Beginn der heißen Tage

Der erste Schweiß rinnt von der Kopfhaut hinab, erst werden die Haare am Hinterkopf und Nacken feucht, dann sinken die Tropfen langsam am Hals entlang und, wenn sie auf dem Weg nicht stehen bleiben, weiter auf die Schultern oder den Rücken. Bald ist der Hinterkopf gänzlich schweißkalt und man wünscht sich ihn kahl geschoren, das ganze Haupt, einfach um der Verwünschung nasser Haare willen. Die Achseln schwitzen sowieso, auch die Brust und der Rücken, besonders wenn ich mit dem Rucksack unterwegs bin, aber nichts ist so schlimm wie der nasse Kopf, denn die Haare trocknen nicht, lassen sich nicht mit meinem Taschentuch, das jetzt ein Schweißtuch ist, aufwischen – sie bleiben salzig nass, bis ich mich ins Bett lege und auf dem Kopfkissen die Feuchtigkeit an meiner Kopf- und Nackenhaut unangenehm empfinde. Dann folgt eine Nacht im Hin- und Herwälzen, aus Hitze, die noch im Zimmer steckt, weil der Tag sie nicht los lässt, dann kaum ein traumreicher Schlaf und zuletzt wache ich gegen 5 Uhr morgens auf, weil es jetzt plötzlich sehr frisch ist, wenn das Fenster zur Gänze offen steht. Die Sonne ist schon auf und vor wenigen Tagen war es halb Sechs, ich erschrak und dachte, ich hätte verschlafen, so hell stand der Himmel, und es war keine Wolke, mir den roten Strahl der Sonne zu zeigen, der noch einige Gebäude in ihrem Wachen begleitete. Wenn ich zehn Minuten vor Neun aus dem Haus gehe, ist die Hitze schon da.

Der Sommer ist gekommen, um zu bleiben. Wie anders kann man es formulieren, wenn sich auf den Basaren Maul- und Himbeeren, unterschiedliche Aprikosen und Kirschen, Pflaumen, Johannisbeeren, Honigmelonen, Wassermelonen, Pfirsiche und viele andere Früchte, Gemüse häufen? Wie anders kann man es formulieren, wenn die Tage brütend heiß sind, sodass ich an den Wochenenden bei kontinuierlich offenen Fenstern mal ohne Hemd, mal mit, an meinem Computer sitze, dabei grünen Tee trinke oder Früchte esse. Das, und hier kann ich jeden Übermut verstehen, ist wahrlich eine Pracht – wenn auf den Basaren die Händler Schlange stehen, überall sind Früchte zu erwerben, eher überreif als matt-sauer, wenngleich noch nicht so zuckrig süß wie sie wohl im Julia, August werden, die Melonen, und man fühlt sich für einige Momente tatsächlich im Paradies, für das einige Usbeken ihr Land wohl halten. Gerade habe ich eine Honigmelone gekauft, die erste – saftig und kühl, die Hälfte habe ich schon gegessen – hier, in die Früchte, geht gerade der beträchtlichste Teil meiner Ausgaben, aber dafür spare ich an Gemüse, Reis und Kartoffeln habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gekauft, weil eben die Früchte und ein paar Liter Wasser den Magen schon füllen, ohne mehr einer Portion Plov oder Schaschlik zu bedürfen. Bei den „Tartaren“ gibt es seit Mitte Mai auch Okroschka, eine kalte Suppe – das Konzept habe ich schon in Lettland probiert, hier ist es nun Brühe mit Kefir, Gurken, Ei, Fleisch (darf nicht fehlen) und Kräuter – wunderbar, denn alle anderen Suppen machen den armen Körper unnötig schwitzen. Wenigstens im Institut ist die Luft gut gekühlt, unsere Klimaanlage arbeitet unermüdlich, für meinen Geschmack ein wenig zu sehr – es ist ein Schock, zum Mittagessen aus dem Gebäude zu treten und gegen die Hitze wie eine Wand zu laufen. Im Büro müssen ab spätestens Drei die Rollos herunter, sonst verglüht man. Die Hitze lässt erst wieder ab Sechs nach – um Acht geht die Sonne unter – sukzessive wird dann die Luft kühler, der Himmel angenehmer und die Temperatur sinkt auch nachts nicht unter 20 Grad – und das ab Ende Mai. Die große Hitze steht uns noch bevor, die Usbeken nennen sie „Chilla“ – weil dann wohl nichts übrig bleibt als Sitzen, Tee trinken, Hemden vollzuschwitzen und zu schlafen.

Die Sonneneinstrahlung verwöhnt meine kalkweiße Haut mit etwas Bräune – freilich alles im Rahmen meiner deutschen Möglichkeiten, denn je heißer es wird, desto mehr juckt es mich und ich sehe die Röte vorsichtig sprießen. Der Sommer ist auch die Zeit des Müßiggangs und der leichten Gedanken – es ist eine Zeit, in der alles wegschwimmt, weil die Sonne so lange braucht, unterzugehen, alles wird langsam und gemächlich, nur der Verkehr bleibt dreckig und schwer. In der Hitze verschwimmt alles wie ein Traum. Die vom Anfang meiner Erzählungen bekannte Uhr vor dem Goethe-Institut, deren Thermometer nicht sehr verlässliche Daten anzugeben berühmt ist, war endlich wieder an und zeigte mir einmal 45 Grad. Jetzt ist sie wieder aus. Laut Google sind es bis zu 42 Grad am Tag. Da wird es verständlich, wenn die Betonflächen und Parkplätze mit einem Gartenschlauch abgespritzt werden, wenn überall – vornehmlich an Plätzen, wo sie gesehen werden – Wasserpumpen stehen und das umliegende Gras verschwenderisch bespritzen, und wenn diverse Restaurants draußen zwischen den Reihen der Gäste von oben einen Sprühnebel regnen lassen, um die Luft abzukühlen. das könnten sie ruhig auch in den Bussen anbringen. In diesen heißen Tagen ist der Unterschied zwischen einem Mercedes-Bus und dem Fegefeuer geringfügig. Einer postete neulich, warum muss ich 50.000 Sum für eine Saunasitzung bezahlen, wenn ich für 1.200 Bus fahren kann? Die Mercedes sind an die Hitze nicht gewöhnt und wenn die Maschine schnaufend steht, an einer Ampel oder Haltestelle, wenn der Luftzug des Fahrtwindes durch die engen Fenster plötzlich stoppt, bricht wie auf Kommando der Schweiß wieder aus, und ich bin besonders anfällig, jedenfalls im Vergleich zu den Usbeken. Einmal und nicht wieder. Danach war mein Taschentuch so nass, dass ich es auswringen konnte und nicht zurück in die Tasche stecken wollte. Weil die Busse nun keine Alternative mehr darstellen, steige ich auf die Metro um. Der Vorteil ist zweifacher Natur: Ich komme aus dem Institut an die grelle Nachmittagshitze, lenke meine Schritte um kaum 50 Meter nach rechts und kann in den kühlen Untergrund treten. Zweitens: Ich vermeide die anstrengenden Staus, die Sonne auf den spiegelnden Blechdächern und die Menschenmengen im Straßenverkehr. Ich muss mich halt daran gewöhnen, dass meine Taschen angeguckt werden – Durchsuchung kann man diese lächerlichen Geduldsrepressalien ja nicht bezeichnen – dass ich hin und wieder meinen Pass zeigen muss. Dann geht es abwärts, dort ist es kühl. Wenn ich auf dem spiegelblanken Boden der Haltestelle Adbulla Qodiriy nur wenige Minuten warten muss, in der Weite der Halle nur noch wenige Fahrgäste im Vergleich zum Raum, werde ich unruhig, und ich weiß nicht, warum.

Immer wenn ich in der Taschkenter Metro sitze, muss ich an Paris denken. Ich weiß nicht woran es liegt – ob es der Geruch ist, das Rattern, unebenmäßig, das Großstadtgefühl oder ein Nachleben der ersten Stadt, in der ich andauernd in diesen Untergrundschächten gefahren bin. Vielleicht riechen alle Metros gleich, nach abgesessenen Sitzflächen, schwitzigen Metallgriffen und einem nostalgischen Geruch nach Altem, nach Geschichte. So viele Menschen, wie sie hier ein- und aussteigen, sie alle lassen einen Teil ihres Parfüms, ihrer Hautzellen, vielleicht nur als geringes Gefühl, im Wagen zurück, wenn sie aussteigen, und diese Vielzahl an Menschen – unter ihnen dutzende, hunderte bemerkenswerte Personen, die man nie anders kennen lernt als durch diesen typischen Metrogeruch – spürt man bei jedem Atemzug, atmet man selbst tief in die Lungen ein. Vielleicht sammelt der Untergrund die Gerüche der Menschen, sodass er überall gleich riecht. Und auf den Bahnsteigen schieben Frauen mit Kopftüchern unablässig ihre Wischtücher vor sich her, auf den Stiel gestützt, und der Steinboden glänzt und glänzt und glänzt. Dann steige ich in Ming O’rik aus – Tausend Pfirsiche – und muss umsteigen, bevor ich den richtigen Ausgang nehmen kann. Auf dem Weg zu Oybek, die quer drüber liegt, folge ich der Traube an Menschen die Treppe hoch und den langen Gang entlang, der zum Atombunkernetz gehört – extravagant gestaltete Sowjetlampen leuchten stolz den Weg, das Surren der Klimaanlage ist nicht fern. Auf dem Boden ist es nass, auch jetzt noch, Mitte Juni, und die Leute versuchen, die weitläufigen Pfützen zu umgehen, die nicht höher als ein oder zwei Millimeter stehen, aber durch ihre ständige Anwesenheit schon Schlieren auf den Kacheln hinterlassen haben. Dass mittendrin zwei, drei Eimer stehen, die Tropfen aufzufangen, mag da lächerlich wirken. Von den Gleisen zu Oybek kann ich nun noch eine Treppe nach oben laufen, durch die schwere Hängetür und die weite Unterführung auf die richtige Seite der Straße laufen. Das ist manchmal nicht einfach, denn obwohl die Orientierungspunkte angegeben sind, weiß man, erst recht, wenn man neu in der Stadt ist oder diese Station selten anfährt, selten, welcher Ausgang der richtige ist. Ich finde meinen inzwischen. Der Weg führt mich vorbei an „Les Ailes“, einem Fast-Food-Laden, dann folgen ein Möbelgeschäft, noch eines und eins für Kleider, ich biege links beim Mini Market in die Mahalla, folge der Straße nach rechts und lasse mich an der Müllsammelstelle vorbei durch die Bäume, den Schatten treiben, der mir auf der Straße verwehrt geblieben wäre. Zentral auf die scheppernde Eingangstür zu, die drei Stockwerke hoch und dann – in der Wohnung – beginnt das Schwitzen und hört nicht auf, ehe ein guter Wind mich im Durchzug kühlt.

Ich habe keine Klimaanlage. Die Wohnung heizt sich über den Tag signifikant auf, und ich bin machtlos dagegen. Elmira und Alisher wohnen zur Zeit eine Tür weiter, wo ich meinen Aufenthalt vor dem Umzug im November begann, weil die Wohnung wieder einmal nicht vermietet ist, also habe ich dir drei Zimmer für mich allein. Es sind richtigerweise zwei: von der Eingangstür aus öffnet sich links das große Wohnzimmer mit zwei Nischen, je einem Bett und Schrank – hier schliefen die beiden, als wir zu dritt wohnten. In die andere Richtung geht ein schmaler Gang links am Bad vorbei in die Küche, deren Fenster genau gegenüber von dem der einen Nische liegt. Gegenüber der Badtür, den Raum zwischen Küche und Wohnzimmer zu einem Rechteck ergänzend, liegt mein Zimmer. Hier ist es üblicherweise am wärmsten. Nachmittags fällt hier scharf die Sonne ein und nur ein Drittel der Fensteröffnung ist auch aufsperrbar, sodass der Wind meist langsam geht und durch den leichten Vorhang gedämpft wird, der den Sonneneinfall mindern soll. Rollos habe ich keine. Ich dusche zwei Mal am Tag, doch es wird langsam zu wenig. Durch den Zug halte ich es für besser, ein T-Shirt anzuziehen, und meist ist bald sehr warm darin. Wenn ich, wie jetzt, am Computer arbeite, erhöht sich die Raumtemperatur noch einmal mehr. Ich glaube, ich werde nach diesen Blogs nur noch im Institut arbeiten und mir einige Arbeit mit nach Hause nehmen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich so sitzen und schreiben kann, wenn es noch wärmer wird – und das wird es. Die Chilla hat noch nicht begonnen. So wie ich es verstehe, sollte ich tagsüber am Tageslicht im Schatten wandeln, um der Wohnungshitze zu entkommen. Ich habe bereits meinen Bart angemessen gestutzt, weil ich dachte, es würde mir Kühlung verschaffen. Ich habe mir Sandalen gekauft, für vier Euro, in denen ich dann barfuß gehen kann, und falls ich Socken brauche, dann nur weiße, dünne. Eine Kappe fehlt mir noch, gegen die Sonne. Wahrscheinlich werde ich mir eine zusätzlich Hose besorgen. Eigentlich dachte ich daran, mir eine lange Leinenhose maßschneidern zu lassen, also einen Investition in die Zukunft – aber bei den zu erwartenden Graden sind kurze Hosen vielleicht besser. Immerhin wirkt meine Hautfarbe gesünder, bis auf die paar rötlichen Stellen. Ein Problem, vielleicht das Problem der nahen Zukunft ist der Schlaf. Mein Zimmer hat um Zehn oder Elf eine Temperatur erreicht, die es mir möglich macht, einzuschlafen – nichtsdestotrotz schwitze ich, wache auf, fühle mich morgens zerknirscht. Unter meinem Kopf lege ich austauschbar zwei kleine Handtücher, die den kalten Schweiß besser aufsaugen als der Kissenbezug und ein angenehmeres Gefühl bieten. Meine Wochenenden werde ich auf längere Nächte, kürzeren Ausgang beschränken. Vielleicht sind all die Maßnahmen einfache Paranoia, aber wenn ich mir meinen Schweißablass und meinen Wasserkonsum angucke, dann bekomme ich leichten Schwindel, wie das wohl weitergehen mag – ich bin immerhin noch bis zum 25. Juli da. Vor wenigen Tagen habe ich das erste Mal auch nachts noch geschwitzt. Bruch.

Im Goethe-Institut ist noch keine Ruhe eingekehrt. Uns steht die letzte große Veranstaltung bevor, das Sommerfest, zu dem 800 Teilnehmer erwartet werden. Weil wegen SOC die Universitäten schon am 10. Juni geschlossen wurden und alle Studenten ohne Taschkenter Registrierung auf ihre Dörfer zurück müssen, weil außerdem Ramadan ist, wissen wir nicht, wie viele tatsächlich kommen werden – aber die Planung ist aufwendig. Eine Bühne mit Wettbewerben zwischen den Kursgruppen, eine Make-Up-Künstlerin, die sieben 20-minütige Workshops durchführt, Carlsberg, die uns Kvas sponsern, korzinka.uz (der Rewe Usbekistans) mit Grillhähnchen, eine Bar, die jedem Teilnehmer einen alkoholfreien Cocktail anbietet, im Veranstaltungssaal gleichzeitig ein Zauberkünstler, der zweimal auftritt, eine Modeschau der Hochschule für Kunst und Design in Taschkent, sowie irgendwo einen Büchertausch und ein Quiz zum Goethe-Institut. Ein quirliges Fest soll es werden, und der Organisationsaufwand ist absehbarer Weise groß. Da wegen Fehlzeiten, Urlaub, Feiertagen etc. die Personalie der Sprachabteilung, die sich einzig für das Projekt zuständig zeigt, im Mai stark zerrüttet wurde, begann die Arbeit sehr langsam, soll heißen: Als ich dann Mitte Mai zum Team dazu stieß, war außer den Genehmigungen noch so gut wie nichts fest, überall standen Fragezeichen und immer noch wird es sehr viel spontaner, so habe ich das Gefühl, als letztes Jahr. Damals war es eine Nacht der Kultur, organisiert von den Ortskräften der Öffentlichkeitsarbeit und der Programmabteilung, die wesentlich mehr Erfahrung in Events solcher Größenordnung haben und auf den Fotos sieht alles sehr schick aus. Dieses Jahr erwartet uns eine unterhaltende Version, ich mache natürlich trotzdem mit, ich weiß ja, wie viel es bedeutet, hier eine Veranstaltung erfolgreich zu Ende zu bringen – weniger für uns als für die Teilnehmer. Höchster Zweck ist allerdings Werbung, denn – ich erwähnte es vielleicht schon irgendwo – für die Gehaltserhöhung für die Mitarbeiter müssen wir selbst aufkommen, indem wir die Kosten für die Sprachkurse erhöhen – und verlieren Kunden. Es ist eigentlich eine Schande, dass unsere Mitarbeiter nur die Hälfte von dem bekommen, was ihnen zusteht – ich erinnere: Wir müssen in Landeswährung auszahlen, nach staatlichem Kurs. Die Hälfte behält der Staat. Aber eine weltweit agierende Organisation wie das Goethe-Institut kann nicht auf einzelne Fälle wie diesen Rücksicht nehmen, und wenn es das täte, und die Spannung noch größer würde, müssten sie irgendwann sagen, sorry, wir können uns euch nicht mehr leisten. Also ran an die Bouletten, das Sommerfest wartet, danach noch einige Berichte und meine Tätigkeitsbeschreibung für kulturweit, und Büros aufräumen, Ruhe hoffentlich…

Andere Projekte warten nicht auf uns. Zu einer Sommerschule in Buchara wird Julia kurz hinfliegen, für einen Vortrag, das war’s. Im April noch hatte ich von einer neuen Ilkhom-Inszenierung gesprochen, die fiel aber aus. Offiziell hieß es, die Regisseurin musste aus Krankheitsgründen zurück nach Nowosibirsk fliegen, die Schauspieler erzählten mir anderes, dass sie das Theater aus Geschmacksgründen verlassen habe. Da musste ich grinsen, schade natürlich, hoch schade, aber sie wird ja nachgeholt, die Aufführung. Nur wann genau – irgendwo im Herbst – und selbst, welcher Stoff, ist noch unklar. Der Prozess und der Brief an den Vater waren es ja, die abgesagt wurden, Das Schloss steht nun im Raum – ich könnte mir auch eine Dramaversion der Verwandlung in diesen Hallen wunderbar vorstellen. Hauptsache, sie machen es. Von einem Besuch unter den mehreren, die waren, möchte ich noch erzählen – Ibsens Gespenster, zu denen ich im Februar gehen wollte. Jetzt, Ende Mai, wurde es erst wieder aufgenommen, im Juni spielen sie es noch einmal. Freud hätte sein höllisches Vergnügen gehabt an dieser Inszenierung, in der scheinbar jeder mit jedem Sex hat, Blowjobs angedeutet werden und ein zentraler Charakter, Oswald, das erste Mal in einem Bademantel, einer Unterhose und zwei Strapsen auf die Bühne kommt. Alles, was Ibsens Vorlage an psychosozialer Tiefe bietet, wird hier schonungslos ausgeschöpft – so sehr, dass die Schauspieler gar nicht mehr hinterherkommen mit ihrem Springen und Tanzen, diabolischem Tanzen, verteufelten Sprüngen – es mag der einzige Kritikpunkt an der Performanz sein, dass ihre Bewegungen oft hektisch sind, die Ruhe das Extreme im Bild noch verschärft hätte, hier aber in der Panik und Getriebenheit der Spieler verwischt, sich zu einem unscharfen Bild verzerrt, während doch die Anlage so großartig und – für usbekische Verhältnisse – geradezu visionär ist, weil doch der Text, ein klassischer Text, auf ein Minimum zusammengekürzt wurde, um den Bildern und Allusionen Raum zu geben, sich zu entfalten – das zerstört die Hektik im Kleinen, im Großen darf man nicht meckern, schon gar nicht beim Ilkhom, das unter schwierigsten Bedingungen seine künstlerische Existenz aufrecht erhält. Ein Stück aus dem Repertoire darf im nächsten Jahr nicht mehr gezeigt werden, weil es mit Vergewaltigung, Selbstmord etc. die Normen und Geister der usbekischen Kleinbürokraten sprengt und empört wenden sie sich ab. Was der Schweizer Botschafter nach der Ermordung des Gründers und Leiters Mark Weil im Jahre 2007 gesagt hat, stimmt noch heute: „Ilkhom theatre is the only place in Tashkent where some thinking is going on. The rest of the country is just affirming, stating, showing off, but there is no reflection.“ Ibsens „Gespenster“ spielt man hier seit drei Jahren – ein Wunder, finde ich. Denn während die Anspielungen in den meisten Stücken nur anekdotenhaften Charakter haben und jederzeit ausgelassen werden können, gibt es einige Inszenierungen, deren Protest oder Provokation immanent sind – so ein Stück des Nationaldichters Abdulla Qodiriy, der im 20. Jahrhundert das Schicksal eines angedeutet Homosexuellen schildert, den die sozialen Konventionen der usbekischen Gesellschaft ihm unverständlicherweise sein ganzes Umfeld zugrunde ziehen, wobei die usbekische Ordnung von Tradition und zwanghafter Anpassung aufs Schärfste kritisiert wird – aber in einem Maße an Intelligenz, dass man von der Gewalt des Stoffs, wohl auch als Patriot oder Zensurwächter, nicht kalt gelassen wird – immanente Provokation. So auch unser Ibsen. Man mag, hatte man sich nicht mit dem Stoff beschäftigt, überfordert gewesen sein vom Minimalismus, mit dem sie die gekürzten Passagen vortrugen, das Ausmaß des Unverständnisses kann ich, aufgrund meines sowieso eingeschränkten Verständnisses der russischen Sprache, nur sehr bedingt beurteilen. Im Zentrum stand das Bild, dazu wurde der Text wie ein Brandbeschleuniger gespritzt, als bedürfe es Ibsen gar nicht, die Geschichte zu erzählen – und als wäre es eine urmenschliche Geschichte von Trieben, Gewalt und einem Fluch, der sich von Mensch zu Mensch fortpflanzt wie ein Krebs, ein Geschwür, dass ganze Gesellschaften erfassen kann, die wie Oswald am Ende im Lichte der aufgehenden Sonne das Beil nehmen und durchdrehen.

Das Ilkhom wird mich bald verlassen. Im Juni sind schon nicht mehr alle Inszenierungen auf dem Spielplan, ab Juli machen sie zu und haben bis September Pause – einer der Schauspieler meinte neulich zu mir, er wolle Urlaub, sehr, und trank noch einen Schluck Wodka. Das Schicksal des Theaters ist klar. Es ist gegen das Establishment und gegen die von oben diktierte Ordnung – damit muss es über kurz oder lang scheitern. Ihre Ausdauer ist das Bewundernswerte an ihnen, ihre Überlegenheit, trotz allem, und wie klug sie die Autoritäten hintergehen. Es ist jetzt sowieso zu warm, sich anzustrengen oder auszugehen. Ich freue mich auch auf den Urlaub, auf die freie Zeit mit Büchern, leerem Papier, Filmen und meiner Wenigkeit, die ich immer fest dabei habe wie ein zusammengepresstes Stück Taschentuch in meiner Faust. Es sind nur noch Wochen bis zur Sommerschließung, die Zeit wird schwer und heiß. Was erwartet mich? Weitere Wochen bei 35 bis 40 Grad (oder irgendwann auch mehr) am Tag, 10 bis 15 Sonnenstunden pro Tag und einer Regenwahrscheinlichkeit von zehn bis null Prozent. Ich werde plötzlich dankbar sein, dass auf jeder Wiese im administrativen Zentrum eine Sprinkleranlage pro Quadratmeter steht. Ich werde auf das Busfahren verzichten, stattdessen Metro oder Taxi nehmen. Ich werde literweise Wasser, Tee und Saft trinken, und Früchte essen. Ich werde nachmittags meinem Zimmer fernbleiben, werde, wenn ich nach Hause komme, das Fenster aufreißen und für Durchzug sorgen, werde es beim Einschlafen sperrangelweit offen stehen lassen und erst, wenn ich klamm aufwache, in der plötzlichen Kühle, die in den Morgenstunden den schweißnassen Körper durchzieht – weniger als 20 Grad können es gar nicht sein. Da gilt es, das Fenster zu schließen und traumlos schwer die letzten Stunden bis zum Aufstehen, Essen, Arbeit ertragen. Mit dieser Aussicht wälze ich mich noch einmal in meinem Bett und ermahne mich zu geringerer Larmoyanz.

Zur Werkzeugleiste springen