Abgeschossen

Es gab ein paar kühle Tage, seltsam, sagte man, im Juni. Jetzt sind es wieder über 30 Grad, die Chilla beginnt vielleicht, andere Dinge neigen sich ihrem Ende zu. Das Ilkhom hat Pause, ich war beim Saisonende dabei und melancholisch verzaubert, ich denke, ich sollte beim nächsten Mal davon berichten, ein letztes Mal Theater.

Die Arbeit ist angenehm geregelt, das letzte große Event, unser Sommerfest, ist vorbei – was für ein Aufwand, und ich habe mir in der einen Woche praktisch einen ganzen Arbeitstag gespart – für mich, freilich, gibt es kein Konto für Überstunden, dafür nehme ich mir den ganzen August frei, weil es so wenig für mich zu tun gäbe und ich lieber in Deutschland sein mag als hier, das Leben wird sehr anstrengend, und alles im Blick auf den nahen Abschied wird noch zäher, als es eigentlich schon ist. Sommerfest, sagte ich. Im Vorhinein war bereits klar, das würde alles ein bisschen kompliziert werden, weil knapp organisiert – Mitte Mai, als ich zum Team dazu stieß, gab es nur einen verwirrten Zeitplan von Anfang April, die Hälfte Fragezeichen, seitdem hatte sich niemand mehr um irgendetwas gekümmert. Ich saß also brav in den Meetings und ärgerte mich, dass niemand etwas tat, kümmerte mich um meinen Teil – Volontäre suchen, mit einer Lehrerin Liana das Programm erstellen – hatte noch mit einigen Nachwehen aus der Programmabteilung zu tun und kam deshalb sehr schleppend in den Vorbereitungsprozess hinein bzw. fragte mich nicht wirklich, was anderes könnte ich tun, sollte getan werden. Da sich diese Frage auch die anderen nicht zu stellen schienen, blieb man dann plötzlich allein, als die Leiterin der Sprachabteilung, de facto in dem Fall Projektleitung, eine Woche vor dem 17. Juni nach Moskau abreiste – zugegeben, zu ändern war das nicht – und erst am Tag vorher zurückkommen sollte. Am Montag fragte mich der Verwaltungsleiter, Felix, Ich will jetzt endlich wissen, was passiert da, was müssen wir von der Verwaltung machen? Als er am Nachmittag Zeit fand, ging ich mit ihm das gesamte Gelände ab, erst theoretisch, auf einem weißen Blatt Papier, dann praktisch in der heißen Nachmittagssonne. Um Sieben waren wir fertig und ich schuftete mit dem Hausmeister Zafar noch 1200 Halbliterwasserflaschen in den Keller, die uns Nestlé dankbarerweise nur vor die Tür gestellt hatte, weil sich niemand dafür zuständig befunden hatte, für einen Transport ins Haus zu sorgen. Schrieb noch ein paar Mails, dann war es Acht, und der Stresspegel gesetzt. In den nächsten zwei Tagen war ich also praktisch Ansprechpartner für die Verwaltung: Wo wie viele Tische/Stühle, Wer von der Technik, Hausmeister, Putzkräfte wird wann, wo gebraucht, Wie bringen wir das an, Wer ist dafür zuständig, wollte gleichzeitig die Listen und Einsatzpläne für die Volontäre fertig machen, traf mich leicht durcheinander mit ihnen, half den anderen Abteilungen, die bei keinem Treffen dabei gewesen waren, mit allgemeinen Informationen, besprach die organisatorischen Details mit den Kolleginnen der Sprachabteilung, als müsste ich auch das Catering abwinken, und dabei hatte ich keine Zeit mehr, meine Moderation auf der Bühne vorzubereiten. Glücklicherweise war ich hier nicht allein, sondern bekam eben diese Liana zur Seite gestellt, die sehr aktiv alles vorbereitete, sodass mir nur die Improvisation übrig blieb. Am Mittwoch hatte ich leider versprochen, um 18 Uhr das Plauderstündchen zu übernehmen und anschließend einen Teil des Pub Quiz‘, Donnerstag endlich fühlte ich mich elend, und musste andere durch Mitleid dazu bringen, dass sie mir Aufgaben abnahmen, sodass ich um sechs Uhr gehen konnte. Die Leiterin der Sprachabteilung brachte mir am Freitag irgendwelche natürlichen, heilenden Medikamente mit, sodass ich wenigstens durch die Gegend laufen und schauen konnte, ob die Vorbereitungen funktionierten. Wenigstens jetzt, so schien es, war alles in seinem Gange. Der Verwaltungsleiter flitzte umher, Liana machte sich für die Bühne bereit, die Leiterin der Sprachabteilung und ihre Kollegen übernahmen die Koordination von Catering und so gut es ging auch die der Volontäre, denn ich war müde, krank und weil ich mir am Abend zuvor beim Einsteigen in die Wanne das Knie aufgeschlagen hatte – so müde muss man einmal sein – humpelte ich leicht. Zum Glück war das Wetter wieder angenehm, Wolken zerrissen erst, als unser Fest bereits im Gange war und tauchten die Szenerie für einen Moment in Hitze, dann in goldgelben Lack und abends wurde es wenig kühl. Auf der Bühne improvisierte ich, nutzte die Vorlagen von Liana und schaffte es sogar, auf Deutsch und auf Russisch zu moderieren, woraufhin eine der anwesenden Volontärinnen von Shum Bola auf Facebook schrieb: Felix, dein Russisch ist schon fast perfect! Alles gut also, der Botschafter war anwesend und zufrieden, die Veranstaltungen außen und innen waren hervorragend besucht und die Präsentationen der Kursgruppen, die den Hauptbestandteil des Nachmittags bildeten, waren von einer teilweise großartigen Qualität, kreativer jedenfalls, als ich befürchtet hatte – in so einem Land, das Kreativität dogmatisch unterdrückt. Ich strauchelte also durch die Menge, konnte weder zum jungen Zauberkünstler, noch zur Modenschau, die jeweils zweimal im Veranstaltungssaal stattfanden, übersprang die Präsentation der Lehrer, und genoss dafür die Sonne, die Band, die Karaoke – naja – draußen. Später kam ich sogar etwas zur Ruhe und redete bei Grillhähnchen, Obst und Keksen mit Bekannten – auf Englisch. So etwas macht einen glücklich – wenn man, obwohl krank, auf drei Sprachen sprechen kann, dein Einsatz sich ausgezahlt hat und die Leute glücklich sind und sagen, so eine Party habe ich noch nie erlebt, das ist toll. Wir haben auch alkoholfreie Cocktails ausgegeben, aber davon habe ich ebenso wenig Gebrauch gemacht wie von dem Angebot mit dem Büchertausch von der Abteilung Information und Bibliothek oder des PASCH-Quiz‘ zum Goethe-Institut – nun, da ich bei der Erstellung der Fragen dabei gewesen bin, wäre das auch unfair gewesen. Ansonsten bediente ich mich an kaltem Kvas und Wasser und ließ das Ende auf mich zukommen, schon mit zitternden Beinen und keinem Kopf. Aufräumen. Was muss wohin – keine Ahnung. Am Ende bin ich so fertig wie lange nicht mehr. Ich habe 13 Stunden am Stück gearbeitet, bin eigentlich krank und sollte das durch mangelnde Aufmerksamkeit noch einige Tage mit mir herumtragen, obwohl die guten Medikamente noch für zwei weitere Tage reichten, in denen ich versuchte, ein wenig herunterzufahren.

Es war ein langes Wochenende. Das Sommerfest hat mich mitgenommen, die Hitze nimmt mich mit – der unruhige Schlaf, alles Fenster offen für ein bisschen Wind – und ich brauche Ruhe. Wenn ich eines daraus gelernt habe, dann das: Man muss frühzeitig Verantwortungen delegieren, sonst geht man unter. Während der letzten Woche haben mich alles gefragt, Felix, ist das so okay, Felix, wie machen wir das, und hinterher kamen Leute unaufgefordert zu mir und meinte, man habe gemerkt, dass ich eine Hauptrolle gespielt hätte, man bedankt sich, ich bin innerlich stolz, auch wenn ich das Gesicht des Missmuts trage. Als Trost für den Stress bekomme ich Lob aus allen Ecken und dieses rosa Hemd, das mir Liana für die Bühnenmoderation aus dem Projektbudget gekauft hat, plus eine Fliege, die ich aber aus berechtigten Zweifeln noch nicht anprobiert habe.

Flashback, Sonntag. Ich wollte nach langer Zeit wieder raus, in die Stadt eindringen und plane einen Trip zum Ippodrom – der Name klingt schon gewaltig, noch viel mehr, wenn man weiß, es ist ein Basar für Kleidung und Stoffe, hauptsächlich – und nicht nur ein Basar, sondern drei, die aneinander gepflanzt eine unglaublich riesige Fläche ausmachen, auf der die Stoffe in solch hundertfacher Ausführung verkauft werden, dass einem glatt schwindlig wird – das ist der echte Basar, und ich liebe es, mich davon ermüden zu lassen, denn müde wird man schnell auf diesen bebenden Leviathanen der Erde. Ich fahre mit der Metro bis zur letzten Haltestelle, Olmazor, steige auf, in die wieder heiß-heiße Luft, lass mich von einem Taxifahrer schnappen und warte in der steigenden Sonne darauf, dass er Mitfahrer findet. Ich habe mich extra sommerlich angezogen, meine neuen Sandalen, in denen ich barfuß stecke, und eine lange, beigefarbene Hose, welche die Beine vor Sonneneinstrahlung schützen. Ohne Sonnenbrille sehe ich schon seit Anfang Juni nichts mehr. Als wir losfahren, sind es weniger als fünf Minuten, der Fahrer lädt uns irgendwo ab und zeigt nur ins Getümmel. Einer auf dem Hintersitz sprach ein paar brüchige Sätze Deutsch mit mir. Also gehe ich los, umgehängt eine kleine Tasche mit meiner Kamera und genügend Geld, in der Hand eine Flasche Wasser. Hier spannt sich ein großer Markt mit quadratisch angelegten Passagen, die zwischen den bis oben behängten Ladenreihen entlang laufen – fertige Produkte gibt es hier, am Rand warten Verkäufer von Souvenirs, Tand und Schwachsinn, sowie kleine Fast-Food-Buden, die Somsa oder Gumma anbieten. Während ich durch die Zeilen streife – drinnen ist es zu dunkel für die Brille, aber ohne sehe ich nicht richtig – gucke ich mich konstant nach Hosen um – ich will eine aus Leinen für die hohen Temperaturen, und schon im zweiten Geschäft, das ich betrete, werde ich fündig. Sie passt, sieht ordentlich aus und ich bekomme sie zu einem gut annehmbaren Preis – 90.000 Sum, das sind 14 Euro. Weil ich so gut gelaunt bin, lasse ich mir noch einen billigen Strohhut Made in China aufquatschen, den ich gleich aufsetze und merke, meinem Kopf geht’s gleich besser. Wenigstens fasse ich so den Willen, hinüberzugehen, auf den nächsten, angrenzenden Basar, von dem mir der Taxifahrer erzählt hatte, er sei teurer – und tatsächlich finde ich ihn später weit nicht so anheimelnd wie den ersten. Zunächst geht es durch einige sonnige Gassen, mit hartem Schatten, der von den Ständen steil nach unten fällt, und ich bin froh über meinen Hut. Dann mündet der Weg an einen Eingang, ein Portal, und mehrere Küchen werben um ihre Plätze in schattigen Holzpavillons mit „Mikroklima“ – Schläuchen oder Rohren mit winzigen Löchern, aus denen das sprühende Wasser die Luft kühlt und im Idealfall hoch genug angebracht ist, nicht den Besucher nass zu machen, nicht immer erfolgreich. Ich wandere weiter und stoße bald auf eine ähnliche Passage wie drüben, aber mit scheinbar engeren Gassen, oder vielleicht sind sie auch nur mit mehr Zeug vollgestopft. Als ich stehen bleibe und mir Gürtel ansehe, werde ich gleich von drei Seiten gerufen, ein Mann fasst mich im Weggehen am Arm und zieht mich fast gewaltsam zurück, dann gehe ich eben in die andere Richtung fort, ein wenig flotter. Weil mich diese Hemden mit usbekischen Mustern und Farben interessieren, frage ich bei einem Händler nach, das Stück hatte ich schon drüben gesehen, und tatsächlich ist es hier um ein Drittel teurer als auf dem ersten Markt. Aber dieser ist dafür voller, gewaltiger, enger. Auch draußen packt mich die Orientierungslosigkeit und mir bleibt nichts übrig, als mich treiben zu lassen, obwohl ich schon gerne raus würde oder wissen, wo ich bin. Einer Frau kaufe ich noch ein Taschentuch ab, als Schweißtrockner leisten sie gute Dienste. Dann sehe ich rechter Hand eine weitere, groß überspannte Halle, diesmal durch Säulen gehalten, und ebenfalls quadratisch durch kleine Häuserzeilen zu einem Netz aus breiten Gassen getrennt. Hier wehen große Bögen aus Stoff, ich gehe hinein und fühle mich endlich exotisch – links und rechts Schneider, die ihre Stoffe vor der Türe stapeln, die selbst auf großen Tischen vor ihren Kabuffs liegen und träge dem Verkehr der Leute zusehen, das ist doch das, was ich suche. Am Ende finde ich ein allzu nasses Mikroklima und links einen Ausgang, also folge ich dem Weg und gelange an den Rand einer spiegelnden Blechkappe – ein Parkplatz, ein großer. Ich laufe den Weg entlang zu einem riesigen Ark, der vom Eingang des Basars kündet, rechts noch die Rückseite der Läden, hinter mir ein Schriftzug: Abu-Saxiy Bozori, so heißt das Riesenbaby. Und gegenüber ist noch ein Riese – der Bek Baraka, aber das spare ich mir doch lieber. Ich mache noch einige letzte Fotos von den Autokaravanen, die zur Ausfahrt anstehen, da spricht mich am Ausgang einer der Polizisten an und sagt, zeig deine Kamera, du darfst keine Fotos machen. Und dann musste ich, von zwei grünen Hasen schief beäugt, alle Bilder löschen, die ich soeben auf dem Basar gemacht hatte. Glücklicherweise haben sie nicht die Videos sehen wollen, da war nämlich noch das, wo ich einen 500-Sum-Schein verbrenne. Wahrscheinlich würde ich dafür ins Gefängnis kommen, auf dem Schein ist die Amir-Temur-Statue im Zentrum der Stadt zu sehen. Es nützt nichts, an der Staatsgewalt komme ich nicht vorbei, ich beschwere mich auch nicht, grolle ein bisschen, bin aber eigentlich zu beseelt. Und erst im Nachhinein fällt mir auf – da waren überall Polizisten, an jedem Ein- und Ausgang, als müssten sie den Basar besonders bewachen. Später am Tag bin ich auf dem Mirobod-Basar, nun neu eröffnet, und auch hier wird jedes Tor von zwei Männern in Grün mit Schlagstock bewacht. Als wäre Basare zentrale kriminelle Umschlagplätze. Nur Geld tauschen geht dann wohl nicht so einfach. Die Dame, die seit Beginn des Jahres in dieser Beziehung meine Vertrauensperson war, ist seit der Renovierung des Mirobod-Basars verschwunden, und ich weiß nicht, warum. Damals ging ein Ruck durch den Dollarkurs und alle haben gesagt, das war künstlich – welche Währung geht schon für zwei Tage um 15 Prozent nach unten, um sich danach in der Mitte einzupendeln? Jedenfalls ist sie weg, und ich musste mir eine Alternative auf dem Alaiskiy suchen. Vom Ippodrom leicht genervt, wandele ich nun eine fremde Straße entlang, hinter mir das Portal und der riesige Schriftzug, und wie alles überdimensioniert ist wie in weitläufig kalten Industriegebieten, so scheint auch hier die Sonne nur in graublechsilbernen Flächen, und Schatten unter den großen Türmen gibt es keine. Ein Chaos, Autos stehen rings herum, Betonblöcke trennen die Spuren, drei in jede Richtung, aber das ist schon normal für mich. Ich mache lieber keine Fotos, noch immer stehen Polizisten herum, fast habe ich Angst, gefragt zu werden, was machst du hier, wohin willst du – fast habe ich auch noch Lust, nach Quylik zu fahren, ich brauche noch Lebensmittel. Aber als ich ein Auto anhalte und mein Ziel nenne, verlangt er unverschämt viel – wahrscheinlich bin ich weiter entfernt, als ich glaube, ich kenne ja nicht einmal die Richtung. Diese Straße scheint die große Ringbahn um die Stadt zu sein und nach Quylik ist es demnach eine unbekannte Distanz geradeaus, aber ob ich in die rechte Richtung blicke? Ein wenig noch laufe ich die fußgängerfeindliche Strecke entlang, entschließe mich doch, zum Mirobod zu fahren, um einzukaufen, denn von dort sind es nur noch Minuten nach Hause.

Angekommen, erlebe ich einen leichten Schock. Der Basar ist wieder unter den Schirm gezogen, in dessen Stahlstreben vorher die Vögel so laut geschrien haben, je abendlicher, desto lauter. Jetzt schreien keine Vögel, wer weiß, wie sie die fern halten, und es tönt nur leise dudelnde Radiomusik. Die Atmosphäre ist furchtbar, wie ein Supermarkt unter freiem Himmel – alle Waren stecken in blauen Plastikschalen, ich hatte es lieber, als sie sich auf den Tüchern stapelten. Mehr als das Nötigste kann ich nicht einkaufen, sonst werde ich wütend, verlasse diesen Ort, dem alles Leben ausgesogen ist, und schlafe unruhig, unruhig, was habt ihr getan?

Die Woche nach dem Sommerfest beginnt ruhiger. Alles renkt sich wieder ein, und wir sind gespannt auf SHOS, wie macht sich die usbekische Regierung und was passiert da wirklich. Im Vorhinein wurde so viel spekuliert, schon Wochen vorher Angst gemacht und aufgeplustert – einer Studentin hatte man gesagt, filme besser nicht in der Innenstadt, das war fünf Wochen vorher. Ich habe noch vor 14 Tagen ungestört die Bauarbeiten auf dem Alaiskiy gefilmt. Von einer Ausgangssperre war die Rede, von der ich nichts bemerkt habe, aus zwei Quellen wurde mir gesagt, der Dollar sinke auf 3500 Sum – was bemerkenswert gewesen wäre, hätte die Regierung es geschafft, den natürlich Kurs zu drücken – aber trotzdem sorgte ich vor, sodass ich nicht während der Konferenz hätte wechseln müssen. Zwei Wochen vorher gab es die Meldung, vom 16. bis zum 24. Juni würde die Stadt für jeglichen Auto- und Bahnverkehr gesperrt, alle Inlandsflüge seien ebenfalls gestrichen. Tage darauf dementierte das Innenministerium, auf das sich die entsprechende Zeitung berief, die Meldung. Welche Farce! Als ob die Medien nicht vom Staate kontrolliert würden, als ob sie nicht genau wüssten, was sie tun, wenn sie solche Meldungen in die Welt setzen – und es klappt. Alle machen sich Sorgen, oh, ich wohne außerhalb, was soll ich tun? Die Zeitung hatte dazu aufgerufen, sich über die beiden Tage frei zu nehmen und nach Chirchik oder in die Berge zu fahren, dort sei es eh kühler. Und tatsächlich ist die Stadt über den 23. und 24. Juni deutlich leerer als sonst. Der Tartare, bei dem ich essen gehe, läuft nur auf halber Kapazität und behauptet, es seien ja gar keine Arbeitstage. Wir freuen uns schon, dass niemand uns verbietet, zu arbeiten. Man kommt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, weil man nie weiß, welche Straßen heute gesperrt sind, Taxiunternehmen dürfen nur von 09 bis 15 Uhr fahren. Am ersten Tag laufe ich von der Amir-Temur-Straße rechts die Navoi entlang, sehe dem schönen Spiel der Fontänen vor der Nationalbibliothek zu und genieße den Anblick von der Ampel, über die ich auf den Rashidov-Prospekt gelange – von hier bietet sich die einmalige Sicht auf vierspurige Innenstadtmagistralen, die bis zum Rande des Sichtfelds fahrzeuglos sind, elend leer.

Eigentlich wollte Julia am Tag zuvor nach Buchara fliegen, weil wir dort gerade ein Seminar zu Kulturmanagement ausrichten lassen, zu dem sie Gäste u.a. aus der usbekischen UNESCO-Kommission und des Schweizerischen Büros für Zusammenarbeit geladen haben, um über ihre Arbeit zu sprechen – so soll es eben auch die Direktorin des Goethe-Instituts Taschkent sein, das immerhin alle Kosten des Projekts inklusive Unterkunft und Verpflegung der Teilnehmer trägt. Leider ist der chinesische Präsident früher gekommen, hat sich mit Karimov getroffen und Buchara besucht, sodass die Touristenmetropole für den Tag komplett geschlossen blieb, eine Geisterstadt, meinte Julia, die nur durch einen pfiffigen Taxifahrer auf großen Umwegen zu ihrem Seminar kam. Ausgangssperre herrschte sowieso, unter den Holztüren sah man die Füße der Bürger, die wie Peeping Tom den ihnen entzogenen Blick erhaschen wollten. An den Eingängen der sonst so lebendigen Stadt mit ihren Geschäften und hochpreisigen Touristenführern standen Lastwagen quer, die mit ihrer Wucht die Einfahrt versperrten. Erst abends wurde alles wieder geöffnet, die Dame von der UNESCO, die solange in einem anderen Hotel warten musste, kam endlich hinein, und Julia, glücklicherweise pünktlich für ihrem Flug, heraus.

Die Tage der Konferenz verliefen für uns sehr ruhig. Ein ungewöhnlich bewölkter Himmel gab Anlässe zur Spekulation, ob man da chemisch nachgeholfen hätte, weiß ich, ob das funktioniert. Am Donnerstag war ich abends aus, zu einer Abschiedsfeier, und die eingeladenen Usbeken verließen die Runde rasch wieder, aus Angst, während SHOS zu lange weg zu bleiben, ich blieb bis Elf und auch mich störte keiner. Natürlich hatte ich meinen Pass mit. An der Straße, die einen Zugang zu jenem … bietet, der wiederum zum Flughafen führt, stehen ebenfalls hohe Laster, Autos dürfen nicht passieren. Was von dem hoch angesetzten Treffen bleibt, ist mehrheitlich negativ. Ein riesiges Hyatt Regency (Wer dort leben soll, ist mir unklar), kalte, tote Basare, die Stadt hat sich ein noch gleicheres, unbestimmteres, usbekischeres, banaleres und leereres Gesicht gegeben als zuvor – allein die Renovierung so vieler Abdeckungen über den Schaufenstern, beige laufende Aluminiumbänder, die plötzlich überall zu sehen sind, war grausam. Der Alaiskiy sieht nun aus wie ein Märchenschloss, auf seinem Markt stehen Pferdewagen und in ihnen ausgestellte Waren, ausgestellt wie die ganze Inszenierung. Als ob hier jemand Obst auf einem Pferdewagen transportierte! An jedem Produkt hier sind Preise genannt, daneben gibt es eine Halle mit Brot, das ausgestellt ist wie die Roggenprodukte einer deutschen Bäckerei. Mein Gott, wir sind auf einem Basar, der Preis steht nicht fest und das Weißbrot ist überall dasselbe. Ich empfinde es als Stich in der Brust, wenn sie so tun, als sei dieser Markt etwas sehr traditionelles und auch, wenn es den Leuten nichts auszumachen scheint. Jeder Idiot sieht, wie tot das Ganze ist, da gehe ich lieber in den Supermarkt – da wird mir wenigstens nichts vorgeheuchelt. Ja, es gibt neu asphaltierte Straßen, ausgebesserte Bürgersteige, … Für mich wirkt alles wie die Manifestation der Unfreiheit, die den Usbeken aufgezwungen wird, nur mit der bösen Zunge, das ist alles für euch und euer Wohle. Die neuen Bushaltestellen, klimatisiert, an zentralen Punkten im Netzwerk, sind Glasvitrinen, Terrarien, ein Käfig mit zwei Bänken und der Illusion der Freiheit. Hier halten keine Stäbe den Panther, und wenn er gegen das Glas rennt, dann sagen sie, Lauf, lauf, oder wir müssen annehmen, du willst nicht.

Es ist eine leere Zeit, in der ich schreibe und mich beschwere. Es ist eine Zeit, in der Leute die Stadt verlassen, um über den Sommer nicht zu verbrennen – ab Ende Juni sind plötzlich alle Deutschen weg, außer wenigen Nachzüglern. Die letzten gemeinsamen Treffen und Essen, von denen es so viele gab, einen Hauch der Wehmut hängt an ihnen, wie wenn man Freunde verliert, und doch überschattet die Härte des Moments den Abschied. Irgendwie bin ich streng, kühl, steif, ich höre auf, mich zu wandeln. Als ich vom Ippodrom zurückkam, war die Erschöpfung eine andere wie die nach Shahrisabz, nach meinem ersten Quylik-Besuch oder gar das erste Mal Chorsu im September. Mich begann es zu reizen, dass überall Stacheln sind und die Tritte auf diesem Boden schwer, und ich war froher, wegzukommen, aus meiner stillen Heimat, dem schon längst Gekannten, als gesättigt vom Gesehenen. Ich nehme so viel auf, immer noch, aber ich spüre die Neugier versiegen und die Rufe nach Ruhe lauter werden – Ruhe, wie ich sie nicht nur alleine finde, einfach das Bekannte, an das ich mich klammern kann, denn das Land, die Stadt sind immer noch schwer und ich ein leichter, naiver Charakter. Meine Augen brennen vor Müdigkeit, weil sie alle Bilder so tief aufnehmen. Andererseits weiß ich genau, was ich vermissen werde, wenn ich zurückkomme: die omnipräsente Fremde, überall die Gesichter, deren Schnitte anders sind als meine, der Hauch von Exotik inmitten der pulsierenden Metropole oder den gähnend leeren Zeilen hundert Meter weiter, aber immer Menschen, die ich nicht satt werde zu beobachten, bestaunen – hübsche Mädchen, stolze Frauen, Koreaner und Kasachen, die Usbeken barfuß in ihren Sandalen, daneben russisch aufgetakelte Mädchen, die mit trippelnden Schritten den Bürgersteig entlang rotieren, und junge Schülerinnen in ihren Schwarz-weißen Kostümen, wie sie auf den Bus warten. Braungebrannte Arbeiter im dreckigen Unterhemd und Shorts, Anzugträger bei 40 Grad und kein Schatten – all das nehme ich gierig auf, denn das Anders gefällt mir, weil es nicht langweilig wird. Ich hätte die Fremde gerne länger genossen.

Schlussstriche ziehe ich beim nächsten Mal. Aber die letzten Wochen zu rekapitulieren, lässt sich in folgenden Licht sehen: Der Alaiskiy ist tot, der Mirobod ist tot, alle sind weg, hinterlassen das Land in Katerstimmung – das böse Ende hat uns allen klar gemacht, wo wir uns befinden. Ja, ich bin ein wenig frustriert, und müde sowieso, freue mich auf meine Heimkehr und ein Leben in Leipzig, der Stadt, der ich nach wie vor unbedingt erlegen bin, und ziehe die Tage so kurz wie möglich, lasse mich treiben, aber nicht gehen, um nicht plötzlich einzubrechen. Ich spaziere kontrolliert durch die Stunden, mit der Nase im Wind und den Ohren aufgestellt, ich will eigentlich nicht dabei sein, wenn etwas passiert. Und so viel könnte jederzeit passieren. Ein starkes Erdbeben habe ich verpasst, weil ich einkaufen war. Sonst ändert sich nichts. Ich bin auch müde von dieser Form, Blogschreibenmüssen, ich muss, weil ich sonst nichts zu schreiben habe, oder aber, weil nichts so einfach ist, wie Erlebtes zu schildern, man hat einen Faden, das Schwierigste, was zu schreiben, ja, fällt plötzlich weg, man weiß, wo man hin will und die einzige Gefahr besteht darin, sich in seinem Selbstmitleid zu verlieren, oh, ich kenne sie nur zu gut. Der nächste Artikel, das sind dann „Letzte Besuche“ oder „The Last Goodbye to Everyone“, aber das letzte ist es gar nicht. Alle fliegen weg, wie die zehn kleinen Negerlein, husch, bin ich – fast – alleine. Das Deutsche Haus steht leer, für einen Moment, fast alle sind ausgeflogen, die Vögel, die deutschen und viele, mit denen ich in Kontakt stand, doch es ist ein stetiges Hin und Her, mal kommen sie, mal gehen sie, nur die Tendenz, lediglich die Tendenz zeigt in Richtung Leere, aber ich bin nicht der letzte Mensch, der dieses Land verlässt und wenn ich es verlasse, werde ich glücklich sein. Und traurig, aber das versteht sich von selbst. Die Botschaft bietet ein Public Viewing an – Deutschland gegen Italien, am Samstag, im Bardak ist sicher immer etwas los, für den, der freitags oder samstags nach 12 aus der Stille eintritt, und irgendwie wäre es nicht so schlimm, sich zuhause in seinen Computer zu versenken oder sein weißes Blatt Papier anzustarren, bis der Weiße Linien wachsen, irgendwie wäre es auch nicht schlimm, mit ausgedachten Kopfschmerzen im Bett zu liegen und sich vorzustellen, was alles passieren könnte, denn: je weiter die Grenzen, desto freier die Möglichkeiten, wenn keine Bindungen bestehen – die der Arbeit löst sich am 15. Juli auf – dann rotiere ich wahrscheinlich Tage um die eigene Achse. Ich beginne, mich zu lösen, mich zu befreien, damit ich beim Abschied nicht so viel Gepäck habe, schon bin ich in Deutschland und sehe den Moment, It’s time to say goodbye – Davon mehr beim nächsten Mal.

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