sagen sie uns, es wären einfach zu wenig Leute da gewesen, sie sahen keinen Sinn mehr darin, ihn weiter zu zeigen. Was für eine Aufführung. Und immer noch geht das an O’zbekkino, zumindest äußerlich, vorüber wie eine kleine Wolke. Ich kann es nicht glauben, den anderen geht es ähnlich. Bald ist Abendessen anberaumt, wieder im Hotel. Auf dem Weg dorthin halten wir an einem Vino-Vodka-Laden mit dem Vorwand, Mitbringsel zu kaufen, in großen schwarz verhängten Tüten – tatsächlich geht es um Stoff für den Abend, denn nach Kaffee ist Alkohol das, wonach es uns alle am meisten verlangt. Sie sagten, vorsichtig, kein Wort – Asya versteht gut Deutsch, sie tut nur immer so. Die Wahrheit dessen sollte sich an anderer Stelle bestätigen, und mir lief es kalt den Rücken hinunter – so naiv, wie sie aussehen, sind sie nicht.

Wir sitzen gemeinsam am Tisch, essen Salate, eine Suppe etc., ich erinnere mich nicht. Ich weiß noch, dass Bek uns nichtssagende Geschichten aus seiner Familie erzählte, aus denen er Filme machen will, erzählte über deutsch-usbekische Koproduktionen. Man stieß auf die gelungene Eröffnung an, sprach über Kooperationen, fortführende Beziehungen und deren Ausbau, aber einig waren sich die Seiten nur in einem: Shum bola muss weiter gehen. Bek schenkte jedem der Deutschen inklusive mir einen gewaltigen, gewaltig hässlichen Wandteller mit Granatäpfeln, jeder verpackt in einer blauen Zaratüte. Bedanken war einfach, solange wir den Inhalt nicht kannten, später gab es ausdrucklose Blicke über den Tisch. Wir rannten, so schnell wir konnten, weg, Elias und Harbauer wollten ein Fußballspiel sehen und versammelten uns im Zimmer von Katharina, ganz am Ende des Gangs, hoffentlich weit weg genug von allen, die unsere Zusammenkunft stören könnte. Alle waren müde, Wodka mochten lediglich Harbauer und ich, der Wein wurde alle und das Bier auch. Wir redeten über viel, aber wenig über den heutigen Tag – man wusste, was die anderen denken. Dann mussten die meisten zum Flughafen, ich nahm den Wodka und sperrte ihn in meinen Kühlschrank, wir verabschiedeten uns, und es verblieben Ravshan, Zarina und ich. Und wir schliefen kurz – Da soll mir niemand sagen, Gutes tun sei leicht. Ein Albtraum: In Anwesenheit der Produzentin verlassen Hundertschaften den Saal. Das bleibt in Erinnerung.

Ich komme zum Frühstück, Ravshan sitzt schon da, gemütlich, es ist etwas spät. Den ersten Film um Elf können wir nicht zeigen, in dem Saal ist gleich eine Veranstaltung, erzählt er mir. Die Leute von O’zbekkino wirbeln herum, telefonieren und sitzen bei ihrem Kaffee, Ravshan scheint unbeeindruckt – oder ist in jener Starre der Ungläubigkeit, die einem alles egal sein lässt. Plan: Wir ruhen uns aus, gehen zu Eins ins Kino, zeigen um Zwei, wie vorgesehen, einen Film, und den nächsten um Vier. Dann weiß ich nicht, was passiert, weil es auf Usbekisch vonstatten geht – wir müssen doch aufbrechen, was ist los? Sie haben jetzt einen Film auf Zwölf geplant, die Veranstaltung wurde abgesagt, wegen uns, nein, auf morgen verschoben, damit wir heute alle geplanten Filme zeigen können. Das sagen sie, aber später erfahren wir, dass O’zbekkino selbst die Falschinformation gegeben hat, für heute war keine Veranstaltung geplant. Wir fahren um viertel nach Elf los, kommen halb an – es ist ein, oder das, Kolleg für Kunst in Fergana; Klaviermusik tönt aus dem Hauptgebäude. Wir gehen nebenan in den Saal, in dem wir den Rest unsrer Tage verbringen sollten.

Er ist kleiner, fasst 350 Personen und besitzt eine alte, gelblich verblichene Leinwand. Alles hier geht langsam. Zehn Minuten vor Zwölf steht die Technik – ein Minibeamer ohne veränderbare Einstellungen, ein Rechner, Bildschirm, zwei Lautsprecher. Alles portabel, und aufgebaut vor der Bühne geparkt, dann gehen die Technikchecks los. Zarina sitzt schon auf ihrem Posten, in den Vorhängen der Bühne versteckt an einem Tisch mit kleiner Lampe zum Lesen der Dialogliste. Ich gehe nach draußen. Eine erste Schulklasse ist da. Ein Stand mit unseren russischsprachigen Programmen ist aufgebaut und die kleinen Schüler gucken in Verwunderung auf diese schönen, bunten Flyer, verstehen kein einziges Wort. Sie haben gerade begonnen, Deutsch zu lernen, sagt die Lehrerin, aber Russisch, nein, können sie nicht. Drinnen testen sie zuerst den unsäglichen Trailer des usbekischen Actionfilms, dann den Vorfilm. Es gibt Probleme mit dem Ton. Das Bild ist viel zu dunkel, aber dagegen können sie nichts machen. Sie tauschen den Rechner aus, holen von irgendwoher einen neuen, jetzt geht wenigstens der Sound, sie testen beide usbekischen Streifen noch einmal, dann kommt Sebo dran. Mit Entsetzen erfahre ich, dass die ein kleines Konzert planen – sie soll nicht wie gestern zwei Lieder singen, sondern fünf. Gestern war ich mir noch nicht sicher gewesen, heute wird es sonnenklar – alles Playback. Und dazu tanzt sie wie ein aufgezogenes Püppchen, keine Ahnung davon, was sie gerade tut, nur genügsam, weil sie genug Essen und vorgetäuschte Zärtlichkeit bekommt. Bek sitzt fett und übermäßig zufrieden in seinem Sessel und begutachtet seinen Schatz, seine wohlerzogene Enkelin, die er zweifellos für talentiert genug hält, zu einem der nächsten großen usbekischen Stars zu avancieren – ob sie das überstehen wird, zwischen dem Räderwerk der großväterlichen Macht und jener des Geschäfts? Eine Musikwissenschaftsstudentin, die über Usbekistan promoviert hat, erzählte uns einst, für die aufstrebenden Sängerinnen gebe es so gut wie nur eine Möglichkeit, an die Spitze zu kommen. Die Reichen und Schönen aus der Industrie und Politik richten regelmäßig Parties aus, zu denen sie eine oder mehrere einladen, gegen gute Bezahlung, versteht sich. Ebenso versteht es sich, dass bei diesen Abenden noch ganz andere Dienstleistungen als nur Gesang gefordert werden. Wer sich nicht einladen lässt, wird auch nicht eingeladen, wird von der Industrie unterdrückt, hat keine Chance. Ob Bek in diesem korrupten System mächtig genug ist, seinen Liebling durchzuboxen, ist fraglich. Er besitzt Macht, zweifellos – aber was sind 18 Restaurants gegen, sagen wir, das Monopol über die staatliche Vergnügungsindustrie? Unsere Techniker  strengen sich an. Sehen dabei aber aus wie Fünftklässler, die zum ersten Mal einen Beamer bedienen – in diesem Land wird Technik, ich sagte es bereits, zum Angucken eingekauft, nicht zum Benutzen. Ravshan sagt, es tue ihm Leid um sein Land, wenn er so etwas sieht. Ich muss an die Erzählungen von Peter denken, an die Unfähigkeit, die ihnen als Lehrern gegeben wird, die Schüler zu erziehen. Usbekistan züchtet sich eine Elite an völlig unfähigen Leuten – dass sie darunter leiden werden, dass dieses Land dann völlig den Bach herunter gehen wird, daran wir kein Gedanke verschwendet. Das System muss aufrecht erhalten werden, da tun’s die Zombies besser als selbständige Menschen mit einem Gehirn. Und ich verbiete mir den Rassismus-Vorwurf, wenn ich von einer gewissen Dummheit in den Reihen der Usbeken spreche – das ist anerzogene Dummheit, deren unnatürlichen Wuchs man in jeder Bildungseinrichtung wohl beobachten kann. Während der Soundproben für Sebo verlasse ich den Saal – es ist mir zu viel und zu laut. Immerhin stehen draußen schon ein paar mehr Kinder, durch die geschlossene Tür dröhnen die Bässe, die Kinder starren noch immer auf die bunten Programme. Heute soll das Kleine Gespenst laufen. Noch bevor unser Film getestet worden ist, lässt das College die anwesenden 25 Kinder in den Saal. Dann rennt ein Polizist herein und erklärt uns, wir müssten jetzt alle den Saal verlassen, man müsse ihn auf Sprengstoffe und Bomben untersuchen, das sei unbedingt notwendig und Vorschrift. Es ist halb Eins. Ich erfahre, warum so wenig Kinder da sind – die anderen wurden versehentlich zum gestrigen Ort der Vorführung, zum Kunstpalast, geschickt, sie treffen wenig später ein, wir können wieder auf unsere Plätze ziehen und lediglich 45 Minuten nach planmäßigem Beginn startet das Vorprogramm. Den zweiten Film heute können wir vergessen.

Für eine so starre Dummheit muss man den Staat verachten. So etwas, was wir in Taschkent auf die Beine gestellt haben, bekommt O’zbekkino nicht gebacken – man redet viel über die Faulheit der Usbeken, und könnte die noch im Rahmen interkultureller Unterschiede decken, aber diese Inkompetenz – wenn sie ein Festival organisieren wollen, dann kümmern sie sich einen Dreck darum, was vor den Augen aller passiert, außer es sind wichtige Leute da. Und am Abend prosten sie sich zu und ergehen in Selbstbeweihräucherung, als ob sie wirklich dächten, diese Katastrophe sei ein Erfolg – ihr eigener. Ein Moderator kündigt das „usbekisch-deutsche“ Filmfestival an – wir hatten sonst immer viel Wert darauf gelegt, es deutsch-usbekisch zu nennen, aber das drehen sie gerne herum – und sagt noch einige leere Worte, Sebo tanzt zu drei aufwendig produzierten Musikvideos, tut so, als ob sie sänge, und direkt im Anschluss verlässt die ganze Kompanie Bek und O’zbekkino den Raum zum Mittagessen. Als wir gefragt werden, lehnen wir ab – erstens wollen wir Zarina nicht als einzige ausschließen und zweitens müssen wir uns zum Kunstpalast aufmachen, um sicher zu gehen, dass sie die Kopie des gestrigen Eröffnungsfilm gelöscht haben. Das Kleine Gespenst beginnt – viel zu dunkel, man sieht kaum etwas. Für einen Test des Hauptfilms hatten sie keine Zeit, all die Musikvideos, Trailer und Vorfilme waren wichtiger und wurden getestet. Beim Herausgehen treffen wir auf noch mehr Schüler, die kein Russisch können und spontan bestellt worden sind, den Saal aufzufüllen. Als wir zurückkommen, ist der Film bei 40 Minuten. Schon beim Eintreten überkommt uns ein schreckliches Gefühl. Die Kinder, auf die Hälfte reduziert, schreien und lachen, kichern und reden, und diese Geräuschwolke ist lauter als der Film, lauter auch als Zarina, die unermüdlich weiter spricht, die Arme. Einen Moment halten wir inne. Ravshan nimmt die Geräuschkulisse auf, es ist unglaublich. Die Techniker und der Moderator stehen tatenlos herum, ich hasse sie dafür. Dann unternimmt Ravshan das einzig Mögliche – er stoppt den Film, das Saallicht geht an, die Kinder klatschen, als ob der Film zu Ende wäre, und bleiben sitzen, diese Zombies, wir retten Zarina aus unserer Ecke und verlassen diesen Teufelsort, völlig entgeistert, Zarina verständlicherweise mehr als wir alle – 40 Minuten hat sie gegen eine immer größer werdende Schallmauer, gegen den Saal verlassende Kinder und andere, die herum springen, angeredet. Was soll man da noch sagen?

O’zbekkino ist mit Bek direkt nach Sebos Part, dem wichtigsten also, zum Mittagessen abmarschiert, wir werden abgeholt und zu ihnen an den Tisch einer klassischen Choyxona mit Holzwänden, -säulen und einem Hauz, Teich, in der Mitte. Rings herum sind große Separées eingelassen – ein ausladender Tapchan wartet auf uns, hektisch bestellen die Anwesenden uns an den weiten Tisch, wir lassen uns nieder. Erst nach dem Essen meinte Zarina zu mir, sie haben uns verteilt, absichtlich getrennt – und im Nachhinein fällt es unangenehm auf, dass wir, die wir geschlossen kamen, uns an drei der vier Seiten gegenüber saßen, sodass die Instrumentalisten uns in ihre Mitte nehmen mussten, eine Verschwörung oder ähnliches zu verhindern. An jenem Mittag schmeckte alles etwas abführend. Keine Entschuldigungen. Die Salate, der Plov, danach Schaschlik, der nicht einmal besonders gut war – aber dazu die Reden von Erfolg und die Heuchelei, immer nicken zu müssen, die Ausreden – nein, keinen Wodka, ich bin zu müde, wenn ich mich einfach weigere, mit denen zu feiern, die unser Festival verbockt haben. Jeder von uns muss eine Rede halten. Ich kann nicht anders, ich stoße darauf an, dass „Shum bola“ nächstes Jahr wieder stattfindet, das ist das einzig wichtige, und das zweite, aber das sage ich nicht, dass O’zbekkino bei der Organisation die Schnauze halten soll. Zarina stößt mit einem erzwungenen Lächeln auf kompetente Menschen an und nimmt sie so für sich aus dem Trinkspruch, Ravshan auf Usbekisch verstehe ich nicht, es ist mir ja auch egal. Und dann kommt Bek und hält die hässlichste Rede des Festivals – Wir wissen alle, was nicht geklappt hat und warum – er redet auf Usbekisch, aber die Ideologie strahlt aus diesen Worten taghell ab, und Zarina übersetzt mir später den Inhalt, den ich vorausgeahnt habe – es ist nicht viel zu verstehen, die wenigen Wörter Usbekisch, die ich kann, höre ich hier: Zusammenarbeit, O’zbekiston, Freundschaft, Frieden – Völkerfreundschaft, und allem zu danken ist dafür dem Organisator und großzügigem Unterstützer der Kunst – O’zbekkino. Wenn meine Kinnlade nicht ganz weit unten hängen wurde, wäre sie mir noch einmal heruntergeklappt. Darauf beschränkt sich der usbekische Horizont, weiter als diese Wörter schaut niemand, und erst recht schaut sich niemand auf die eigenen Füße. Wir gehen. Bek wollte heute die Stadt verlassen, weil es schon so spät ist, verschiebt er die Heimreise mit Frau und Enkelin um einen Tag. Wir fahren zuerst ins Hotel, Ausruhen ist nicht, nur eine halbe Stunde. Um Vier soll ein Jugendfilm laufen, der einzige, den wir untertitelt dabei haben, wo man tatsächlich die deutsche Sprache hören kann. Dazu haben Peter und Simone aus ihren Klassen interessierte Leute mitgebracht, und darauf bauen wir.

Wir kommen an. Die Technik steht. Der Film funktioniert nicht. Die DVD ist leer. Ravshan hat alle Datenträger vor dem Festival getestet, sie liefen – Peter kommt und versucht mit seinen Technikkenntnissen weiterzuhelfen. Ravshan testet die Disc auf seinem Laptop, Simone bringt kurzfristig ihren mit – nichts zu machen, das Ding ist leer, auch als wir wiederkommen, in Taschkent, zeigt das Laufwerk eine unbespielte DVD an. Der böszüngigen Vermutung, die „Techniker“ des Kollegs haben aus Versehen den Inhalt gelöscht, kann ich nicht viel entgegensetzen. Wie im Kulturpalast spielen sie die Filme mit Windows Media Player ab, vorher muss aber noch in die Dateien gegangen werden, es erscheinen noch jedes Mal mindestens zwei Fehlermeldungen, und dann kam die Nachricht, es funktioniert nicht. Hilflose Idioten, und man kann sie selbst nicht einmal dafür verantwortlich sprechen, der Staat zieht sich solche Früchtchen in völliger Selbstverblendung heran, um der Wahlergebnisse wegen und des Geldes, das sich dann als Monopol auf die Banken legen darf. Ravshan hat in weiser Voraussicht zu jeder Zeit alle DVDs in seiner Tasche, und so haben wir wenigstens die Möglichkeit, einen Film zu zeigen, den Zarina ursprünglich übersprechen sollte, nun aber einfach im Original, ohne Untertitel, klares Deutsch, von dem aus diesen Lautsprechern selbst bei uns nur ein Drittel ankommt. Am Ende, als sich Prinz und Prinzessin küssen, jubelt das verbliebene Publikum, und als sie sich nochmal und nochmal küssen, und am Ende sogar heiraten, bekommen wir ein Geklatsche zu hören, das ehrlich ist und voll Freude. Etwa 100 Menschen waren geblieben und sie gehören zu den wenigen, die wir mit unserem Festival in Fergana beglückt haben dürften. Der Leiter des Kollegs meinte später zu Ravshan, der Film sei für diese Region eher ungewöhnlich – er spielte auf die Küsse an, und wir mussten kichern. Dabei gilt Fergana gegenüber anderen Städten im Tal noch als Klein-Taschkent, voll Ablenkung und unkeuscher Umtriebe.

Am Abend boykottierten wir Asya mit Ausreden, Ravshan blieb auf seinem Zimmer, ich nahm Geld von ihm aus unserer Reisekasse und unter dem Vorwand eines Spaziergangs verließ ich mit Zarina das Hotel, um gemeinsam mit Peter eines der besten Restaurants am Platz zu besuchen, den Pab Nr. 1, Pab eben russisch geschrieben. Eigentlich hatte ich nach Plov und Schaschlik wenig Hunger – aber dann bestellten wir Steak und aller Appetit kam zurück. Ich esse selten gutes Fleisch, meist rustikales auf dem Basar, und das letzte Steak hatte ich im Oktober, als wir nach dem eingereichten EU-Antrag im April Verdant in Taschkent essen waren – und ich genoss es. Dazu Peters Geschichten von hier, ich höre vieles zum dritten Mal und es ist immer noch unglaublich – die Undiszipliniertheit der Schüler, das Versagen jeglicher Autorität vor ihrer verständnislosen Gleichgültigkeit ihrer Zukunft gegenüber, die eben – und das ist das Traurige – das einzig Verständliche in ihrer Situation ist – haben das Erlebnis des Fleisches nicht gemindert.

Bis auf Gelegenheitsbesuche Asyas und einem abgestellten Vertreter von O’zbekkino waren wir am dritten Tag praktisch allein. Wir planten wieder zwei Filme, um 14 und um 16 Uhr – man erinnere sich: Um zehn begann eine Veranstaltung, von der uns fälschlicherweise gesagt wurde, sie sei am Tag zuvor. Morgens waren wir drei unglaublicherweise frei und liefen durch die Stadt, entspannt, befreit von aller Verantwortung, und mit einem leichten Gemüt, als wären wir im Urlaub. Mehr als die Filme abzuliefern und ihre Vorführung auszuhalten hatten wir heute nicht zu tun, und bis zum Start noch viel Zeit. Wir liefen durch den sogenannten Park, durch den Schatten, weil die Sonne stark brannte und heiß war, ließen uns treiben und gelangten schließlich zu den Buchhändlern, deren Sortiment auf dem Boden neben dem Kanal ausgebreitet liegt und die für ihre meist sowjetischen Bücher und Übersetzungen Kunden suchten. Ausgiebig wühlte ich mich durch die Reihen, begeistert wie immer von Weltliteratur, unabhängig davon, ob ich sie zu lesen imstande bin oder nicht – aber auch Ravshan hatte seine helle Freude und verpasste um ein Haar den Kauf von zehn Bänden Alexandre Dumas für 40.000 Sum, schlug dann aber bei anderen Autoren der Weltliteratur zu und ließ sich weitere Bände abends ins Hotel zur Ansicht bringen, die er ebenfalls erwarb. Zarina kaufte eine deutsche Ausgabe des „Shum Bola“ von Abdulla Qodiriy, mit „Der Schelm“ übersetzt, und ich ging frohgemut mit zwei Büchern von Solschenizyn fort, sowie einer kleinen Ausgabe mit zwei Theaterstücken von Maxim Gorki. Auf dem Weg durch den Park entdeckten wir noch ein Kino, untersuchten es – dienstlich – und waren überrascht, dass so ein Schrotthaufen noch in Betrieb ist. Bei laufender Vorführung war die Tür zum ersten Saal offen und wir schauten ungehindert hinein, setzten uns auf die alten, metallenen Klappstühle, die quietschten und an Filme über den Zweiten Weltkrieg erinnerten, wo die Zuschauer auf solchen Sitzen ihre Wochenschau sahen. Als Asya schrieb und uns zum Mittag einlud, saßen wir gerade im Traktir, tranken kalte Limonade und schrieben zurück, wir wären noch unterwegs. Als sie uns später zum Abendessen einladen wollte – per SMS, physisch sind wir uns an dem Tag ja kaum begegnet – schrieb Ravshan, wir hätten dann doch Mittag gegessen, aber alleine, und so spät, dass wir kein Abendessen mehr brauchen. Sie antwortete, ob wir sie boykottieren würden, aber Ravshan bekam das auch irgendwie gedreht. Abends, als wir essen gingen – Mittag hatten wir tatsächlich keines – mussten wir uns also wieder aus dem Hotel schleichen, heimlich.

Erwartungsgemäß kamen zum ersten Film nur wenige Kinder, wir fläzten uns in die unbequemen Stühle und schauten dem Treiben zu. Die russische Synchronisation war genauso schlecht zu verstehen wie das deutsche Original gestern, vom dunklen Bild ganz zu schweigen. Die Kinder konnten vielleicht kein Russisch, oder der Film war ihnen egal, es begann zu rumoren, der Saal wurde lauter und lauter. Irgendwann mitten in einer Szene kam eine neue Schulklasse und wurde von der Lehrerin in der Saal gejagt, die erst im Suchen und Besetzen von Stühlen nicht zur Ruhe kam und die dann begann, aus Langeweile oder unausgelebter Aktivität hin und her zu rennen, springen, alles was man sich als Veranstalter wünscht. Peter hatte erzählt, die Kinder hier halten auch einfach nicht still. Egal, ob Theater oder Kino, sie halten das Geschehen auf der Bühne, Leinwand für einen großen Fernseher wie zuhause – und Fernsehen ist, das kenne ich aus Taschkent, eine Familienangelegenheit. Der Bildschirm läuft, wer zwischen Kochen, Kinderbetreuung und Handyspielen oder Unterhaltungen über Arbeit und Wetter Zeit hat, schaut kurz drauf. So reagierten sie auch – ein lustiges Bild verstanden sie und lachten, Handlungen über mehr als ein paar Sekunden nicht. Irgendwann linste Asya herein, blieb einige Minuten und ging dann wieder, ohne mit uns zu reden. Dann trat ein Kameramann in den Saal, begann von hinten das Publikum zu filmen, stellte sich in den vorderen Block und nahm uns auf – immer mit dieser grellen Saalleuchte, gegen die ich schon aus Protest meine Hand erhob, ganz wortwörtlich. Nachdem er auch die armen Kinder gefilmt hatte, stellte er sich wieder hinten hin und filmte die Leinwand. Sein Kollege kam mit einem Mikrofon herein und fragte, wer hier der Verantwortliche sei, ob er ein Interview geben könne. Ravshan sagte natürlich nein. Ich stand auf und machte den Kameramann darauf aufmerksam, dass der Film geschützt sei und er nicht einfach die Leinwand aufnehmen dürfe, was bei der Bildqualität ohnehin eine gruselige Aufnahme ergab. Er sagte ja, die beiden verließen den Saal und wir – schauten halb verzweifelt, halb verwundert, dem bunten Treiben zu, versuchten nicht so sehr daran zu denken und dem Film zu folgen.

Zur letzten Vorführung, an deren Ende wir uns schon sehnten, hatte Ravshan Peter, der kommen wollte, gebeten, Kissen mitzubringen, die er tatsächlich lieferte – eines für jeden von uns – und die uns die Möglichkeit boten, unseren schwachen Rücken ein wenig in Richtung Annehmlichkeit zu polstern. Vor dem Film trat unser O’zbekkino-Betreuer auf die Bühne und mahnte die Schüler auf Usbekisch, uns keine Blamage erleben zu lassen, es seien immerhin Ausländer im Saal. Der Film lief an, Peter erzählte Zarina etwas über die Hintergründe. „Hände weg von Mississippi“. Fünfzehn Minuten und es wurde wieder laut. Das Russisch war kaum verständlich. Als nicht einmal die Hälfte vorbei war, finden einige Leute an zu klatschen und wir bekamen Angst, es sei, um den Film abzuwürgen. Wir rutschten tiefer in unsere Sesseln hinab. Es gingen die ganze Zeit schon Leute, kleine oder größere Gruppen, und ab einem bestimmten Zeitpunkt fingen sie an, regelmäßig zurück zu kommen. Eine Gruppe, die hinter und saß und bereits zum dritten Mal von der Tür wiederkehrte, fragten wir, warum sie nicht gingen, und bekamen gesagt, man ließe sie nicht. Und als Ravshan sie zur Tür begleitete und persönlich dafür sorgte, dass sie gehen konnten, kam er zurück mit der gleichen Feststellung. Das Kolleg und unser Mann von O’zbekkino saßen vor den Eingängen und hinderten die Schüler am Entweichen. Das Ganze wurde zu einem Heizkessel – verstehen konnte man inzwischen nichts mehr, immer wieder klatschten sie, gegen Ende einmal sehr, sehr breit, wir aber entschlossen uns, die Vorführung auszuhalten. Das muss eine sehr deutsche Qualität sein, etwas zuwider aller Vernunft aus Trotz zu einem Ende zu bringen, aber irgendwann ist auch der längste Albtraum vorbei, zudem war uns eigentlich schon egal, was und wie die Leute denken, froh waren wir, unsere Siebensachen zu packen und an die frische Mailuft stolpern zu können, im Rausch all der entfliehenden Schüler, die selbst nicht wussten, was sie da in den letzten anderthalb Stunden gesehen haben. Peter steckte seine Kissen ins Auto, man verabredete sich auf eine Zeit im Pab Nr. 1 – weil er uns so gut gefallen hatte und Ravshan Lust auf Steak hatte. Auf der Strecke zum Hotel, die wir zu Fuß zurück legten, begegneten wir einem der uniformierten Mädchen, die bei uns im Film gewesen war, heulend mit zwei Freundinnen, die sie wortlos versuchten zu trösten. Mein Gott, hoffentlich hat nicht unser Film Schuld daran. Neben dem Asia gibt es einen Mini Market, ein kleines Geschäft und ich kaufe mir Zigaretten und ein Feuerzeug. Ich bin schwach, wenn ich die Ereignisse ohne Drogen nicht verarbeiten kann – aber was ist das schon, die ein oder andere Zigarette, deren Dunst grau in den Himmel rauscht, während sie mir einiges an Entspannung zurückgibt, nach der ich ständig hinterher renne. Wir essen dasselbe wie gestern – von diesem Strip Loin habe ich noch lange hinterher geträumt. Dann sitzen wir drei, die wir durchgehalten haben, einsam und mit hängenden Köpfen – visualisiert – in meinem Zimmer im Asia Hotel und trinken einen Rest Wein, der übrig geblieben ist. Ich versuche es mit Wodka, aber das zieht schwer die Kehle herunter, ich lasse das.

Wir haben verzichtet, uns bei Asya nach der Abfahrtszeit am folgenden Tag zu erkundigen – mehr als nötig muss man den Kontakt jetzt nicht halten. Unter uns verabredet man sich auf Acht beim Frühstück. Um Sieben ruft Ravshan mich an – Asya sagt, die Taxis sind da. Das war ja klar. Ich packe so schnell ich kann meine sieben Sachen in den Rucksack, dusche kalt und kurz und streune den Weg hinunter, wo alle sitzen und beim Essen sind, Asya und O’zbekkino inklusive. Sie sind drei, wir sind drei, zwei Autos reichen, und wir sind unter uns. Jetzt könnten wir alles sagen, was wir wollen, uns auslassen oder schimpfen, weinen oder lachen – nach diesen Tagen aber bleibt nicht mehr viel, das wir uns sagen könnten – wir sind einfach müde, tiefenmüde und kaputt, da kann man nichts machen, außer Schweigen, tief und fest als würde man schlafen. Der Fahrer biegt schräg ab und führt uns über irgendwelche halb asphaltierten Wege – usbekische Landstraßen, die sich unter dem Hintern genauso anfühlen, wie es sich anhört. Noch stecken wir die Müdigkeit in der morgendlichen Bereitschaft zu arbeiten weg, doch bald kommt und kommt sie näher, umschleicht uns und das Auto, und winkt alle in eine bequeme Position, wischt mit schwarzen Tüchern über das Auge und hängt dann diesen Schleier über mich, der die Dinge aussehen lässt wie traurige Gestalten einer großen Geschichte, taucht ein, ins Netz der Flucht! Es ist ein Traum. Wir verlassen Fergana. Das Tal. Auf den großen Straßen seien zu viele Polizisten unterwegs, meint der Fahrer und rechtfertigt so sein Route. Schafherden, eine Kuh, die im Eselskarren gezogen wird, Männer arbeiten auf den Feldern, ihre Sensen im stummen Takt einer Schlafesmelodie schwingend. Landleben, authentisch, es erinnert mich in meiner Halbwache an Lettland. Tiefer wird der Schlaf nicht. Die Positionen sind alle reichlich unbequem, am besten funktioniert es noch, die Beine in Richtung Mittelkonsole zu strecken, den Körper offen zum Raum zu wenden und den Kopf seitlich neben die Kopfstütze zu legen, sodass der Hinterkopf fast das Fenster berührt, und der Rücken gekrümmt Richtung Tür zeigt. Aber auch hier wecken das Gehuckel des Fahrzeugs und die ungewohnte Lage des Körpers mich auf – wie wir in die Berge gekommen sind, weiß ich nicht. Vorher haben wir auf dem großen Basar vor Q’oqon Brot gekauft – hier haben sie auch auf der Fahrt nach Andijan, halt gemacht – unfreiwillig bauchfreie Männer in Jogginghose, Frauen mit hochhackigen Schuhen und folkloristischen Kostümen, ich bin danach ganz schnell wieder in meiner besten unliebsamen Position und ruhe.

Die meisten der usbekischen Autos fahren mit billigem Gas, und trotzdem – als wir an dem Pass ankommen, quetschen sie sich in sieben Spuren, auch neben der Fahrbahn auf bloßer Erde, und begehren Durchfahrt. Eile ist ein usbekisches Wort. Bei einem aufdringlichen LKW, der links von uns anfährt, muss unser Fahrer in Sekundenschnelle seinen Rückspiegel einklappen und laut hupen, bis der große Bruder stehen bleibt und wir uns beim nächsten Rutsch Luft verschaffen können. Ich würde gar nicht auf die Idee kommen, in einer solchen Situation nach außen zu langen und den Spiegel nach innen zu schlagen – denn ist man zu langsam, kann das ganz schön weh tun. Neben uns schlängelt sich ein besonders Kluger noch neben den Betonblöcken entlang, also am direkten Rand der Senke – er wird dann sehr rasch von einem Polizisten angewunken und darf sich ganz am Ende anstellen. Endlich sind wir dran, unsere Pässe werden kontrolliert, mir wird gesagt, dass ich mich registrieren muss, Kofferraum und fertig. Unter einem kleinen Sonnenschirm stehen zwei vermummte Militärs mit Pistole und russischem Maschinengewehr, gruselig. Wir halten, ich steige aus. Links und rechts kein Häuschen, das offen aussieht, ich kenne den Ort nicht – Zarina hilft mir, sie weiß, wo ich hin muss und kurz, in der Leere des Raums, meinen Pass abgebe. Dann ist alles gut und wir rauschen weiter, durch die Berge, vorbei an den Schildern von artel, Hamkor-Bank und den Abkürzungen der Parteien, ein Schritt Richtung Heimat, Taschkent, wie unheimatlich es zuweilen auch scheinen mag. An alles andere kann ich mich nicht erinnern. Große Panoramen, große fiebrige Schlafversuche, und immer halb im Wachen, der verspannte Körper meldet sich, und einmal halten wir an, als der Fahrer tanken muss. Vor den Gasstationen, an denen hunderte von Metern weit sichtbar etwas wie METAN oder PROPAN prankt, müssen alle Fahrgäste aussteigen, die Stationen sind mit einem hohen Zaun umgeben und lassen nur den Fahrer durch. Dann kommt er wieder, wir warten am Ausgang und vertreten uns die Füße, indem wir kleine Kreise der Müdigkeit ziehen. Er kauft sich einen Kaffee, ist heute schon von Taschkent nach Fergana gefahren, seit der Nacht wach, wir steigen ein. Es ist wieder die Route über den Parkentskiy-Basar, die wir nehmen, langsam wächst die Dringlichkeit, auf Toilette gehen zu wollen, und der Hunger nimmt wieder Gestalt an – wie pervers, so etwas zu sagen, ich war noch fast satt von all den Tagen. Ein Stau vor der Innenstadt, wo sie gerade Gleise der Straßenbahnen abreißen. Wir halten am Goethe-Institut. Schleppend schultern wir den Inhalt des Kofferraums, ich habe noch zwei Zara-Tüten dabei, in denen je einer der hässlichen Teller Beks schlummert – Julias, die ihren nicht ins Flugzeug mitnehmen wollte, und meiner. Segne Gott, wir haben noch drei freie Tage, denn der Montag ist russischer Tag des Sieges, der 9. Mai. Das ganze Zeug kommt irgendwie nach oben, wir werden freudig begrüßt, von verschiedenen Seiten, und fangen an, die Umgebung um uns zu begreifen. Als irgendwie alles einen Platz gefunden hat, die Teller in meinem Schrank, die Banner bei Shomansur eingeschlossen, Rucksäcke abgestellt, gehen wir zu dritt auf den Basar und lassen uns nieder, das gute Sitzfleisch, bestellen Plov und Limonade. Fett ist auch eine Droge. Plov zu essen, erzeugt so ein schamloses Gefühl der Erregung, wie eine ganze Tafel Schokolade auf einmal zu naschen. Plov schmiert die Innenwände deines Magens großzügig mit Salbe ein, umschmeichelt dich lasziv und du lässt es geschehen – denn es ist ja nur Essen. Die Limonade ist grässlich süß, aber auch Zucker ist eine Droge. Drogen sind gut, Drogen machen dich leichter, und sei es nur, bis der Schlaf dir den Rest der Spannung nimmt. Zarina verabschiedet sich, ich würde sie gerne umarmen – das Erlebte fühlt sich an, als sei man gemeinsam durch die Hölle gegangen – und alles nur im Geiste. Ich bearbeite die Rückstände an Mails und auf Facebook; auch in Fergana gab es im Hotel kein ordentliches Internet, lediglich einige wichtige Updates konnte ich über Stunden auf meinem Rechner installieren. Simone Jore, unsere stellvertretende Institutsleiterin, kommt herein und will mich auf irgendeine Aufgabe ansprechen, fragt wann wir angekommen sind – ich hebe meinen Rucksack und frage mich, ob man es mir nicht ansehen muss – verschwitzt, im T-Shirt statt Hemd, Augenringe, krummer Rücken und Leere im Blick. Ich gehe, es ist Zeit. Schlafe und muss etwas unternehmen, ich kann nicht alleine bleiben. Julia und ihr Mann kommen mit zwei lokalen Musikern aus den Bergen zurück und gehen schnurstracks ins Jago, ich bin schon da, weil ich wusste, sie kommen. Die Gemeinde des deutschen Hauses kommt vorbei und später sollte ich dort noch bis um Zwei sitzen, Nonsens quatschen und mich reintegrieren. Vorher darf ich Julia die ganze Geschichte erzählen, endlich, erzählen, das erste von vielen Malen, und erwartungsgemäß ist sie – not amused. Ich bin erregt, erzähle gierig, spucke alles aus. Der eine Musiker versucht mir, dazwischen zu reden, will To those who are alive trinken, ich halte eine Hand auf sein Bier, als er noch mal anfängt, scheppere ich es ihm auf den Tisch. Er versteht nichts, denn ich rede auf Deutsch und ich ziehe es durch, danach erst kann er seinen Trinkspruch ausgeben, er ist mir auch nicht böse, und gierig schlucke ich das kühle Bier. Es ist genug, ich schlafe – zwei Wochenenden hindurch. Viel anfangen kann ich mit mir nicht.

 

Eine Woche später

Langsam finde ich zu mir. Keine Selbstverständlichkeit, nach solcher Menge an Eindrücken und überwältigender Ermattung, wie sie mich in den letzten Tagen übermannt hat. Dazu die langen Abende, die aufkochende Hitze, durch einen Windhauch in den Straßen angenehmer als in meinem dicken, feuchten Zimmer, und der durchbrochene Schlaf – eine seltsame Atmosphäre. Ich bin in Seidentüchern aufgewacht, meine Haut ist eben doch dünner als ich mir manchmal eingestehen will, und Usbekistan, so lebendig wie ich alles wahrnehme, und so gierig, wie ich die Erfahrung schlürfe, den Becher mit zitternden Händen fest an den Mund gepresst, ist kein leichtes Land, ist eines mit brutalen Regeln und schroff leuchtender Realität. Nach der Zeit der Spannung und des Aushaltens kommt unweigerlich die Erschöpfung, und je härter ich mich fühle, je besser ich scheinbar die Welt um mich ertrage, desto tiefer wird der Einbruch, desto schwerer die Erschöpfung. Ich jammre mir schon wieder die Nadeln von der Seele. Es ist doch gut, und solange ich noch darüber schreiben kann, nach einigen Tagen, ist auch die Erschöpfung produktiv und ich bin weiter glücklich.

Nach den Tagen in Fergana war erstmal Pause – am Freitag, Tag der Ankunft, berichtete ich Julia von allem und verbrachte die halbe Nacht im „Deutschen Haus“, am Samstag ging ich mit dem Gast aus der Zentrale zum Yangiobod und verbrachte wiederum den restlichen Tag mit ihm bei Julia zuhause. Sie sprach uns dreien zum dritten Mal einen großen Dank aus, dass wir da waren, es ausgehalten haben, und als ich den Ravshan weitergab, weil Julia direkt nach Berlin weiter zog, reagierte er säuerlich. Für ihn war es sicher schlimmer als für mich – ein Höllentrip in das eigene Land, von dem er sich so entfremdet fühlt – er schäme sich, sagte er an einem Punkt, schäme sich für sein Land, das solche Leute hervorbringt, und solche Beleidigungen für den Verstand gut heißt. Je schlimmer es läuft, desto besser reden sie es sich. Selbst mir fällt es nach einem Monat schwer, darüber zu schreiben, die Vorgänge nachzuvollziehen stockt mein Hirn. Julia, deshalb passt sie auch so gut in dieses Land, hat das Ganze schnell abgeschoben. Hin und wieder kommt es ihr hoch, und vor anderen sagt sie, in ihren 12 Jahren Goethe-Institut habe sie so etwas noch nie erlebt – und damit meint sie nur die Eröffnung. Ihrer Meinung nach liegt die Schuld aber nicht bei O’zbekkino. Sie sagt, wie haben ein zu heißes Eisen angefasst, als wir in die Regionen – und noch dazu Fergana – wollten. Kurz vor der Universiade ist der hohe Sicherheitsstandard und die Paranoia – die Stadt liegt sehr nah an der tadschikischen Grenze – noch eine Stufe höher als üblich, und der Moment verlangt höchste Kontrolle über alle angehenden Veranstaltungen. Was ist bessere Kontrolle als dafür zu sorgen, dass es misslingt? So handhaben sie es häufiger, auch bei den Winterschulen, Projekten etc. der Lektoren an der Weltsprachenuniversität – sie sorgen einfach dafür, dass niemand kommt, nur unfähige Leute kommen oder die Studenten plötzlich mit anderen Aufgaben betraut werden. Wir sind also der Politik in die Quere gekommen und O’zbekkino war in diesem Fall nur Handlanger, konnte an der Wendung der Dinge nichts ändern.

Ich kann dem nicht vertrauen. Wenn das Hokimiyat mit Absicht nicht russischsprachige Kinder in unsere Säle geschickt hat, ist das Sabotage, der sich O’zbekkino mit schuldig gemacht hat, sie hatten die Verantwortung. Wenn es keine Absicht war, dann haben sie sich der Unfähigkeit mitschuldig gemacht. Es gibt noch eine letzte Variante, die fürchterlichste und vielleicht die Wahrheit: Es war politische Sabotage, und jeder einzelne unter ihnen wusste das – außer Bek, der zu dumm war und sich von O’zbekkino hat hinhalten lassen, nicht dabei war, wenn etwas nicht lief. Und jeder hatte Angst, sie könnten sich gegenseitig verraten, man deckte die Politik, weil das Gegenteil das eigene Ende bedeutet hätte. Kann das wahr sein? Was ist Asya für eine Person? Sie hat als einzige in der gesamten Behörde einen Mitarbeiteraustausch überlebt – ist also entweder hoch intelligent oder gefügig dumm. Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Das ist gruselig und ich bin froh, weit genug weg davon zu sein – scheinbar. Man weiß ja nie, ob man nicht abgehört wird, zuhause, am Telefon. Auf jeden Fall mache ich jede einzelne der anwesenden Personen für ihre Blindheit, Bosheit oder Korruptheit verantwortlich und da kann mich kein Gerede von Macht und Machtlosigkeit verunsichern. Die Verantwortung wird immer eine Etage nach oben geschoben, bis sie unauffällig verdunstet, das gefällt mir nicht. Verantwortlich sind die, welche vor Ort sind. Wenn sie sich ihr nicht stellen, ist das Verleumdung, ist das falsch. Kein Rückgrat, das ist die Qualität von Bürgern, die nicht nachfragen, weil sie es nie gelernt haben, die stumm da sitzen und alles ertragen, was ihnen an bitterer Kost vorgesetzt wird. Und stumm werden sie auch sterben.

Wie Shahrisabz war wohl auch Fergana ein Schlüsselerlebnis in der Erfahrung, was Diktatur bedeutet: Ohnmacht des Volkes, Alternativlosigkeit im Denken, Preisen der eigenen Leistung bei Plov und Schaschlik, während man nur zynisch auf kompetente Leute trinken kann. Je mehr die Sache schief geht, desto besser ist sie gelaufen. Denn in Usbekistan gibt es keine Probleme, wie bei einer deutschen Referentin vonseiten des Kulturministeriums schnell abgewürgt wurde, als sie von der Trinkwasserversorgung zu sprechen begann. Je mehr du siehst, desto tiefer graut es dir, und heimlich bekommst du Angst, was passiert, wenn du das so schreibst. Du verschleierst deine Worte in langen, sich windenden Blogartikeln und mit unauffälligen Begriffen, um kein Aufsehen zu erregen. Dann wieder platzt alles heraus, du musst vorsichtig sein, vielleicht bist du zu naiv. Wie gefährlich ist Blogschreiben wirklich? Die Finnin, die gehen musste, hatte Angst, über Politik zu schreiben – auf Finnisch. Der Schriftsteller, der bis „Shum bola“ hier war, meinte zu mir, er würde nicht eher über das Land schreiben, als bis er zuhause ist. Er könne nicht lügen, aber habe Angst, sich hier kritisch zu äußern. Da läuft, während wir sitzen und quatschen, ein Mann in blauer Tarnuniform, Springerstiefeln in das Fast-Food-Restaurant gegenüber, auf seinem Ärmel prankt ein Logo „Special Forces“ – das war keine Verkleidung, und auch keine Ironie. Er hat schon recht – theoretisch reicht eine offene Kritik des Präsidenten, und man wird mitgenommen. Aber Ausländer? Trotzdem. Da lese ich über Zwangssterilisation von Frauen, Ärzte die auf Drohung ihre Quote erfüllen müssen, Bericht der BBC von 2012 – wie viele solcher Dinge passieren, ohne dass wir davon wissen? Ich bin ein zarter Charakter, wenn ich dem nicht anders begegnen kann als mit Drogen – Alkohol, Zucker, Zigaretten. Ich fühle mich nicht gut, aber das darf ich im Blog nicht schreiben. Jetzt habe ich es geschrieben. Vielleicht liegen Monate zwischen zwei Sätzen und was zusammenhängend scheint, sind Schnipsel eines ganzen Lebens.

Es gibt letzte Worte der Chronologie. Ich brauchte eine Woche, um wieder fit zu werden – zwei Wochen lang hatte ich jeden Abend Alkohol getrunken, meist ungenügend geschlafen und eine harte Lektion gelernt. Dann begann ich aufzutauen und wanderte auch wieder ins Theater. Wie in allen exsowjetischen Ländern wird hier der 9. Mai als день победы – Tag des Sieges – mit allem Ernst begangen. Zufälligerweise hatte ich eine Karte für das Ilkhom, den „musikalischen Abend“ Этот поезд в огне, von dem ich an anderer Stelle schon berichtet hatte. Die Vorstellung ist großartig und hat sich auch zum zweiten Mal gelohnt, nicht zuletzt, weil nun doch je ein Lied von Kate Bush und Deep Purple dabei war, im Gegensatz zum ersten. Der Saal war bis an den Rand gefüllt – alte Veteranen, Soldatenmützen, junge und alte Leute mit oder ohne St.-Georgs-Band über dem Herzen – sicher viele, die nicht oft hierher kommen, natürlich ein Coup, zum Tag des Sieges alte, vielen noch bekannte, russische Antikriegslieder zu singen und spielen, dazu auf einem schauspielerischen Niveau, das einem den Atem verschlägt – und Lieder, die in ihrer Tragik und ihren Andeutungen, erst recht wenn man nur einzelnes versteht, Auftritte sind, die im Gedächtnis bleiben. An einem Samstag später ging ich ins Theater, mir Счастливые нищие anzusehen, Happy Beggars nach Carlo Gozzi. Ein Reigen wunderbaren Schauspiels, fröhliche und traurige Gesichter, ganz wie der Geist, der sich an das Theater klammert, um glücklich zu werden, bestaunte ich die Erzählungen, von denen ich doch nur einen Bruchteil verstand, lachte und weinte mit, vor allem dann, wenn sie plötzlich gesellschaftliche Themen aufgreifen. Wenn sie Putin veralbern, der sagt, Die Krim gehört uns!, wenn sie von „unserem demokratischen Staat“ sprechen oder von 25.000 Dollar – Zum staatlichen Kurs? So ein Erbsenzähler! – oder wenn sie fragen, was macht denn der Sultan von Choresm hier? ШОС же будет! Alle kommen, Xush Kelibsiz, Добро пожаловать, Welcome, in grotesk veralbernder Manier. Das sind Momente, in denen ich mich freue, dass ich hier bin, noch immer hier bin, trotz aller Anstrengung. Denn das Leben ist schön, und manchmal sind Momente der Härte und Herausforderung genau der Punkt, an dem einem das klar werden muss, taghell aufleuchten – und wieder vergehen, das ist die Dynamik.

Bald ist es vorbei, bald habe ich es geschafft – zwei Monate sind keine lange Zeit, wenn so viel ansteht, in der Planung, im Kopf – im Juli wird das Ilkhom geschlossen sein, ich frei für vier Wochen, darunter zwei im Urlaub – was werde ich anstellen, Tadschikistan habe ich abgesagt, auf Nukus und Karakalpakstan habe ich die Lust verloren – werde ich fähig sein, ein großes Werk in Angriff zu nehmen und innerhalb dieser Tage eine Geschichte niederschreiben können? Oh, ich hatte Ideen, nicht nur eine, habe immer wieder Ideen, und Gedichte sind zu kurz und schnell, das flimmert ein Gedanke im Schreiben und geht nach der Hälfte unter, ich finde mich nicht mehr zurecht und gebe auf, das alles ein Gedicht, aber längere Geschichten, die müssen doch klappen – wenn ich eine Struktur habe, an der ich mich entlang hangeln kann, jetzt habe ich doch Übung im Schreiben, oder? Oder? Es mag hoffnungslos sein, aber in der Hoffnung liegt meine Zukunft, ich will nicht aufgeben zu hoffen und träumen… Es mag verwerflich sein, einen so langen Artikel so unfertig zu beenden, aber mir fällt partout kein Ende ein, das Leben geht weiter und alles in einer Kontinuität, die sich einem Schlussstrich widersetzt.

Intermission

Bevor unser großes Kinder- und Jugendfilmfestival „Shum bola“ beginnt und keine Zeit mehr bleibt, bis ich am 06. Mai aus Fergana zurückkomme, möchte ich ein kleines Lebenszeichen setzen. Wenn letztes Mal zu viel von kultureller Ausschweifung die Rede war, so möchte ich nun über ein wenig praktischere Dinge sprechen – Arbeit, Sprache, Wohnen.

Ich werfe häufiger mal einige Zeilen über meine Russischfortschritte ein, meist in Zusammenhang mit Literatur oder ähnlichem. Ganz abgesehen davon wandle ich mit großen Schritten über den Flur der russischen Sprache und statt in Gedichten oder Geschichten zu versinken, fand mein geringes Können in den letzten Wochen ganz praktische Anwendung. Auch, weil ich so häufig das Theater besuche, anschließend bekannte Leute treffe, mich mit Schauspielern oder einigen der „solid half hour friendships“ bis nach Mitternacht (Gott behüte meinen Schlaf) im Bardak (es heißt doch nicht Barduck, wie es mir jemand zuerst erklärte) oder sonstwo unterhalte, dann fallen immer wieder neue Wörter, und Sätze nehmen langsam Gestalt an. Das ist zweifellos nicht allein mir zu verdanken, ich nehme ja Unterricht, meine 30 von kulturweit bezahlten Stunden sind immer noch nicht voll, aber ich zeichne mich durch einen zügigen Fortschritt aus, möchte ich meinen. Angeklungen ist der vermehrte Kontakt mit lokalen Menschen, Künstlern, der mich an den Wochenenden viel zu lange wach hält, selbstverständlich aber ein weiter Acker für meinen schmalen Horizont ist.

Eigentlich wird mir selbst langweilig dabei, wenn ich so schreibe, aber es muss nun einmal sein. Ihr müsst es nicht lesen, aber ich muss es schreiben, darum geht es. Wenn ich am Ende nicht 150.000 Wörter zusammen habe, erschießt mich jemand irgendwo, deshalb. In unserer Wohnung, wie zuvor im Herbst, gibt es ab heute – vermutlich für eine Woche – kein warmes Wasser. Da es tendenziell wärmer wird, ist das Problem weniger groß als erwartet und ich hoffe, so bleibt es auch. Mein Zimmer ist noch kühl und feucht, die Haare trocknen langsam, und ein Fön ist natürlich nicht in Sicht. Ich bin ja froh, wenn ich erstmal wieder Pfanne und Wäscheständer zu meiner Verfügung habe, man darf nicht zu viel erwarten. Ich habe überlegt, ob ich so aus heiterem Himmel, nachgeholtes (oder vorgezogenes, was weiß ich) Geburtstagsgeschenk, den beiden eine neue Pfanne schenke. Ist eigentlich ganz witzig, so rustikal zu leben.

Hier machen sie gerade irgendwelche Straßenarbeiten für dieses bedeutende Treffen der SCO, ich kann die uralten Traktoren und Walzen sehen, die Kipplaster und Transportfahrzeuge, halb aus Rost, halb aus unkaputtbarem Eisen, halb aus Rauch und Staub und dreckigen Abgasen. Es ist die Amir-Temur-Straße, ich schaue aus dem Fenster des Instituts (schreibe private Briefe, unerhört) und genieße die Sonnenstrahlen in den Augen. Und den stechenden Geruch, der hineinweht. Heute Morgen wollte der Bus von der Navoi auf die Amir-Temur einbiegen, eine der frequentiertesten Kreuzungen der Stadt, schob sich auf die linke Spur und quetschte sich die sechs Spuren Meter für Meter voran. Hier haben sie neulich einen wahren Geniestreich hingelegt, als sie neue Fahrbahnmarkierungen anbrachten, um aus drei (plus Rechtsabbieger) vier Spuren zu machen. Die alten Markierungen blieben bestehen und es wäre, wenn sie denn unter dem Meer an Blech und reflektierter Sonne zu sehen wären, schon eine Kunst, sich an gerade die neuen zu halten. Denn so alt waren die alten nicht, und beide stehen nebeneinander, als wollten sie der Willkür im Verkehr noch Aufwind geben. Auch an die vier (plus Rechtsabbieger) Spuren hält sich niemand, der Platz reicht für sechs, basta. Als der Bus also links abbiegen wollte, stoppte ihn der Polizist mit seiner Trillerpfeife und lenkte ihn, wie alle anderen Autos mit selbem Vorhaben, nach geradeaus um – der Fahrer schrie ein wenig, verständlich, weil er seine Strecke ungebetenerweise nicht fortsetzen konnte, einen Umweg machen musste, gab aber vor der Staatsgewalt klein bei und rief grimmig in den Bus hinein, Ausstieg zu Alaiskiy hier. Soweit so gut. An der Haltestelle des Basars standen ratlos Fahrgäste, die ihren Weg zur Arbeit wohl verschieben mussten. Etwas Spontaneität muss sein.

Was arbeite ich denn so? Nun, gerade nicht viel, weswegen ich Zeit zum Schreiben habe. Grundsätzlich steht uns eine riesige Wolke bevor, deren Ausmaße ich überhaupt nicht einschätzen kann. Ziemlich groß. Denn „Shum bola“ heißt, vier Tage Kino in Taschkent, mit Rahmenprogramm – einer Ecke zum Malen für die kleinen Kinder, einer Wand, Kamera und einem Sofortdrucker für Fotos, die sie sich mitnehmen können, ein Filmquiz, bei dem sie kleine Preise gewinnen können. Am Mittwoch wird der erste Gast eintrudeln, aus der Zentrale des Goethe-Instituts in München, am Donnerstag folgen fünf weitere – eine Kompanie vom „Schlingel“-Filmfestival in Chemnitz, sowie die Produzentin des Openers, „Nussknacker und Mausekönig“. Hatte ich erwähnt, wie die Filme hierher kommen? Julia und Ravshan waren beim „Schlingel“ 2015, brachten eine Menge Ansichtskopien mit und reichten sie bei Uzbekkino ein. Von drei Jugendfilmen wurde einer genehmigt (Meiner Tochter Anne Frank), sodass wir noch nach Ersatz aus den Vorjahren schauen mussten. Letztendlich sind es acht Filme in Taschkent, von Donnerstag bis Sonntag, Vollzeitbeschäftigung, inklusive abends essen gehen. Ich freue mich darauf, endlich ist was los, und ich kann meine Kräfte gebündelt in die Koordination von knapp 20 Volontären stecken, eine Aufgabe, bei der ich glücklicherweise Unterstützung durch meine Russischlehrerin erfahre (man erinnere sich: Kristina, die russische Frau des luxemburgischen DAAD-Lektors an der Weltsprachenuniversität Taschkent). Wenngleich ich mich auch vor dem Eventcharakter fürchte – alles fröhlich und aktiv, wo bleibt meine Einsamkeit, und die Tristesse, das Negative, das ich so gern um mich habe? – wird das Festival doch sicher sehr schön werden. Es braucht nicht viel, sich vorzustellen, was ein kostenloses Festival mit kostenlosen Rahmenaktivitäten, internationalen Filmen in einem der angesagtesten Kinos der Stadt den Kindern bedeutet, welche Möglichkeit es ist, einmal fern von aller Politik, abseits der traurig dahinsiechenden Schulen und jedem Zwang des Lernens und Gehorchens, sich in Welten zu vertiefen, die man nie zuvor gesehen hat – fremde Filme, fremdes Leben in einer offenen Welt! Da gibt es Indianer, Verzauberungen, Freundschaft, Special Effects, gute Schauspieler und Kinder im selben Alter, die doch so anders sind… Ich werde nicht anfangen, über den Anblick glücklicher Kinder (der mir erst noch bevorsteht) rosa Blumen in die Luft zu malen, aber in dieser Welt, in diesem Raum der Beherrschung, ist das ein Stück Freiheit, ein Stück Demokratie und Menschenrechte, wir tun was wir können, und darauf bin ich wirklich stolz. Es ist eine edle Aufgabe der Demokratie, in anderen Ländern nicht mit Parlament und Grundgesetz, sondern mit Kultur und Kunst, Möglichkeiten und gelebter Freiheit zu werben, und Kinder sind ein versprechendes Publikum. Dann geht das Festival, gehen wir nach Fergana, wo die Variante eine abgespeckte wird. Drei Tage, ältere Filme, Uzbekkino, unser selbstherrlicher Partner, übernimmt die Regie und Organisation, immerhin übernehmen sie dafür auch die Kosten. Für die Eröffnung vor Ort haben sie uns einen neuen Saal mit 900 Plätzen organisiert, und mit zitternden Lippen beten wir, dass sie den Saal auch halbwegs voll kriegen. Auf jeden Fall wird mein Anteil dort deutlich reduziert, komme aber trotzdem mit. Aufbau, Abbau müssen ja trotzdem in guten Händen liegen. Dafür, um zurückzukommen, was mache ich hier eigentlich, erfordert es einige Tabellen, Pläne, Uhrzeiten etc., die nun weitgehend fertig vor mir liegen. Die Volontäre sind grob in ihre Aufgaben eingeweiht, nicht wenige kennen die Prozedur von letztem Jahr, im Gegensatz zu mir.

Über meine Ilkhom-Besuche werde ich wenige Worte verlieren. Ich war erneut bei „Seven Moons“, das wirklich großartiges Theater ist, bei einem Dreieinhalbstunden(mit Pause)stück nach John Steinbeck, welches wundervoll tragikomisch, filmreif, aufspielte, sowie bei der zweiten Performance in der Reihe des Laboratorium „Musik und Theater“, das dieses Mal aus meditativen, zeitgenössischen Musikstücken (endlich ein Ort, an dem die Ohren nicht sterben), begleitet durch ebenfalls modernen Tanz einiger Spieler, bestand und so einem Konzert oder einer „klassischen“ Aufführung viel näher kam als das Mal zuvor. Leider, leider war diese großartige junge Frau, welche so unglaublich mit Stimme und Mimik gespielt hatte, dieses Mal nicht dabei, die Besetzung wechselt wohl mit jedem Mal. Insgesamt hielten die Spieler ihre goldenen Münder verschlossen. Am Sonntag wollte ich, und hatte mich im Vorfeld irrsinnig gefreut, in „Trip S“ gehen, eine – laut Website – Reise in die Kreativität des Menschen. Kristina, in deren Muttersprache es doch stattfand, meinte zu mir, sie hätte es nicht verstanden. Der Lichtdesigner meinte am Abend zuvor, es sei sein Lieblingsstück. Der sagte aber auch, die „Musik und Theater“-Performance erlebe man am besten high. Weitere Überlegungen in diese Richtung konnte ich mir sparen, denn aus „technischen Gründen“ konnte „Trip S“ nicht stattfinden, und wurde durch Jessenin ersetzt, denn ich schon einmal statt Henrik Ibsen sah. Aus Bequemlichkeit oder einfach der bestätigenden Befriedigung, schon wieder in diesem verdammten Saal zu sitzen (Langsam ist es genug!), blieb ich, verstand wenig mehr als letztes Mal, vor allem aber jenes, dass unter den Gedichten seine bekanntesten ausgespart wurden, dass sie intelligent durch Prosa (womöglich Tagebucheinträge oder Auszüge aus einer Autobiographie) verbunden und verwebt wurden, und dass der Schauspieler tatsächlich Besseres hätte leisten können. Zumindest teilweise war mir die Oberfläche seines Jim-Morrison-Gesichts einfach zu flach. Jetzt erstmal ist eine Pause angesagt. Der Wirbel geht im Mai verflacht weiter, sechs Aufführungen stehen auf dem Plan, mit der Ausstellungseröffnung ging gestern mein neunter Besuch allein im April zu Ende – und mit ihm eine Phase der Verwirrung, der langen Nächte und der Überforderung, dem Leben in drei Sprachen (Russisch überall, Deutsch im Institut und Blog, Englisch mit allen anderen) und einer Ruhelosigkeit, die einer Serie morgendlicher Kopfschmerzen in der letzten Woche ihren Höhepunkt fand. Es ist vielleicht gut, wenn mich das Festival noch einmal durchschüttelt, bevor ich wieder anfange, im Mai, mit den Theaterbesuchen und Abendveranstaltungen, Feiern und dem Trinken – nun gut, es stand in den letzten Wochen hinter den Begegnungen und Gesprächen zurück, auch wenn die Müdigkeit einen Großteil wieder verschluckt hat – ich bin, das möchte ich sagen, zufrieden. Und es gefällt mir nicht besonders, zufrieden zu sein. „Shum bola“ bringt, zumindest in Taschkent, wieder eine Herausforderung ganz eigener Art mit sich. Ich forciere die Lockerung des Alltags, und mein Alltag wurde sehr monoton – Wochenenden auswärts, Woche Goethe, zuhause zum Schlafen. Abgesehen von dem Geld, das es kostet, kostet es Klarheit, Gedanken. Ich hatte viele Gedanken, aber viel zu viele auf einmal, dann finden sie ihren Weg auch nicht aufs Papier, ins Tagebuch, sondern verschimmeln halb gereift auf dem Weg zur Hand. Ich beschwere mich nicht, ich beschwere mich nie, denn ich bin zufrieden. Aber doch, ich freue mich schelmisch, wenn ich sie wieder aufbrechen kann, für Unruhe sorgen, provozieren – ach, alles so anders als in Deutschland, dem rasenden, geraden Deutschland. Hier ist alles so viel interessanter, bietet so viel Eindruck, Erfahrung, und darum geht es, das zählt, alles andere darf – für die Dauer diesen Jahres – hintenan stehen.

Wachsen und Entschwinden

Als am 02. April gegen halb Drei meine Eltern, Geschwister, Großvater und Tante im Gemenge zur ersten Kontrolle unter vielen am Flughafen Taschkent verschwanden, mischte sich in meine kurzlebige Trauer eine unbeschreibliche Leichtigkeit, geschuldet der Last dieser Woche – ich bin nun so fest nicht gebaut – die nun von mir abzufallen begann wie ein Stein. So schön das Wiedersehen mit der Familie, noch dazu in so großem Kreis, in einem gemeinsamen Urlaub, nach dem man fast mitfliegen könnte, so nah ist man plötzlich wieder an Deutschland, so schön das Wiedersehen auch ist – alleine lebt es sich doch freier, leichter, und so marschierte ich los, ungewiss, was ich nun mit der Freiheit anfangen sollte, noch mein deutsches Handy in der Tasche – eine Stunde später fragte ich nach, ob alles glatt gegangen sei, und das war es, die Antwort endete mit: Entspann dich – aus dem Gelände des Flughafens heraus, seltsam unbelangt von usbekischen Taxifahrern, die vielleicht keine Lust hatten auf einen bärtigen Ausländer, die vielleicht auch gesehen hatten, wie ich gepäcklos angekommen war und gleich wieder abzog, mit dem Gedanken, ich hätte sicher ein eigenes Fahrzeug irgendwo versteckt, unbehelligt auch von der Nacht und der doch recht frischen Luft, einfach in Richtung zuhause, das so weit entfernt nun auch wieder nicht liegt. Zudem hatte ich durch die Tage zuvor – Samarkand, Buchara, auch verhältnismäßig viel Taschkent; für Chiwa war die eine Woche Schulferien meiner Geschwister zu knapp – einige Übung im Laufen, mehr zumindest als durch meinen Arbeitsalltag im Büro, und stellte schon bald fest, wie schön es sich nachts spazieren lässt, um halb Drei. Die große Straße, die als Brücke noch mehr große Straßen überquert, ließ sogar zwischen einer Betonschwelle und dem Geländer einen für mich gerade großzügig genug angelegten Freiraum, sodass ich auch hier unter Anhupen der wenigen Autos, die mich als Fahrgast wollten, bequem passieren konnte. Noch ungewiss, mit welchen müßigen Gedanken meinen Kopf zu füllen – in der letzten Woche hatte ich immerhin als Manager, Buchhalter und Guide gedient und keine Zeit zum freien Denken – ließ ich sie durch ganz gewiss unbedeutende Gefilde gleiten, meine Füße in den schnurgeraden Straßen kaum zu lenken. Lässt man die seichte Biegung der anfänglichen Brücke und dem letzten Teil der Straßen außer Acht, so hatte ich genau eine 90–Grad–Wendung zu tun und zweimal eine Ampel zu passieren, bis ich um Viertel vor Vier bei mir zuhause ankam, mich über die vier offenen Geschäfte wundernd, die anscheinend immer noch oder schon wieder auf waren, arbeitend – oder an ihrem Arbeitsplatz schlummernd, weil keine Kundschaft da ist, in einem Land, in dessen Hauptstadt die Schüler und Studenten um Zehn daheim sein müssen. Ich habe es aber doch genossen, so viel muss ich mir eingestehen, eine Woche nur dafür da zu sein, selbst Wege zu zeigen, mit dem Geld umzugehen, Restaurants zu reservieren oder zu recherchieren und letztendlich all die kulturellen Schätze in Buchara und Samarkand ein nunmehr zweites Mal zu sehen – bekanntlich wirkt dann alles schärfer, man kann selber ein Stück Geschichte erzählen und das Bild dieser Städte, dieses Landes wird einmal klarer. Ich kann auch nicht behaupten, dass diese Art von Management mir nicht gefällt, ich weiß nur: für eine Woche reicht es, für mein Leben zu gering. Nun fertig mit der Einleitung, die Stunde zum Grand–Mir–Hotel, ehem. гостиница Россия, dem gegenüber ich immer noch bei Elmira und Alisher wohne, mit deren Abwesenheit ich mich inzwischen ganz gut abgefunden habe, kühlte meinen Kopf überaus gut und entweder hiervon oder von dem teils schlechten Wetter in Buchara und Taschkent oder von beidem holte ich mir einen leisen Schnupfen, den in seiner Stille ich trotzdem mehr genoss als ich das bei übermäßiger Hitze getan hätte.
Nun sind seitdem zwei Wochen vergangen und trotzdem scheint es gar nicht so lang – zahlreiche kulturelle Events warteten nur auf mich und ich schritt sie alle ab, die Arbeit rief zurück zur Tagesordnung, mit alltäglich gut gefüllter Arbeitsmappe (so was habe ich ja gar nicht) und mittendrin blieb so manches auf der Strecke – so habe ich nun geschätzt vier Seiten Blog vor mir, mehrere Ideen purzelten kommentarlos in mein Tagebuch, gepaart mit Gedanken, wie ich sie wiederbelebt hatte. Der Reihe nach. Gleich nach der Abfahrt meiner Eltern muss ich wohl auf der Suche nach sinnvoller Beschäftigung gewesen sein, als ich an den Feierabenden zweier Tage – Montag und Dienstag – ins Ilkhom spazierte und eine Vielzahl an Karten für den April besorgte – es wurde und wird gewissermaßen ein literarischer Monat. Dies fand und findet in einem wunderbaren Büchlein seine würdige Fortsetzung, das meine Eltern mir mitgebracht hatten: Ilja Trojanows Zusammenstellung von literarischen Kommentaren aller Art zum Thema Spazieren, Laufen, Wandern mit dem grausamen Titel „Durch Welt und Wiese“, der doch an Schlager mehr als an Klassik erinnert. Texte über den Gang haben es jedoch an sich, vom Thema aus allein Freiheit und Leichtigkeit zu vermitteln, und gerade solch luftiges Intermezzo konnte mein angestrengtes Hirn in den Tagen gut gebrauchen. So schlug ich, wenn mir danach war, einen meist beliebigen Artikel auf und nach zwei, drei, fünf Seiten, wenn Schluss war, lehnte ich mich zurück, dachte über das Gelesene nach oder wenigstens darüber, was ich zuvor getan hatte, bescherte mir, wie auch immer, eine elegante Pause, ohne mich abzulenken, was im Konsumieren von Musik, Film oder Literatur – ob nun fordernd durch Präzision oder Langeweile – der Fall gewesen wäre. Das Glas Wein dazu (wenn es nicht gerade morgens beim ebenfalls mitgebrachten Kaffee war) tat sein Übriges, mich und meinen Gedankenmuskel (jaja, ist kein Muskel) sowohl in Freude als auch Ruhe zu versetzen – Ruhe, wie ich sie mir zweifellos gönnen durfte.
Gleich drei Projekte forderten in der erste Woche zumindest teilweise meine Aufmerksamkeit, kulminierend im gemeinsamen Essen zu zweiundzwanzigst am Mittwoch. Während ich mich noch im Urlaub und meine Eltern in Usbekistan befanden, reisten sieben Leute aus Heidelberg an, die jenes Theaterprojekt, das aus irgendeinem anderen Blogeintrag bekannt sein sollte, mit ihrer Aufführung, d.h. der usbekischen Inszenierung mit deutschen Schauspielern, fortsetzten – zur Premiere nahm ich meine Familie mit. Glücklicher Weise, oder schädlicher, je nachdem, musste ich nicht viel mehr mit ihnen unternehmen, kam so neben etwas Ruhe natürlich nicht zu einem Gespräch mit ihnen, Schauspieler, wie sie immerhin sind, und ganz und gar keine schlechten. Nichts im Vergleich zu meinen Lieblingen aus dem Ilkhom, aber den Geschmack wiegt ja nichts auf. Ein weiterer Künstler, diesmal aus der Metropole Leipzig, ehemaliger DLL–Student und nun Autor, Matthias Jügler, reiste im selben Zeitfenster an, um für die Abteilung Information und Bibliothek einen knappen Monat in Usbekistan zu residieren – Lesungen, Workshops, hoffentlich gute Eindrücke, es muss ja etwas Schönes sein, in einem fremden Land. Am Mittwoch hielt er seine erste Lesung, in Taschkent, vor einem Publikum, das durchaus größer hätte sein können, das zumindest aber interessiert war – nicht zuletzt, weil Cedric wieder einmal über Monate einen Buchclub durchgeführt hatte. Es ist dieser ruhige, realistische Stil, den ich nicht so sehr mag an erzählenden Prosatexten, der aber, einem vorgelesen, gleich viel angenehmer zu rezipieren ist als alleine unter dem Fenster. Interessant für mich ist weniger sein Debüt, „Raubfischen“, als die von ihm kürzlich herausgegeben Anthologie, die ich hier allen ans Herz legen möchte: „Wir wir leben wollen. Texte für Solidarität und Freiheit“ von 25 Autoren der tendenziell jüngeren Generation zum aktuellsten Thema der deutschen Gesellschaft: Integration, Ausgrenzung. Heimat, Fremde. Tief verwurzelter Rassismus gegen unverhohlene (gestellte?) Freude. Sehr spannend, literarisch hochwertig und sicher genug Stoff für eine Auseinandersetzung mit der Zukunft–Gegenwart, auch, aber nicht nur im Spiegel der Vergangenheit.
Im Anschluss war eben jenes Essen geplant, zu dem die sieben Heidelberger und die Protagonisten aus dem Jugendtheater Usbekistans zum Abschluss des zweiten Projektteils eingeladen wurden – der dritte wird Ende April in Heidelberg stattfinden, ohne das Zutun des Goethe–Instituts Taschkent, wohl aber unterstützt durch jenes in München, Deutschland. Dazu ging es in üblicher Manier ins „Manas“, in dem ich sogar mit meiner Familie war, und das trotz der offensichtlichen Speiseauswahl immer wieder großartig ist. Am Ende unterhielt ich mich ein wenig mit den Heidelbergern, die hinter der Bühne aktiv waren, als Regieassistenz und Dramaturgin, die mir dann ihr übriges Geld in Sum gaben, auf dass ich den Taschkenter Technikern etwas kaufen solle – noch immer habe das Versprechen nicht eingelöst, langsam wird es Zeit. Verwoben darin war nun unser drittes Projekt, von dem ich sprach: Der Architekt und Autor Philipp Meuser, der seit 2000 in unregelmäßigen Abständen das Land besucht und dessen Büro u.a. in Mali, im Yemen und in Turkmenistan aktiv ist und war, der Botschaftsbauten etc. entwirft und die weltweit ersten Architekturführer zu Astana oder Pjöngjang verfasst hat, der wollte nun auf einen Vortrag ins Institut kommen und war eben einen Abend früher bei diesem Essen anwesend.
Im Gegensatz zu Jüglers erzählender Lesung war der Saal für Philipp Meuser hervorragend gefüllt. Hier waren wir aber auch speziell auf die interessierten Stellen der Stadt zugegangen, die Architekturhochschule zum Beispiel, von der aus neben einigen Studenten auch ein Austauschprogramm inkl. Dozenten aus Frankreich anwesend war. Die es naturgemäß schwer hatten, da eine Übersetzung des deutschen Vortrages ins Russische, nicht ins Englische vorgenommen wurde. Das Thema des Vortrages war im Prinzip jene Epoche von Stalins Tod bis zur Perestroika, und darin eben der Wohnungsbau in Taschkent. Im Zuge der Entstalinisierung vollzog sich auch ein gedanklicher Wechsel fort von den barocken Thronsälen des Zuckerbäckerstils hin zur in Europa vorgedachten Stilisierung des Brutalismus, heißt: Plattenbauten, überall. Die in Taschkent sind aber besonders schön, weil auf der Suche nach Identität die Fassaden mit folkloristischen Elementen verziert wurden, das Praktische dabei mit dem Schmückenden verbindend, und weil farbige, faszinierende Mosaike den steilen Betonwänden unzähliger solcher Häuser einen Hauch der Schönheit schenken. Und nicht nur das, in Chilonzor, einem südwestlichen Bezirk der Stadt wurden auch zeitgleich zu Moskau die ersten Viertel in solchem Karree an hohen Platten errichtet, die es danach überall gab. Ein weiterer Schwerpunkt des Vortrags lag anschließend in der Beschreibung der mit dem schweren Erdbeben Ende April 1966 einhergegangenen städteplanerischen Veränderungen, die nicht nur gutwilliger Art waren. Zwar wurde ein großer Teil der weniger stabil errichteten Altbausubstanz bei dem langen Wackeln zerstört, aber Menschen starben nur wenige. Trotzdem gab es den sowjetischen Herren die Möglichkeit, ihren Generalplan, der bereits in der Schublade lag, sofort und ohne Zögern umzusetzen, weil ihnen ihr Gott ja nun einen guten Grund geliefert hatte. Also wurden solidarisch Arbeiter aus allen Herren Sowjetrepubliken herbeigerufen und die Straßenführung konnte ihren geraden Lauf nehmen, den sie auch immer noch besitzt. Wichtig hierbei: Vieles wurde erst nach dem Erdbeben zerstört, mit dem heuchlerischen Anliegen der Stadtverschönerung. Dies wird in bester Tradition fortgeführt, wie man in Taschkent, Samarkand und besonders gerade in Shahrisabz beobachten kann. Der französische Austauschdozent meinte zu uns im Anschluss, er sei zum dritten Mal hier und werde immer pessimistischer. Auf eine Bemerkung von woanders her, es gebe ja Veränderungen zum Guten und zum Schlechten in der Architektur, meinte er, das Gute daran wolle er mal sehen. Zahlreiche Fragen wurden nach dem Vortrag gestellt, und obwohl sehr wenig über die derzeitige Baupolitik gesagt wurde, lag der Bezug des Dargestellten jedem Anwesenden auf der Brust – die Bilder und Worte klangen einfach zu ähnlich, ältere Architekten erzählten erstaunlich offen über die Sowjetzeit und die Platten, welche in Taschkent die Lehmhäuser ablösten, ein Bild geistiger Kontinuität ergab sich, wie man es sich von oben sicher nicht wünschen würde. Wieder ein Schritt in Richtung Freiheit der Gedanken, Meinungsfreiheit. In der Beschreibung des „Clubs der Freunde des Ilkhom–Theaters ’Mark Weil’“ ist dieses Wort sogar nachzulesen: „Meinungsfreiheit“. Falls man das mal braucht. Eigentlich war ich wirklich müde und – verwöhnterweise – keineswegs geneigt dazu, mit Ravshan, Julia und Philipp Meuser essen zu gehen. Ravshan wollte auch nicht. Und dann gingen wir gemeinsam ins Assorti, eines der teuren Restaurants und aßen gute Fusion–Küche, sprachen über die usbekische Tourismusbranche, bevor Meuser ins Hotel fuhr, und ich nach Hause. Müde. Manchmal scheint es mir das einzige Wort, das ich noch weiß.
Das Wochenende: Ausruhen. Zur Hälfte von meinen Eltern, zur Hälfte von der vorherigen Woche, zur Hälfte vom Samstagabend. Zur Hälfte von der kommenden Woche. Sie fängt beschäftigt an und endet beschäftigt, und zwischendrin: ganz viel Theater.
Die Ausstellung, in die ich am Dienstag, halb privat, halb dienstlich, gehen wollte, öffnete im Ilkhom–Theater, nach dem ich in letzter Zeit so süchtig geworden bin. Den Auftakt zum Marathon machte bereits am Freitag ein Stück von Edward Albee, Three Tall Women, mit englischen Untertiteln, deren Nutzen aber knapp unter Nichts gesetzt werden kann. Ein wenig halfen sie, die Thematiken zu verstehen, sonst aber hinkten sie hinterher, verwirrten mich oft, weil ich halb auch das auf der Bühne Gesagte verstand, was zu den Worten auf der Tafel nicht passen wollte – aber ein schönes Stück. Die Alte – fantastisch, rasend, großartig, ein Tier, eine Nemesis und gleichzeitig die Heimgesuchte – berauschendes Spiel. Die Story – komplex. Die drei Charaktere verwandeln sich im Fortgang des Stückes immer mehr zu ein und derselben Figur, der Alten, in unterschiedlichem Alter und enden alle so gut wie tot – für ein Taschkenter Publikum sicher eine Herausforderung. Deshalb liebe ich sie, die Spieler, das Theater – weil sie herausfordern, sehr klug und vorsichtig, andererseits hoch provokativ. Eine von der Alten erzählte Fast–Sex–Szene aus ihrer Jugend wäre genug, das Goethe–Institut, hätten wir sie in unserem Saal gezeigt, zu sanktionieren. Das Ilkhom ist eine Art Andersort und hat sich in den zähen Jahren seiner Existenz eine Blase verdient, die es bis zu einem gewissen Grad intouchable machen. Aber nein, das erste Stück aus dem Marathon war es gar nicht, der Auslöser fehlt – am Abend, bevor meine Eltern anreisten, Karfreitag, hatte ich die Möglichkeit, auf Einladung zu einem Element der Reihe „Laboratorium – Theater und Musik“ zu gehen – eigentlich bekam Julia den Brief, aber wie bereits zu jenem Gastspiel aus Almaty fragte sie mich als Nächstbesten, ob ich nicht statt ihrer gehen wollte – wollte ich. Die Karte war für zwei Personen. Nächste Aufgabe: Eine zweite Person finden. Der Spanischlektor David war schließlich der einzige, der sich finden ließ und so gerieten wir in einen Experimentraum, eben jenes Laboratorium, das die Macher sehr wörtlich genommen hatten. Zusammen mit den Schauspielern des Hauses waren Musiker aus dem Ensemble „Omnibus“ anwesend, die oft genug mit uns (GI) zusammengearbeitet und eben aus diesem Grund Julia eingeladen hatten. Das letzte Mal fand ein Konzert mit einem jungen, deutschen Komponisten statt, zu dem ich aber in Kirgistan und dann Ulan–Bator weilte, man erinnert sich, ist das lange her. Was fand nun auf der Bühne statt? Die Szenerie war wie für das Ensemble gebaut, der musikalische Leiter trat auf und hielt einen kleinen Vortrag über die Art des „Laboratoriums“, ein Querschnitt aus der Arbeit, kein Konzert, kein Theaterstück, auch keine Performance – nein, Arbeitsergebnisse und Übungen, minimalistisch, ein Nachspüren der Wirkmächte der Stimme, des Klangs… So führte die Vorstellung über Rhythmus– oder Reaktionsspielen in der Reihe oder im Kreis und Einzeldarbietungen verschiedener Mitglieder des Schauspieler– oder Musikerensembles, alle einzeln stehend und nur durch ein Thema verbunden, dass dieses Mal „Counting to Seven“ lautete, nach dem Zyklus eines zeitgenössisch amerikanisch–französischen Komponisten, der die Zahlen Eins bis Sieben in zahllosen Sprachen zur Grundlage seiner mathematischen Rhythmus– und Klangspiele gemacht hat. Aus dem bloßen Knochenbau einer Zahlenreihe in Hebräisch, Baskisch, Deutsch oder Italienisch brachten die Spieler teils verzaubernde, teils haarsträubend überwältigende, teils wirkmächtige Vorstellungen hervor, die nie über die Dauer eines guten Gedichts gingen und doch alleine eine Welt der Mystik und der Gewalt errichteten wie eben solches – einzig und alleine gezogen aus dem Klang der Zahlen bis Sieben, und aus dem schier unerschöpflichen Talent der Spieler in ihren kurzen Rollen, die sich danach, wie niemals im Theater, aus Freude über ein vollbrachtes Kunstwerk in einem ungekünstelten Lächeln ergehen. Vielleicht am meisten beeindruckt hat mich das letzte Stück, erstmals vom personellen Minimalismus abrückend, hin zu einem Kammerensemble – für diesen Part allein war die Bühneneinrichtung mit Pulten, Stühlen, Instrumenten seit Anfang präsent. Eine schmale Schauspielerin in verschmitzt kariertem Hemd betrat die Bühne und blieb vor den Musikern stehen, schaute ins Publikum, die Schultern nach vorne geneigt, scheinbar ohne Spannung und begann, mit leiser Stimme eine Geschichte zu erzählen, von der ich nur verstand, dass es ein mathematisches Denkspiel war, bei dem es um die Vermehrung von Königskindern in 17 Generationen ging. Die Zahlen vermehrten sich in jeder Generation potenziell und nach jeder spielte die Gruppe eine bestimmte Notenfolge. Nach dem Beginn der Erzählung, den ersten Kindern, war ein Strich alles, was sie übrig hatten, ein kurzer Akkord, der im nächsten Schritt nur um sich selbst vermehrt wurde. Bei der 17. Geschichte handelte es sich um ein volles Zwei–Minuten–Werk. Dazu die kleine, junge Frau mit den schwarzen, leicht gelockten Haaren in ihrer lockeren Pose, die mit ihrer Stimme, so leise und schwach sie auch war, eine Stille ins Publikum brachte, die ehrfurchterregend war. Ihre Mimik, das Zittern ihrer Stimme steigerte sich, wie bei einer tragisch-grausamen Geschichte, bis zur etwa 14. Generation ins Unermessliche, die Zahlen der neuen Königskinder, die am Ende die Tausend weit überschritten hatten, lagen ihr so schwer auf der Zunge, dass man fast Angst um ihr Spiel haben musste. Dann wurde sie, nicht auf einmal, ganz sanft und, auch ohne dass man verstand, wieso – sehr ruhig, nahm die Zahlen ausdruckslos hin, resigniert, vor den Nummern, die doch nichts bedeuten. Diese Frau habe ich, sooft ich auch im Theater war, seitdem nie wieder gesehen. Diese Vorführung, deren Bild und zittrige Stimme mir noch zwei Wochen später im Ohr klingen, war so bombastisch, dass der Entschluss vorstieß und plötzlich die Gewissheit da war: Dieses Theater ist es verdammt noch mal wert, dass ich so viel Geld wie ich habe da rein stecke. Wenn ich schon in der Position bin, Theatergänger, im weitesten Sinne Unterstützer, zu sein, gleichzeitig die Möglichkeit habe, erstklassiges Theater zu erleben – ich war dumm, nicht früher schon die Gelegenheit genutzt zu haben. Es gilt, eine Menge nachzuholen.
Damit fange ich gleich an. „The ball I threw while playing in the park/has not yet reached the ground.“ Den Bogen, den ich aufgemacht habe, vergaß ich zu schließen. Die Ausstellung in die ich halb privat, halb dienstlich gehen wollte, besuchte ich in zwei Rollen: als Vertreter des Goethe–Instituts, weil Julia wieder Wichtigeres zu tun hatte und der Veranstalter ein von uns unterstützter, abtrünniger Filmemacher ist (Man erinnere sich an die Veranstaltung, die wir im letzten November, vom Ministerium nicht genehmigt, einen Tag vorher absagen mussten: Der), der unsere Gegenwart aus Höflichkeit und Zeichen der Zusammenarbeit erwartete. Zweitens war ich da, weil ich Gefallen am Sehen und Gesehen-Werden der Kunstwelt gefunden hatte, so abseits sie doch von allen Normen des Staates ist – dann ist das Ilkhom natürlich der richtige Ort. Der rätselhafte Name der Ausstellung, die in anderer Zusammensetzung der Künstler schon im Haus der Fotografie und in der Bonum–Factum–Galerie zu sehen war, lautet in wörtlicher Übersetzung „Kunstpuzzle: Rahmen bis zur Geburt“ und bestand aus Serien von Fotografen und bildenden Künstlern, die von einem der drei anwesenden Komponisten mit einer eigenen Musik versehen wurden, teils klassisch, teils Pop, teils minimalistisch. Ganz anregend und interessant, andere Worte finde ich nicht dafür, aber eines hat mich doch ungemein beeindruckt. Sehr enttäuscht von der lapidaren Erläuterung des Künstlers, das seien Dracula, Der kleine Prinz, Hamlet und Zorro – in aufsteigender Reihenfolge die creme de la creme der Literaturhelden. Davon ungestört, zeichnete ich gegen Ende des Abends ein kleines literarisches Porträt der vier Fotos, die sämtlich auf schwarzem Grund das grandios agierende Model in Schwarz–Weiß und fahlem, einseitigen Licht zeigte. Die dahinterstehende Idee, diese Männertypen mit einer weiblichen Figur abzulichten, gaben dem Werk nicht nur eine Seite, die mir rein ästhetisch gefiel, sondern auch Stoff zur tieferen Analyse, den ich euch hier ersparen möchte. Und zwei Bands spielten auf – jenes Model gab in der ersten den Gesangspart, glücklicherweise spielten sie nur wenige Lieder. Obwohl, anzuschauen ist sie sehr hübsch. Die zweite Band gab mir mit ihrem längeren Spiel und einfachen, d.h. den Zuhörer nicht herausfordernden, Rhythmen bei gleichzeitig angenehmer, d.h. nicht anstrengend eintöniger, Melodik Raum zum Schreiben, mal sehen, ob ich es je als ein Ganzes zusammenfügen kann.
Weil ich jetzt selbst müde bin, mein Schreibfluss in einer Art verzerrten Homogenität verschwimmt, während es immer schwieriger wird, unverbrauchte Worte zu finden, kläre ich schnell die Überleitung zum Freitag – der Teil liegt unten schon fertig, dann hab ich Feierabend – was den Blog angeht. Erwähnenswert sind sowieso unter all den Stunden wieder nur jene, die ich im Ilkhom verbracht hatte, nämlich die des Donnerstagabends. Es war ein Konzert, auf das ich mich ungemein gefreut hatte, Antikriegslieder, seit letztem Jahr im Programm als Erinnerung an 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs und als Mahnung – nie wieder. Этот поезд в огне, This Train’s on Fire, doch die Lieder waren alle auf Russisch, und die paar Zeilen hier und da ließen mich wünschen, ich verstünde den ganzen Text. Die Akteure waren Soldaten, Heimkehrer, Freunde, Mütter, Geliebte – alle betroffen, alle exzellent in ihrem Spiel und Ausdruck, alle angenehm im Gesang, einige hervorragend. Diese Stimmen, diese kleine Bühne, die bei jeder Vorführung ihren Körper wechselt und eine neue Haut anstreift, so wie man sie noch nie gesehen hat, diese Spieler, die ihren Körper ganz der Bühne, dem Zuschauer, dem Spiel geben, und wenn sie wahnsinnig werden, dann glaubt man ihnen das. Das ist kein Spiel, das ist realer Konflikt, und den verstehen sie meisterlich weiterzugeben an uns, die wir dafür Geld bezahlen, die wir innerlich danach lechzen, Extremerfahrungen, Augenblicke von Tod und Schmerz, so über einen Mittler, den Akteur, zu erfahren, als sei es an unserer eigenen Haut. Ja, sie können, was sie tun, ja sie wissen, wie sie sich inszenieren, und sogar, was Krieg ist. Auf dem Nachhauseweg passiere ich Hundertschaften Polizisten, an allen Ecken lungern sie, der Unabhängigkeitsplatz ist für Fußgänger gesperrt, dort brennt einsam die ewige Flamme der weinenden Mutter. Irgendwelche wichtigen Leute aus Kasachstan sind da, vielleicht sogar der Präsident, es interessiert mich wenig. Ich marschiere in geliebter Einsamkeit die 40 Minuten nach Hause, wo Bücher und Schlaf mich erwarten, und denke über morgen nach – denke daran, dass ich wieder ins Institut fahren werde, den halben Tag mit Arbeit verbringen werde und den Rest im angestrengten Nachdenken darüber, was mir noch zu tun bleibt, bis es mir wieder einfällt, und so bleibe ich, am Ende beginne ich „Der Staat gegen Fritz Bauer“ zu gucken, der in etwa das Gleiche ist wie „Die Akte General“, aber Burghart Klaußner macht die Geschichte wert, noch einmal zu passieren, bis es soweit ist – IlkhomRockFest.
Es ist einfach wohltuend, in einem Land der Strenge und Konfrontation so unangepassten Rock, so ausbrechende Performances zu erleben, mitgerissen zu werden von einem Hauch der Freiheit in einem unfreien Staat. „The Doors of Perception“, hieß – freilich auf Russisch – das Programm für den heutigen Abend, und ließ hoffen auf guten Rock und gute Stimmung. Im Internet stand: Titel von John Lennon und The Doors – im Endeffekt war es hauptsächlich letztere, die sich als Autoren kennzeichneten, dazwischen Evergreens wie Imagine, Norwegian Woods – in einem fantastischen, psychedelischen Arrangement – und einem unpassenden Lied, das ich nicht kannte. Die Bühne ein Friedhof, Jim Morrisons Name auf einem der Steine, dazwischen tanzend, springend und die spät heruntergebrannten Teelichter verschüttend, ein Mann mit Spitzbart, Brille, offenem Frack auf Haut und einer Melone, die von Zeit zu Zeit auf seinem Kopf, in seiner Hand, auf seinem Bauch mittanzte – ein Männlein, das dem Zauberer eines Irrenhauses nicht unähnlich sah und den alptraumhaften Rumpelstilzchen, die manchmal jemandes Kopf bevölkern ebenso wenig. Ohne die Gefühle der Künstler verletzen zu wollen – die Gesangsqualität war am vorherigen Abend besser. Man muss auch wissen, wie man ein Mikro benutzt und dass man es sich nicht direkt an den Mund hält, wenn man schreit, weil dann alle Ohren im Raum kaputt gehen und aus den Lautsprechern etwas kommt, dass dem Geräusch eines Schädels im Zermalmen nicht unähnlich ist. Zudem gab es eine junge, sehr attraktive, auch noch lasziv spielende Dame auf der Bühne, für deren Auftritt zweifellos nur Männer im Publikum geklatscht haben, denn singen konnte sie nicht. Ihre Rolle schon. So etwas wie Gesang und Wohlklang ist aber auch unnötig, wenn man sich The Doors in Usbekistan anhört – fast wie eine Massage, wenn er singt, Tell me the way to the next little girl. Man hatte gehofft und gezittert, nach einigen ordentlichen Gesangseinlagen doch wieder versöhnt, von den guten Gitarren, Bass und Schlagzeug sowieso, und am allermeisten von all den Lieblingssongs, die einem nun wieder im Kopf herumschwirrten, und dann der allergrößte und allergewaltigste, den die Gruppe geschrieben hatte: The End, in voller Länge, mit allen Zeilen, die das Herz eines patriotischen Usbeken, der Vater und Mutter liebt, bis ins Mark erschüttern wollten, doch glücklicherweise schien das Publikum voll von Russen oder zumindest Leuten, die kein Wort dieser Zeilen verstanden. Oh, wie die Bühne das auskostete, endlich all den Rotz aus den Lungen zu kriegen, und es war gut, ich bin gereinigt, durch die Tore der Wahrnehmung gegangen – The End in Usbekistan, wunderbar. Wun–der–bar. Das Beste – die Show spielen sie schon zum zweiten Mal, das erste hatte ich, Anfang Dezember, verpasst, nun wieder – und wieder, und wieder – bis ihnen die Augen und Ohren abfallen und den Verstand dazwischen freilegen. Oder in einer Wolke aus Lärm ertränken. Nicht, dass man mich falsch versteht – mich ergötzen nicht die schlüpfrigen Texte, ich labe mich nur köstlich an der Provokation, die sie bedeuten.
Welche Schönheit in der Ruhe liegt! Nichts tut so gut, wie nach einer langen Woche, zahlreichen auswärts verbrachten Abenden und wieder einer langen Nacht einen Samstag des Dösens, Nachdenkens, vereinzelten Lesens und Schreibens zu haben – völlig entbunden von Pflichten, außer denen, die sowieso dem Herz und nicht dem Kalender entspringen. Doch zu kurz, ein Tag, ein Urlaub an der Küste wäre höher gewesen, aber wer will sich beschweren nach einem simplen, schönen Erdenkreis? Nach dem Aufstehen und geruhsamen Frühstück wollte ich mich zum Mirobod–Basar aufmachen, um Geld zu wechseln. Ein kurzer Blick ins Fenster, ein Schritt auf die Öffnung zu und ein pupswarmer Wind streicht hinein – es sind Augusttemperaturen mit Ankündigung – denn bereits die Nacht war so schwül gewesen, so leicht und sommerlich, dass ich, als ich um halb Drei hundsmüde aus dem Barduck am Broadway stolpere, weit entfernt davon bin, meinen Pullover aus dem Rucksack ziehen zu müssen. Es ist der Rucksack mit allen Papieren, Heften der Arbeit, denn zwischen Feierabend und Bett lagen rastlose Stunden, nur nicht zuhause. Nach dem Konzert trafen wir auf Farid und seine Freundin Juna, die verrückt, aufgedreht und immer an der Flasche, mit Zigaretten und manchmal – nie in meiner Gegenwart – mit anderem, zu jenen Leuten gehören, die nicht in dieses Land passen. Zu unangepasst, zu Underground, er ist Englischlehrer, sie Fotografin – soweit sie erzählen. Mit Jonas, als der noch hier war, haben wir einige Abende verbracht, und er kennt eine Menge Leute, Orte, die man in jener Ausländerblase, aus der auszubrechen nicht einfach ist, kaum wahrnimmt, von denen man, in ihrer Freiheit, kaum ihre Existenz, gerade hier, vermutet hätte. So kennt Farid auch die meisten Schauspieler des Ilkhom, die er dann, als sie lange nach Ende der Vorführung auf den betonumbauten Hof kommen, sich ihre Zigaretten anzünden und ein wenig im Ton des Abends schwelgen – kurze Phrasen aus Light my Fire oder Riders on the Storm anstimmen – begrüßte und mit denen sie, ich im Schlepptau, fasziniert, sich die Straße hoch in jenes Kafe setzten, in dem wir (anderes Wir) schon vor der Vorstellung auf eine Suppe vorbei geschaut hatten. Nach langem Hin– und Herrücken der Tische und Stühle, ich wortlos daneben, für eine Gruppe unserer Größe – gute 20 Mann (und Damen), kam es im üblichen Rahmen zu Bier und Schaschlik und Unterhaltungen, an denen ich mich nach ein, zwei und im dritten Bier mit wachsendem Eifer beteiligte. Mir gegenüber saß ein Mensch, der offenbar ursprünglich aus den USA stammt („We in Alaska…“), dann eine Schauspielerin geheiratet hat – jedenfalls sind sie zusammen – und geblieben ist. Schon der vorherige Abend hatte mir den Gedanken eingepflanzt, vielleicht – obwohl es eine Schnapsidee ist – doch einige Jahre anzuhängen. Das Theater bietet immerhin eine dreijährige Ausbildung zum Schauspieler und in diesen Räumen zu spielen, das wäre schon eine Klasse für sich – eine der großartigsten Jobausschreibungen, die mir über den Weg gelaufen sind. Suchen Schauspieler für avantgardistisches Spitzentheater mit maximal hundertzwanzig Sitzplätzen, geringer Bezahlung und hoher Beschäftigung in einer der Top Ten unter den Diktaturen dieser Erde. Lust bekommen? Gerade Taschkent wäre eine Stadt, in ihrer Erschöpfung und Weite, Monstrosität allein in ihren Ausmaßen, in der ich sicher auch gut schreiben könnte, zum Beispiel. An Erfahrung mangelt es hier nicht, im Gegensatz zum langweiligen deutschen Alltag. Irgendwann bricht auch hier der Alltag ein und dann könnte es schrecklicher werden als jemals gedacht – wenn die Repressionen zunehmen, die Arbeit schwieriger wird und weniger Leute kommen, das Gehalt schrumpft… Und mein Magen, allein für meinen Magen ziehe ich Deutschland vor – wer weiß, vielleicht wird es jetzt, in der tristen Bürokratie und Berechenbarkeit der deutschen Lebensweise, mit den Flüchtlingen und Company doch ein wenig spannender, herausfordernder… Ich will nicht, dass sie gehen, ich habe Lust, ihren Einfluss auf die Kultur zu sehen und kräftig mitzumischen, wenn etwas von Bedeutung passiert, Veränderung in Richtung Kreativität und Offenheit statt trockenes „Gewäsch und Seifenschaum“. Also doch Deutschland, hätten wir das geklärt. Die Verlockung bleibt. Mein Magen würde stöhnen. Nach dem Zusammensitzen im Nilufar oder wie das Kafe hieß, nahmen einige der Mannschaft Abschied, um ins Bett zu gehen, wer morgen arbeiten musste, der andere Teil, und ich mit ihm, verschwand für einige Stunden noch in eben jenes Barduck, von dem außen keine Beschriftung und kein Schild an der sichtschutzbraun getönten Plastikscheibentür kündet. Weil Farid und Juna sich noch mit zwei Spielern unterhielt – darunter das Rumpelstilzchen, das nun, ohne Frack und Hut, mit einem Fahrrad und ernstem Gesicht, gar nicht mehr dämonisch aussah – wartete ich mit den Vieren, durfte mit aufs Selfie, bevor die Akteure abdampften und trottete anschließend neben den beiden Verrückten her, um in der Bar, die irrsinnig billig ist und gleichzeitig angenehm eingerichtet, obwohl typisch zwielichtig dunkel, verraucht und etwas modrig, wieder auf jenen Teil der Truppe zu stoßen, der sich vorhin absentiert hatte, von dem sehr bald ein Großteil auch ging. Nur ich, zu sehr an die Idee gebunden, hier mit diesen Spielern zu sitzen, deren Theater ich so sehr bewundere, wollte mich nicht meiner Müdigkeit ergeben und sprach dann, auf Englisch oder Russisch, in einer Runde mit dem Keyboarder, der auch am Donnerstag gespielt hatte und mich unglaublich an die Bilder Keith Emersons in den 70ern erinnert, dem Gitarristen, der bei „Sem Lun“ – Sieben Monde – auch Kontrabassist ist, und dem Spieler des Sergej Jessenin, der in gewisser Art und Weise wie Val Kilmer in „The Doors“ und so wie eine usbekische Wiedergeburt Jim Morrisons wirkt – der am Vorabend auch einen der – in meinen Augen – Höhepunkte des Programms dar geboten hatte. So wurde es natürlich spät und ich, obwohl eigentlich wenig Alkohol im Spiel war, wachte am nächsten Morgen mit leichten Kopfschmerzen auf und eben jener Überzeugung – heute ist Ruhetag.
Eben der führte mich gegen Mittag in der gleißenden Sonne, ein wenig stechenden Hitze zum Mirobod–Basar, der sich inzwischen auf dem Parkplatz neben der Hauptkonstruktion um ein zum Ark hin an zwei Seiten offenes Fünfeck tummelt, in knapper Sichtweite der orthodoxen Kirche, die mit ihrem Blau an diesem Tage wieder mal eine Augenweide ist, und die Stände lassen mit ihrem blauen Sonnenschutz schmale, schattige Gassen und ich komme mir schon gleich vor wie in Algier oder auf den Basaren Marokkos – Apfelsinen, Pilze, Erdbeeren, von denen ich mir ein Kilo mitnehme – sie schmecken wie Sommer, und es ist April. Der Grund für diese Tummelei ist die Renovierung des Basars, der riesigen Konstruktion, deren Zierstreben abends eine Masse kreischender Vögel anlockt, welche den großen Raum mit ihrem Geschrei füllen, unter dem die Händler auf ihren nummerierten Steintresen die frischen Waren präsentieren, breite Wege lassend für Käufer und Besucher. Darum herum, in den Wänden des Fünfecks, Läden für Kosmetik, Fleisch und Kühlwaren. Hier bauen sie wenigstens nicht das ganze Gebäude neu (wie am Alaiskiy), obwohl man die Konstruktion der Streben mit ihrer Anziehungskraft für Vögel doch hätte überdenken können. Hier reißen sie nur die Tresen ab, erneuen Farbe von Wand und stählernen Trägern, damit es hübsch aussieht. Diese Maßnahmen sind für ein bedeutendes Treffen der Shanghai Cooperation Organization, dessen Vorsitz Usbekistan in dieser Periode hat. Eine Frau stellt sich neben mich und fragt mich, was das soll, das Alles–neu–Alles–schön. Ich erkläre es ihr. Aha, meint sie dann, damit sie sehen, dass in Usbekistan alles funktioniert und sauber ist. Und schön, füge ich hinzu, die Bitterkeit ihrer Stimme aufgreifend. Es gibt im Volk nicht vollen Rückhalt für diese Bauvorhaben – siehe Shahrisabz. Wenn er sie ausdehnt, könnte es ihn noch vor der Zeit den Hals kosten.
Der Ausblick auf den Abend versprach ein langes Programm, zum Glück hielt letztendlich mein Magen mich davon ab, nach dem Restaurantbesuch noch weiteren Alkohol zu trinken. Von Anfang an: Dritter Ilkhombesuch in Folge. Diesmal kostenlos, weil das Goethe–Institut die Inszenierung finanziert hatte, ähnlich diesem Kafkaprojekt, das Ende Mai premieren soll. Der „Goldene Drache“, Золотой Дракон, ein Stück von Roland Schimmelpfennig über die Bewohner eines Hauses, in deren Erdgeschoss das chinesisch–vietnamesische Restaurant jenen Namens liegt, in dem die Köche einen jungen, fernöstlichen Flüchtling verstecken, der Zahnschmerzen hat und an den Folgen der brutalen Behandlung durch die Köche stirbt, von ihnen anschließend ins Wasser geworfen wird. Dann die Geschichte seiner (vielleicht) Schwester, die als Prostituierte endet und von allen Bewohnern des Hauses aus Eigennutz und Einsamkeit misshandelt, sexuell missbraucht wird, zwar nicht stirbt, aber an einem Ende ist, von dem kein Weg mehr an den Anfang führt. Insgesamt war das Stück voll von Einsamkeit und Charakteren einer sozial gestörten Gesellschaft – Deutschland. Phänomenal: die Schauspielerin mit dem koreanischen Gesicht, die beide Flüchtlinge spielte – die Prostituierte wie den letztendlich toten Jungen. Weiterhin: die Alte, die den Zuhälter und eine Köchin verkörperte, die bei Three Tall Women die 92–Jährige gegeben hatte und bei Sem Lun, das ich am Mittwoch wieder sehen werde, ebenfalls eine Alte spielt, die beim Antikriegsliedabend dabei war und bei jenem Ilkhom–Laboratorium, die einfach in allen Rollen brilliert und beeindruckt – Hut ab. Mir gefiel die Geschichte, Kristina (meine Russischlehrerin) fand sie seltsam und die beiden Japaner, die sie mitgenommen hatte, sagten nicht viel dazu, verstanden wohl auch nicht viel. Zum Abschluss der Fernost–Runde ging es in geplant großer Runde zu einem Koreaner, in dem wir schon einmal waren (d.h. die üblichen Verdächtigen) und nun wenig neue Leute dazu kamen. Julius aus Samarkand, der in Usbekistan noch alles happy fand (das für’s Protokoll), war dabei, alle Deutschen und Deutschsprachigen, der Spanischlektor David, Vilja und die beiden Japaner. Das Essen muss es wohl gewesen sein, dass mir anschließend in der Elvis–Bar, die Julius, der Berliner, mit hellem Ausdruck des freudigen Erstaunens betrat, die ersten kleinen Schmerzen bescherte, die wiederum mich dazu veranlassten, vom Wodka abzusehen. Es war eine kleine, kurze und traurige Runde – die Bewohner des Deutschen Hauses verließen bald den Ort und zurück blieben Vilja, Julius und ich – für Erstgenannte eines der letzten Male. So was passiert der UNDP nicht zum ersten Mal, es ist aber immer wieder unangenehm, erst recht, weil sie erst seit Januar hier ist. Aber da lässt die Politik nicht mit sich reden, da hilft auch keine note verbale, wenn die Verlängerung der Akkreditierung unbegründet zurückgewiesen wird, bleibt ihr nichts anderes übrig als das Land zu verlassen und an einem anderen Ort wieder angestellt zu werden. Zwei Jahre wollte sie bleiben, ein Drittel war es nun, noch bevor unser „Shum bola – 2016“ beginnt, muss sie gehen. Das war schon eine ganze Weile klar, langsam darf man es weiter erzählen. Also irgendwie gedrückt machten wir uns auf, wollten noch woanders hin – Farid hatte gesagt, dort fände eine Open–Air–Party statt – und als wir ankamen, fing mein Magen wieder an, ganz von alleine, ich sagte Tschüss, die beiden verschwanden in der Bar, und ich erklärte einem betrunkenen Farid, der schon wieder ganz woanders war, am Telefon, dass ich nicht zu ihm stoßen würde.
Der nächste Morgen seltsam. Kopfschmerzen und ein beklemmendes Gefühl im Bauch, das sich den ganzen Tag über nicht legte. Die am Samstag gekauften Erdbeeren mischte ich nun mit Kefir in eine Art Joghurt. Ein bisschen fühlte ich mich krank und, obwohl die Augen ohne Hilfe offen blieben, sehnte ich mich nach endloser Ruhe und irgendetwas, irgendetwas, das meinen Magen nicht reizen würde – wenn es auch nur ein wenig ist, gerade in dieser letzten Zeit, den beiden Wochen, seit meine Eltern weg sind und ich viel zu tun habe (Stichwort: emotionaler Stress), spüre ich alles quer liegen und mein Körper fühlt sich alt und fahl. Nicht bestimmt grausam oder groß, der Schatten ist eher klein, aber bis heute gewachsen – ich will nur, dass er wieder abnimmt. Ich verlange keine Auflösung in nichts, nur eine Lockerung dieses Gürtels, der sich ohne mein Zutun um den Nabel schnallt… Aber ich lamentiere ja nur wieder über irgendetwas, Hauptsache, ich kann jammern und larmoyant sein, das alles klingt immer schlimmer als es ist – Anstrengung, mehr nicht. Ein bisschen Herausforderung muss sein.
So auch beruflich. Das Goethe–Institut ist weiter diesen bestimmten Repressionen ausgesetzt und verwendet immer größere Mühe darauf, einen Ausweg zu finden oder eine Möglichkeit, weniger strikt behandelt zu werden als andere Organisationen, sozusagen im Austausch unserer bereitwilligen Selbstanerkennung als NGO im Gesetz. Es wird trotzdem nicht einfacher, die Hoffnung zielt auf lange Sicht, und je mehr Zeit ich hier verbringe, desto paranoider, desto pessimistischer werde ich und freue mich auf Deutschland – auch wenn die Freude in einer Schublade rumoren darf, wo „weit weg“ drauf steht, das ist alles mehr als 30 Tage entfernt. Aber eine Ausbildung am Ilkhom – was das nicht wäre! Unter so vielen Charakteren auf einem Fleck – gegen die deutsche Kühle, Expressionslosigkeit und Angepasstheit – all das, wofür Angela Merkel steht – ist das ein Bienennest, Hort des Widerspruchs und der intelligenten Dissidenz. Hier werde ich noch häufig hinkommen, in diese Hallen. Und sind es nicht – trotz aller Erschöpfung und Müdigkeit vom Land, von den Leuten – gerade die Momente des intelligenten Widerstandes, in denen Herz und Verstand gleichermaßen blühen und zu einer harmonischen Einigung führen, die ohne die äußerlichen Widrigkeiten und Probleme gar nicht so erlösend, weit nicht so schön und berührend wäre? Es entsteht wenigstens der Eindruck, man gehe gegen die staatlich verordnete Homogenität und den Konformismus vor. Die Extreme bilden den Charakter, und hier ist der Punkt, auf den ich baue: In Deutschland werde ich nie wieder so durchgerüttelt werden, so zwischen den Stühlen oder in solcher Ekstase – hier bin ich Dissident, hier darf ich sein. Darum ist es noch immer gut, hier sein zu dürfen und noch immer gut, nicht nach Hause zu können – weil mich immer noch etwas hier hält, und das ist glücklicherweise nicht nur die Arbeit. Das ist Theater, das ist die Gastfreundlichkeit, das ist der kleine Kreis, in dem wir feiern – das ist Leben, unverdünnt – für mich unerfahrenen 20–Jährigen vielleicht ein wenig zu stark gebraut, aber nicht unerträglich. Nicht schlecht.

Schritte durch den Frühling

Mit einem Glas usbekischen Rotweins, nicht die beste Sorte, sitze ich vor dem elenden Computer, den in den letzten Tagen ich selten offen gesehen habe, und versuche kurz und in einem Rutsch die Ereignisse der anderthalb Wochen, die wieder hinter mir liegen, zu rekapitulieren, um frei und entspannt ins Wochenende zu gehen. Meine Familie kommt am Samstag um halb Drei am Flughafen an und dann startet eine Woche ständigen Stresses, ich bin immerhin Guide und Manager, Verwalter und Zentrale für diese Masse an acht Leuten, die mich alle überfallen. Meine Eltern, meine drei Geschwister, mein Großvater und zwei Tanten, mir gruselt’s. Wenigstens kann ich mich in ihre Jetlag-Müdigkeit geben, denn nicht minder müde bin ich doch, werde ich in all dem Trubel doch sein. Doch, zurück, die Zukunft ist ungeschrieben, ich schaue auf die Vergangenheit.

Zu Shum bola, dem Kinderfilmfestival Ende April, hatten wir vor neun Tagen Sponsorenbesuche. Wie letztes Jahr wird uns der Restaurantbesitzer Bek (Taschkent ist mit 17 Filialen sein Hauptstandort) großzügig mit Essen unterstützen, d.h. abends für die Delegation aus Deutschland – sechs Leute – und mittags für die Volontäre, die ich verwalten darf. However, zum Festival wird es genügend Neuigkeiten an anderer Stelle geben – fast jede Woche füllt sich die Hälfte des Protokolls des Jour-Fixe der Programmabteilung mit neuen Fragen, Ordnungen, Fakten zu Shum bola – Bek jedenfalls, wie es seine Tätigkeit nahe legt, lud uns in eines seiner Restaurants, das „Nur“ ein und Asya, unsere Kontaktperson von Uzbekkino, Partner des Festivals, beschloss daraufhin, sich anzuschließen und ihr ausstehendes Gespräch mit dem Institut auf dieselbe Zeit zu legen. Der alte Bek saß zentral und Julia gegenüber, am Tischende sein Sohn und Geschäftsführer, der den Kellnern immerwährend zuflüsterte und das Gespräch im Griff hatte. Ich will nicht länger über die Speisen reden, so oder so gibt es immer dasselbe in Variation A#1-5, und auch usbekischen Rotwein, aber besseren als den, der vor mir angenehm im Glas schimmert. Erwähnenswert vor allem das Frühlingssomsa, als Variation A#3.2 nur in der frischen Jahreshälfte erhältlich und mit Spinat gefüllt – für usbekische Verhältnisse eine Delikatesse. Nur das Eis, das nach allen Besprechungen, die natürlich auf Russisch verliefen, dessen Klang ich zum ersten mal das Gefühl hatte, verstehen zu können, ohne allerdings viel zu behalten, nicht hätte essen sollen – warum denn esse ich sonst so wenig davon? Um bei erneuter Probe wieder sagen zu können, dass mein Magen es nicht gern hatte. Besonders in diesem Fall, da wir aus dem Restaurant ins Dienstauto zu unserem Fahrer stiegen und in Richtung des Vertriebbüros von Haribo fuhren, irgendwo in der Nähe von meiner Wohnung. Denn die Ringstraße, die das weit gefasste Zentrum umfängt, ist keine deutsche Autobahn, es ruckelt und wackelt in dem silbernen VW-Bus, was das Zeug hält, und ich halte mir meinen Bauch. Julia ist nicht mitgekommen, musste zur Botschaft, aber Ravshan und ich, wir leiden ein wenig unter dem Zustand der Straße, bis wir in irgendeine Mahalla einbiegen und vor einem großen Tor Halt machen. Ravshan und ich steigen aus, der Dienst habende Polizist klärt ab, bei wem wir vorsprechen dürfen, und lässt uns ein. Das Gebäude ist im Grunde braun, mäßiger Zustand, mit braun getönten Fenstern und sieht alleine deshalb schon aus wie aus früherer Zeit. Ebenso die Dame, die uns in ihrer Kleiderauswahl Braun in Braun überrascht, aber jung ist und hübsch. So verhält sie sich leider auch, und redet im Grunde zwanzig Minuten über unsere Vorstellungen und Wünsche, bis sie uns mitteilt, nach reiflicher Überlegung könne sie noch nicht zusagen, müsse erst ihren Chef fragen – ein Schritt, zu dem sie offenbar in den vorherigen zwei Wochen, seitdem sie unseren Brief erhalten hat, keine Zeit gehabt hatte. Man ist ja beschäftigt in solch einem Vertrieb. Wir sprachen neulich in deutscher Runde über die Arbeitsmoral der Usbeken und kamen zum Schluss, es mag etwas dran sein am Sprichwort: „Vor dem Tee fehlt die Kraft, und nach dem Tee die Lust zum Arbeiten“. Sie spielte groß und ließ uns unverrichteter Dinge wieder abziehen, wahrscheinlich werden wir dieses Jahr ohne Haribo auskommen müssen. Ein Telefonanruf hätte dafür gereicht. Ich hätte mir die Bauchschmerzen erspart. Obwohl ich damit wieder ganz gut leben kann – jetzt, wo ich ziemlich viel, auch abends, auf Achse bin, d.h. meine wohlbehütete Einsamkeit zugunsten geselliger Späße verlasse, wo ich mich fühle, als wären acht oder neun Stunden Schlaf nicht genug, da meldet sich auch mein Magen wieder und wieder, gar nicht selten, und ich beruhige ihn mit leisen Worten und Zeit, soweit es geht. So höflich gering im „Nur“ die von mir verspeiste Menge Eis auch war, auf den schlaglochübersähten Straßen dachte ich, viel häufiger sollte ich das nicht machen.

Nun, das waren Sponsorenbesuche, Kennenlernen einer Geschäftskultur, wie sie hier existiert. Solche Häuser wie jenes, in dem auch die Haribo-u.a.-Vertriebsfirma sitzt, braune Klötze, ununterscheidbar, mit Toren und Wächtern zwischen Wohnhäusern versteckt, sieht man häufiger, meist ohne zu wissen, was drin ist. Sterile Treppenhäuser, eine Überlast des Braunkanals der Augen und Firmen, kleine, große. So lernt man auch die Stadt kennen. Ich freute mich riesig, als ich zudem die Gelegenheit bekam, ein Taschkenter Tonstudio von innen zu sehen, als ich angefragt wurde, für ein Deutschlehrbuch, dessen schriftlichen Teil ich bereits grammatikalisch, orthografisch und rechtschreiblich korrigiert hatte, nicht eben inhaltlich überarbeitet, wie es die Lektoren an den Universitäten zuweilen tun (müssen), auch die Texte für eine CD einzusprechen. Alleine aus Eigennutz, wieder einmal ordentlich sprechen zu dürfen, vor dem Mikrofon, aber auch aus dem Wissen heraus, dass sie wohl keinen besseren Sprecher als mich im ganzen Land finden würden, der ihnen kostenlos seine Stimme leiht, nahm ich sofort und begeistert an. Eine Seance fand am Dienstag statt, und ich sprach einfach hintereinander ein – niemand war da, der mich korrigieren konnte außer mir, und ich hatte keine Lust, die Kleinigkeiten, die mir auffielen, auseinander zu nehmen und dreifach aufzusprechen, nur der Perfektion wegen, deshalb flossen die Wörter in einem Rutsch und natürlich war die Lehrerin, die sich, ebenfalls ehrenamtlich, für die Erstellung der CD verantwortlich zeigt, begeistert, wollte mich zum Essen einladen – aber ich musste arbeiten. Zumindest habe ich meinen Teil schnell absolviert und gemerkt, mit ein wenig Training wäre auch die alte Reinheit der Sprache wieder zu erreichen, die ich im Alltag doch sehr schleifen lasse. Die Studiotechnik sah modern aus, weniger überraschenderweise als tatsächlich mit leisem Bedauern – man kann so schön überheblich lächeln, wenn das Equipment alt ist, man den Vorwurf geltend machen kann, diese Staaten lebten hinterm Mond. Was in dem Fall stimmt, wenn der Geldautomat im Grand Mir Hotel mit Windows XP bespielt ist, aber nicht im Falle dieses Studios – der zweite Mann schnitt mit Premiere einen Film auf seinen zwei Bildschirmen, die Tonregler wirkten ausreichend professionell und ebenso die Rechner und Kabel. Nur der Innenraum, in den vier Musiker gepasst hätten und wo anscheinend auch Fernsehaufnahmen gemacht werden – mich starrte die ganze Zeit das schwarze Auge einer wuchtigen Kamera an – entsprach ganz den Vorstellungen eines zurückgebliebenen Usbekistans – der graue Teppich an Boden, Wand und Decke, der alte Tisch, hinter dem ich saß und die angeschrägte Tafel hinter mir, auf die offenbar Bilder wie für eine Nachrichtensendung projiziert werden können – allerdings mit einem Look des prädigitalen Zeitalters – alles erinnerte mich an die Bilder, die ich aus Filmen, Büchern von der DDR kenne – farblos mit Sepiastich, modrig, unproportional. Und eben auch vor diesem Haus, das neben dem Studio noch zwei Etagen voll Büroräumen hat, ist eine hohe Mauer mit Tor und Wache, bei der jeder Passierende sich mit Namen, Zeit des Eintritts und Wertgegenständen am Mann eintragen muss. Wenigstens war der Bau weniger braun als der von Haribo, erinnerte in dieser weiß dreckigen Ästhetik eher an eine Schule.

 

Mehrmals erwähnte ich in meinen Beiträgen schon das Ilkhom-Theater mit seinen „avantgardistischen“ (Reiseführer) Stücken, die auch Konzerte organisieren und vieles mehr – das Attribut in Gänsefüßchen passt sicher zu keiner meiner Besuche so sehr wie zu dem des letzten Samstags (?). Zu dritt, Vera, Simon und ich, gingen wir in ein Alisher Navoi, des großen nationalen Dichters (15. Jh.) Usbekistans, zugeschriebenes Stück mit dem lyrischen Titel „Sieben Monde“ – englisch untertitelt. Das Theater befindet sich etwas versteckt unter dem Shodlik Palace Hotel, man muss über die breiten Treppen den Betonbau von unten durchqueren, zwischen den Säulen auf einen kleinen Platz, dessen Arkade links auf den Eingang zuläuft, geradeaus weiter zur Kasse und links in das warm gestaltete Foyer, das zuerst mit einem Shop für die eigenen Marketingartikel aufwarten kann. Schräg links hat man den Blick auf das Café, aus dessen kleinen Menü mir bereits eine Speise empfohlen wurde, nur habe ich vergessen, was. Ob hier auch Leute tagsüber Kaffee trinken gehen? Vielleicht haben sie nicht einmal echte Bohnen, Nescafé ist immerhin tragender Sponsor und verlost vor einigen Aufführungen, so auch heute, Granulat in Dosen. Gegenüber des Cafés befindet sich eine Leseecke mit wunderbar alten Büchern, nicht nur Dostojewski und Tschechow, auch Dumas oder R. L. Stevenson finden sich hier – alles auf Russisch. Eine Leinwand zeigt Trailer aktueller oder kommender Produktionen und alles ist in einer Mischung aus Zeitgeist und Nostalgie gehalten, die mich immer wieder erstaunt. Im Foyer findet sich eine Ausstellung mit Bildern jenseits der klassischen nationalen Kunst, zu „Jessenin“ hingen hier noch Gemälde Taschkenter Künstler, surreal bis klassisch avantgardistisch, nie geschmacklos. Heute, wie auch beim letzten Mal, als ich zu einem mit zweieinhalb Stunden die Geduld deutlich strapazierenden Rockkonzert hier war, hängen Fotos von Tattoos – auf Menschenhaut, Frauenhaut, man mag es kaum glauben. Ich freue mich, nicht weil ich Tattoos mag, aber die Freiheit, die mag ich – hier fühle ich mich frei. Zu Beginn gewinnt Simon tatsächlich das Glas Kaffeegranulat und wir steigen ab in den Keller, an zahlreichen Plakaten entlang, von denen einige das Logo des Goethe-Instituts zieren, und durch einen atmosphärischen Gang in den kleinen Raum, dessen Bühne nicht viel größer ist als die der heimischen „Schille“, aus der sie doch immer wunderbare Sachen zaubern. Dieses Mal durfte es ein Spektakel mit 20 Akteuren sein – Musikern, Spielern, die einander die Gesten zuwarfen, teilweise atemberaubend und präzise, selten platt oder durchschaubar und so war auch das Stück – Alisher Navoi durfte lediglich mit seinem Namen herhalten, die Geschichte wurde von einigen anderen vor und nach ihm erzählt, und wurde so einfach gehalten, dass sie mit all ihrem Elementen fast zur Nebensächlichkeit wurde zwischen allen Zitaten, die wir nicht verstanden, und einer Symbolik, die viel aus dem Präislamischen und Persischen gewonnen habe, wie uns nachher jemand erzählte, so dass es schwer wurde, alles aufzunehmen und aneinander zu heften, trotz der englischen Übertitel, die nicht immer der Sprache folgten, auch mal stur stehen blieben, und viele der Zitate, viel des Usbekischen, das hier und da in Sätzen eingestreut wurde, nicht abbildeten. Ein Spektakel, fantastisch, zu dem wir in gemeinsamem Beschluss im April noch einmal gehen wollen, um die Lust zu spüren und besser zu verstehen, was dieser Herrscher, dessen Schauspiel an den Grenzen des Wahnsinns flackerte, mit seiner Blüte aus dem Osten, die er nachher in die Wüste trieb zu verhungern, und was sie mit ihm getan hatte, wie viel der Wein, wie viel die Frau Verantwortung tragen, und was eigentlich der Anfang damit zu tun hatte. Für den nächsten Monat habe ich im erst kürzlich erschienenen Programm schon fünf Kreuze gezeichnet – nun, natürlich werde ich für mindestens drei zu faul sein – und für Freitag habe ich eine Karte, die Julia, weil sie nicht da ist, an mich weiter gereicht hat, zu einem Teil der „Laboratorium“-Serie – Mischung aus Musik und Theater, Konzert und Schauspiel, ich bin gespannt. Das Ilkhom ist ein guter Ort.

Weil ich wenig Zeit habe und mir keine langen Überleitungen ausdenken will, folgt der nächste Punkt, wie schon der letzte, ohne langes Überlegen. Eines der größten, schönsten, wichtigsten Volksfeste Usbekistans ist Navruz, der Frühlingsanfang am 21. März. Ein Glück, dass der dieses Mal ein Montag war, so hatten wir alle ein langes Wochenende und hätten lange schlafen können, wäre das nicht so gegen die Gesetze der Jugend. Obwohl ich doch noch ziemlich lange penne, muss ich mir zugestehen. Im Navoi-Park, wo das Parlamentsgebäude oder so – jener Regierungsbau jedenfalls, der auf dem 5000-Sum-Schein zu sehen ist – steht, fand eine offizielle Veranstaltung mit Rede des Präsidenten und Gästeliste statt. Wir mussten also auf einen anderen Park ganz in unserer Nähe ausweichen. Usbekische Parks, wurde mir gleich am ersten Tag von Alisher erzählt, sind nicht wie deutsche. Der Boburpark spiegelt das, glaube ich, gar nicht schlecht. Es gibt ein Riesenrad, zwei Bühnen, einen künstlichen See, auf dem Tret- und Ruderboot gefahren werden kann, Geschäfte, die Snacks und Getränke anbieten, Schießbuden und verrostete Stahlkarusselle und Fahrattraktionen aller Art. Eines mussten wir ausprobieren, für 2500 Sum, und waren sicher froh, uns für ein völlig Harmloses Späßchen entschieden zu haben. Denn die Kinderachterbahn, das war es mehr oder weniger, verhielt sich in ihrem Tempo ungleichmäßig und ruckelte, unabsichtlich, als erschöpfte sich ihr Atem langsam. Naja, was soll schon passieren bei Stahlträgern und Eisenketten. Damit ähnelte das Gelände eher einem Vergnügungspark und heute war er natürlich besonders gut besucht. Was mitten darin eine japanische Glocke und Nachbildung eines traditionell koreanischen Gebäudekomplexes verloren haben, fragt man sich wohl umsonst. Navruz ist ein heiteres Fest, alle sind glücklich, für viele ist es ein enges Familienfest, vergleichbar vielleicht mit unserem Ostern. Sogar wir im Goethe-Institut begingen Navruz als Ausklang der Woche zuvor in einem riesigen Restaurant mit Schaschlik, Wodka, Wein, Salaten – dem Üblichen. Typisch zu Navruz ist Sumalak, eine aus Weizen gewonnene Flüssigkeit mit dem Geschmack vom Malz und dem Gesicht von Schokopudding, der aber gar nicht so übel ist, hat man sich einmal dran gewöhnt. Neben dem Wein ist der Rest Sumalak aus dem 400-Gramm-Becher das Zweite, das meinen Tisch ziert und mein Schreiben begleitet. Während ich zunächst auch interessiert von dem Geschmack angezogen wurde, fuhr es doch am Wochenende in mich ein wie ein Blitz: Die lettische Maizes zupa – Brotsuppe – ist ähnlich diesem Sumalak, vielleicht fester, und bereichert durch Sahne und Früchte, ein echtes Dessert – hier wird es pur als Zwischenmahlzeit gegessen oder weiß was ich. Vilja erzählte, dass auch in Finnland, speziell zu Ostern, eine ganz ähnliche Speise bereitet würde – die mit Sahne, aber ohne Früchte gegessen werde. Der Kreis schließt sich einmal mehr, wie diese beiden Kulturregionen zueinander gefunden haben, bleibt mir schleierhaft. Vielleicht passierte es alles im großen Knoten der Sowjetunion, als Völker bleiche Albträume der Politik bedeuteten.

Eine Weile standen wir inmitten des Trubels, sehr groß war der Platz nicht, vor der Bühne, auf welcher kleine Mädchen, gelegentlich Jungs, tanzten, deren Alter im Verlauf der Zeit zu steigen schien, immer zu usbekischer Musik oder russischen Kinderliedern. Ihre Kleider glänzten prächtig in der Sonne, auf der Rückseite konnte man die Haufen an Stoff sehen, die sich dort türmten, jedes Kleid für einen Auftritt von drei Minuten. Die Lautsprecher waren scheußlich, die Musik auszuhalten und die Inhalte, selbst auf Usbekisch, erahnbar, wenn „O’zbekistan“ das zentrale Wort im Chorus ausmacht. Es ist schade, aber so laufen die Sterne hier, dass kleine Mädchen wie diese mit ihrer Niedlichkeit in solcher Art zu Propagandazwecken verwendet werden. Hier, heute, ist alles Sonnenschein und Freude, kein Wölkchen trübt den Himmel der Festlichkeit und alle Tänzer beweisen durch ihren Auftritt – es scheint kein Elternhaus in ganz Taschkent ausgelassen worden zu sein – die patriotische Bindung an das Vaterland. Vilja meinte auf einen Kommentar von mir, sie könne heute nicht zynisch sein, genieße einfach die Atmosphäre, das Grün, die Fröhlichkeit und Gemeinschaft – und ich antwortete, ich könne jeden Tag zynisch sein. Es stimmt, ich habe vielleicht Angst, die Oberfläche zu genießen, weil mir die Tiefe des Gegenstands bewusst ist – Bewusstsein, das mir wertvoll ist, dafür opfere ich auch die einfache Fröhlichkeit. Dass ich so negativ nicht zu sein brauche, dass man sich in Dinge, die man nicht ändern kann, auch hineingeben kann, das will ich nicht verstehen.

Jetzt sind vier Seiten voll. Ich habe noch immer keinen Titel. Vielleicht, leicht gesprochen, erzähle ich Frühlingsgeschichten. Aber das ist eine Ausrede. Es sieht aus wie deutsches Wetter, die Sonne kommt leise durch. Also Sonntagsgeschichten. Ausflugswetter. On the road. Wege durch die Stadt. Leute und Spiele. Eine Zeit in Verwirrung und Arbeit. Zeiten des Lebens. Schritte durch den Frühling – kaum wahrgenommen, leise, vielleicht gut.

Atempause

Es gab wunderschöne Tage – wolkenbedeckte Tage in kühler Luft, Frische, einem Hauch von Luft, der um die Ohren zieht und, ja, die Blüten, für die alle hoffen, sie mögen jetzt bleiben. Im letzten Jahr rauschte Anfang März eine Kältewelle über das Land, oder die Stadt, und verdarb die Frucht nachhaltig – niemand wünscht es sich jetzt. Die Tage waren perfekt. Nicht geplagt von der Hitze noch blendender Sonne gingen die Stunden vorbei und ich wünsche mir, draußen zu sitzen und Mails zu schreiben, Telearbeit würden wir es nennen. Nun sitze ich stattdessen in einem klimatisierten Klotz, der für einen Klotz doch recht freundlich gestaltet ist, und schreibe meinen Blog. Es ist Freitag und ich habe viele Kleinigkeiten erledigt, nur darauf wartend, dass mir viele andere Kleinigkeiten wieder einfallen. Man wundere sich nicht, wenn es am Ende des Texts plötzlich Sonntag ist, so schnell vergeht die Zeit. So schön die Tage des seltenen Bedecktseins von Himmel und Seele auch waren, so schwer wurden sie mir – im Morgen. Es ist nicht meine Art, mich aus dem Bett zu quälen, aber die letzten Nächte waren unruhig, ein Kampf, was weiß ich. Einzig, dass ich aufwache wie nach Alkohol und langer Nacht, obwohl es acht Stunden nüchterner Schlaf waren, dass mein Körper sich alt fühlt und traurig, und wie aus gerotteten Träumen, immer die Blindheit im Kopf und Ziellosigkeit, wer und wo bin ich, ich kann die Fragen nicht nennen, weil sie sich mir auf anderer Ebene stellen, keine Worte benutzen. Es mag deshalb sein, dass ich sie nicht richtig verstehe.

Wenigstens war die Arbeitswoche kurz und schmerzlos. Kurz, weil der achte März als Frauentag frei ist, der Montag zum Brücken- und der vorhergehende Samstag zum Arbeitstag gemacht wurde, und schmerzlos, weil nichts anderes anfiel als Ordnen, Schreiben, Altbekanntes. Russischunterricht, wie fast jede Woche und mit einem geruhsamen Ausklang: Am Freitag fand ein erstes Künstlertreffen zum Projekt „Zoom“ statt, bei dem es galt, dem Klang der Sprache zu folgen und Impressionen aufzunehmen. Übungen, die ein ehemaliger Schauspieler des „Ilkhom“ mit den Teilnehmern durchführte, notierte ich mir gleich in mein Heft, für Theaterworkshops und liebe Dinge. Obwohl ich inklusive dem vorliegenden drei Texte beenden konnte, schien die Zeit mir doch voll von Aktivitäten und Verlustierungen, die alle ihr eigenes Budget beanspruchten. Natürlich, dass eine weitere Deutsche hier ist und bis Juli bleibt, dass der neue „kulturweit“-Freiwillige in Samarkand angekommen ist, also die neue Personalie, macht erstmal das Leben wieder bunter. Am Donnerstag habe ich mir sogar erlaubt, ins Kino zu gehen, einen schlechten Actionfilm zu sehen, bzw. bei einer Überlegung zur amerikanischen Drehbuchstruktur wirr zusammenhängende Bilder zu sehen, und das zwei Stunden lang. Um zu verstehen, musste man weder der russische Synchronisation noch den Flügen, Animationen und lauten Schlägen folgen, nur einzelne Bilder aufnehmen, Syd Field und vielleicht Christopher Vogler kennen. Ich arbeite intensiv an einem Sequel.

Am Samstag, den ich halb mit Schlaf verbrachte – kühlem, heilsamem Schlaf – ging es für Julia und mich zur Galerie „Bonum Factum“, eine Plakatausstellung anzusehen, Ergebnisse, an denen das Goethe-Institut unterstützend Anteil hatte. Nachdem ich aus der Mittagsruhe nur schwer hervor gekrochen kam, klapperte ich steif die tausend Treppenstufen herunter, auf den Hof, und, die schwere Metalltür mit einem quietschenden Scheppern zugeschlagen, durch das gusseiserne Tor auf die helle Straße, nach rechts an Schreibwaren und dem Friseur vorbei, über Xerokopien, Kuchen bis nach einigen Schritten Julias rotes Auto Kontur annahm, eines der wenigen Male, wo ich mich tatsächlich anschnalle. Die Galerie ist nicht leicht zu finden, Julia war schon einmal dort und suchte sich den Weg durch die Gassen, Betonbäume. Durch die polierte Tür eines unscheinbar braunen Neubaus am Ende einer Sackgasse traten wir in den Ausstellungsraum und sie traf schon die ersten Bekannten, wir gingen hinunter, drei Treppenabsätze, bis wir in den Raum der Plakate gelangten, der nur wenig bevölkert und eng bemessen war. Hier hingen schöne Zeichnungen, Collagen, Malexperimente mit Formen und Farben, viele sich wiederholende Themen zu 100 Jahre Dada oder Reflexion über Kunst, sogar eines, auf dem die ersten Verse vor abstrakt gezeichnetem Hintergrund quer über dem Bild hingen: Die Gedanken sind frei… Ich habe nun nicht gefragt, welcher Künstler diese atemberaubende Idee hatte, denn Deutsch wird selten zensiert, war aber amüsiert und insgesamt von den Motiven überrascht, auch wenn mir die Bilder eines Goya besser gefallen – hier fehlte die Konkretion. Dieser Künstler, Akhunov mit Namen, der bei unserem Kohlhaas in den Zuschauerreihen saß und den ich zum Biennale-Workshop im Oktober kennen gelernt hatte, war natürlich – wie zu allen Ereignissen der Kunstwelt – anwesend, über ihn mussten wir von anderer Seite erfahren, dass er sich auf Künstlerreise in Russland folgenreich politisch über sein Heimatland geäußert hat, das wollten sie nicht dulden. Es ist schwierig, denn wir arbeiten mit ihm zusammen und Fehltritte, auch über Dritte, dürfen wir uns in der jetzigen Situation nicht leisten. Anscheinend habe ich es falsch verstanden, dass er Reiseverbot hat – in die GUS-Staaten durfte er nämlich noch. Wenn er weiter so provokant (ehrlich) ist, vielleicht nicht mehr lange. Aber am Ende wusste ich noch von nichts, saß in der Ecke und schrieb einige Gedanken, ein kleines Gedicht nieder, und war irgendwie glücklich. Kein Stress, kein Mutterkorn trübte meinen Kopf, wie klares Wetter an einem bewölkten Tag, denn dumpfe Gefühle bleiben noch immer – seit Shahrisabz, so meine ich ausgemacht zu haben, erschrickt mich die Müdigkeit und Lethargie, aber es geht vorbei, so wie alles vorbei geht. Vor dem Essen am Abend blieb ein kurzer Moment zuhause, ein Durchatmen und dann wieder los. Der Georgier, der zehn Gehminuten von mir liegt und auf hohem Niveau ein Angebot traditioneller kaukasischer Speisen anbietet, war das Ziel, und wir rückten in Schüben zu Zwölft an, die deutsche Community zu einer ihrer feucht-fröhlichen Versammlungen. Der neue „kulturweit“-Freiwillige in Samarkand, Julius, war dabei und wurde gleich von Cedric und Kai, dem ZfA-Lehrer, seinem Chef, unter Beschuss genommen, was dieses Land angeht – wie er es zu empfinden habe. Die Oberfläche, das finde ich jetzt auch, darf einen nicht blenden, sonst ist man schuldig mit all den anderen. Einen scherzhaften Umgang mit Plov, Amir Temur und Usbekistan zu lernen, ist nicht schwer – für einen Außenstehenden vielleicht gewöhnungsbedürftig. Für uns überlebensnotwendig – man stirbt, wenn man alles ernst nimmt. Bei Jonas fand das darin seinen Höhepunkt, dass er nichts mehr ernst genommen hat, Polizisten und ihre Wachen eingeschlossen, und auch das ist noch gesünder als sich der Realität hier mit Eifer und Ehrgeiz zu stellen. Immerhin sind wir Europäer, und zumindest über mich kann ich sagen: ernst würde ich sterben.

Mit jenem Julius, der am Sonntag um Fünf weiter in seine neue Heimatstadt fahren sollte, spazierte ich am Sonntag über den Temur-Platz im Herzen Taschkents und statteten dem Museum gleichen Namens (jenem des Helden) einen Besuch ab. Es ist dieses Museum, dessen Bild den 1000-Sum-Schein ziert, ich also Tag für Tag vor Augen habe, das zum Stolz des Erbes gebaut wurde und missverstanden werden kann als lächerliche Farce. Wie viele Gebäude nach ihm ist auch das Museum einem alten persischen Stil nachempfunden. Der Eingang liegt unter dem Straßenniveau und war gerade geschlossen. Der uniformierte Mann, der davor dringlich telefonierte, rief uns zwischen seinen Gesprächsfetzen nur zu: „Obed!“ – Mittagessen – und wies uns an zu warten. Während die Kasse aus ihrer Pause zurückkehrte, schauten wir uns die Souvenirshops an, einer gewöhnlicher als der andere, nur mit einer außerordentlich guten Karte von Taschkent, die zu kaufen ich ernsthaft erwogen hatte. Doch dann wurden wir an die Kasse gebeten, bezahlten und traten ein in ein Heiligtum ohnegleichen, und wäre es alt, was zweifellos zu unterscheiden gewesen wäre, würden wir gebannt stehen bleiben und staunen. Die Decke sieht aus wie eine Kopie irgendwo aus Samarkand, in Gold und Blau, ebenso poliert und wahrscheinlich ebenso billig; ein gigantischer Kronleuchter (mit diesen Plastikketten) hängt von der Kuppel, die außen in abblätterndem Grün ist, wie alte Kupferdächer, nur nicht von der Zeit gefärbt. Die gegenüberliegende Wand ist bemalt wie jahrhundertealte Wände, die traditionellen großen und heiligen Stätten Samarkands sind hier zu sehen: Shohizinda, Gur Emir und Bibi Xanom, in der Mitte liegt geöffnet die Kopie einer Koranabschrift aus dem achten Jahrhundert. Ich habe keine Lust zu fotografieren, selbst wenn ich den Apparat mitgebracht hätte. Noch eine Treppe nach oben wenden wir uns auf eine Galerie, die den großen Kuppelraum umschlingt und auf der Karten, Alltagsobjekte und Modelle ausgestellt sind, alles in dem Versuch, sie mit Tamerlan zu verbinden, dessen Erbe eine rekordverdächtige Rehabilitation erfuhr. Das Ergebnis ist die fast gänzliche Abwesenheit von Originalen; überall thronen die Wörter: „Original in:“, und ein Verweis auf Kopenhagen, Großbritannien etc. Auf- und Abgang werden jeweils mit einem Karimov-Zitat zur historischen Bedeutsamkeit Tamerlans, sowie einer Kopie der Portalgestaltung einer Medrese geziert: einmal ist es die Sherdor-Medrese Samarkands, ein anderes Mal die Devon-Begi-Medrese Bucharas. Überall ist der Geist des neuen Usbekistans zu spüren, nicht umsonst ist mit der Ehrung auf genannter Banknote die Importanz der Gedenkstätte festgeschrieben: Vielleicht bildete das Museum ein erstes Mal, dass der Blick auf Tamerlan derart pompös ausgestellt wurde. So ist es nicht nur ein Propagandastück erster Güte, sondern – mit kritischem Kommentar – auch ein Einsteigerkurs, um diese grotesk erhobene Figur in ihrer Bedeutung zu verstehen. In den Neunzigern war plötzlich das einzig bindende Glied gefallen, dass diese Grenzen, „Usbekistan“, zusammengehalten hatten – die Sowjetunion. Waren früher Chiwa, Buchara und Samarkand Teile ganz verschiedener Kulturkreise, zerschnitt Stalin in den 1920ern bewusst die Grenzen zwischen den Völkern, um ihnen die Kraft des gemeinsamen Widerstands zu nehmen – Divide et impera, mach aus einem Volk fünf Länder und herrsche. Die Grenzen zwischen den zentralasiatischen Stans könnten künstlicher, forcierter nicht sein und doch wurden sie nach 1991 offizielle Staatsgrenzen – Stalin hatte noch nach seinem Tod den unverdienten Erfolg, größter Länderschlächter der Geschichte zu sein. Jemand wie Herr Karimov musste Angst um sein großes Land haben, gerade weil durch jenes mehrere Kulturgrenzen verliefen und verlaufen, die alle ein gemeinsames Bindeglied brauchten. So erfand er Amir Temur, Vater der Usbeken, der in Wirklichkeit die Usbeken um Jahrhunderte überholte, als mythischen Kriegsheld – in Europa, auf dessen Stundenplänen er keinen Platz findet, wird er allgemeine als blutrünstig angesehen. Timur Lenk, der Lahme, war sein Name über viele Jahrhunderte, so kannte ihn auch Goethe. Als Jugendlicher war er Chef eine Vagabundenbande, Räuber – und so jemand wird nun Held und Volkes Vater. Gestern lief in der Elvisbar ein Mann herum und trug ein T-Shirt „Tamerlane. Commander and Conqueror“. Das ist nicht ironisch gemeint, auch „My sunny Land Uzbekistan“ nicht.

Ich kann mich nur beschweren, auf Distanz lustig machen, näher heran traue ich mich nicht and das Land – es könnte alles zerstören. Man denke nur, wie leicht die Willkür ausrutscht und einen Mitarbeiter von der Leiter schubst, der nur für die falsche Organisation arbeitet. Wie froh bin ich abermals, in keiner bedeutenden, keiner verantwortlichen Position zu sein, nur ein Praktikant, „Freiwilliger“, unwichtig und nebensächlich, der kleinste Stein in der großen Politik, nicht einmal für die Arbeit bedeutend, nur allen helfend und versuchend, von ganz unten den Blick nach oben zu erhaschen.

Nebenbei beginne ich langsam, mich wieder intellektueller Lektüre zu nähern, habe einen Vortrag zu Hegel gehört und Siegfried Kracauers Gedanken zum Thema Film und Realität gelesen, während die Kapitel der Dialektik der Aufklärung noch immer um Vertiefung betteln, und während Marx noch beinahe jungfräulich in der Schublade liegt, zusammen mit der Bibel, die ich auch nicht verfolgt habe. Dafür bin ich in einer umfassenden Mission des Russisch-Lernens, habe Gedichte Bloks gelesen und Jessenin und Tschechow vertieft… Nun, es ist nicht leicht. Wenn ich meinen Kopf in drei Bücher pro Tag stecke, sollte ich mich über die Müdigkeit nicht beschweren können, und doch – ich will alles, denken, lernen, den Geist der Prosa spüren… Es gelingt mir nicht schlecht und ich denke an all die Momente in der Zukunft, in denen ich Russisch gebrauchen kann, wenn ich es nur hier, in den letzten Monaten bis ich gehe, bis zum Fließen lerne, um es auf ewig zu behalten – anders als jenes Lettische, das beinahe schon Vergangenheit ist.

Russisch ist sowieso Umgangssprache – Besprechungen, Geschäftsessen und Business… finden auf Russisch statt, auch unter Usbeken; Sender, auch in den Restaurants, aus Russland sind nicht selten. Vielleicht fragen sie mich deshalb vermehrt, wie es um Deutschland stehe, fluchen auf die „Araber“ in diesem fremdenverseuchten Land und schütteln den Kopf über die Zustände, prophezeien eine düstere Zukunft. Deutschland, mit seinen drei Millionen Flüchtlingen, wie nicht erst einer behauptete. Vielleicht deshalb fragen so viele nach meinem Heimatland, wenn sie es in russischen Nachrichten mit fremden Augen sehen.

Breche ich ab, bevor es politisch wird? Ich bin nicht in Kampfeslaune, ziehe mich zurück und warte stumpf auf den nächsten Schlag, mich erholend und in ruhigem Puls meine Freiheit genießend, die mich immer höher halten wird als dieses Land. Eine Atempause soll es gewesen sein, bis zu jenem Moment, in dem wieder alles stürmt und hagelt, morgen geht die Arbeit los. Dann gibt es sicher schwarze Momente, in denen ich mir Ruhe wünsche – gedankliche Ordnung. Warum überhaupt Pause? Ging nicht alles einfach weiter, hatte ich den Luft zum Atemholen?

Nun ist es Mittwoch und der Regen fließt in Bächen dem Grund entgegen, als folge es einem geheimen Ruf, eine Versammlung des Wassers, und wenn ich morgens reißenden Ströme durch Schlaglöchern und Straßenrinnen entkommen muss, fühlt es sich schon apokalyptisch an. Doch nichts hier ist so katastrophal, wie die Politik, die sich von den Menschen entfremdet wie von ihrer Geschichte. Ein Tag wie dieser scheint normal für den Deutschen in mir, der usbekische Hochmut verlangt ewige Sonne und blauen Himmel, der Dichter und Denker sieht eine Apotheose meines Gefühls in diesen Strömen, die heute Morgen vom Himmel kamen, wie Götter, oder ihre Speere, aber im Verlaufe des Tages wurden aus Strömen Pfützen, die Bäche wurden nasser Asphalt, und ich wurde ruhiger, abschweifender, ich-weiß-nicht-wohin abgehender, und alles gehört zur Atempause, nur weil ich es will. Nach dem Pub Quiz, das jeden zweiten Mittwoch statt findet, hatte ich noch das unbändige Verlangen zu schreiben, nicht nur über den Regen, sondern über die Welt, aber worin erschließt sich die Welt besser als gerade im Regen? Nur der Text leidet, ich bin glücklich. Ich bin glücklich, ein solches Land kennen zu lernen, in dem nichts unmöglich ist und alles eingeschränkt, in dem die Furcht und Vorsicht in einem Maße wachsen, das außer aller Vernunft ist, aber was soll ich sagen? Das einzige, dem ich hinterher jage, ist die Erfahrung, die hier überall lauert und mich fertig macht, mich glücklich macht, denn endlich bin ich gefordert, wird mein Tellerrand überschwemmt, nicht vom Regen, von der Politik, endlich erfahre ich Leben, von dem ich im Blaseneuropa immer durch Zaun und Stacheldraht getrennt war, nicht wissend, ob ich geschützt werden soll oder eingesperrt – es ist ja manchmal schwer zu unterscheiden. Die Krankheit des Vollgefressenseins kuriere ich hier aus, zuungunsten vielleicht meiner Gesundheit, wahrscheinlich meines Kopfes, sicher zugunsten meines Lebens, dass es gefüllt sei, nicht leer wie von Schwämmen gestopft, dass ich Augen habe zu sehen, nicht zu bestätigen. Ich bezahle, das ist wahr und unmittelbar: Die Müdigkeit schlägt mich jeden Tag aufs Neue. Ein Tag wie dieser, an dem ich mir zwei Stunden mehr nehme als gestern, ist tödlich, und morgen brauche ich, das weiß ich jetzt schon, einen Espresso und noch viel mehr: ein Bett, das erst wieder abends steht.

Die Atempause war eine Flaute der Gedanken nach Stürmen und Wasserfällen. Ich hatte mich und meinen Körper, und bin nicht außer diesem Kreis gefallen. Ich war müde und habe es in meinen Gliedern gespürt, ich war traurig und habe es in meinen Gliedern gespürt, ich war erschöpft und habe nicht versucht, dem forciert beizukommen, nicht mich zum Lesen gezwungen oder zum Filmeschauen – der Fluss des Lebens, des Körpers blieb ununterbrochen, sodass ich vor Müdigkeit keine Zeit hatte, mich schuldig zu fühlen, metaphysische oder moralische Fragen durch die Venen zu jagen, ohne sowieso je der Wahrheit näher zu kommen. Stattdessen bin ich bei mir geblieben, in mir und mit mir, einfach, in Gesellschaft gewohnt flach – alles eins, ein großer, freier Weltgeist. Nun ist er am Ende. Es macht nichts, denn sobald ich wieder streite und meinen Kopf überladen finde mit Nichtigkeiten oder Abstraktion, erinnere ich mich an die Erschöpfung, und vielleicht gelingt es mir erneut, einen Moment lang still zu sein, in schweigender Anerkennung meiner Körperlichkeit, die mir so oft vergessen scheint.

Samarkand

Ich muss nachtragen, was zwischen Gesellschaft und Schlaf verloren ging – die Reise nach Samarkand, ein langes Wochenende mit Montagsurlaub, nämlich am 13. bis 15. Februar, und den Abstecher nach Shahrisabz, dessen historische Bauten nach Chiwa, Buchara das vierte UNESCO-Welterbe in Usbekistan sind. Nur zwei Tage Samarkand, darin enthalten eine Homeparty mit Ausnüchtern am nächsten Tag, das ist keineswegs zu viel. Dabei haben wir die zentralen Punkte abgehakt, so wie es nur in einer Gruppe sein kann, alleine wäre ich ewig durch die Straßen der Innenstadt gewandert, hätte alles aufgesogen und wäre abends zu kaputt für Bier und Wodka gewesen, so musste ich mit einem Abriss der Wichtigkeiten leben, und kann nicht sagen, es wäre schlecht gewesen. „Doch hört, was nun die Chronik erzählt:“

Ich glaube, ich erwähnte an früherer Stelle, dass eine Woche zuvor meine Reisegesellschaft von Null auf Zwei wuchs – Vilja, die Finnin, und Simon, der Robert-Bosch-Lektor, die beiden entschieden sich also, mitzukommen und ich… Was hätte ich dagegen sagen sollen? Nach Samarkand werde ich noch mindestens einmal kommen, wenn meine Eltern hier auftauchen, ich muss keinen verpassten Möglichkeiten hinterher weinen, das ist eh so ein Unding. Die Karten für den begehrten, großartigen, neuen und fantastischen Afrosiyob hatten wir uns bereits einige Tage im Voraus gesichert, denn zurecht sprach der Reiseführer eine Empfehlung aus, dies aufgrund hoher Beliebtheit des Zuges zu tun. Zwei oder drei Maschinen desselben Typs haben sie in Spanien oder so fertigen lassen, auf jeden Fall ist der Schnellzug, der die beiden „wichtigsten“ usbekischen Städte Taschkent und Samarkand in nie gesehenem Tempo verbindet, der ganze Stolz der usbekischen Eisenbahn. Die Höchstgeschwindigkeit (etwas über 200 km/h) wird in die Ansage zu Beginn der Fahrt, die auch auf Englisch verlesen wird, eingebunden, genauso wie die Fahrtzeit, zwei Stunden – als wäre es ein Flugzeug. Dazu passen die Kontrollen im Bahnhofsgebäude, ich sprach an anderer Stelle davon. Simon, der sein Ticket früher kaufen musste als wir, um seinen Pass rechtzeitig bei der chinesischen Botschaft für ein Visum hinterlassen zu können, saß letztendlich in einem anderen Waggon, sodass Vilja und ich uns die Zeit mit Gesprächen über ihre Arbeit, meine Arbeit, Politik und Blogging vertrieben. Der Zug ist wirklich sehr angenehm, und mit 50.000 Sum (inzwischen knapp 7,50 Euro) keinesfalls überteuert. Sogar Tee und Gebäck werden frei Haus offeriert, wie gesagt: der Stolz der usbekischen Regierung. Auch ein Fernseher fand in diesen Räumlichkeiten Platz und, auf dem Hinweg nur mit halbem Auge, rückzu auch der Müdigkeit wegen umso gebannter, begutachtete ich den usbekischen Film, der jeweils gezeigt wurde. Selbst mit halbem Auge allerdings war unschwer zu erkennen, wie sehr entfremdet die Qualität von meinen ästhetischen und dramaturgischen Vorstellungen liegt. Auf jeder Szene lag ein Ballast, als wäre es der Schlüssel zur Geschichte, jede Figur spielte übertrieben und bekam Zeit dazu, eine Sequenz, die durchaus Potential besaß, wurde so sehr in die Länge gezogen, dass ich, aus der Unterhaltung wieder einmal gen Bildschirm linsend, skeptisch dachte – läuft sie denn immer noch? Es ging um einen Mann, der sich im Hotelzimmer mit einer Prostituierten niederließ, lechzend grinste, und gerade als sie dabei war, sich auszuziehen, kam ein anderer Mann hinein, der erste zeigte einen Polizeiausweis und das Mädchen wurde abgeführt. Dann war da noch irgendeine Frau, wahrscheinlich die Gattin des ersten Polizisten, und das Ganze hätte, von Hollywood inszeniert, durchaus Knall gehabt, von Godard inszeniert, durchaus Nouvelle Vague sein können, der Regisseur aber entschied sich, die Handlungen so auszurollen, dass ich mich an jene schlechten Streifen erinnert fühlte, in denen die Schauspieler der Kamera erklären, was sie gerade anstellen und was es bedeuten soll. Davon abgesehen, verlief die Fahrt ruhig, auf einigen Metern Höhe – Samarkand liegt immerhin hinterm Gebirge – blickten wir dann in ein White Winter Wonderland, wahrhaftig, man konnte sich ganz wie in Deutschland fühlen oder Lettland… Die Ankunft ging pünktlich um zehn Uhr und ohne Vorkommnisse vonstatten, wir fanden Simon auf Anhieb und machten uns los, Richtung Stadt, d.h. Richtung Straße, wollten ein Taxi nehmen, um zu Jonas zu fahren, der irgendwo abseits wohnte, und bekamen es sehr schnell. Die Preise in Samarkand sind günstiger als in Taschkent, mein altes geiziges Herz freudig erschütternd. Immerhin holte uns Jonas vom Taxi ab und geleitete uns durch löchrige Straßen – in der Stadt eine Katastrophe, kommt man aus dem touristischen Viertel heraus – und Schlamm zu dem Haus, in dem er bei seinem Chef Kai wohnte, einem ZfA-Lehrer, der gerne einen Freiwilligen bei sich aufnimmt, seine Frau wohnt in Taschkent. Legenden ranken sich um diesen Wohnsitz, riesig soll er sein und sieben (oder so) Badezimmer haben. Bis auf zwei von ihnen, so sagen sie, kann man eigentlich keines benutzen und das Haus ist groß, ja. Hat aber keine ordentliche Heizung.

Letzteres mussten wir bitter erfahren, die Samarkander Tage waren wohl die kältesten, die in Usbekistan dieses Jahr herrschten – an meinem Körper auf jeden Fall. Dafür, dass die Wohnblöcke in Taschkent zentral beheizt sind und die Hauptstadt kontinuierlich funktionierende Steckdosen und Gasöfen besitzt, gibt es für den Rest der Republik kontinuierliche Schwierigkeiten. Im Ferganatal fällt schon mal für vier Tage der Strom aus, in Samarkand ist es mehr ein Stocken zwischen An und Aus, das die Wohnung auch nicht wärmer macht. Als wir mit Jonas ankamen, fehlten Gas und Strom, die nächsten beiden Tage funktionierte die Heizung so gut wie gar nicht und generell muss man damit rechnen, zum Frühstück den Tee zu überspringen, wenn mal wieder nichts funktioniert. Es ist ein weiterer Grund, warum in Taschkent zu leben doch um ein Vielfaches angenehmer ist und weit mehr den westlichen Standards entspricht, als in anderen Städten des Landes.

Trotzdem war für den Abend eine Party geplant, ist ja schließlich Jonas’ letztes Wochenende in dieser Stadt, die seit einem Jahr sein Zuhause war… Das steht mir noch bevor. Klein und fein sollte sie werden, aber bis dahin wollten wir die Stadt erkunden, das berühmte Samarkand, Juwel Zentralasiens, Hauptstadt Timurs und erhaben über alles in der Welt. Weltberühmt. Simon war schon das dritte Mal hier und wollte die Sehenswürdigkeiten nicht noch einmal über sich ergehen lassen, ich war gespannt und fragte mich, ob ich mich danach wohl, wie in Buchara, in der Lage fühlen würde, meinen Eltern plus Anhang eine Tour zu geben. Dennoch zogen wir gemeinsam los, nicht zum Registan oder der Grabstätte Timurs, sondern – so muss es sein – in ein Café. Jonas hatte Hunger, wir drei nur bedingt, aber das hinderte mich nicht daran, außer dem obligatorischen Espresso zwei „Blini“ mit „Dzhem“ zu bestellen, ach – wie in Lettland! (Typisch russisch.) Es muss schon Mittag gewesen sein, als wir endlich zu laufen begannen, Simon hatte sich mit einem ihm bekannten Germanistiklehrer von der Universität getroffen und die Sonne schien mühsam durch jene Wolkendecke, die ab und zu auch über Usbekistan hängt. Es lag Schnee in Samarkand, ein Phänomen, das in Taschkent dieses Jahr nur einmal für länger als 24 Stunden aufkam. Hier war es wie ein angenehmer Gegensatz zur stickigen, warmen Hauptstadt, zu dem Verkehr und den langen Straßen – okay, auch Samarkand ist eine unzweifelhaft sowjetische Stadt. Auch Samarkand hat lange, breite Straßen, billige Architektur neousbekischen Stils, hat Sowjetbauten, ordentlichen Verkehr und Zäune in der Fahrbahnmitte. Der vielleicht größte Unterschied zu Taschkent, aber das können andere gewissenhafter beantworten, ist die historische Bewandnis, sind die gebliebenen Monumente.

Gur Emir - das Grab des Gebieters.

Gur Emir – das Grab des Gebieters.

Das erste Ziel, zu dem wir wenige Minuten über Eis und Schnee spazierten, hieß Gur Emir, „Das Grab des Gebieters“, Timurs letzte Ruhestätte. Man kommt sehr gut an das Gebäude heran, ohne viel von Autos gestört zu werden, von weitem sichtbar erhebt sich diese wunderbare Kuppel, die mit ihren Rippen Vorbild zahlloser anderer Bauwerke im Land geworden ist – z.B. für das junge Amir-Timur-Museum am gleichnamigen Platz in Taschkent. Nach wenig Überzeugungskraft dürfen wir den Usbekenpreis zahlen, der all jenen vergönnt ist, die im Land arbeiten, und betreten durch ein hohes Portal, dessen Gestaltung schon an Buchara erinnert und die Fotos, die man kennt, den Vorhof zum Mausoleum, dem Herz des Komplexes. Hier wird gerade restauriert, obwohl keine Gerüste zu sehen sind, eine weiße Fläche gegenüber legt Zeugnis ab – wenn man sich das Ausmaß dieses Wahns ansieht und bedenkt, dass alle ähnlichen Arbeiten in fast sämtlichen usbekischen Städten in den letzten zehn bis 15 Jahren geschehen sind, so schluckt man doch einmal ängstlich – die Qualität ist sicher bedenklich, und ob man dafür noch den Welterbetitel verdient, ebenfalls.

Im Inneren des Gur Emir.

Im Inneren des Gur Emir.

Wenn allerdings ein so prachtvoller Innenraum wie der von Gur Emir wartet, so fegt die Pracht alle Zweifel hinweg – von oben bis unten, ein hoher Raum, verkleidet mit „Onyxplatten“ (Reiseführer), sichtbar mit Gold und Blau verziert, Silber glänzt überall und dort ragt jener seltsame Pfahl in die Höhe, von dem es heißt, er sei Zeichen dafür, dass an derselben Stelle bereits ein Heiliger begraben lag, als Timur den Bau beschlossen hatte, ursprünglich für einen seiner Verwandten. Am Ende wurde seine ganze Familie hier bestattet, er inklusive. Sein Grab allerdings liegt verschlossen in einer Gruft im Keller des Mausoleums, und nach der Ruhestörung durch irgendwelche betrunkenen Russen darf auch niemand mehr rein. Gut gesichert wird das erneuerte Holz der Tür durch ein Schloss, das für Plünderer keine große Herausforderung darstellen sollte, selbst ich sehe ihm die wenigen Sum an, die es gekostet haben muss. Der kurze Eindruck der Pracht wird vom Blick auf die Außenwände verstärkt – wie Timur es gern hatte: Hier steht dieser riesige Bau wie ein Exempel an die Nachwelt, ich bin euer Herrscher! Den zeitgenössischen Oberhäuptern kommt seine Ruhmsucht und Prahlerei nun zugute. Wie es das Kreuz des Reisenden, der nicht allein ist, bestimmt, bleibt keine Zeit und kein Raum im Geist für stille Kontemplation, sondern es geht weiter, meist an der Oberfläche geschwommen. Vom Ende herab kann ich sagen, mehr brauchte ich diesmal auch nicht, zu mehr war ich gar nicht gewillt.

Stromwirrwar in der Mahalla.

Stromwirrwar in der Mahalla.

Durch einen Hinterausgang folgten wir Jonas durch eine Mahalla, die beispielhaft die Strom- und Gasprobleme Samarkands verdeutlichte. Zahlreiche Stromleitungen hingen zwischen den Häusern, die Gasleitungen oberirdisch, irgendwo zog ein riesiger Eiszapfen die Leitungen gen Boden und natürlich stellte man sich die Frage, ob die Wege mehr Loch oder mehr Straße waren. Am Ausgang wurden wir von einem Gewitter an Taxifahrern erwartet, die wir doch gar nicht brauchten, vorsichtshalber aber nach dem Preis für eine Fahrt nach Shahrisabz fragten – zu viel, und wir liefen weiter, irgendwohin, meine Orientierung versagte den Dienst.

Artwork nahe des Registans.

Artwork nahe des Registans.

Und dann, ich weiß nicht über welche Abkürzung, erreichten wir den Registan. Beinahe fanden wir uns unserem Ziel, kostenlosen Eintritt von der Seite zu erschleichen, nahe, bereits auf den Stufen zu einer der drei thronenden Medresen befindlich und Ausschau haltend, als uns ein Wächter antippte und freundlich zur Kasse verwies, die sich an der anderen Seite des Platzes befand. Nun drucksten wir herum, taten, als verstünden wir nicht, mussten schließlich klein bei geben und standen vor dem nächsten Problem, dass die lieben Leute eine Akkreditierung von uns wollten, um das Gelände zum Usbekenpreis betreten zu dürfen, wozu wir das theoretische Recht besitzen. Was ich nicht besitze, ist eine Akkreditierung, mir muss meine Registrierung reichen, dass tat sie hier offenbar nicht – obwohl das Goethe-Institut eingetragener Teil des Stempels ist. Irgendwie konnte uns Jonas aus der Situation helfen, indem er einen der Aufseher in Zivil kannte, ihn überredete, der uns dann für 2000 Sum hereinließ. Touristen dürfen 19000 bezahlen. Ich freue mich auf das Gesicht, wenn ich mit meiner Familie vor ihm stehe und sage: Acht Karten plus eine zum Usbekenpreis, bitte. Vielleicht kann ich handeln. Man kann ja hier bei allem handeln, selbst bei Strafzetteln. Kein Witz. Das ist weder Bestechung noch illegal – naja, vielleicht ein bisschen – sondern pure Frage der Mentalität. Mann, da habe ich aber was rausgespuckt. Überall handeln… Ich darf kurz einwerfen, dass ich, der ich aus Nostalgiegründen lieber auf dem Basar einkaufe als im Supermarkt, nicht selten vor einem Verkäufer stehe, der mir sagt, Handeln geht nicht. Warum? Wetter, kalte Progression, zoroastrischer Terror. Obwohl es ganz sicher geht, nur eben nicht für einen Ausländer (mit Bart). Im Supermarkt wäre es billiger, aber ich bleibe dem Basar treu – die Leute freuen sich, und ich genieße die Atmosphäre. Zurück.

Die Sherdor-Medrese.

Die Sherdor-Medrese.

Der Registan mag wohl einmal der stattlichste Platz der Welt gewesen sein, mir hätte er als Ruine wahrscheinlich besser gefallen. Die Art und Weise, wie die Usbeken ihr „Welterbe“ aufpäppeln, glänzend, wie neu, ohne Kratzer und Staubkorn, mag mir nicht gefallen.

An einer der Medresen.

An einer der Medresen.

Der Registan ist eine Pracht, klar, er ist ein Unikat in der Kulturgeschichte – mir kommt immer dieses Zitat in den Kopf: „No European spectacle indeed can adequately be compared to it, in our inability to point to an open space in any western city that is commanded on three of its four sides by Gothic cathedrals of the finest order.“ (George Curzon) – er ist nicht zuletzt noch als hässlich aufgepäppeltes Stück Propaganda wunderschön: Die Sherdor-Medrese mit ihren Tigern, welche zum Vorbild für den 200-Sum-Schein, meiner Lieblingsbanknote, wurden, die alte Medrese Ulugbek, deren Türme, weil sie zu instabil sind, schlichtweg abgeschnitten werden, und die Medrese Tillakori, mit ihrer einen Kuppel, vielleicht dem schönsten Blau Usbekistans, die sich der Sichtplattform frontal zuwendet, mit ihren wunderschönen Ornamenten im Innenhof und der Moschee, die goldblau ohnegleichen bleibt.

Die Moschee in der Medrese Tillakori.

Die Moschee in der Medrese Tillakori.

Welche Pracht, ganz wie im Grab des Gebieters, die sich da innen auftut, zuallererst von einer flachen Decke gehalten, die doch die Illusion einer Höhlung aufrecht erhalten will, dann diese thronähnliche Stiege hinten rechts, überall flache Wände, die abartig schön bemalt sind, ein Raum, der architektonisch schlicht ohne barocke Flammen, Marienstatuen oder Rokokowellen auskommt, nur nach oben von vier auf acht Ecken erhöht, wie häufig in Samarkand, und so wahnsinnig ausgestaltet ist, das mir die Sprache vergeht. Sicher, auch hier wurde restauriert, und Risse und Wasserschäden zeugen von der Nachsicht, mit der restauriert wurde, aber was soll man sagen. Rückgängig machen lässt sich die Panscherei eh nicht.

Während unseres Rundgangs durch die Medresen, durch die Zeiten und Mächte, stießen sowohl Simon, als auch ein usbekischer Bekannter Viljas, der wohl auch für die UNDP arbeitet, zu uns, und nach einem abschließenden Blick von der (kostenlosen) Aussichtsplattform beschlossen wir einhellig, nun zu fünft, etwas zu uns zu nehmen, kamen nach lustloser Diskussion zu dem Ergebnis, das Jonas vorschlug und nahmen zwei Taxen – ein großes Restaurant, europäische und nationale Küche anbietend, und das zu vernünftigen Preisen. Viel Hunger hatte ich nicht, Simon kam gerade von armenischem Schaschlik und so wurde es ein gemischter Tisch, für mich eine Pilz-Nudelsuppe, perfekt für meinen kleinen Hunger, überraschend nobel im Geschmack und billig. Da nicht alle nur Suppe bestellt hatten, saßen wir eine ganze Weile mehr bei Tee und Lepjoschka, unterhielten uns, meist auf Englisch, und wurden durch Dima komplettiert, einem Übersetzer ich-weiß-nicht-mehr-wo arbeitend, Freund eines aus Taschkent bekannten Künstlers, der uns eine kleine Führung durch Shohizinda geben sollte, die Nekropolis, deren Besuch den Tag und die Kultur abschließen sollte, bevor man saufen und essen wollte. Man kommt schlecht zu Fuß dorthin, wenn man nicht lange marschieren will, also wieder zwei Taxen und nacheinander die Straße abwärts, kurz hinter dem Basar, in der Nähe der Bibi-Xanom-Moschee, steht inmitten einem modernen Friedhof die alte Stadt, deren Name „Lebendiger König“ bedeutet.

Shohizinda.

Shohizinda.

Gedrängt sieht sie aus, wenn man sich ihr nähert, wie eine kleine Stadt mit zusammengeworfenen Hallen aus verschiedenen Jahrhunderten und in gewisser Weise ist sie das auch – sie, die Gräberstadt Shohizinda. Nach den Weisungen unserer kundigen lokalen Führer Jonas und Dima spazierten wir wie selbstverständlich am hohen Portal vorbei und über ein eisernes Tor auf den Friedhof, der die alte Gräberstadt umgibt, auf dem Persönlichkeiten der jüngst vergangenen Öffentlichkeit begraben wurden. Viele der Steine zieren Bilder der Verstorbenen, einige kleine Denkmäler à la Pere Lachaise etc. zieren auch hier das Panorama.

Blick in Richtung Bibi Xanom.

Blick in Richtung Bibi Xanom.

Welches aber im Umdrehen viel spektakulärer ist – hinten thront Bibi Xanom über den flachen Dächern der Stadt, im Vordergrund ragen Laubbäume in den Blick und die schneebedeckten Gräber tun ihr übriges, ein märchenhafter Blick. Über eine Treppe gelangen wir, wie durch den offenen Winkel im Pentagramm, hinein, ans Ende der Straße und Stadt, ohne einen Cent Eintritt zu bezahlen. Nicht einmal auf dem Rückweg werden wir angehalten, als wäre nicht deutlich, dass eine Reihe Ausländer nicht einfach so hinaus spazieren kann, ohne hereingekommen zu sein.

Saq - 13

Hier stehen drei blau gekachelte Mausoleen, eines beeindruckender als das andere, eines tatsächlich beeindruckender mit einem wahnsinnig verzierten Bogen über dem Eingang, ein anderes im Versuch der Renovierung nur des Charmes beraubt, überall aber kunstvolle Schriften, Majolika-Platten, alte Holztüren und das Gefühl, an einem sehr besonderen Ort zu sein.

Saq - 12

Ich konnte es gar nicht fassen, aus dem Friedhof, still, schneeüberzogen und leicht weiß und still, nur einige Meter weiter diese Pracht und Einblick in Zeiten so entfernt – als hätte ich nicht damit gerechnet. Hätte damit rechnen können, hätte ich mich so vorbereitet wie in Buchara oder Termiz, aber in all der Gesellschaft geht mir meine liebe Zeit für mich immer unter, und so auch die Zeit der Kontemplation über die Zukunft und Verschmälerung der Erwartungen. Ich war also beeindruckt, schnell kam aber auch über mich das unbarmherzige Gefühl der Kälte, klar, hätte mich dicker anziehen können, sollen, unterdrückte es für die kurze Zeit, da wir noch herumturnten, hier einen Gang entlang zu einer kleinen Moschee liefen, die tatsächlich von Gläubigen besucht wurde und uns mit einem Gebet entließen.

Saq - 14

Etwas weiter finden sich neu aufgebaute Gebäude, schmucklos wie sie einst nicht waren, und dann, weiter, wieder die alten Portale, teils renoviert, teils neu beschmückt – Hier, ein Muster aus Buchara, meinte Dima, das hätten sie wohl einfach kopiert und für jenes Mausoleum genutzt. Mir wurden die Fakten zu bunt und die Malerei dieselbe, durch Renovierung in ihrer Schönheit gestürzt, und lief den kurzen Weg zum Torbogen, da sah ich rechts eine Treppe, deren drei Stufen hinaus einen ebenso spektakulären Blick auf Bibi Xanom boten wie vorher, auf dem Friedhof. Hier spannte sich eine kleine Terrasse neben einer blauen Kuppel, die aber Sicht bot auf ein Samarkander Panorama, dass man sicher von kaum einem anderen Punkte aus hat. Hier, und das war tatsächlich begeisternd, ging gerade blutrot die Sonne unter, genau in dem Spalt zwischen den Wolkendecken, die ansonsten dicht über uns und der Stadt hingen, zwischen zwei Bauwerken des einstigen Komplexes von Bibi Xanom. Lange sollte ich den Blick nicht für mich alleine haben, die Gruppe, deren Führer uns sowieso auf den Platz stellen wollte, fand den Weg herauf und machte Fotos – ich ja auch, bestaunte die Kraft der Sonne und ich erinnerte mich an Lettland, an diesen purpurnen Ball, der über dem Gaujatal unterging, als ich noch viel mehr von dem Spektakel eingenommen war und noch viel mehr staunte, denn die Bäume leuchteten so wunderschön, und das Wasser…

Saq - 15

Hier gibt es weder Baum noch Teich, nur Kälte und steinerne Wucht, so verließen wir durch den Bogen die abgezählten Stufen hinab, am Kassenhäuschen unschuldig vorbei, wieder auf die Straße und erzählten kurz, redeten, verjagten die Kälte und freuten uns auf den Abend.

Eine eindrückliche Reise in eine Kultur, so fremd, dass ich am liebsten Tage hier verbracht hätte – wäre es nicht so kühl gewesen, anders als in Ulan-Bator hatte ich keine doppelten Hosen an, geschweige denn doppelte Socken oder vorsorglich verdickten Torso. Nun, es waren auch keine minus zehn, geschweige denn minus 25 Grad. Wer meckert, fliegt raus. Bibi Xanom habe ich so nur von ferne gesehen, doch der Abend winkte und das Bier, die Flucht aus der Kälte, so folgten wir Dima an die Straße und fanden zwei Taxen, um uns zunächst nach Hause kutschieren zu lassen, Simon, Vilja, Jonas und ich kuschelig in einem Auto – vier sind immer ein halber zu viel. Ein wenig mussten wir noch die Party vorbereiten, Stühle vom Schnee frei schrubben, Kai baute seine Anlage auf und einen effektvollen Laser, bevor es weitergehen konnte, bevor es beginnen konnte, im Botschka – einem auf Holz und gemütlich getrimmten Laden, in dem Jonas und Kai Stammgäste waren, der annehmbares Bier und guten Schaschlik verkauft, sogar Schweinefleisch und Würstchen. Der erste Tropfen Wodka floss, in unserer großen Gruppe nicht mehr als das, und die gesellige Runde nahm schnell Fahrt auf. Die Einkäufe für die Feier erledigten wir erst auf dem Rückweg vom Botschka, ich beteiligte mich großzügig mit einer Flasche Wodka, die ich allerdings auch zur Hälfte selber trank und wir marschierten ab nach Hause, wo die Lasershow bereits im Gange war, die Musik spielte und wir nur rasch den Alkohol aufbauten, eine geheime Ecke einrichteten und uns im Anschluss, wie es sich gehört, dem Tanzen und Trinken widmeten. Es endete in einem geheimen Zirkel, in dem ich wohl immer wieder Wodka ausschenkte.

Dafür, dass ich den Abend nicht mehr so ganz nachvollziehen konnte, war der Morgen leicht und ruhig, es gab Kaffee zum Ausgleich und kaltes Fleisch vom Vortag, Chips und Kekse. Aufgrund der allgemeinen Katerstimmung ersetzten wir einen Ausflug in die weitere Umgebung durch einen in die nähere, Al-Buchari, ein Pilgerort zu Ehren des berühmten Gelehrten, gebürtiger Bucharaer, ihr wisst schon. Wir trafen uns, in zwei Taxiladungen inklusive des Lehrers, den Simon am Vortag getroffen hatte, und der unser Reiseführer werden wollte, am Siou-Basar, dem lebendigen Mittelpunkt Samarkander Basarlebens, zwischen Shohizinda und Bibi Xanom, an dem wir gestern vorbei gefahren waren, an dem auch die Taxis nach Al-Buchari halten. Zu sechst passten wir perfekt in einen Damas, die hier praktisch zu Sammeltaxis umgebaut werden, in Termiz dienten die Fahrzeuge demselben Zweck, nur Taschkent braucht größere, mit 15 Sitzplätzen. 2000 Sum kostete jeden von uns der Trip, die 30 Minuten in ein kleines Dorf außerhalb Samarkands. Wir passierten die äußeren Stadtviertel, die teilweise durch die Sowjets Umbenennungen nach bedeutenden Metropolen erfahren haben, angeblich, um Samarkand als Zentrum der Welt zu markieren; jedenfalls war es Madrid, das wir bald hinter uns ließen, um zu jenem Komplex zu kommen, der, gut bewacht und umzäunt, mit einem hohen, bekuppelten Eingansportal und glatt geschnittenen Bäumchen, mich an den Komplex des Hakim al-Termizi erinnerte. Doch al-Buchari ist viel kleiner, hinter dem Portal (Wir müssen nur aus dem guten Grund nicht zahlen, weil der Einlass unseren begleiteten Lehrer kennt) umringt eine weiße Arkade den Platz, auf dem Bäume stehen, eine heilige Quelle, deren Wasser gut tut nach der Nacht, und vorne, weit sichtbar, eine Art Mausoleum, ich habe es vergessen, die Sonne strahlte und mir wurde heiß – wie wir gestern noch bibbernd über den Registan gelaufen sind… Dahinter, in einem schattigen Nebenhof, nicht schattig von Bäumen, sondern weißen Steinarkaden, befand sich der Eingang zu einem kleinen Museum, in dem wertvolle Geschenke anderer Staaten bzw. deren Repräsentanten aufbewahrt wurden, hauptsächlich Korane in alle Größen und Formen, von goldbestickten Samtumschlägen bis zu mineralisch glänzender Oberfläche und eingraviertem Relief – eines hatte ein Professor aus München dem Staat geschenkt. Eine Pracht jedenfalls, ein kleiner feiner Raum, in den zu treten so gut wie nichts kostet, der dafür mit den heiligen Büchern eine ganze Menge Schönheit liefert. Nebenbei wurden Tafeln mit Koransprüchen ausgestellt, ein großer indonesischer Kerzenleuchter aus Messing, sowie ein Stück Brokat, das vor einigen Jahren die Kaba in Mekka zierte und im Original dem usbekischen Staat vermacht wurde. Wieder draußen, bekomme ich Lust auf Somsa, unbedingte, ganz spezielle Lust auf Somsa und finde einen Mitstreiter unter uns, wir machen uns daran den Ort zu verlassen. Der ganze Komplex, so führt unser Guide noch aus, entstand erst vor fünfzehn Jahren, wurde seitdem bereits einmal renoviert. So leben wir hier, sie errichten sich ihre eigenen Heiligenstätten, nachdem in der Sowjetunion nicht viel Wert darauf gelegt wurde, und renovieren ständig, um die Risse im billigen Material zu kaschieren. In meiner Hoffnung auf Somsa wurde ich enttäuscht, denn die Choyxona, die wir neben dem Eingang zum Gelände fanden, bot nur Plov und Manti. Wir entschieden uns für Letzteres. Die dürftige Speisekarte wurde allerdings durch köstliche koreanische Salate entschädigt, deren Geschmack raffiniert den des Plov ergänzte – sofern man bei Plov überhaupt von Geschmack reden kann. Eigentlich will ich mich nicht lustig machen, als ausgewiesener Nicht-Gourmet vertrage ich das Essen doch und irgendwie macht es auch Spaß, ölig zu dinieren, immer das Fett noch am Gaumen, das sich dann im Körper fest setzt – ich bin breiter geworden, erst neulich beobachtete ich, wie mein weißes Hemd, das ich zum ersten Mal zu meiner Konfirmation vor sechs Jahren trug, mir endlich einmal ein bisschen eng wird. Zu distinguiert muss mein Geschmack nicht sein, koreanischer Salat und Plov, das reicht aus.

Wieder mit dem Taxi wurden wir zurück in die Stadt gebracht, zum zweiten TOP für heute, dem Ulugbek-Observatorium. Ulugbek, der Enkel Timurs, war wohl ein kluger Mann, erregte auch im Westen Aufmerksamkeit, erlangte Ruhm für seine astronomischen Werke, und nicht wenig davon. Hier, in seinem ehemaligen Observatorium, dessen steinerne Reste man noch betrachten kann, ist nun ein kleines Museum untergebracht, welches seine Bedeutung nachzuzeichnen versucht. Von hier bietet sich außerdem ein durch den heutigen Dunst verwischter Blick über die Stadt, normalerweise kann man die Berge sehen. Ich für meinen Teil bekam langsam Kopfschmerzen und großen Durst, war froh, weitergehen zu können und noch glücklicher, als um die Ecke eine Reihe Minimärkte, Läden und Verkäufer mit Brot, Somsa und Piroggen auftauchte, im eigentlichen wegen des lebensrettenden Wassers, mir ging es gleich wieder blendend.

Das Observatorium des Ulugbek.

Das Observatorium des Ulugbek.

Nun musste die Hälfte von uns den Rückweg antreten, jene montags arbeitende Hälfte nämlich, während ich der einzige Gast war, der sich einen freien Tag und somit die Möglichkeit gesichert hatte, weiter raus zu fahren, sprich: nach Shahrisabz.

Praktischerweise, wohl im Voraus geplant, fahren die Taxis nach Taschkent direkt vom Observatorium ab, und wir brauchten nicht lange, bis alle zu einem angemessenen Preis ihren Platz fanden. Vilja, Simon und der UNDP-Usbeke quetschten sich also mit einer weiteren Frau in das Taxi und ließen Jonas und mich mit dem Universitätslehrer zurück, der sich aber rasch verabschiedete, als wir ein Auto anhielten, um zum Bahnhof zu gelangen, um rechtzeitig mein Ticket für die Rückfahrt zu erwerben – Montag, 18 Uhr, perfekt. Für alle Touristenpendler haben sie die Strecke so eingerichtet, dass, wer will, morgens um Zehn in Samarkand und um Acht wieder in Taschkent sein kann. In die andere Richtung funktioniert es nicht.

Ob ich einfach wach genug war oder keine Lust hatte zu schlafen, in der Kälte, im Haus von Jonas fragte ich nach einer Aufgabe, bot meine Hilfe an und wurde glatt beauftragt, den beige gestrichenen Kamin zu schrubben, den nach der Party am Tag zuvor eine schwarze Wolke zierte. Tatsächlich erforderte die Arbeit größte Genauigkeit und Vorsicht, denn bei zu viel schrubben zeigte sich der Stein unter dem Anstrich und auch wenn für eine so grundlos übernommene Arbeit zwei Stunden wirklich übertrieben scheinen, das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Ich bin überzeugt, völlig nüchtern hätte es im Nachhinein nicht so akkurat ausgesehen. Es war schon dunkel, als Jonas aufstand, wir umher tappten und entschieden, etwas essen zu gehen. Die zwei ersten Orte, die wir anfuhren, waren geschlossen, sehr zum Unfrieden Jonas’, der uns dann für einen Koreaner entschied, zu dem wir durch dunkle Viertel schritten, selbst in einem kleinen Zimmer mit elektrischem Kamin hinter einem riesigen Vorhof befindlich. Wahrscheinlich kann man besser Sushi in Usbekistan essen als hier, aber die salzige Sojasoße, der kostenlose (warum kostenlos?) Tee und die Abwesenheit von Musik (!) machten das Essen angenehm, den Laden sympathisch und die Rechnung annehmbar. Mit leicht gefülltem Magen und lastender Müdigkeit neben einem unglaublichen Gefühl der Freiheit spazierten wir noch herum – erst durch die Mahalla, Jonas zeigte mir einen gigantischen Hochzeitspalast, der opulenteste, den ich je gesehen habe, alle anderen um Meilen ausstechend – im Dunkel wirkte er weiß, bei Tag sei er knallgelb. Riesige klassische Säulen ragten zu einem Tryptichon empor, das gänzlich barock von Figuren, Kitsch, überzogen war, genau wie die Wand über der hölzernen Tür, die sich größer gab, als die mannshohen Flügel geschnitten waren. Dazwischen Wappen und Masken des Jugendstil, das Gebäude selbst, mit den hohen, fast historistischen Fenstern, hätte aus Zeiten der Jahrhundertwende stammen können. Solchen Eklektizismus betreiben sie hier gerne, und selten klappt es, meist, wie hier, ist alles überladen, lächerlich billiger Prunk, gedankenloses Arrangement und eine gewisse Hässlichkeit im Geschmack. Ein Taxi brachte uns schließlich wieder zurück, wie angenehm dieses Vorwärtskommen in Usbekistan, und wir legten uns schlafen, ich erwartete den Morgen und nächsten Tag, zog mich gar nicht erst aus, packte mich in zwei Decken und schlief so im eiskalten Zimmer einen verhältnismäßig warmen Schlaf, nur um im Aufstehen elendig zu zittern, so lief ich zum Frühstück wieder im Mantel herum.

Lange habe ich gezögert, keine Worte gefunden für meinen Ausflug nach Shahrisabz – Hauptursache vielleicht für die Verzögerung des gesamten Artikels. Es wird schon herauskommen, warum – doch zunächst möchte ich fortfahren, wie ich es geplant habe, also zurück zum Protokoll, die Fahrt: Sammeltaxis nach Shahrisabz fahren nahe des Registans ab, von zwei Stellen, deren eine wir zwei Tage zuvor besucht hatten. Ich wurde nun zur anderen gebracht und sofort umworben. Weil mir Goldzähne sympathisch sind, stieg ich – es war wohl eher ein Reflex darauf, dass er mir den Preis sofort zusagte – in den alten Nexia eines übergewichtigen Usbeken, dessen Fahrstil geruhsam war – eine Seltenheit unter allen Rasern und hektischen Taxifahrern.

Es gibt wohl kaum eine Strecke usbekischer als jene von Samarkand nach Shahrisabz: schlechte Straßen, karg begrünte Berge, schneedurchfressene Grashügel und Tallandschaften wie aus dem Bilderbuch. Usbekische Frauen, die den Straßenrand in ihren alten, langen Kleidern entlang spazieren, Rinder und Pferde, die über den Asphalt getrieben werden, Betonklötze zur Sicherung der Fahrspur und Lehmhütten; von Bächen zerrissene Täler, kahle Bäume, deren Braun dem der Straße gleich kam und Erdwege, auf denen Ladas und alte Daewoo-Chevrolets ihren Weg durch die offene Landschaft bahnen. Auf schroffen Steinen halten sich hartnäckig Wiesen, sporadisch tauchen neben Zeichen der Zivilisation aus Ästen gezimmerte Zäune auf, dann kleine Dörfer, auf den Stein gewürfelte Häuschen aus Stein, Lehm und Blech und davor Usbeken in Schlafanzügen, Mützen. Nicht selten finden sich an den Häusern Teile aus Plastik oder verrostetem Eisen, Dächer aus Blech oder Holz. Wir passieren einen kleinen Friedhof, der schief auf den Hügel gebaut ist, während wir die Kurven auffahren und ab und zu alte Steinhäuser, die unbewohnbar scheinen – doch vor ihnen Menschen… Wir sehen Schulkinder, die, vielleicht auf dem Heimweg, die endlosen Kurven entlang marschieren, alle in dieselbe Richtung, verteilt über mehrere hundert Meter, immer wieder Leute am Wegrand, die sich den Weg entlang suchen, dabei die Berge mit ihrem Panorama, die kontinuierlich steigende Straße, alte Strommasten, Maschendrahtzäune vor Grundstücken oder Stacheldraht zwischen Holzpfeilern für das Vieh, Schulen und Gärten, windschiefe weiße Steinhäuser, die auf den Hügel thronen wie ich mir irländische Landschaften vorstelle, während die Erde immer brauner, der Schnee immer weißer wird. Hier herrschen jahrzehntealte Maschinen – Traktoren, Laster wie aus dem sowjetischen Militärbestand. Betonklötze markieren den Abgrund neben uns, würden uns nicht vor einem Sturz schützen, wirken martialisch und drohend, während sich auf der anderen Seite die Steine stapeln. Eine kurze Ruhepause, als wir anhalten und ich in den Wiesen pinkeln muss – es ist still, fantastisch still und schön – wenn die anderen nicht warten würden, bliebe ich hier, nur für einen Moment noch… Aber es geht weiter nach oben, in ein weißes Wunderland wie aus dem Zugfenster, nur diesmal schauen Felsen und Nadelbäume streng aus dem Weiß, bis wir – schon eine Weile durch unbewohnte Felshänge gefahren – den mit einem Denkmal markierten höchsten Punkt der Strecke erreichen, dann abwärts in lang gestreckten Kurven, mit Blick auf das nebeldurchzogene Tal, in dem auch Shahrisabz liegt. Hier verkaufen Händler getrocknete Früchte, dort hängt die Stadt wie ein See im Tal, das schneebedeckt im Schatten liegt, flach gebaut, ganz klar und schön – so anders als Ulan-Bator, an das ich trotzdem denken muss, auch da hatte ich das Panorama vor dem Eintauchen in die Türme und den Verkehr. Nun werden die Kurven schärfer, rechts ragt steil Geröll empor – die Abfahrt wird gefährlicher. Aber uns verwöhnt die Sonne, hier oben, und mehr und mehr tauchen verblichene Schilder auf und Buden, die für Somsa werben, Tandir oder Kebab. Ein hohes Tor empfängt uns in der Gegend Shahrisabz’, der Schnee wird dreckiger und passend rollen wir in die zweite Kontrolle – hier aber interessiert sich keiner für mich, auf beiden Fahrten wurde ich zu meiner großen Freude und Erleichterung unbeachtet gelassen, sodass uns nichts mehr aufhält. Die Straße wird besser und gerader, der Fahrer, trotz seiner Vorsicht, lässt sich zu einem hohen Tempo verleiten, vorbei an Tälern rechts mit Dörfchen, Siedlungen aus Lehmhütten in hügeligen Wiesen; umzäuntes Vieh, man sieht die Sanitäranlagen neben den Häusern, einfache Steinbauten wie auf der Reise von Osch. Nun, nachdem die Berge überwunden sind, wird die Landschaft langweiliger, einheitlicher, erinnert an das Ferganatal, den Rest der Fahrt habe ich vergessen, spektakulär war es nicht. Wir hielten vor einem Stück Wall, Reste der alten Stadtmauer, die eine Lücke boten, durch welche zwei Säulen in der Sonne glänzten. Oq Saray, sagte der Fahrer, und ich nickte wissend. Er warte auf mich, meinte er noch, darauf, dass ich zurückfahren will und bestätigte, was der Reiseführer sagt: Die Taxis fahren ab Kitob, einem Ort in der Nähe. Und fuhr. Ich wusste aus dem Reiseführer, dass Oq Saray, der „Weiße Palast“, im Norden liegt und von dort eine große Straße, die ehemalige Seidenstraße, herunter zu weiteren Sehenswürdigkeiten führt. Ich blickte auf. Das erste, was ich mir notierte, waren drei Wörter, die Impression des Moments brillant einfangend: Dreck, Sonne, Wüste. Warum Wüste? Überall war Sand. Vor mir lagen einige Metallrohre, Laster fuhren aus der Öffnung neben der Mauer.

So empfängt mich Shahrisabz.

So empfängt mich Shahrisabz.

Nach wenigen Schritten sahen meine Schuhe aus wie die der Arbeiter, die hier knöcheltief im Schlamm stehen, Anweisungen entgegen nehmen oder ihre Fahrzeuge dirigieren, und ich war froh, auf der anderen Seite, mich im Stadtzentrum orientierend, neu gelegtes Pflaster vorzufinden, auf dem ich den Dreck von meinen Schuhen klopfen konnte. Zwei Arbeiter kamen an mir vorbei, drehten sich dann um und begannen ein Gespräch, meinten, nachdem ich die üblichen Fragen beantwortet hatte, hier wäre eben gerade eine „Remont“ in Arbeit, es sei nicht so schön, ich solle im Sommer herfahren. Rechts eine Reihe gelb angestrichener Häuser, in deren leeres Innere ich schaute; die beiden waren weiter gegangen. Links eine große Freifläche und darauf Oq Saray, der Palast, den Timur sich bauen ließ, der bald darauf, weil in zu großer Hast errichtet, einstürzte und von dem seither nur Ruinen übrig sind, umklammert von Gerüsten. Jetzt begriff ich, dass ich auf neuem Pflaster lief und tolerierte auch den ganzen Schlamm überall – zwischen den einzelnen Wegen, die das alte Gebäude wie auf dem Mustaqillik in Taschkent umziehen, sollen später sicher einmal Blumenbeete stehen, noch ist alles schwarze Erde, vom Schnee und Regen aufgeweicht. Doch heute brennt die Sonne, ich ziehe meinen Schal aus und quetsche die Handschuhe in die Manteltasche – nach der Nacht hätte ich deutlich Kälteres erwartet. Also entscheide ich mich dazu, einmal um diese gigantischen Ruinen zu laufen, deren Ausmaß sich mir erst bei diesem Weg erschließt – Beeindruckend. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie riesig der Palast zu Timurs Zeiten gewesen ist. Mit einem Blick kann man jene Geschichte verstehen, dass ein König, der in freundlicher Absicht nahte, seinen besten Boten vorausschickte, als dieses Bauwerk im Sichtfeld auftauchte. Von den Ausmaßen geblendet, in der Entfernung grob verschätzt, fand der König seinen Boten auf halbe Wege tot vor Erschöpfung und war selbst verärgert über den prunksüchtigen Timur. Ich genieße den Palast, ein großes Zeugnis menschlicher Schaffenskraft und im Scheitern der Idee ein Zeichen der Zeit. Schade nur, dass sie alles restaurieren, remontieren, renovieren müssen, und bin froh, diese Ruine noch im Original erlebt zu haben, nicht in jener polierten Kotzfröhlichkeit, in der Registan und Co. getränkt sind. Die Gerüste stören da nicht weiter. Von hinter dem Palast, vor der alten Mauer, links nur Weite und im Hintergrund schneebedeckte Gipfel, sehe ich durch die beiden Stelen auf Timurs Statue, weit hinten, so groß hatte ich mir die Entfernung gar nicht vorgestellt.

Die Mauern Oq Sarays.

Die Mauern Oq Sarays.

Von links beende ich meine gemächliche Umrundung – ich nehme mir die Zeit – und schlendere in Richtung Statue. Um den zentralen Platz, also genau hier, sollen Restaurants stehen, noch entdecke ich keine. Hier steht ein gelb getünchtes Gebäude, glänzend jung, welches sich ausnimmt wie ein Regierungsgebäude, dort sind leer scheinende Backsteinbauten und hier plastikverpackte Fontänen – ist das des Winters wegen? Eine so riesige Fläche, die sich vor mir auftut, die ich entlang laufe, so groß hatte ich mir das gar nicht vorgestellt, und wälze in meiner Vorstellung die im Reiseführer abgedruckte Karte aus, folge den Linien und komme zu keinem Ergebnis. Aber weit ab kann ich die blaue Kuppel einer Moschee sehen, eine Moschee gab es im Reiseführer auch – also, denke ich mir, gehe ich dorthin, direkt nebenan müsste die dritte erwähnte Altbausubstanz stehen, mehr muss ich ja nicht sehen. Mir fällt wieder ein, dass mehrfach die Rede von einem Riesenrad war, von dem aus man einen schönen Blick über die Innenstadt hätte – blicke mich um, entdecke aber keines. Vielleicht haben sie es abgerissen; vielleicht – so denke ich mir – steht es auch nur dort, weit hinten, bei der blauen Kuppel. Alles ist so flach, bis dahinten kann ich sehen, seltsam. Ich komme bei Timur an und mache einige Fotos aus jener beliebten Position, wo der Herrscher höchstselbst zwischen den gebliebenen Türmen seines Palastes steht, sein Scheitel auf der Höhe ihrer Spitzen – zu diesem Zweck muss man ein gutes Stück zurück gehen und dann im Tele das Bild machen. Irgendwie sieht es anders aus, kahl – im Reiseführer standen daneben noch Bäume. Die haben sie wohl gerodet, wäre ja nichts Neues. Ich drehe mich um und stehe wie plötzlich vor einem riesigen Platz, bestehend aus schwarzer Erde und gelegten Steinwegen, die sich bis vor zu jener blauen Kuppel erstrecken. Rechts leere Häuser, keine Restaurants, neu gestellte Baldachine aus Holz, im alten Design, wie ich sie auf dem Gelände des Hakim al-Termizi schon gesehen habe, und Wippen, ein Karussell wie auf einem Spielplatz – noch in Plastik verpackt, wie die Fontänen um die Statue Timurs. Als ich links eine Reihe offensichtlich neu entstehender Häuser sehe, die Abwesenheit von Leben allgemein bzw. Anwesenheit von dutzenden Bauwerkern neben Stahlröhren, Schläuchen und Kabeln, auf riesige Trommeln gelegt, unverbrauchte Balken und Stangen, realisiere ich: Diese Stadt wird gerade neu gebaut. Ein seltener Moment, das zu betrachten. Auch vor dem Gelände, dort wo ich durch die Öffnung die Weite betrat, haben sie Häuser gefertigt. Die Restaurants, sehe ich ein, sind wohl einige der nun leeren Häuser mit offenen Fenstern und Wänden, die links und rechts von Timur stehen; nur eine kleine Ecke mit Läden entdecke ich links und mache mich auf – ich sehe ein Geschäft für Brautkleidung, wahrscheinlich ein altes, außer Betrieb, einen Laden für Elektronik und Reparatur und einen Mini-Market, wie man sie zu tausenden in den Städten findet. Dazwischen zwei mit Plasteplanen verhüllte Räume, die leer aussehen. „Brillen“ ist auf ein Papier geschrieben, das an der linken Plane klebt. Hier bekomme ich kein Essen. Verwirrt, ein wenig stolz mache ich mich auf, den Platz herunter. Die Gelegenheit ist selten, eine Stadt im Bau zu betrachten. Und hier bauen sie wirklich alles um – ich wandere ein wenig und komme an eine Treppe, die hoch führt auf eine Fläche mit kleinen, leeren Räumen, einem Eingangstor, wie ein Basar…

Der ehemalige Basar.

Der ehemalige Basar.

Hier trifft mich der Schlag. Der Reiseführer sprach, um von Oq Saray zu der Moschee zu gelangen, die mit der blauen Kuppel, auf die ich direkten Blick habe, folge man der Straße. Zehn Minuten nach dem Basar sei man dort. Hier stehe ich vor dem Basar, auf dem Platz, der früher mal eine Straße war. Der Stadtplan, den ich im Kopf habe, zeichnet die Hauptstraße etwas schräg ab vom Palast und mündet direkt an der Moschee, die Spuren kann ich noch nachvollziehen. Hier ist alles leer. Keine Straße mehr, alles ein einziger Platz, eine stadtplanerische Vision gigantischen Ausmaßes. Ich sehe die Moschee dort vor mir, zehn Fußminuten entfernt, in meinem Rücken thront der Palast in 15 Minuten Entfernung, und hier, vor meinen Augen, ich stehe direkt vor dem Tor, war jener 200 Jahre alte Basar, der nun schon wieder aussieht wie alle anderen Bauten: billig, gelb, poliert und leer. Komplett ausgeräumt, einige Frauen sitzen vor einem der ehemaligen Geschäfte, schauen mit ihrem Besen und Wassereimern auf den leeren Platz, der einmal all die Stände für Obst, Gemüse, getrocknete Früchte beherbergt hatte.

Saq - 21

Ich brauche eine Weile, bevor ich weiter gehen kann. Mir wird gespenstisch zumute, ich glaube in den Augen der wenigen Vorbeihuschenden dieselbe Fassungslosigkeit zu sehen, die mir ins Gesicht geschrieben stehen muss. Fünf entlang spazierende Frauen aber, mit Goldzahn und langem Kleid, grüßen mich überschwänglich auf Usbekisch. Ich bin immer noch ein Gast, werde es immer bleiben, und fühle mich hier mit jedem einzelnen Schritt fremder und fremder. Plötzlich wird jedes Foto Dokumentation eines Verbrechens an einer Stadt. Zuhause sehe ich, dass vor einigen Jahren hier Häuser standen, zahllose Häuser, Bäume und Leben. Ich habe keinen Zweifel mehr, dass das Riesenrad abgerissen wurde. Sie machen alles tot, wie überall. Wie überall im Land.

Blick über Shahrisabz von 2006 - Danke, Wikipedia.

Blick über Shahrisabz von 2006 – Danke, Wikipedia.

Hinter dem Basar geht es weiter, rechts mit alten Bauten, die sich ausschlachten und neu machen, immer sind innen nur Trümmer zu sehen, Haufen Geröll, das die Mauern mit hohle Fenstern und Türen noch halten. Ich gehe über Steine, die selbst Grabmäler dutzender Häuser sind, und die schwarze Erde, aus der irgendwann wohl Leben wachsen soll, markieren den Eindruck mit ungewolltem Sarkasmus. Links wird eine lang gezogene Reihe Neubauten errichtet, alle aneinander gewürfelt wie die modernen Entwürfe in Großstädten, aber alle im Design der Lehmhäuser, mit künstlichen Reliefs, Mosaiken, die angedeutet sind, und Platten mit Motiven des Volkststolzes. Ein Plakat verspricht mit einem computeranimierten Bild der fertigen Reihe kühles Leben, berechnetes Glück und aufoktroyierte Erneuerung der Vergangenheit. Warum nur können sie nicht weiße Klötze mit elegant schwarz umrahmten Fenstern und grauen Mustern planen, wie in europäischen Großstädten? Warum bauen sie die Dinge neu und planen in einem Stil vergangener Jahrhunderte? Sie wollen selbst bestimmen, an was sie sich erinnern. Sie nehmen die Vergangenheit zum Vorwand, in ihrem Interesse die Gegenwart zu ändern, d.h. die Geschichte zu zerstören. Überall, wo eine Lehmhütte durch eine gefälschte Lehmhütte ersetzt wird, passiert grotesker Mord an der Historie, platte Propaganda und ist ein unmissverständliches Zeichen: Wir sind die Macht. Jetzt, wo es allem noch an Grün fehlt, wo der Himmel Grau vor Sonne ist, die Bauten braunen Steins und der Boden schwarzer Dreck, sind die Kontraste weg, alles verschwimmt – ich bekomme Durst. Wo kann ich hier etwas kaufen? Alles leer. Noch im Schlag gefangen, schwimme ich zur Moschee, betrete sie nicht, sehe nur Bauwerker, Backsteine, Ziegel – hinter ihr fängt die Straße wieder an, bis hierhin haben sie aufgeräumt, zerstört. Dort ist noch Leben, ich sehe Autos am Straßenrand, Leute auf Fahrrädern mit Einkaufstüten am Lenker, ein Polizeiwagen, dessen Fahrer mich und meine Kamera misstrauisch beguckt – ich tue, als sei ich blind der Zerstörung, erfreute mich der usbekischen Architektur und des Wetters und gehe bald wieder, will schnell noch den Rest Altbaus sehen, bevor ich verschwinde. Und gleichzeitig genieße ich die privilegierte Position, zufällig an einem solchen Zeitpunkt herzukommen, wenn alles im Umbruch ist, alles offen – Shahrisabz ist, wie einem sezierten Mann ins Maul zu schauen, man sieht durch den ganzen Körper durch. Von einem Plateau, auf dem die Moschee errichtet ist, hat man einen Blick über den gesamten Platz – ich erkenne gut Oq Saray, dort hinten.

Blick über Shahrisabz heute

Blick über Shahrisabz heute

Ich bin müde, lehne mich gegen das Geländer und frage mich dringender, wo ich hier etwas zu trinken bekomme. Zum Glück hatte ich auf der Hinfahrt die Gelegenheit zum Toilettengang gehabt, hier ist ja alles offen und sanitäre Anlagen kann ich nirgendwo entdecken, nicht einmal Steinhäuschen. Was für ein Ausblick, was für eine Weite! Nachher lese ich im Reiseführer einen letzten Satz: Das Stadtzentrum würde gerade aufwendig umgebaut. Ein schöner Euphemismus für diese Radikalkur. Stadtverschönerung nennen die Usbeken das. Als hätten sie regelrechten Hass gehabt auf alles, was historisch gewachsene Schönheit besitzt. Hier, in Timurs Geburtsstadt, entsteht der neue Stolz der usbekischen Architektur – modern, riesig, ach was, gigantisch, geltungs- und ruhmsüchtig, fatal, bombastisch… Mir fehlen die Worte, deshalb gehe ich fort.

Das Jahongir-Mausoleum.

Das Jahongir-Mausoleum.

Hier ist das Mausoleum Jahongirs, des geliebten Sohns Timurs, der mit 12 vom Pferd gefallen und gestorben ist. Ein schönes Gebäude, ich will eigentlich nicht von Timur reden. Im Reiseführer steht was von jahrhundertealten Platanen. Was hier in seinem Namen geschieht, ist ein Verbrechen, ich entziehe ihm hiermit den Ehrentitel Amir. Vor dem Mausoleum sehe ich einen alten Mann, der auf einem ersten Stück Kunstrasen sitzt, quadratisch ausgeschnitten, und in seiner Arbeitskleidung Kartoffeln auf eine Zeitung schält, sie in seinen Sack wirft. Warum sitzt er hier in der Sonne? Woher kommt das eine Stückchen Gras? Wozu schält er Kartoffeln und warum jetzt, vor allem: Warum hier?

Ein Mann schält Kartoffeln.

Ein Mann schält Kartoffeln.

Ich denke nicht darüber nach, meine Aufnahmefähigkeit hat rapide nachgelassen, mache nur noch ein schnelles Foto, indem ich vorgebe, die blaue Kuppel der Moschee abbilden zu wollen, er schaut kurz auf und wieder ab, dann verlasse ich den Ort, der hier mit einer hohen Mauer regelgerecht abgegrenzt wird.

Mir fällt ein Gedicht Hesses ein, das unter wenigen anderen ich zufällig auswendig kann und rezitiere es halblaut vor mich hin: „Ich liebe Frauen, die vor tausend Jahren/Geliebt von Dichtern und besungen waren.//Ich liebe Städte, die mit alten Mauern/Geschlechter alter Zeiten bedauern.//Ich liebe Städte, die erstehen werden,/wenn niemand von heute mehr lebt auf Erden.//Ich liebe Frauen – schlanke, wunderbare –/die ungeboren ruhn im Schoß der Jahre./Sie werden einst mit ihrer sternebleichen/Schönheit der Schönheit meiner Träume gleichen.“ Die Verschmelzung von Stadt und Frau als Objekt der Sehnsucht fasziniert mich und nirgendwo scheint das Gedicht besser zu passen, nie scheine ich es präziser intoniert zu haben, als in diesem Moment, da ich auf dem verlassensten Ort, an dem ich jemals stand, in Richtung des Palastes eines seit 600 Jahren toten blutigen Eroberers wandere und einen Bus nach Kitob finden muss, und etwas zu trinken. Hunger habe ich auch, Restaurants gibt es keine mehr. Als ich an der modernen Lehmhausreihe vorbeikomme, die Arbeiter betrachte, sitzen ab und zu alte Mütterchen, usbekische Frauen in ihren Gewändern dafür und schweigen – kaum jemand redet, nur die Handwerker rufen sich gegenseitig Befehle zu – so viele Bauarbeiter kann es doch gar nicht geben, und in mir wächst die Vermutung, dass sie einfach arbeitswillige Bürger benutzen, um Kabel und Rohre zu verlegen. Hausbau einfach gemacht, usbekische Qualität. Auch hier wieder treffe ich auf plastikverhüllte Fontänen in blau gekachelten Becken, die irgendwann mit Wasser gefüllt sein werden, auf Kabelrollen und Stahlträger…

Saq - 25

Endlich, endlich bin ich am Ende angekommen, was für ein Marsch, und gehe noch einmal auf die fünf Läden zu, die dort an der Seite geblieben sind. Im Mini-Market kaufe ich mir einen Liter Wasser, Gott sei Dank! und entdecke im Vorbeilaufen in jenem Laden, an dem das Wort „Brillen“ geklebt war, eine winzige Kantine mit drei Tischen, zehn Plätzen. Ist das die Verpflegung für alle diese Bauarbeiter, hunderte Bauarbeiter hier? Sie ist voll, als ich eintrete, ein Platz ist noch frei. Natürlich gibt es im Wesentlichen Shurpa, einfache Suppe, dazu Lepjoschka, Tee, den will ich nicht, aber ein Spiegelei bestelle ich mir dazu. Die Qualität ist auszuhalten, wenig besser. Einer der Arbeiter an meinem Tisch fängt ungefragt zu reden an – als müsse er reden, leise, zu mir, als traue er sich nicht zu anderen, oder als sei es eine Entschuldigung, an wen auch immer. Er sei aus Taschkent, aber in Taschkent gäbe es im Winter keine Arbeit, kein Geld. Seine Familie sei dort, er hier – um sein weniges Geld zusammen zu halten. Und dann sagt er, „So ist das“, nach einer kurzen Pause, „in unserer Republik“. Im Nachhinein läuft mir bei den Worten ein Schauer über den Rücken – die Kritik in diesen Worten war unüberhörbar. Oder interpretiere ich nur zu viel in ein paar Sätze, die lediglich freundliche Entschuldigungen an einem Fremden sein sollten? Ich weiß es nicht, ich war kaputt. Machte mich auf, nach der kleinen Rechnung, und sah noch in jenem Geschäft für Brautkleidung Menschen stehen, mich wundernd, ob hier tatsächlich noch jemand heiratet… Probiere einfach die nächste Möglichkeit nach rechts, dort liegt eine Straße, auf die ich zulaufe. Noch ein Stück der alten Stadtmauer, nicht restauriert, bewachsen und in schwarzer Erde viel schöner natürlich als das andere Stück. Eine Kreuzung, ich frage, man antwortet mir ungenau, wie gewohnt, also frage ich noch einmal, schnalle es, und sitze bald für 1000 Sum in einer Marschrutka nach Kitob. 15 Minuten Stille, nur der laute Motor, für die erste Zeit sitzen wir zu zweit darin, und der andere versteht ein bisschen Englisch. Dann steigt er aus, den Rest der Zeit bin ich allein mit dem Fahrer, der nicht einmal wirklich Russisch spricht – schlechter sogar noch als ich. Auf der Fahrt begegnen wir einer so großen Anzahl an Marschrutkas, dass es mich nicht wundert, wenn ich der einzige im Auto bin – 30 Sekunden hinter uns fährt sicher noch einer mit einem Fahrgast und vor uns auch. Der Fahrer ist freundlich und lädt mich bei den Taxis nach Samarkand ab, meinen übergewichtigen Freund von der Hinfahrt suche ich vergebens. Werde abgeworben von einem jungen Usbeken, der mich auf die Rückbank in sein klappriges Auto packt, das fast auseinander fällt, und zehn Versuche braucht, bis er die Kiste gestartet bekam. Endlich – weg von hier.

Wie ein Traum verlief die Rückreise, wenigstens am Fenster, schaute nur heraus und ließ meine Gedanken kreisen, um immer dasselbe Thema, natürlich, um diese Stadt und was mit ihr wird, gab die Hälfte meines Wassers dem Mitreisenden am anderen Fenster, während der in der Mitte ruhig schlief, sein Gewicht in den engen Kurven der Berge jeweils auf einen von uns verlagerte, mich nicht sonderlich störend, mein Körper war mir schon immer unwichtiger als mein Kopf, der diesmal voll genug war, mich abgelenkt zu fühlen. Die erste Notiz, die ich kurz vor Samarkand nahm, war, dass wir a) schneller gefahren waren als auf der Hinfahrt, b) einen anderen Weg nahmen und sah schon bald darauf eine riesige Mauer, die zur Straße hin mit Tiermosaiken im Stile ägyptischer Pyramidenmalereien versehen war, nur bunter natürlich, in blau und gold, aber modern, die, in die Tiefe von weit weniger spektakulären Zäunen gesäumt, ein Gelände mit Statuen umschlossen, Statuen, deren Motive ich im raschen Vorbeifahren nicht erkennen konnte, die teils auf großen Sockeln, nein, auf hohen Säulen ausgestellt waren – surreal, wie ich mir nachher überlegte, diese Szenerie, wie ein Tierfriedhof für Superreiche, die ihren Lieblingen Denkmäler auf hohen griechischen Säulen verschaffen, um ihr Andenken zu wahren wie jenes der griechischen Götter. In der Stadt selbst, als wir endlich da waren, der Fahrer nämlich unternahm noch einen Schlenker zu irgendeiner Mahalla, in der die Notwendigkeit verspürte, knappe 10 Minuten mit einer Frau zu reden, erheischte nur noch ein mit glitzerndem Goldlack überzogener Mercedes meine Aufmerksamkeit, bevor wir am Registan landeten, wo sich die Taxis sammeln, verließ das Auto und – um einige Minuten durchzuatmen, wandelte über die Fahrbahn zum Aussichtspunkt, um ein noch viel schöneres Bild auf den Platz zu haben, seine drei Medresen, als bei gestrigem düsteren Wolkentag.

Der Registan in Samarkand.

Der Registan in Samarkand.

Überall glänzt und prunkt es – damit zerstören sie ihr Erbe. Ich kann mir vorstellen, als Ruine war er wirklich stolzer als jetzt, mit dieser Scheinlebendigkeit, die den Tod nur unter einer Puderhaube versteckt, sich schämt. Magoki Attoris zerrottete Schönheit, Oq Sarays Gigantismus, der erst aus den Ruinen tragisch wird oder Kyrk Kyz’ befangene Macht, wie viel ehrlicher und befriedigender war das gegenüber dem Kitsch, der uns hier geboten wird? Nein, der Eindruck bleibt, dieser Platz ist einmalig und nicht einmal eine misslungene Restauration mag daran etwas ändern, er wird das Herz dieser Kultur bleiben, der Timuriden und Usbeken, die einst hier herrschten, ebenso stolz wie die derzeitige Elite. Wie es das Schicksal eines bleichen, barttragenden Westlers ist, wurde ich nur kurz in meiner Meditation belassen, ein Junge, der gerade aus den USA zurückgekehrt war, und seine drei Freunde fingen an, mir die üblichen Fragen zu stellen, die ich schon, wie jeder andere hier lebende Europäer, einige tausend Mal beantwortet habe, und die mir jetzt, gerade nach diesem Erschöpfungsschlag, zu viel wurden und am liebsten hätte ich sie geschlagen, sie können ja nichts dafür, interessieren sich für das Fremde, da können wir Deutschen mal schön die Klappe halten. Ich kam los, indem ich mich entschuldigte und entfernte, den Blick und die Meditation aufgab – ich werde ja wiederkehren – und Jonas anrief, der tatsächlich schon fast auf dem Weg war, wie ich, und nahm ein billiges Taxi dorthin, mich langsam erholend und mit zunehmender Anwesenheit in der Realität, über die bekannten Schlaglochstraßen bis hin nach Sattepo, wo er wohnt, und die paar Schritte zum Haus laufend, ganz in ruhigem Philosophentempo. Dann blieb mir noch wenig Zeit, meine Sachen zu sammeln, um mich auf zum Bahnhof zu machen. Es ist gut, eine Stadt so in ihren Eingeweiden zu sehen, nicht immer dieselbe Langeweile, die geputzten Sehenswürdigkeiten und Souvenirhändler, nicht nur das Rosa und Gold, sondern auch die staubüberzogene Leber und Nieren, den Magen, in dem alle Schönheit verdaut wird. Ich bin gegangen, um wiederzukommen, wahrscheinlich nur in die Fürstenviertel, Touristenmeilen, sei’s drum – als Stadt zieht Samarkand stark an, und wenn auch die Oberfläche blenden mag, die andere Seite habe ich gesehen, darum überhaupt geht es mir. Relativ knapp kam ich am Montag Abend am Bahnhof an, um noch einige Minuten auf den Zug zu warten, der seit Neuerem erst aus Karshi einfährt.

In Gedanken über das schöne Usbekistan und seine Maßnahmen zur Stadtverschönerung, noch ganz im Eindruck des riesigen Bildes Shahrisabz‘, reiste ich im angenehmen Afrosiyob zurück, hörte Musik und schaute dem Fernseher zu, wie er einen der usbekischen Filme spielte, davon oben mehr. Zwischendurch fahre ich mir erschöpft durch die Haare, lasse innerlich ein Stöhnen hören und plötzlich taucht eine der zahllosen jungen, weiblichen Zugbegleiterinnen vor meinen geschlossenen Augen auf und fragt auf Englisch, ob alles in Ordnung sei – danach fuhr ich mir nur noch heimlich durch die Haare. Die Ankunft in Taschkent war eine müde, und jene Müdigkeit, wie ich mir bald bewusst wurde, war anders als jene zuvor – eine politische Müdigkeit, zum ersten Mal fühlte ich die Anstrengung, in einer Diktatur zu leben. Das kommt davon, wenn ich mich so in alles hineingebe, als beträfe es mich direkt – Shahrisabz sollte der Welterbetitel aberkannt werden, Samarkand mit seinen Registanschweinereien auch, aber was mische ich mich da ein? Ich kann mich nicht zufrieden geben mit einem status quo, verändern kann ich aber erst recht nichts. Mit dieser Einsicht, mit diesem bitteren Fanal zum Aushalten, ging mein Besuch der beiden Städte zu Ende, deren Bekanntschaft meine Usbekistankenntnisse wieder einmal grundlegend neu geschrieben haben, und was bleibt mit da anderes zu sagen als – Ja, fordere meinen eingeschlafenen Kopf, Usbekistan, fordere ihn und stoße ihm dein Gesicht aus Beton entgegen!

Schweiß und schwere Träume

Hier beschränken sich nun die Temperaturen nicht mehr, dem Frühling zu schmeicheln, mit der Sonne zu kokettieren, nein, der Sommer, die Zeit der kurzen Ärmel, hat bereits begonnen – und unsere Heizung läuft noch immer. Ich kann es kaum glauben, dass dies der Winter gewesen sein soll, ob nicht noch ein Schlag auf uns wartet, im März? Es wäre doch die Zeit dafür. Der internationale Frauentag gibt als Dienstag dem Präsidenten Möglichkeit zu einer seiner barmherzigen Freundlichkeiten, per Erlass ist der Montag ebenso frei. Die Arbeiterklasse wird dazu angehalten, am Samstag Ausgleichsdienst zu halten. So habe ich Ruhe, an meinem Blog zu schreiben, immerhin drei Artikel inklusive diesem warten auf ihre Fertigstellung, und die Stadt neu zu erkunden, um Ende März für meine Eltern den Fremdenführer zu mimen – wenn’s nur die Eltern wären. Mit neun Leuten sind wir fast eine Reisegruppe, ich ihr Guide. Seit ich das letzte Mal die Stimme erhob, ist viel passiert, ich bin noch einmal viel gelaufen und habe eine Menge zu erzählen, wie immer kaum wissend, wo anzufangen.

Man fühlt sich echt sommerlich, wenn man morgens aus warmem Schlaf erwacht, das Fenster angelehnt offen und im kurzen Hemd beim kargen Frühstück schwitzt, dieser ewige Sonnenschein erinnert mich an Paris oder Rom. Mein Körper ist verwirrt und ich trinke weiterhin Tee mit Zitrone, habe mir Ingwer gekauft und hoffe, über diese Innentemperaturen heil hinweg zu kommen. Wenn nachmittags die Sonne durch mein Fenster schlägt, ist es kaum auszuhalten – in kurzer Hose, barfuß und in ständigem Schwitzen. Wahrlich, mehr Tee muss her, wenn ich diesen Artikel noch bei lebendigem Leibe beenden will. Die Tage sind so heiß, dass man kaum etwas tun kann, kaum sich regen, kaum sitzen, malen, liegen, schreiben, lesen kann. Zwar nicht, weil es draußen schon solche Grade annimmt, sondern weil unsere Heizung fleißig weiter brüllt, und das ist bei den Temperaturen tödlich. Außen freilich streichelt die Luft den Körper, es lässt sich aushalten. Wenn ich am Computer sitze, ist das Wechselspiel besonders schwer, denn die beiden Plätze zum Schreiben sind nahe dem Heizkörper unterm Fenster. Ich werde kränklich, abwechselnd heiße und kalte Schauer jagen über meinen Körper. Der Mund ist trocken, ich trinke literweise Tee und Wasser und schwitze, dusche zweimal pro Tag. Deshalb versuche ich die Zeit zu beschränken, was meiner Intention, fleißig Blog zu schreiben, widerstrebt. Sehr unangenehm, besonders abends, wenn die wieder kühle Luft von draußen und die pumpende Heizung sich in der aufgewärmten … durchmischen, abwechseln. Mein Raum ist eindeutig der wärmste in der Wohnung, hier fällt, wie in die zum Flur und Wohnzimmer offene Küche, nachmittags die wärmste Sonne ein und hier ist ein Fenster Richtung Straße leidlich genug. Im Wohnzimmer, dessen Fenster nur morgens etwas Licht sehen, ist es glatt zehn Grad kühler als bei mir, und all diese Veränderungen tun dem Körper nicht gut. Ich hoffe nur, ich werde nicht richtig krank. Genug der Weinerlichkeit, auf zu anderen Themen.

Unsere Filmreihe wurde bewilligt! Nach nur drei Monaten! Selbstverständlich kann nicht die Rede von vollständiger Zustimmung der zuständigen Behörde (Uzbekkino) sein, aber immerhin – vier von zehn Filmen, das kann sich sehen lassen. Weil „Victoria“ dabei ist, und „Finsterworld“. Der Film, in dem menschliche Hornhaut zu Keksen wird, in dem ein Schüler erschossen, ein Mädchen in einen alten Ofen von Buchenwald gestoßen wird und der schmächtige Helfer dafür schuldig gesprochen, faschistische Tendenzen in der deutschen Gesellschaft von heute wie Leuchtfeuer aufflammen, der wurde genehmigt? Sie setzen ihre Prioritäten wohl differenzierter. „Jack“, ein toller Film, hatte den Makel, dass die Schauspielerin, nachdem sie beim just begonnenen Sex von ihrem kleinen, hungrigen Sohn Jack überrascht wurde, nackt zum Mitternachtsfrühstück marschierte und wurde wegen diesen zwei Minuten rausgeschmissen, mehr brauchte es nicht. Warum wir solche Filme einreichen würden, meinte Asja von Uzbekkino ganz pikiert. Dass „Finsterworld“ neunzig Minuten Kontroverse liefert, scheint sie nicht gestört zu haben. Umso besser, denn falls die Reihe doch noch irgendwann stattfinden sollte – wir überlegen, einen der zahlreichen neuen Fritz-Bauer-Filme einzubinden – können wir mit diesem Filmen, v.a. „Victoria“ und „Finsterworld“ echte Perlen des jüngsten deutschen Kinos zeigen. Ich bin zufrieden.

Doch bis dahin ist es ein weiter Weg, inzwischen haben andere Erfolge ihren Platz gehabt. Kohlhaas in Usbekistan, dieses Wahnsinnsprojekt, das so eindeutig auf die hiesige Situation abzielt und doch so gut zu verteidigen ist, es hat geklappt und über diesen Coup kann man sich nicht anders als freuen. Es war letzten Freitag, der 04. März, dass die Premiere unter Anwesenheit des deutschen Botschafters, Vertretern der französischen und israelischen Botschaft, sowie zahlreichen Mitarbeitern des Goethe-Instituts, interessierten Normalbürgern und einigen Studenten, für die Simon und Cedric eine Einführung gehalten haben, statt fand und ein voller Erfolg wurde. Sicher 250 Plätze des wohl 100 weitere umfassenden großen Saals waren gefüllt, von völlig unbekannten Gesichtern genauso wie von alten Bekannten, und gerade diese Geschichte, die doch jedem so bekannt vorkommen muss, stieß auf positiven Widerhall. Jener Künstler, den ich einst erwähnte, welcher seine Kunst im Inland nicht ausstellen darf und ins Ausland nicht reisen, ging verschmitzt aus der Vorführung und einer unserer usbekischen Mitarbeiter meinte nachher, ihn hätte das Stück am Herz gepackt. Ob es nun auf dem Spielplan landen wird, ist unsicher, aber der entsteht sowieso erst eine Woche im Voraus. Der gesamte Arbeitsprozess mit dem Jugendtheater, in dem alles statt fand, war doch von Unwägbarkeiten und Unklarheiten geprägt, so auch die Pressekonferenz, die uns am Montag mitgeteilt wurde, von deren Existenz am Mittwoch die für Öffentlichkeitsarbeit zuständige Frau am Theater nichts wusste und die dann doch stattfand – auf einem Sofa, im Hintergrund eine Pinnwand mit Presse zur deutsche Aufführung, Plakaten und ähnlichem, auf der einen Seite Franziska und Philipp vom Jungen Theater Heidelberg plus Obid vom Jugendtheater Usbekistans, auf der anderen drei stilechte Pressefrauen mit Zettel und Stift, sowie der Übersetzer, als den wir spontan Shomansur vom Institut verpflichten mussten. Dahinter und drum herum Kameras, Foto und Video, die kamen und gingen, und ich. Eine seltsame Konferenz. Sie tun gerne professionell – so meinte Obid bei einer der Endproben, zu denen ich am Donnerstag anwesend war, Regeln für das Verhalten im Theater erklären zu müssen. Letztendlich aber sind sie, im Gegensatz zum Ilkhom, weit entfernt von westlichen Theaterstandards, und man kann schon froh sein, wenn die Schauspieler einen Rest (oder Anfang) Individualität zeigt. Denen wurde natürlich ordentlich der Kopf gewaschen, im Verlaufe der sechswöchigen Arbeit aber konnte Franziska doch so etwas in Richtung selbständiges Schauspiel aus ihnen heraus kitzeln, usbekisch blieb es trotzdem, auch wenn alle drei ihr Bestes gaben und die Premiere auch souverän gespielt haben, da kann man ihnen nichts vorwerfen. Im Nachhinein gab es einen kleinen Sektempfang, aber das muss ich vielleicht nicht erwähnen. Denn es war usbekischer Sekt, also klebrig süß (wie meine Finger über der Tastatur, bei diesen Graden), hören wir auf. Das Gegenteil an Theater ist natürlich das Ilkhom, zu dem es mich wieder gezogen hat, ich erwähnte, meine ich, Ibsens „Gespenster“, die ich mir vorher aus dem Gutenberg-Projekt besorgte und zur Vorbereitung durchlas, schlicht beeindruckt war und mich sehr auf die Ilkhom-Perspektive freute, als ich dann dort war und der Schauspieler erkrankt ausfiel, das Stück auf unbestimmte Zeit aus dem Spielplan genommen und stattdessen „Sergej Jessenin. Sky Drummer“ gespielt werden sollte. Die stellvertretende Institutsleiterin Simone, die zufällig mit Freunden aus der amerikanischen Botschaft zum selben Stück gehen wollte, tauschte ihre Karten um und sie verließen das Theater, ich blieb. Ebenso zufällig hatte ich das Stück auf dem Spielplan gesehen und mich über Jessenin informiert, dessen Name mir bis dahin sträflicherweise kein Begriff war, dessen Gedichte ich mir im Nachhinein aus dem Internet zog und nun dabei bin, sie mit einem großartigen Online-Wörterbuch der Universität Leipzig zu übersetzen, d.h. ihren Sinn zu verstehen – bei fast hundertjähriger russischer Lyrik anzuraten, wenn man im Lesen und Verstehen doch nicht mehr als ein Anfänger ist – auch wenn sich die Bücher und Namen im Zimmer stapeln, als jüngstes Mitglied Alexander Blok, Gedichte, vom Yangiobod. Ich war also informiert über diesen Kerl, der 1925 mit 30 Jahren und in der vierten Ehe Selbstmord beging, indem er sich die Pulsadern aufschnitt und dann aufhängte. Nicht nur diese Tat, sondern auch, dass er mit seinem Alkoholexzessen und Wütereien in Bars und Hotels der sowjetischen Obrigkeit zunehmend auf den Keks ging, ließ dutzendfach Gerüchte ins Kraut sprießen. Seine Lyrik aber ist weich und von Selbstzweifeln geprägt, mit starken Bildern und viel Sehnsucht, wie ich sie liebe, nach dem dörflichen Russland, dem Körper und Seele Jessenins entsprungen sind – die Birken, die alte, gezimmerte Holzhütte, die Natur herum, das Bäuerliche am Leben. Ein großer Dichter mehr entdeckt, und irgendwo in Deutschland muss ich mir ein Bändchen von ihm besorgen, neben Paul Celan nun der zweite Dichter, von dem ich das unbedingt vorhabe. Um zurückzukommen: Ich war erneut vom Ambiente des Ilkhom begeistert, der Bücherecke, in der auch eine Leinwand hängt, in der Dostojewski & Co. stehen, der Halle mit der modernen Kunst und dem Eckchen mit Marketingprodukten (Irgendwann kaufe ich mir so ein T-Shirt), das Stück an sich war diesmal aber weniger beeindruckend, als in schlichter Weise gut. Ein Mann, jung wie Jessenin es war, rezitierte Verse des Dichters, von denen ich kaum mehr als eingestreute Wörter verstand, während seine Einsamkeit nur vom Gitaristen gebrochen wurde, dessen Loop Station ihm malerische Freiheit ließen, zudem das Spektakel von alten Aufnahmen in Schwarz-Weiß untermalt, sowohl Spielfilmausschnitte als auch Dokumentarmaterial. Warum erwähne ich das? Sie können etwas sehr Schlichtes wie Gedichte in eine angenehme Hirnerregung verwandeln, die nicht nur massiert, sondern mir auch den Nachhauseweg, ich lief ihn komplett, Gedanken gaben, die schließlich in eine kleine Welle Gedichte mündete, allerdings leichte, larmoyante, in der Schönheit bloßer Nebeneffekt ist, deren Existenz sich einzig meiner Müdigkeit verdankt, weder besonders kreativ noch neu sind, einfach um sich abzuschreiben ins Tagebuch gehören, zu mehr nicht wert. Aber immerhin, ich schreibe. Freut mich jedes Mal.

Denn in der Tat ist es eine verdrießliche Zeit, die Erfolge im Institut wiegen schwerlich die Misserfolge auf, und ständige Begleiter sind Vergesslichkeit und Müdigkeit, mir ja so gut bekannt aus den vergangenen drei Jahren. Vielleicht ernähre ich mich nicht vielseitig genug, dachte ich mir, und gab letzte Woche vermehrt Geld für Apfelsinen, Bier und frisches Gemüse – Salat – aus, habe mir neue Gewürze gekauft und trotzdem – wie ein Stein in meiner Brust zieht es mich ab, empfängt mich kühl die Wirklichkeit, als wäre die Realität etwas, das mich enttäuschte. Ich gebe mich so sehr hinein, dass alles, was ich höre, wie mir selbst zustößt und ich mich fühle wie pressiert, unter Druck. Der Druck ist allgegenwärtig, doch was geht er mich an? Ich habe das Gefühl, es ist die Veränderung meiner Umgebung, die mich dazu bringt, mich angegriffen zu fühlen, Shahrisabz könnte tatsächlich Anfang dieses Prozesses gewesen sein, der doch am Ende nur Reichtum bringen wird, auch wenn Geld dafür verloren geht und vielleicht sogar Gesundheit, so ist es die Erfahrung, die zählt. Sie haben den Alaiskiy niedergerissen, das große Baldachin, unter dem Obst und Gemüse verkauft wurden, Souvenirs, Gewürze, Mehl, Reis und vieles mehr – diese Verkäufer drängeln sich nun auf dem kleinen Parkplatz eines zugehörigen kleinen Einkaufszentrums für Kleidung, und das große Areal dieses wertvollen, sowjetischen Betonbaus ist leer, bzw. war schnell nicht mehr als lauter Schutt. Es geht mir ans Herz, dass sie alles abreißen, neu bauen, „verschönern“, es geht doch nur darum, den langen Schwanz zu zeigen und sich breit zu machen: Der Usbeke ist ein stolzer Mann. Gerade heute gingen wir, d.h. Simon, seine deutsche Mitbewohnerin Kristina, sowie die Neuankömmling Vera, ins Next, Einkaufszentrum, nachdem wir auf dem Yangiobod waren, und sahen uns begeistert die Produktpalette des Usbekistan-Merchandising an. Eine Winterjacke, in den Farben der Fahne, hinten groß „Uzbekistan“, eine Weste in gleichem Stil, Pullover mit stilvollem „UZ“ auf der Brust, und Shirts mit Drucken wie „Proud to be Uzbek“, „Sunny Land Uzbekistan“ und so weiter, bis einem vor lauter Lachen das Kotzen kommt. Gelegentlich denke ich, ich sollte nicht so viel lachen, wer bin ich, mich darüber lustig zu machen – wie stark ist doch die europäische Bigotterie, die, weniger offensiv und antik, ich genauso bejammere. Vor allem aber denke ich, ich sollte mich nicht so benehmen, mich trifft es ja nicht. Ein dünnes Fell, es kann ruhig noch dichter werden. Ja, der arme Alaiskiy verändert sein Gesicht, das so oft ich nun gesehen, dass es mir Leid tut um ihn. auch der Mirobod-Basar wird teils renoviert, glücklicherweise steht der Laden noch, in dem ich meine Kekse kaufe, ihnen gebührt ein großer Anteil an der Länge dieser Blogs – wie sollte ich sonst so lange sitzen bleiben?

Die Auswirkungen beschränken sich nicht aufs Jammern, auch die Arbeit am Schreibtisch im Institut verwirrt mich nur. Vielleicht ist es der Kontrast, den ich doch liebe, der mich verwirrt. Innen ist alles sauber, gerade und deutsch, außen herrscht das strenge Regime des schönsten Landes der Welt, Usbekistan. Ich habe fünf Dinge zu erledigen, fange alle fünf an, und beende sie nach drei Stunden zur gleichen Zeit. Währenddessen springe ich von diesem zu jenem, ohne wirklich den Zusammenhang zu wissen, doch wenn ich beim ersten bin, so fällt mir der Schlüssel zum dritten ein, und so öffne ich dieses Projekt, um nur wieder zu erkennen, dass ich bald nicht weiterkommen, lieber mit dem zweiten weitermache und so weiter. Erstelle im Vorhinein für jede Mail, die geschrieben werden muss, einen Entwurf, um nicht zu vergessen, worum es ging, und merke am Ende des Tages auf, war nicht noch was? richtig, der Entwurf, ich habe vergessen, ihn fertig zu stellen. Stattdessen, weil ich glaubte, alles mehr oder weniger erledigt zu haben, guckte ich die jüngste „Anstalt“ oder googelte nach einer Figur, deren Name meinen Weg gekreuzt hatte, erweitere meine Allgemeinbildung, dessen Ergebnis ich wiederum nach 24 Stunden und einem müßigen, unruhigen Schlaf wieder vergesse. Deshalb freue ich mich immer, wenn ich raus darf, das Theater besuchen, oder den Yangiobod – was freilich weder Müdigkeit noch Verwirrung mindert, aber mich doch wenigstens entlastet, nach all der Anstrengung ist der Schlaf gleich viel schöner und gemächlicher, hingegen nach einem purem Bürotag nehme ich mir ein Minütchen für Abendgymnastik, das ich mehr schlecht als recht zusammenbastele. Wahrscheinlich habe ich zugenommen, aber am ganzen Körper und denke, ich sehe gesünder aus als nach dieser Schulzeit, die mich so ausgezehrt hat. Dennoch, Arbeit bleibt Arbeit und die muss erledigt werden, da fühle ich die Pflicht stärker als die Neigung, zumal beides hier nicht weit entfernt voneinander liegt. Große Aufgaben warten nicht auf mich, aber genug, um den Tag zu füllen: einige Texte hier zu schreiben, Tabellen erstellen, E-Mail und Facebookseite pflegen – auch unsere Website hatte und hat Aufgaben für mich parat, denn größtenteils ist die auf dem Stand von 2011. Nun bin ich ein Charakter, der schon bei der Vorstellung, eine Website im Internet zu erneuern, verschreckt davon rennt, aber einige kleine Aufgaben konnte man mir doch überlassen. Ich hätte gern mehr getan, wenn ich nicht so an meinem Glück mit der Informatik zweifeln würde. Doch nicht verzweifeln, auf uns kommen eine Reihe spannender Veranstaltungen zu – gerade hat das Ilkhom-Theater mit der Arbeit an Kafka, die Anfang Mai premieren soll, aus unserem Budget begonnen, nächstes Wochenende eröffnet einer von uns unterstütze Plakatausstellung (deren Genehmigung wir nach einigem Kämpfen vor zehn Tagen bekommen haben), im April kommt die Heidelberger Kohlhaas-Inszenierung auf ein Gastspiel vorbei und ein Literat aus Leipzig (!) für vier Wochen Residenz, Lesungen, Treffen und Seminare. Ende April beginnt unser großes Kinder- und Jugendfilmfestival „Shum bola“, das immer eine Heidenarbeit bedeutet und das vielleicht das Schönste ist, was uns noch geblieben ist, das wir halbwegs kompromisslos umsetzen können: Kinderfilme, ohne Propaganda, Werbung, Sex und Gewalt, ganz im Interesse der Usbeken, die ihren Nachwuchs glücklich sehen wollen. Dieses Mal wird eine ganze Delegation aus Deutschland das Festival begleiten und es werden, mehr konnte verhindert werden, usbekische Kurzfilme vor den deutschen Langfilmen gezeigt. Ab Ende Mai, nach einer UNESCO-Museumskonferenz in Kokand zum Thema der Museumspädagogik kehrt wieder Ruhe ein und ich kann meine beiden noch übrig gebliebenen Reiseziele ansteuern: Tadschikistan, das ich unbedingt sehen will, und Karakalpakstan – die Gegend, die immer schon extrem war, durch die Aralseekatastrophe noch extremer geworden ist und deren Grad an Abgerissenheit mich brennend interessiert – ich wisst schon, „looking for an angry fix“, Erfahrung, Erlebnis, uns was ist spannender als ruinierte Städte? „Ich liebe Städte, deren alte Mauern…“ So viel zu meinen Plänen. Wer weiß, ob ich alles schaffe, träumen kann ich immer. Denn ausschlaggebend für Karakalpakstan wird sein, ob das Wetter mitspielt – bei 60 Grad will niemand reisen – für Tadschikistan, ob ich mit meinem Bart rein gelassen werde, sie sind in dem Belange strenger als hier.

So Leid es mir tut, des begonnenen Kontinuums wegen, ich muss doch die Miscellaneous-Ecke wiederbeleben, sonst komme ich nicht hinterher mit all dem. Lass es uns pragmatisch machen. Neulich sah ich auf der Rückseite eines der grünen, japanischen, klapprigen Busse, deren Rückseite oft Werbung ziert, eine Anzeige für Papayaaufstrich. Das allein klingt nach Deutschland, Bio und Vegan, aber als eine der drei beworbenen Sorten auch noch steviagesüßt sein sollte, vergaß ich plötzlich alle Vorurteile. Es gibt also auch hier ein Publikum für solche Produkte. Gut überleiten lässt sich nun zum kulinarischen Höhepunkt der letzten Wochen: Leberschaschlik. Gut, den gibt’s hier und dort, ist an sich nichts Ungewöhnliches, aber dieser war von einem Geschmack und einer Qualität, dass es mir um die Ohren brauste. Dass Usbeken so würzen können, mag man nicht denken, wenn man sich die klassischen Speisen wie Lagman, Plov, Norin ansieht. Sie können es, und wie. Kleiner Nachteil der Sache: Das Ganze war irgendwie underground, weit entfernt von allem und geöffnet von halb Vier bis um Sieben Uhr morgens. Anscheinend gibt es auch Publikum, das früh arbeiten muss und vorher noch Schaschlik essen will. Nicht teurer als auf dem Chorsu war der Spaß, doch natürlich muss man mit dem Schlaf bezahlen – ich kann nur sagen: Wenn ich wahrscheinlich auch nie wieder an diesen Ort kommen werde – er wurde uns natürlich von einem Insider, Usbeken, gezeigt – einmal dort gewesen zu sein, kann ich nicht bereuen, einfach weil dieser Schaschlik so unglaublich gut war. In der nächsten Woche musste ich zu meiner großen Überraschung entdecken, dass es beim zur Gewohnheit gewordenen Tartaren auch Leber gibt – nicht teurer als der Rest, die Bouletten und Beef Stroganov. Manchmal etwas zu gut gebraten, aber doch eine Entdeckung. Welche Leber nehmen sie überhaupt, dass sie die für einen Euro inklusive Beilagen verkaufen können – Schaf? Gereicht wurde sie im Übrigen mit Zwiebeln und Apfel, dazu Kartoffelbrei und man ist fast in Berlin.

Ein Sprung und kurze Zwischenfrage: Lebt Elmiras Mutter noch, die Alzheimerkranke, die zu Sylvester schon sehr lediert war? In unserem Wohnzimmer fanden sich neulich 200 Bücher, aus Respekt nur konnte ich mich zurückhalten, sie nicht alle zu untersuchen, die meisten von ihnen russisch, und als ich fragte, woher plötzlich diese Tüten, die am nächsten Morgen ausgebreitet und sortiert im Schrank standen, meinte Alisher nicht ohne Belag auf der Stimme, von Oma. Sie lebt also noch. Dann, als beide einmal, wie es nicht selten vorkommt, außer Haus waren, konnte ich nicht umhin, die Sammlung zu inspizieren: Sergej Jessenin, sofort geschnappt, Turgenews „Väter und Söhne“ für die Zukunft gemerkt, Blok, Tolstoj, Majakowski, Puschkin, vieles vieles mehr.

Anekdote aus dem Fahralltag: Was den die weißen, gestrichelten Linien auf den Straßen bedeuteten, fragten zwei eine Usbekin. Sie zuckte mit den Achseln, wisse es nicht, „Keiner weiß“, aber glaube, wenn durchgezogene Linien bedeuten, dass man sie nicht überfahren darf, so müssten die gestrichelten Linien doch anzeigen, man könne fahren wie man will – auf dieser breiten Fläche. Es sind also gar keine Fahrbahnmarkierungen, sondern lediglich Hinweise auf eine weite Fläche, die mit dem Autoscooter beliebig durchquert werden darf. In der Diversität der Autos, die ich im ersten Blogeintrag erwähnte, ich muss es endlich eingestehen, hätte ich mich nicht schlimmer täuschen können. Abgesehen davon, dass tatsächlich Autos aus jedem der letzten vier Jahrzehnte in der Stadt herumtuckern, sind 80 Prozent immer noch von Daewoo/Chevrolet, die als einzige Marke im Land produziert werden – und Importe sind teuer. Das wollte ich loswerden. Was noch? Vorbei für dieses Mal, würde ich sagen, die Miscellaneous-Ecke. Ich komme drauf zurück. Wo war ich?

Bei Verwirrung und Müdigkeit, Vergessen und Schlaf. Die ewigen Themen, die irgendwie auch alles Schreiben schwerer machen, denn heraus kommt nur Sülze, wenn ich über mich rede, ich hasse eigentlich diese Oberflächlichkeit, die ich hier Mal für Mal zelebriere. Eine gute Illustration dieser Phase mag die Mitte letzter Woche gewesen sein.

Ich hatte einen seltsamen Tag. Gestern schon fing es an, dass ich meinen Rucksack dort vergaß, wo wir das Pub Quiz hielten, leer nach Hause ging und sofort zurückjagte, ihn abzuholen. Wieder in der Wohnung bemerkte ich, meine Kopfhörer fehlten. Vielleicht sind sie herausgefallen, die Tasche stand eine Weile offen, nachdem im Kino, wo wir wegen Shum bola waren, der Wächter sie offenbar nicht richtig geschlossen hatte – oder sie wurden geklaut, doch wer würde sie stehlen und ließe den Mp3-Player oder die Kreditkarte drin? Sogleich nahm ich letztere heraus, ich brauche sie ja nicht alle Tage, dann, am Morgen im Büro, versicherte ich mich, dass meine Kopfhörer nicht hier auf den Boden gefallen waren. Nach dem Mittag auf dem Basar, plötzlich, fand ich keinen Schlüssel zur zweiten Etage des GI in meiner Tasche, lief den Weg zurück, wo ich gegessen hatte, wo ich gelaufen bin, das ergab alles keinen Sinn, und zurück, oben, als ich erfolglos gegen die Glastür pochte erst, da fand ich ihn in einer anderen Tasche, der kleinen oben am Gürtel, für Schlüssel und ähnliches genäht, und dort hatte ich ihn vergessen. Ein Schock mehr, als ich meine Kreditkarte nicht im Rucksack fand, und erst wieder am Abend, zuhause, erinnerte ich mich, ich hatte sie ja gestern raus gelegt. Beunruhigt davon ging ich durch den Tag und das Ende der Geschichte war, dass mir Geld fehlte, ich plötzlich scheinbar grundlos weniger besaß, als das er Fall sein sollte. Da war ich schon so erschöpft von den ganzen Aufregungen, dass ich die Gedanken verschob, erst Tage später fiel es mir ein: Ich hatte mein Handy damit aufgeladen. So etwas passiert, nur die Kopfhörer sind nicht wieder aufgetaucht, inzwischen habe ich mir neue gekauft, in einer Art Basar für Elektrowaren, eine große Parkplatzfläche mit Schutt, um die herum in mehreren Reihen und Gängen sich aller Art Geschäftchen gruppiert haben, jeweils ihre Produkte verkaufend – Malika, noch so ein Name.

Ja, inzwischen ist es Abend, ich schwitze immer noch, um halb Neun, habe gegessen und denke, es ist Zeit aufzuhören. Mit dem schweifenden Blick in meinem Kopf gefangen, verließ ich schon im vorherigen Beitrag nicht den Käfig der Gedanken. Das sollte dieses Mal anders werden, denn inzwischen hatte ich wieder eine Reihe an Neuigkeiten zu bieten, die hier, auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten, feil gehalten wurden. Ich verkaufe nichts von all dem. Es gehört mir, auch die Erschöpfung und der Verlust an Geld und die Einsamkeit, mit der ich meinen schlechte Stil verteidige – ehrlich, je mehr ich spare, desto geiziger werde ich. Stelle mir vor, was ich alles in Deutschland damit anstellen könnte. Durch Antiquariate jagen, auf der Suche nach Schätzen, reisen natürlich, bis mein Studium anfängt – Party und Alkohol, bevor es wieder in strengere Strukturen geht, ja – ich träume viel von Deutschland, lebe schon in meiner Zukunft, während ich hier alles so gut es geht der Gegenwart verschreibe. Ich bin mir immer sicherer – ein Ort zum Leben wäre es nicht für mich.

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