Das Letzte von etwas
Absatz. Ich bin zu Hause, aber der Blog ist unbeendet. „Das Letzte von etwas“, ein begonnener Artikel, wartet in der Spur, vernachlässigt von mir, der ich kurz vor dem Nachbereitungsseminar von „kulturweit“ vielleicht wieder angekommen bin. Ich habe eine Reise mit Wandern an den Rhein hinter mir, mein Ausgleich zu Altem und Antrieb zu Neuem, in wenigen Tagen geht es los. Was mache ich mit dem Begonnenen? Es ist ganz modern, ich schiebe es nach, mit Vorwort und Epigraph, es könnte den Untertitel „Ein Fragment“ tragen – so wie die Reise, diese lange Zeit, ein Fragment war und immer nur sein kann – die Übergänge funktionieren nahtlos und eher im Austausch – ich stelle mir vor, ich sei ein Stausee, die Erfahrung der Damm und das Tal ist das Alte, in das ich fließen muss (Der Damm hat mich anstauen lassen, es besteht eine Differenz zwischen Ich und dem alten Leben), aber nicht mit vollen Rohren durchgepeitschter Erkenntnis, sondern langsam, dass der Boden des Alten, auf den ich langsam Fuß setze, nicht überfordert wird von dem Wasser, dass es aufnehmen kann und nicht überflutet wird.
Wir springen in den Juli, im Zeichen der Ruhe…
Im Zeichen der Ruhe ein letzter Seufzer von Arbeit, dann Zusammensacken in die mürbe Stille und Nichtstuerei, herrliches Gedankentreiben. Es ist das Letzte von etwas, und Hesse hat übersehen, dass vor dem zauberinnewohnenden Anfang das Ende kommt, das schmerzt und müde macht. Ich habe das lange, sich hinziehende Ende gewählt, nach der letzten Arbeitswoche blieben mir noch zehn Tage zur freien Verfügung, in denen ich mir die Zeit zum immer schmerzlichen Abschied nahm. Allerdings ist dieses lange Ende auch ein gutes, die Reflexion verschiebt sich nach vorne. Ich habe mit dem Land abgeschlossen, die Stätten, die mir viel bedeuteten, ein letztes Mal besucht und in mich aufgenommen. Zwei, drei der Leute hatten sich früher verabschiedet, am Donnerstag der vorletzten Arbeitswoche, weil sie dann in den Urlaub verschwanden, am Freitag war ich in den Bergen. Es war ein dienstliches Angebot aus der Sprachabteilung, sie wollten einen Muttersprachler für die besten Zöglinge im ganzen Land, die Gewinner der Spracholympiade Deutsch, 12 Podestler und 16 sonstig Eingeladene, und ich sagte zu, alleine aus Abwechslung und Spaß an Neuem, aber auch, weil ich so noch einmal in die Berge kommen konnte, in denen ich nur ein einziges Mal, im September oder Oktober beim Betriebsausflug, gewesen war, nun also ein zweites Mal, in denen die Höhenatmosphäre deutlicher zum Zuge kam.
Mir wurde gesagt, es sollen noch je eine Person vom British Council und von der Alliance Francaise, welche in die französische Botschaft eingekoppelt ist, mitkommen, aber den ganzen Tag über habe ich keine ähnlichen Personen gesehen, nur zwei Englischlehrerinnen, darunter eine ganz junge, waren vor Ort mit uns unterwegs. Denn auf Arbeit entfielen nur die zwei Stunden zwischen Ankunft mit dem gemieteten Autobus, in dessen schwer verhängtem Inneren der Schlaf nach kurzer Nacht nur ein fiebriger, schwerer und tropischer war, und Mittagessen, wenn man es denn so nennen will, solch ein zweifelhaftes Hackfleisch jedenfalls habe ich sonst nirgendwo gegessen. Ich war noch müde, weil ich mich am Vorabend dazu überwunden habe, das Fußballspiel gegen Frankreich zu sehen, als wir nach einem gemeinsamen Abend noch die Fans an die in den K.O.-Spielen immer ein Public Viewing ausrichtende Deutsche Botschaft geleiteten. Eigentlich erfolgte der Eintritt auf Einladung, einige Plätze wurden via Facebook verteilt. Ich war eingeladen gewesen, hatte aber guten Gewissens nicht zugesagt, nun stand aber am Einlass eine mir bekannte Dame, und da war es dann plötzlich schwer, nicht doch noch, als VIP sozusagen, auf das großzügige Gelände zu schlüpfen, nicht ohne vorher eine Deutschlandfahne von einem weiteren Bekannten auf die Wange geschminkt zu bekommen, der an jeden Besucher zwei Gutscheine für wahlweise Bier oder Würstchen aushändigte. Der Botschafter hielt eine Rede, kurz vor Anpfiff, und kurz bevor wir noch hingeschlüpft waren, aber nicht gewohntermaßen in Anzug und Krawatte, sondern tatsächlich einem Deutschland-T-Shirt, das seinen Bauch viel schöner in Szene setzte als das offizielle Dress. Nein, er ist ein sehr netter und guter Mensch, unser Herr Botschafter. Man traf auf jede Menge bekannte Gesichter, eine Fraktion von der französischen Botschaft und ihren Landsmännern sorgte für den erheiternden Gegenpart zu jenem Gejohle, das sich immer dann los trat, wenn ein deutscher Spieler den Ball auch nur mit der Zehenspitze berührte. Ich entschied mich selbstverständlich zunächst, von meinem Gutschein zwecks alkoholischer Abendführung Gebrauch zu machen, der ganze Zirkus um Fußball, vor allem das Gegröle der einschlägigen Fans ist mir furchtbar fremd, aber mit ein bisschen Alkohol ganz amüsant zu tragen. Wobei ich natürlich im Blick behielt, dass der morgige Tag um sechs Uhr mit dem Wecker beginnen würde und ich sowieso wenig Zeit zum Schlafen hätte, auf dem Fakt aufbauend, dass der gemeinsame Abend schon zu zwei oder drei Bier geführt hatte. Daher tauschte ich bei fortgeschrittenem Spiel meinen zweiten Coupon gegen ein Würstchen, ungeduldig (und ein bisschen hungrig) ein nicht ganz durchgebratenes, der Meister am Grill suchte mir noch das Schönste heraus und am nächsten Morgen wachte ich mit ziehenden Bauchschmerzen auf, und zwar noch vor Sechs Uhr. Es ist aber unglaublich, wie schnell in diesen Zeiten der Himmel wieder hell wird. Insgesamt waren mir vier Stunden vergönnt, immerhin, denn es gab keine Nachspielzeit. Auch das Spiel gegen Italien am Samstag zuvor hatte ich gesehen, in kleinerer Runde in irgendeiner riesigen, bis auf Couch und Fernseher in einem der acht Zimmer leerer Wohnung im obersten Stock an einem wunderbar friedlichen Innenhof, die selbst einem Bassisten gehörte, der als einziger unter uns vier für Italien kämpfte, und das meine ich wortwörtlich: Am Ende stand er mit nacktem Oberkörper vor dem Bildschirm und zitterte förmlich nach der Niederlage. Wie gesagt, ich nehme Fußball nicht so ernst, noch dazu nahm mein Hirn durch den Alkohol eine Abkürzung und schaute wahrscheinlich nicht so genau hin, denn ich war ein bisschen erstaunt, als alle von einem solchen Nervenkiller sprachen. Ich schiebe die Schuld mal auf den vietnamesischen Bananenrum, der natürlich nicht das erste Getränk des Abends war, und den der Italien-Fan nur mit den Worten kommentierte: Schmeckt tatsächlich nach Banane. Das tat es, und zwar in einem Maße, dass ich morgens mit einem Bananengeschmack im trockenen Mund aufwachte, einer gruseligen Erinnerung an diese Flasche, wo tatsächlich kein einziges Wort in mir bekannten Schriftzeichen zu lesen war. Bilder von Bananen waren drauf.
Also weckte man mich, wir waren in den Bergen angekommen, wo, wusste ich auch erst, als ich die Augen aufschlug. Es handelte sich um ein Kinderferienlager, erinnerte im Ganzen aber eher an eine Zeit, die ich nur aus Filmen und Büchern usw. kenne, an Pioniere, rote Halstücher, so was. Zerknittert fragte ich zuerst nach einer Toilette, machte mich, so gut es auf diesen Dreckslöchern ging, frisch, und folgte den anderen den Weg hinunter zu mehreren Pavillons, wo die Sprachgruppen saßen und uns erwarteten. Der Lagerkommandant – man stellte ihn mir als Начальник лагеря vor, ein Terminus, der nicht anders für die Leiter der GULags gebraucht worden ist – kommentierte das Ganze nur mit den substanzlosen Worten: Ein gutes Lager. Als wollte er sagen: kein GULag. Mich begleitete eine usbekische Deutschlehrerin, und wir wurden bei Eintritt in den Pavillon klar mit einem dreisprachigen „Guten Morgen“ begrüßt, wozu die Zöglinge ruckartig aufstanden und sich nicht eher setzten, als die Lehrerin es ihnen erlaubte. Auch, wenn uns in Begleitung des Natschalniks eine Schülergruppe den Weg kreuzte, fingen sich unter hektischem Zeichen der Lehrerin an, uns eine einstimmige Begrüßung entgegen zu schmettern. Ein gutes Lager halt. Das ansonsten aber sehr grün und bunt war, zwei natürliche Wasserquellen aufweisen konnte und in wunderbarer Lage in den Bergen lag, die ganze Gegend ist ganz wundervoll und trägt hier den Titel „Usbekische Schweiz“, was sich schon wieder wie eine Parodie anhört. Die Schüler waren hier wohl schon eine Woche, und je nach Gebrauch fuhren die Lehrer jeden Morgen ins Lager und verbrachten so viel Zeit vor Ort, wie nötig. Ich war müde, naturgemäß, und wusste nicht so viel mit diesen Sieben- und Achtklässlern anzufangen, also dirigierte ich ein paar Namensspielchen im Kreis, dann war eine Stunde herum. Leider sind die usbekischen Schüler betont begriffsstutzig, ganz abgesehen von dem zweifelhaften sprachlichen Niveau einiger – andere hingegen haben geradezu perfekt geredet für ihr Alter, da ist mein Russisch keinen Deut besser – also muss man den meisten alles dreimal erklären, und selbst wenn es 27 vor ihm richtig gemacht haben, wovon man sieben Leuten noch einmal erklären muss, worum es geht, in drei Sprachen, kann es sein, dass der Letzte völlig verständnislos und stumm da steht und sogar überrascht scheint, dass er jetzt an der Reihe ist. So etwas gibt es sicher auch in Deutschland, hier beziehe ich alles sofort auf die Diktatur, in welcher die Bürger so blöd wie möglich gehalten werden, ja keine Bücher lesen oder so. Umso mehr fallen die auf, die clever und scharfsinnig sind. Nach diesen für meinen Begriff erfolglosen Spielen machte ich es mir einfach und teilte in fünf Gruppen auf, die mir jeweils drei Fragen zu Deutschland stellen sollten, und meistens waren das uninteressante, die mich jeder zweite Taxifahrer fragt, oder solche zu Geografie, die ich erstaunt beantwortete, so gut ich konnte. Erzählte noch ein wenig über das deutsche Schul- und Studiensystem, verabschiedete mich mit einigen Geschenken, die mir das Goethe-Institut mitgegeben hatte (Merchandising-Artikel) und verschwand nach der üblichen Welle an Fotos, sogar ein Autogramm musste ich denen geben, die einen Goethe-Notizblock erhalten hatten. Schade nur, dass meines so hässlich ist. Das Essen glich, ich erwähnte es, üblem Kantinenfraß, im Hack waren wohl sämtliche Teile des Tieres verarbeitet worden, ein wenig schimmerte es auch noch rötlich, die Soße war verkocht und ach, naja, Hauptsache, es gibt etwas zu essen, wovon ich keinen Durchfall bekomme. Was Fleisch angeht, bin ich wohl recht resistent, ich esse hin und wieder auf dem Basar diese frittierten Teigtaschen mit Innereien für zehn Cent pro Stück, wenn ich das erwähne, gucken mich einige immer ganz perplex an, aber diese Schrottigkeit hat etwas, das mir gefällt. Der Natschalnik führte uns nach dem Essen über das ausgedehnte Gelände mit Blick auf die Gipfel, selbst auf ca. 1000 Meter oder ein paar hundert Meter höher, und zeigte uns u.a. den Swimmingpool, an dessen Becken ein, wie er sagte, Weltmeister in irgendeiner seltsamen Sportart dick auf einem Sonnenstuhl lag, oder den Sportplatz, der unglücklicherweise gerade gewässert wurde, sodass wir den Matschpfützen ausweichen mussten, aber immer mit dem wunderbaren Blick auf die Berge und einer wahnsinnig schönen Luft, die die Lungen mit Kraft und Leichtigkeit füllt. Am Ende des Tages war ich zwar erschöpft und schlief lange, aber ich merkte, wie mir dieser Tag in den Bergen Schwung gegeben hatte, und Lust, die ich vorher im Zuge einer zunehmenden Entschwindung des Geistes nach Deutschland vermisst hatte, wie gut mir, in einem Wort, die Bergluft getan hatte, denn das wird es wohl gewesen sein, sechs Stunden unter freiem Himmel. Denn nun führten uns die Verantwortlichen auf einen Spaziergang, fuhren uns mit dem Bus zu einem wuseligen Parkplatz, von wo aus der Weg zum Gipfel führte. Die meisten der Lehrerinnen blieben im oder am Bus, es gab hier genügend Zerstreuungen – motorisierte Karts warteten darauf, dass jemand auf diesem Riesenspielzeug herumgefahren werden wollte, Männer kamen auf mich zu, ihr Pferd am Zügel und fragten, ob ich reiten wolle, eine Choyxona war schmal besucht und eiferte um Gäste – wir waren ja mit sieben, acht Personen immer noch eine große Gruppe – aber uns führte die Straße durch ein rostiges Drehkreuz nach oben, und der Natschalnik zeigte auf die von hier aus zu sehende Bergspitze, hinter der sich, oben angekommen, noch weitere, höhere Gipfel zeigen sollten – dahin wollten wir. Und als ich schon dachte, immerhin waren anderthalb Stunden eingeplant, sie dachten daran zu laufen, wurde ich schon enttäuscht. Der Usbeke ist kein Läufer, das beweist sich vielerorten, auch hier. Eine alte, abenteuerliche Sesselliftvorrichtung lief mit Rucken und Zucken, dennoch beflissen und beförderte Gäste für 10.000 Sum hoch – an der Tafel las man, auf knapp 2100 Meter – und wieder hinunter, sicher kein schlechtes Geschäft. Die Sessel am Lift waren aus gutem, sowjetischen, grün gestrichenen Eisen, das Seil hing deutlich durch, als unsere Gruppe vier oder fünf Doppelsessel hintereinander beanspruchten, aber wir kamen heil oben an. Als Sicherheit diente nur eine Stange, die man sich über den Schoß legte und im Zweifelsfall sicher wieder weg geflogen wäre, man kuschelte sich also weit nach hinten und genoss den Ausblick. Irgendwo las ich über diesen Lift, er sei die ultimative Kur für Schwindelkranke, Schocktherapie. Oben ein hübscher Blick, oder einige, nicht viel mehr, in einem Land, in dem die Erde sonst so platt ist wie bei uns in Leipzig, aber das höchste der Gefühle, und jetzt auch für mich Luftgenießer eine willkommene Abwechslung zur dumpfen Großstadt, darum geht es ja. Die Aussicht ist also nicht weiter beschreibenswert, hübsch war sie eben. Von der aufgeschütteten Ebene, auf denen die gelbrostige Gipfelstation und ein Tisch mit Wasser und Snacks zum Verkauf standen, führte ein Weg über einen mäßig schmalen Grat zu… ja, dem Felsen, der den Weg begrenzte. Am rechts gespannten Zaun ebenso wie an einem Baum, der links am Hang wuchs und den Blick erheblich bereicherte, ebenso wie an der Absperrung am Fels, die sagte, hier nicht weiter, waren Tücher geknotet, wie ich sie z.B. in Termiz gesehen hatte, Wunschtücher, und die Menschen glauben daran, dass ihre so geknoteten Wünsche wahr werden, ein hübscher Glaube, der dem Ort außer Luft und netter Aussicht noch einen interessanten touch gibt. Für mich war sowieso der Sessellift das Spannendste, und ich freute mich, als wir alle wieder herunterfuhren. Lange waren wir dort gewesen, auch ich genoss die Weite, die es sonst nur in den Hauptadern Taschkents gibt, und die wunderbare Luft, so frei von Gasgeruch und der Wind, der kühl durch die Kleidung fährt, und trotzdem steht man lieber im Schatten. Die Lust an der Hitze sollte ich dann am folgenden Tag erleben. Als wir abwärts fuhren, freute ich mich schon und dachte, wir wären früher fertig als geplant, weil ich einer der Shum-Bola-Volontärinnen versprochen hatte, zu ihrem Geburtstag zu kommen, und gerne noch ein Stündchen geschlafen hätte, aber es sollte natürlich anders kommen, genauer gesagt, zum Wodka sollte es kommen. Unten angekommen, setzten wir uns in den Schatten auf eine Wiese, wir, das waren jetzt meine Betreuerin-Deutschlehrerin, eine Lehrerin für Russisch und die junge für Englisch, der Natschalnik, ein Ministeriumsmitarbeiter, der das ganze Camp organisiert hatte und ein beleibter Mann, der irgendwie mit einem Fotografen von der Presse kam, mit dem er oben albern herumgespielt und lauter sinnfremde Fotos gemacht hatte, sein Partner schien auf dem Weg verloren gegangen zu sein. Jener Ministeriumsmitarbeiter übrigens, der mit uns im Bus die Strecke von Taschkent gefahren war, kam mir von Beginn an vor wie eine aus der Zeit gefallene Entsprechung des sowjetischen Mannes. Ich habe einige Schauspieler im Kopf, andere Sportler, Politiker, Künstler, und irgendwie alles an ihm erinnerte mich an diese alten Aufnahmen, vor allem aber sein Gesicht und seine Sprache schienen mir wie aus der Zeit gefallen und ich wunderte mich den ganzen Tag über, wie dieser Mensch so aussehen kann, als würde er in einer sowjetischen Komödie der Sechzigerjahre mitspielen. Er hatte nun das Picknick organisiert, schön sowjetische Wurst in Weißbrötchen in Plastiktüten aus alten Turnsäcken, und den Wodka, der aus Andijan kam, ein Liter, genug für uns, zumal die Frauen aus Standesgründen weniger tranken als die Männer und ich – leider Gottes – zählte zu den Männern. Ein paar Tage später erfuhr ich zufällig, dass der Konsum von Alkohol (und Zigaretten) in Usbekistan gesetzlich ab 21 Jahren erlaubt ist und wunderte mich ein wenig, dass ich das ganze Jahr über unbehelligt diese Güter erwerben und trinken konnte, und nicht nur ich, sondern auch andere, jüngere. Von solchen Gesetzen, an die sich niemand hält, scheint’s nicht nur eines zu geben, Thema Anschnallpflicht, Blinken, und einige Kuriositäten, die einem zu Gehör kommen. Zu Ende der Pause war der Natschalnik schon angetrunken und erzählte mir auf dem Weg nach unten, er besäße einen Club in Sergeli, dem äußersten und südlichsten Bezirk Taschkents, der mit dem „Festland“ nur über eine große Kreuzung verbunden ist, in dem Striptease getanzt würde, „конкретный“, sagte er, und wollte meine Nummer haben, mich anrufen, weil er dann und dann in Taschkent sei und mir den Ort zeigen wolle. Ich gab ihm die Nummer, er rief nicht an. So wie eben die siebzehn Male zuvor, dass ich Usbeken (meist betrunkenen) meine Nummer gegeben hatte. Auf der Busfahrt schlief ich, vom Alkohol begünstigt – so schlecht war das gar nicht – zwar unruhig und heiß, aber immerhin bei glühend rotem Sonnenuntergang vor den Scheiben und Dämmerung, als ich auf dem Weg ausstieg und für 2000 Sum ein Taxi nach Hause nahm.
Blecherne Lautsprecherdurchsagen im Lager
Auf die einstimmige Begrüßung der Kinder bei Entgegenkommen des Natschalnik und Gästen des Lagers wendet sich ersterer zu mir: „Классно, да?“ („Cool, oder?“).
Alle loben den Ort, die mitfahrenden Lehrerinnen inbegriffen, und ich weiß nicht, ist es aus Höflichkeit, denn sie loben auch das Essen, das nun unter aller Sau war. So funktioniert Diktatur, irgendwie sind alle geblendet.
Dieses Lager kostet pro Woche so viel wie ein Deutschkurs des Goethe-Instituts im Trimester.
Wie gesagt, wollte mich eine der Volontärinnen noch bei ihrer Party begrüßen, die ihre Eltern ihr gegenüber erst am Tag vorher angekündigt hatten, daher hatte sie schnell ein paar Freunde zusammen gekratzt. Am Ende war ich auch froh, dass die Familie aus Non-Alkoholikern besteht, den Toast habe ich trotzdem auf Russisch ausgebracht, das geht inzwischen schon ganz gut, auch wenn ich mehr als nur zwei Sätze sage. Das Anstoßen ist ja hier immer mit Reden verbunden, und dann wurde es, der Abend verlief sehr friedlich und hübsch, halb Zwölf, als wir gingen.
Ich war froh über den Schlaf auf den Busfahrten, denn mein Vorhaben bestand, am Samstag nun auf den Quylik zu fahren, und dafür soll man nicht zu spät aufstehen. Schließlich schaffte mich irgendwann zwischen Neun und Zehn die Hitze aus dem Bett, besonders, wenn ich spät nach Hause komme, ohne abends die Fenster zwei Stunden offen zu halten oder drei Stunden die Klimaanlage an hatte, ist es morgens sehr früh schon unerträglich. Mein Zimmer ist mit Abstand das heißeste der Wohnung und dagegen hilft nichts als unermüdliches Lüften, Wind, Luftbewegung. Wenn ich mich abends hinlege, ist das Kissen, das Laken, die Decke so aufgewärmt, dass es mir wie eine Wärmflasche ist, die plötzlich den ganzen Körper umfängt. Wenn ich zwei Fenster offen habe, komme ich nicht umhin, mir gelegentlich die vom Durchzug gekühlten Beine zuzudecken und wache dann auf, wenn sie schweißnass sind. Wenn nur ein Fenster – das meines Zimmers – offen steht, ist es ab Zehn nicht mehr auszuhalten, und das meine ich wortwörtlich. Mein T-Shirt ist zu beliebiger Tageszeit in meinem Schlafzimmer, am Schreibtisch oder beim Fegen, nach zehn Minuten durchnässt. Lange kann ich mich nie darin aufhalten, und deshalb gelingt es mir in diesen Tagen für gewöhnlich nicht, vor zwölf Uhr ins Bett zu gehen, denn erst um halb Elf beginnt der Durchzug, die Kühle, und ich lasse ihn ein wenig wirken, während ich schreibe, am Computer lese oder einen Film schaue… Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, welche Temperatur ein Thermometer anzeigen würde. Google spricht meist von 40 bis 43 Grad zum Hitzehöhepunkt, der gegen vier Uhr nachmittags eintrifft, aber ich glaube, die Stadt ist heißer. Diese weiten Flächen Asphalt, die Häuser, die Autos – die gemessene Lufttemperatur bezieht sich ja auf Stationen, die außerhalb des Verkehrs liegen, wenn ich stehen bleibe an der Ampel ohne Schatten einer großen Kreuzung, brennen meine Füße, als steckte ich in Stiefeln, dabei laufe ich barfuß in Sandalen, und ich beginne zu schwitzen. Bewegung ist gut, denn sie schafft Gegenwind. 29 Grad sollen es morgens um Neun sein, wenn ich aus dem Haus gehe, sagt Google, in Wahrheit aber war ich an den schlimmsten Tagen der Woche durchnässt, bevor ich auch nur die Metro erreicht hatte. Metro ist bei dem Wetter besser als Busfahren, nachmittags will ich es gar nicht versuchen, schon morgens ist es sehr unangenehm und die plötzliche Nähe zu all den schwitzenden Fahrgästen hat etwas von Nacktheit, das mir nicht gefällt. Jetzt, zum Glück, besteht keine Notwendigkeit mehr, Bus zu fahren – weil die Arbeit vorbei ist.
An jenem Samstag wollte ich also nach Quylik, jenem quirligen Basar, den ich im Herbst zweimal besucht hatte, der nicht nur als der günstigste, sondern auch lebendigste Lebensmittelbasar der Stadt gilt, zurecht. Ach, welches Treiben! Ich hatte ein Taxi nehmen müssen, weil die Marschrutka vor meinem Haus schon zu voll war, und auf dem Weg bereute ich, nicht öfter hergekommen zu sein, so wie ich bei jedem Yangiobod-Besuch denke, hierher müsste ich häufiger kommen.
Stapel/Haufen/Lager an Tomaten, Gurken, Pfirsichen, Äpfeln, Melonen und Aprikosen in verschiedensten Formen, Pflaumen, Karotten, Auberginen, Karfiol und Paprika, Knoblauch, Zwiebeln und …
Frauen in ihren bunten Kleidern, fröhliche Muster, knöchellange Gewänder
Überall der Geruch von Brot, süßen Melonen, süßlicher Pfeffer, nach Tomaten, auch der strenge Geruch in der Halle nach Schweiß, alten Kleidern, Gewürzen und Weihrauch, der stechende Geruch neben den sanitären Anlagen
Immer wieder auch Miliz, sie sind paranoider geworden, seit Istanbul wahrscheinlich
Fleisch – Ochsenfüße, Leber, Pferdewürste, Zungen, gefüllte Därme und unidentifizierbares, wolliges Zeug zwischen Knorpel und Fett
Ich bin zu scheu zum Filmen, habe Angst, dass jemand zuschaut, dem das nicht gefallen könnte, der mich anspricht – ich will keinen Ärger.
Als ich auf einem Zaunpfosten sitzend mich ausruhe, schauen mich die Passanten kritisch an, lungern kann man zuhause. Der Basar ist ein Platz der Arbeit und des elenden Alltags, ich als Zuschauer kann ihn genießen, als fremd und unnahbar, aber für all diese Leute bedeutet er mehr als das. Sie verstehen für gewöhnlich nicht, wenn ich erzähle, mir gefielen diese Märkte – Quylik, Yangiobod, Ippodrom. Weil es für sie nur Stress bedeutet, kein Erlebnis des Fremden ist.
Und ich ging, irgendwie wunderbar aufgelöst in der Hitze, völlig im Einklang mit all dem Chaos um mich und dem Schweiß auf meiner Stirn – jemand hatte einmal zu mir gesagt, Thema schreckliche Hitze, man gewöhne sich auch nicht daran. Aber in jenem Moment, als ich durch die brennende Sonne zwischen den rennenden Menschen hin- und her wankte, genoss ich sie, nicht masochistisch selbstzerstörerisch, sondern weil die Schauer, die sie mir über den Rücken jagt bei Überkörpertemperatur, genauso schön waren wie Kälteschauer oder der Regen, wenn man ihn will, wie er die Haut benetzt, durch das lächerliche T-Shirt hindurch. Und zurück hatte ich die Nerven, mit einer Marschrutka zu fahren, heiß, die Tüten zu meinen Füßen, als gäbe es kein anderes Leben auf der Welt.
Aber das gibt es, und davon kündet der Abschied, dem man sich langsam ergeben muss. Die letzten Arbeitstage war ich kaum am Arbeiten. Es fiel mir schwer, diesen Platz mit dem hellen, breiten Schreibtisch, dem klimatisierten Zimmer und der tollen Lage im Institut aufzugeben, an dem ich so gerne gearbeitet, gelesen und geschrieben habe. Die ganze Etage war so beseelt und schön, am schönsten in der Mittagszeit oder abends oder morgens, wenn es ganz still war und man sich ganz auf die Tasten oder Zeilen geben konnte. Einige Berichte galt es noch, zusammenzustellen, aber das gelang im Endeffekt problemlos schnell, dann räumte ich den Computer von persönlichen Dateien frei, löschte meine Chronik im Internet, sortierte tatsächlich meinen gesamten Mailverkehr aus dem Jahr, der im Posteingang liegen geblieben war und löschte alle gesendeten Elemente, dann schloss ich alle Fenster und fuhr den Computer nicht ohne Seufzer ein letztes Mal herunter. Ebenso schwierig war es, von den Leuten Abschied zu nehmen, Mann für Mann die Hand zu schütteln, von Mal zu Mal schwerer, weil ein Abschied Wiedersehen heißt, aber viele Abschiede nicht. Nun, darüber kann man hinweg sehen, wenn man beinahe in Deutschland ist, denn dann – tatsächlich – hat man den Zauber des Neubeginns schon in der Brust, die nicht so sehr vom Schwermut des Verlassens gefüllt sein kann.
Ein letzter langer Abend mit dem verrückten, nonkonformistischen Farid:
Ich war gerade losgelaufen, auf Geratewohl, zur Not, falls Farid nicht mehr anruft, dachte ich, eben einfach ein Spaziergang oder ein einsamer Besuch im Bardak. Dann rief er natürlich doch an, und wir trafen uns jeweils nach langen Spaziergängen aus unterschiedlichen Richtungen bei Hamid Olimjon, zwei riesige Straßen, die sich als Brücke und Unterführung neben den gewaltigen Hochhausblöcken treffen, welche zu beiden Seiten im Viertelkreis wie Wachtürme die Stadtausfahrt beobachten. Diese sowjetischen Klötze von 17 Stockwerken haben etwas Gewaltiges, und werden anscheinend hip, denn ein, zwei westliche, offensichtlich neue Cafés stehen hier herum, wo wir uns treffen. Gleich nebenan ist sein Büro, wir trinken, er zeigt mir etwas Musik, er muss in die Elvis-Bar, um jemandem etwas zurückzugeben, ich komme mit. Dort treffen wir auf seine Freundin Juna, bleiben aber nicht lange, weil der Abend so spät erst begonnen hatte, ist es trotzdem schon nach ein Uhr, und wir machen uns in eine beliebige Richtung auf. Da mussten die beiden noch einmal zurück, hatten einen Beutel Klamotten in der Bar vergessen, und ich wartete solange auf sie, an den Zaun gelehnt, gegenüber einer „Dental Clinic“. Als sie wieder auftauchten, gingen wir ein paar Schritte, diskutierten, wohin nun, einigten uns auf einen Ort, da stürzte wie aus dem Nichts ein Ast der mächtigen Platanen über unseren Köpfen auf eben jene Stelle am Zaun vor der „Dental Clinic“, an der ich vor wenigen Minuten auf die beiden gewartet hatte. Das war in der Tat etwas gruselig, aber es sollte weder ein böses Omen für die Nacht gewesen sein, noch ein größerer Schock. Wir spazierten wenige hundert Meter, da meinte Farid, wir sollten uns ein Taxi nehmen, aber der Mond fesselte uns, der gelb über den Bäumen hing, ganz tief, und nur nach Minuten war er verschwunden. Wir standen vor einer Brücke über den Kanal und Farid erzählte, er sei früher dort unten Kajak gefahren. Es gab eine Treppe zum Ufer, das noch eine hüfthohe Mauer vom Wasser trennte, das hier rann und in Stromschnellen sprudelte, ein Parkour von Stangen war mittels über den Strom gespannten Seilen aufgebaut, und er erzählte uns, wie er vor sieben Jahren hier das letzte Mal gewesen war, mit 19, als er dann mit dem Rafting aufgehört hatte. Wir setzten uns auf zwei große Blöcke an der Brandung, genossen den Blick, die Kühle des Wassers (denn auch nachts ist es heiß), und so blieben wir eine Weile, mit unserem in schwarzen Plastiktüten verhüllten Bier an dem sprengenden Fluss, unterhielten uns über Rimbaud, ich erzählte von Celan, Juna von Puschkin, Farid von seiner Jugend. Als wir aufstanden und gingen, kam Farid wieder eine Idee, er erzählte von Somsa ab vier Uhr morgens, und weil alles so tief friedlich ist in der Nacht, stimmte ich zu.
Wir gingen durch den kleinen Wald vor der K.T.Comba, liefen eine Trepe links hinab, zu einem am Fluss entlang führenden Weg, wie Plagwitz vor 15 Jahren ausgesehen haben muss. Rechts erhoben sich festungsartig die beleuchteten, mehrfach gesicherten Mauern des Präsidentenkomplexes, seiner Privatwohnstätte (Maison) in Taschkent. Wie wir so liefen, tauchte vor uns ein achtstufiger, künstlicher Wasserfall auf, der vielleicht irgendwohin Energie liefert. Rechts führte ein schmales Treppchen nach oben, auf deren oberen Absätzen wir uns niederließen. Wie in Stalkers Zone oder dem Mauerstreifen fühlte sich das an – hinter uns eine Sicherheitszone, alles leer, beleuchtet, dann wilde Natur, auf der anderen Seite erhob sich ein wunderliches Bild mit einem, zwei hell gestrichenen Häuschen, eines mit Licht über der Tür, inmitten eines Hains von schmalen Birken, hier eine Stahlbrücke mit Schranke, das Geländer schwarz-weiß verblichen wie auch gegenüber die verwachsenen Steinstufen hinunter, über dem angelaufenen Beton, dort Wildnis und das Rauschen des Flusses, ein Bild so friedvoll, dass ich mich gar nicht satt sehen konnte und am liebsten noch einmal mit Fotoapparat gekommen wäre. Aber die Paranoia bringt mich davon ab.
Wir verließen das Gelände rasch in einen Wohndistrikt, fanden irgendwann in den leeren, weiten Straßen ein Taxi, kamen um halb Fünf am Chorsu-Basar an, Westseite. Dort bauten sie gerade den Morgenbasar auf, den man ja sonst vor lauter Schlaf nicht sieht, den wir, weil das Somsa noch länger nicht fertig sein würde, kurz besichtigten. Kistenweise Obst stapelte sich hier – Pfirsiche, Pflaumen, Weintrauben, Nektarinen, Aprikosen – die Verkäufer saßen auf dem Heck ihrer Ladas, verkauften aus den offenen Kofferräumen ihrer Damas oder stapelten die Kisten in hohen Reihen vor den Maschinen. Dazwischen Auberginen und Tomaten, rechts ging es weiter mit Gemüse, Kartoffeln, Zwiebeln und Knoblauch. Hier werden hauptsächlich große Mengen verkauft, in Kilogramm kann man weniges erwerben. Dafür ist es natürlich günstiger. Am Gemüse herrschte noch das Chaos des Aufbaus. Kleine Damas und Händler mit voll beladenen Pferdewagen schoben sich durch die Menge, Reifen und Füße immer handbreit nebeneinander. Rücksichtslos drängten sich die Menschen an all den Ladungen, Zwiebeln, Kartoffeln, vorbei, immer Wange an Wange mit den Autos oder Karren, die als Anhänger für Autos genutzt und hier von jungen Männern gezogen werden, deren Rufe, Platz, Platz, über den Markt schallten. Rechts parkten Lieferwagen, meist auch mit Kartoffeln, Zwiebeln, teilweise Reis, Karotten oder Eiern, und einer musste tatsächlich noch einparken in dem Gewirr, ein sechs Meter langer, wie es schien, Milchwagen. Der Faszination dieses Markttreibens erliegt man völlig, und auch hierhin wäre ich liebend gerne mit Kamera zurückgekommen. Dann sind wir durch den großen Ark auf das eigentlichen Basarareal gelangt, vor uns die gigantische Domkuppel, unter deren grünlich schimmerndem Blau das ganze Fleisch verkauft wird, emsig sahen wir durch die Dämmerung in den beleuchteten Fenstern die Menschen machen und bereiten. Sonst bauten alle Händler erst auf, und an einer Stelle standen zwei mit ihren Kesseln und bereiteten Plov vor. Der eine langte mit einem riesigen Schieber das in schäumendem Öl kochende Fleisch, das in drei Holzkisten gebracht worden war. Im anderen Kessel blubberten die Karotten, daneben standen ein riesiger Sack Reis und eine Tüten Kichererbsen, die der zweite Händler dabei war, in eine gelbe Plastikschüssel zu schütten – sie waren durchweicht, wie man sie fertig auf dem Basar bekommt, also in 1 bis 2 Stunden Kochzeit zu garen. Zwei Kanister Öl standen beiseite, die wohl je drei Liter gefasst haben müssen, in dem einen war noch ein Drittel übrig geblieben. Das Fleisch stand unter beständigem Feuer, wozu der Zweite immer wieder Holz nachschob – die Kisten, in denen das Fleisch gelagert wurde, die er mit seinen sandalbeschuhten Füßen zersplitterte und die einzelnen Scheite in die Flammen unter den Kessel warf, die sofort gierig aufloderten. Die Hitze des Feuers drang über zu uns und wir beschlossen, zurück zum Somsa zu wandern, das direkt gegenüber des inzwischen aufgebauten, quirligen Morgenbasars lag. Die Händler riefen ihre Waren aus, wir nahmen den Weg über die Straße, wo uns andere begegneten, die aus dem Kofferraum ihres kleinen Lieferwagens ganze, geschorene und gesäuberte Schafe, zum Zerkleinern bereit, hoben und in metallene Einkaufswagen warfen, wobei die Beine mit den abgetrennten Füßen immer wie Gummi schlackerten. Nur dort, wo der Kopf gewesen war, sah man das Rot verblichenen Lebens. Nebenan luden wieder andere aus ihrem Damas unzählige Hühnchen, verkaufsfertig in schwarzen Plastiktüten, auf einen der großen Pferdewagen, direkt neben dem geruchsintensiven Abfall, welcher sich schon nicht nur auf den Container beschränkte, sondern im Umkreis von einigem Metern darum herum lag. Hier begann eine Arkade, unter der sich wohl normalerweise drei oder vier Somsabuden öffneten, heute aber war Samstag und nur einer hatte geöffnet. Die Teigtaschen aus dem Tandirofen waren immer noch nicht fertig, aber wir bekamen schon Tee, setzten uns und ließen unsere Müdigkeit spielen. Der grüne Tee – lose Blätter, wie ich sie auch zuhause habe – tat wunderbar gut, und als die Somsa endlich kamen, deren Hitze umso mehr. Der stämmige Usbeke rief nun alle paar Minuten seine heiße Ware aus, gegenüber begann der Basar zu brodeln und zu allem Überfluss hatten wir direkten Blick auf den Sonnenaufgang um ca. halb Sechs. Ich war schon vorher im Taxi halb zu Boden gesunken, und nun zog es mich wieder hinab, aber am Ende ist man ja doch immer schnell zuhause, selbst als Nachtwanderer, der um sechs Uhr heimkehrt. Ab neun Uhr wachte ich häufiger auf, verschwitzt – die Wohnung hatte während meiner Abwesenheit nicht viel an Hitze verloren – und nur der leichte Wind konnte kühlen, der Durchzug, weil ich nachts zwei Fenster offen ließ. Die Müdigkeit behielt mich an jenem Tag dennoch bis Drei im Bett.
Ein Grund meiner Usbekistanverdrossenheit:
Ich habe auch einfach genug davon, mit all den fremden Leuten zu reden, die wissen wollen, woher ich komme, wie ich heiße, wie es in Deutschland mit den Flüchtlingen läuft usw. Es sind Fragen, die mir so oft, ich weiß nicht wie oft, gestellt wurden, und jedem Taxifahrer, der schweigt, bin ich unendlich dankbar. Mit der Zeit gibt es nichts Anstrengenderes, als diese ewig gleichen Fragen zu beantworten.
Ein letztes Mal Yangiobod. Wie oft war ich dort? Sagen wir, aus Schönheit, neun Mal, obwohl es auch zehn oder elf gewesen sein könnten. Aber zehn ist eine glatte Zahl, langweilig mathematisch und steril, ein technisches Pensum – neun ist ungerade, widerstrebt der Ordnung und hat als Produkt aus Drei mal Drei eine heilige Trinität.
Geruch nach Schaf und Weihrauch
Ich habe Fotos gemacht und wurde erwischt, man ermahnte mich, der Typ war außer sich, siehe Nizza, Istanbul, überall, meinte er, wo viele Leute sind, sei das Fotografieren verboten – sie sind hier alle paranoid, und das macht mich ebenso ängstlich. Sie riefen den Начальник безопасности (Leiter der Sicherheit, wieder dieses alte Wort „Natschalnik“) – Väterlich nahm er mich an der Hand, über den Basar, ich hatte schon Angst, er würde mich zur Miliz bringen. Er wollte meine Daten aufschreiben, bis ich ihm gesagt habe, in einer Woche flöge ich ab und dies sei mein letztes Mal – dann ließ er mich laufen.
Später landete ich bei der Miliz, weil ich außen (!) Fotos gemacht hatte, der Natschalnik kam und schaute mich mitleidig an, Alisher musste meinen Pass – den ich nicht dabei hatte, blöderweise, ein gravierender Fehler – dorthin bringen.
Erkenntnis: Man muss eine gewisse Fähigkeit entwickeln, den Leuten zu sagen, was sie hören wollen über ihr Land, dabei naiv und klein spielen, dann werden sie eigentlich immer ganz nett, auch wenn ihre Machtposition tatsächlich Respekt bis Furcht einflößt.
Fragmente
Als ich mit einigen der Volontäre von „Shum bola“ unterwegs war, sah ich in den kleinen Sprinkleranlagen bei Oybek Regenbogen in den Wasserstrichen. Ich hatte mich mit drei von ihnen noch einmal getroffen, eingeladen waren alle. Sie sagen, eine Frau soll bis zum Ende ihres Lebens ästhetisch und schön aussehen, dass auf den Banknoten keine Schriftsteller zu sehen seien, weil die immer gegen die Autoritäten waren, und dass es Usbeken verboten ist, sich tätowieren zu lassen. Wovon maximal die Hälfte stimmt, bloß welche?
Bierentwicklung: „Sarbast“ von Carlsberg Uzbekistan war mir anfangs ein eklige Brühe, die ich nicht getrunken habe, am Ende ein völlig normaler Geschmack, so gewöhnt man sich an alles, selbst ans Bier.
Peter Herbst, der ZfA-Lehrer in Fergana, der nächstes Jahr nach Taschkent versetzt wird, sagte zu mir zum Abschied (nach meinem Friseurbesuch): Jetzt siehst du wieder aus wie Ende 20. In Fergana, meinte er, zu „Shum bola“, hätten ihn die Mädchen dann gefragt, wer denn der „ältere Herr mit dem Bart“ sei – Bärte gelten als Alterssymbol.
Ich habe noch einmal für diese Lehrerin Aufnahmen eingesprochen, für das Deutschlehrbuch, man erinnere sich an das erste Mal, das irgendwo beschrieben war. Das Gebäude war betitelt mit „Center (sic) of the Development of Multimedium (sic) General Education Programms (sic) under the Ministry of Public Education of the Republic of Uzbekistan“. Die Lehrerin aber schenkte mir zum Abschied ein riesiges Paket mit Nüssen, getrockneten Früchten, Süßem und Salzigem, usbekischen Spezialitäten, die ich aus Platzgründen nicht alle mitnehmen konnte.
Epigraph
Es gab noch bewegte letzte Tage, in denen ich viel unterwegs war und u.a. darum diesen Text nicht habe beenden können. Mit einer wenige Tage zuvor angereisten Deutschen war ich tatsächlich noch ein ALLERletztes Mal auf dem Yangiobod. Am selben Tag, als ich auf der Waage sah, dass mein Koffer noch ein paar Kilo Platz hatte, kaufte ich drei Bücher, die sich hervorragend in meine Sammlung einfügen. Den letzten usbekischen Abend habe ich, wie es sich gehört, teilweise im Bardak verbracht, damit die Stätten der Sehnsucht endlich bedient und fertig, voll gelebter letzter Tage, konnte ich abreisen. Sonntag um 22 Uhr war ich am Flughafen, viel zu früh, aber ich wollte nichts riskieren, unbedingt diesen Flug bekommen, unbedingt weg aus diesem Land, auch wenn ich noch den Begegnungen nachweinte, aber der Wille hinaus war stärker. Mein Koffer wog 30 Kilogramm, dazu einen aufzugebenden Rucksack mit sechs. Die PASCH-Abteilung hatte mir beim Abschied einen weiteren Rucksack geschenkt, so konnte ich mehr mitnehmen als geplant, hatte mehr Platz. In der letzten Woche hatte ich begonnen, alles wegzuschmeißen, was ich nicht partout brauche, um mit möglichst wenig Gewicht über die Grenze zu kommen. Den neuen Rucksack auf dem Rücken, meine Stofftasche „Halldór Laxness“ in der Hand, so lief ich zum Schalter, als der Flug aufgerufen wurde. Sie checkte mich bis Leipzig durch, und wieder meinte sie, den Rucksack könne ich doch mitnehmen. Beide. Sonst hätte ich Übergepäck zahlen müssen, damit hatte ich gerechnet, durfte das aber nur in Sum tun, hätte damit aus der Schlange treten müssen und an anderem Schalter zum staatlichen Kurs wechseln – das war es mir nicht wert und wieder – wie in Bischkek – nahm ich ein Teil mit ins Handgepäck, auf das Risiko hin, dass ich einiges daraus verlieren würde. An der Sicherheitskontrolle später suchten sie einen Flaschenöffner, den ich nicht drin hatte, nahmen meine angebotene Schere in Besitz und quängelten noch über Brotstempel, als typisches Souvenir ließ der nette Herr es aber durchgehen. Vorher Zollkontrolle, danach erst die Ausreise. Ich schwitze sowieso, hasse diese sogenannten Sicherheitsmaßnahmen, sie sind Folter für’s Gewissen, jeder hat Dreck an der Stange, wir suchen den Verbrecher. In einer meiner Taschen fanden sie Münzen, wollten sie sehen, und ich, völlig nervös, keine Ahnung, was sie meinen könnten, räume eine Tasche aus, nichts drin, bis ich in der anderen, oben liegend, mein Portemonnaie mit deutschen und türkischen Münzen sehe, erleichtert, sie sind zufrieden, Passkontrolle, ich darf ausreisen – raus, raus! Sitze nach der Kontrolle – Schuhe aus, alles aus, piept trotzdem, wieder die totale Nacktheit gegen eine willkürlich agierende Macht – elendig lange am Gate, hier gibt es nichts zu tun. Eine Bar gibt es, an die ich mich irgendwann setze, ein Paulaner Hefeweizen trinke und ein Wasser kaufe, und zwei Duty-Free-Shops, von denen einer geschlossen ist. Beim Aufruf erhebe ich mich, mein Herz springt, als ich durch die Ticketkontrolle geleitet werde und ins Flugzeug, Turkish Airlines, endlich wieder Europa! Nirgendwo sagt jemand was zu meinen zwei Gepäckstücken, obwohl doch überall steht: Eine Tasche plus ein persönliches item, ich habe zwei Rucksäcke und eine Tasche, aber bin heilfroh, dass niemand mich anspricht. Istanbul – fast neun Stunden Aufenthalt. Ich sitze, trinke, kaufe mir ein Buch, esse, lese nicht eine Seite, dafür blättere ich in Gorkis „Nachtasyl“, im Original, esse wieder und schlendere mit meinem schweren Gepäck durch die Duty-Free-Meilen, überall haben die Restaurant die gleiche Karte, die Schnitzel mit Kartoffelsalat schmecken aber gut und der sieben Jahre alte Rum auch, nur der Magen-Darm-Trakt ist vom Flug noch immer etwas deformiert, braucht lange, um sich zurecht zu biegen. Dann sitze ich lange am Gate, immer dieses zerreißende Warten zwischen den Welten, man ist nicht hier noch dort, und irgendwann das Boarding, ich sitze in der zweiten, letzten Maschine, schließe die Augen und bete nur noch, dass mein Gepäck auch angekommen ist. In Leipzig zögert die Dame an der Passkontrolle noch, mich mit meinem alten Foto durchzulassen, dann blättert sie, sieht das Visum für Usbekistan, murmelt ein unverständliches Achso und lässt mich passieren, wunderlich, dann mit Herzklopfen ewiges Warten auf das Gepäck, ist es angekommen? ja!, also am Zoll vorbei, der mit einer Familie beschäftigt ist, in die Arme meiner Familie.
Ich kann glücklich sein. Der letzter Akt von Widerstand gegen das Land ist geglückt, ich habe eine Ikone geschmuggelt, im Januar erworben, weder von usbekischer, türkischer, noch deutscher Seite beanstandet, ich habe sie. Ich habe mehreres verschwiegen. Auch, dass ein Europäer Ende Juni verprügelt worden ist vor seinem Haus, offensichtlich geplant. Vielleicht noch andere, kleine Dinge, letztendlich ist das Warum egal, ich will nur nicht unehrlich abtreten, so was darf nicht ungesagt bleiben, aber man soll sich auch nicht zu viele Gedanken darüber machen. Ich für meinen Teil bin da raus – und sollte ich zurück kehren, dann hoffentlich nicht für lange, denn so spannend (spannungsvoll) in allen Facetten Usbekistan auch ist, so sehr man den Rand des Blickfelds umschreiten, ermessen, erforschen kann, so weiß ich doch, wo meine Heimat liegt, und das ist Deutschland. Hier liegen die Natur, gesellschaftlichen Debatten, Geschichte und Kunst, mit denen ich mich befasse, die ich kenne, es wäre schwierig für mich, das Land für immer zu verlassen.
Das sage ich jetzt. Jetzt heißt ausruhen, entspannen, im Oktober beginnen die Studien, ein nächster großer Schritt – und von allen großen Schritten soll Usbekistan nur einer gewesen sein, damit kann man enden.