Intermission

Bevor unser großes Kinder- und Jugendfilmfestival „Shum bola“ beginnt und keine Zeit mehr bleibt, bis ich am 06. Mai aus Fergana zurückkomme, möchte ich ein kleines Lebenszeichen setzen. Wenn letztes Mal zu viel von kultureller Ausschweifung die Rede war, so möchte ich nun über ein wenig praktischere Dinge sprechen – Arbeit, Sprache, Wohnen.

Ich werfe häufiger mal einige Zeilen über meine Russischfortschritte ein, meist in Zusammenhang mit Literatur oder ähnlichem. Ganz abgesehen davon wandle ich mit großen Schritten über den Flur der russischen Sprache und statt in Gedichten oder Geschichten zu versinken, fand mein geringes Können in den letzten Wochen ganz praktische Anwendung. Auch, weil ich so häufig das Theater besuche, anschließend bekannte Leute treffe, mich mit Schauspielern oder einigen der „solid half hour friendships“ bis nach Mitternacht (Gott behüte meinen Schlaf) im Bardak (es heißt doch nicht Barduck, wie es mir jemand zuerst erklärte) oder sonstwo unterhalte, dann fallen immer wieder neue Wörter, und Sätze nehmen langsam Gestalt an. Das ist zweifellos nicht allein mir zu verdanken, ich nehme ja Unterricht, meine 30 von kulturweit bezahlten Stunden sind immer noch nicht voll, aber ich zeichne mich durch einen zügigen Fortschritt aus, möchte ich meinen. Angeklungen ist der vermehrte Kontakt mit lokalen Menschen, Künstlern, der mich an den Wochenenden viel zu lange wach hält, selbstverständlich aber ein weiter Acker für meinen schmalen Horizont ist.

Eigentlich wird mir selbst langweilig dabei, wenn ich so schreibe, aber es muss nun einmal sein. Ihr müsst es nicht lesen, aber ich muss es schreiben, darum geht es. Wenn ich am Ende nicht 150.000 Wörter zusammen habe, erschießt mich jemand irgendwo, deshalb. In unserer Wohnung, wie zuvor im Herbst, gibt es ab heute – vermutlich für eine Woche – kein warmes Wasser. Da es tendenziell wärmer wird, ist das Problem weniger groß als erwartet und ich hoffe, so bleibt es auch. Mein Zimmer ist noch kühl und feucht, die Haare trocknen langsam, und ein Fön ist natürlich nicht in Sicht. Ich bin ja froh, wenn ich erstmal wieder Pfanne und Wäscheständer zu meiner Verfügung habe, man darf nicht zu viel erwarten. Ich habe überlegt, ob ich so aus heiterem Himmel, nachgeholtes (oder vorgezogenes, was weiß ich) Geburtstagsgeschenk, den beiden eine neue Pfanne schenke. Ist eigentlich ganz witzig, so rustikal zu leben.

Hier machen sie gerade irgendwelche Straßenarbeiten für dieses bedeutende Treffen der SCO, ich kann die uralten Traktoren und Walzen sehen, die Kipplaster und Transportfahrzeuge, halb aus Rost, halb aus unkaputtbarem Eisen, halb aus Rauch und Staub und dreckigen Abgasen. Es ist die Amir-Temur-Straße, ich schaue aus dem Fenster des Instituts (schreibe private Briefe, unerhört) und genieße die Sonnenstrahlen in den Augen. Und den stechenden Geruch, der hineinweht. Heute Morgen wollte der Bus von der Navoi auf die Amir-Temur einbiegen, eine der frequentiertesten Kreuzungen der Stadt, schob sich auf die linke Spur und quetschte sich die sechs Spuren Meter für Meter voran. Hier haben sie neulich einen wahren Geniestreich hingelegt, als sie neue Fahrbahnmarkierungen anbrachten, um aus drei (plus Rechtsabbieger) vier Spuren zu machen. Die alten Markierungen blieben bestehen und es wäre, wenn sie denn unter dem Meer an Blech und reflektierter Sonne zu sehen wären, schon eine Kunst, sich an gerade die neuen zu halten. Denn so alt waren die alten nicht, und beide stehen nebeneinander, als wollten sie der Willkür im Verkehr noch Aufwind geben. Auch an die vier (plus Rechtsabbieger) Spuren hält sich niemand, der Platz reicht für sechs, basta. Als der Bus also links abbiegen wollte, stoppte ihn der Polizist mit seiner Trillerpfeife und lenkte ihn, wie alle anderen Autos mit selbem Vorhaben, nach geradeaus um – der Fahrer schrie ein wenig, verständlich, weil er seine Strecke ungebetenerweise nicht fortsetzen konnte, einen Umweg machen musste, gab aber vor der Staatsgewalt klein bei und rief grimmig in den Bus hinein, Ausstieg zu Alaiskiy hier. Soweit so gut. An der Haltestelle des Basars standen ratlos Fahrgäste, die ihren Weg zur Arbeit wohl verschieben mussten. Etwas Spontaneität muss sein.

Was arbeite ich denn so? Nun, gerade nicht viel, weswegen ich Zeit zum Schreiben habe. Grundsätzlich steht uns eine riesige Wolke bevor, deren Ausmaße ich überhaupt nicht einschätzen kann. Ziemlich groß. Denn „Shum bola“ heißt, vier Tage Kino in Taschkent, mit Rahmenprogramm – einer Ecke zum Malen für die kleinen Kinder, einer Wand, Kamera und einem Sofortdrucker für Fotos, die sie sich mitnehmen können, ein Filmquiz, bei dem sie kleine Preise gewinnen können. Am Mittwoch wird der erste Gast eintrudeln, aus der Zentrale des Goethe-Instituts in München, am Donnerstag folgen fünf weitere – eine Kompanie vom „Schlingel“-Filmfestival in Chemnitz, sowie die Produzentin des Openers, „Nussknacker und Mausekönig“. Hatte ich erwähnt, wie die Filme hierher kommen? Julia und Ravshan waren beim „Schlingel“ 2015, brachten eine Menge Ansichtskopien mit und reichten sie bei Uzbekkino ein. Von drei Jugendfilmen wurde einer genehmigt (Meiner Tochter Anne Frank), sodass wir noch nach Ersatz aus den Vorjahren schauen mussten. Letztendlich sind es acht Filme in Taschkent, von Donnerstag bis Sonntag, Vollzeitbeschäftigung, inklusive abends essen gehen. Ich freue mich darauf, endlich ist was los, und ich kann meine Kräfte gebündelt in die Koordination von knapp 20 Volontären stecken, eine Aufgabe, bei der ich glücklicherweise Unterstützung durch meine Russischlehrerin erfahre (man erinnere sich: Kristina, die russische Frau des luxemburgischen DAAD-Lektors an der Weltsprachenuniversität Taschkent). Wenngleich ich mich auch vor dem Eventcharakter fürchte – alles fröhlich und aktiv, wo bleibt meine Einsamkeit, und die Tristesse, das Negative, das ich so gern um mich habe? – wird das Festival doch sicher sehr schön werden. Es braucht nicht viel, sich vorzustellen, was ein kostenloses Festival mit kostenlosen Rahmenaktivitäten, internationalen Filmen in einem der angesagtesten Kinos der Stadt den Kindern bedeutet, welche Möglichkeit es ist, einmal fern von aller Politik, abseits der traurig dahinsiechenden Schulen und jedem Zwang des Lernens und Gehorchens, sich in Welten zu vertiefen, die man nie zuvor gesehen hat – fremde Filme, fremdes Leben in einer offenen Welt! Da gibt es Indianer, Verzauberungen, Freundschaft, Special Effects, gute Schauspieler und Kinder im selben Alter, die doch so anders sind… Ich werde nicht anfangen, über den Anblick glücklicher Kinder (der mir erst noch bevorsteht) rosa Blumen in die Luft zu malen, aber in dieser Welt, in diesem Raum der Beherrschung, ist das ein Stück Freiheit, ein Stück Demokratie und Menschenrechte, wir tun was wir können, und darauf bin ich wirklich stolz. Es ist eine edle Aufgabe der Demokratie, in anderen Ländern nicht mit Parlament und Grundgesetz, sondern mit Kultur und Kunst, Möglichkeiten und gelebter Freiheit zu werben, und Kinder sind ein versprechendes Publikum. Dann geht das Festival, gehen wir nach Fergana, wo die Variante eine abgespeckte wird. Drei Tage, ältere Filme, Uzbekkino, unser selbstherrlicher Partner, übernimmt die Regie und Organisation, immerhin übernehmen sie dafür auch die Kosten. Für die Eröffnung vor Ort haben sie uns einen neuen Saal mit 900 Plätzen organisiert, und mit zitternden Lippen beten wir, dass sie den Saal auch halbwegs voll kriegen. Auf jeden Fall wird mein Anteil dort deutlich reduziert, komme aber trotzdem mit. Aufbau, Abbau müssen ja trotzdem in guten Händen liegen. Dafür, um zurückzukommen, was mache ich hier eigentlich, erfordert es einige Tabellen, Pläne, Uhrzeiten etc., die nun weitgehend fertig vor mir liegen. Die Volontäre sind grob in ihre Aufgaben eingeweiht, nicht wenige kennen die Prozedur von letztem Jahr, im Gegensatz zu mir.

Über meine Ilkhom-Besuche werde ich wenige Worte verlieren. Ich war erneut bei „Seven Moons“, das wirklich großartiges Theater ist, bei einem Dreieinhalbstunden(mit Pause)stück nach John Steinbeck, welches wundervoll tragikomisch, filmreif, aufspielte, sowie bei der zweiten Performance in der Reihe des Laboratorium „Musik und Theater“, das dieses Mal aus meditativen, zeitgenössischen Musikstücken (endlich ein Ort, an dem die Ohren nicht sterben), begleitet durch ebenfalls modernen Tanz einiger Spieler, bestand und so einem Konzert oder einer „klassischen“ Aufführung viel näher kam als das Mal zuvor. Leider, leider war diese großartige junge Frau, welche so unglaublich mit Stimme und Mimik gespielt hatte, dieses Mal nicht dabei, die Besetzung wechselt wohl mit jedem Mal. Insgesamt hielten die Spieler ihre goldenen Münder verschlossen. Am Sonntag wollte ich, und hatte mich im Vorfeld irrsinnig gefreut, in „Trip S“ gehen, eine – laut Website – Reise in die Kreativität des Menschen. Kristina, in deren Muttersprache es doch stattfand, meinte zu mir, sie hätte es nicht verstanden. Der Lichtdesigner meinte am Abend zuvor, es sei sein Lieblingsstück. Der sagte aber auch, die „Musik und Theater“-Performance erlebe man am besten high. Weitere Überlegungen in diese Richtung konnte ich mir sparen, denn aus „technischen Gründen“ konnte „Trip S“ nicht stattfinden, und wurde durch Jessenin ersetzt, denn ich schon einmal statt Henrik Ibsen sah. Aus Bequemlichkeit oder einfach der bestätigenden Befriedigung, schon wieder in diesem verdammten Saal zu sitzen (Langsam ist es genug!), blieb ich, verstand wenig mehr als letztes Mal, vor allem aber jenes, dass unter den Gedichten seine bekanntesten ausgespart wurden, dass sie intelligent durch Prosa (womöglich Tagebucheinträge oder Auszüge aus einer Autobiographie) verbunden und verwebt wurden, und dass der Schauspieler tatsächlich Besseres hätte leisten können. Zumindest teilweise war mir die Oberfläche seines Jim-Morrison-Gesichts einfach zu flach. Jetzt erstmal ist eine Pause angesagt. Der Wirbel geht im Mai verflacht weiter, sechs Aufführungen stehen auf dem Plan, mit der Ausstellungseröffnung ging gestern mein neunter Besuch allein im April zu Ende – und mit ihm eine Phase der Verwirrung, der langen Nächte und der Überforderung, dem Leben in drei Sprachen (Russisch überall, Deutsch im Institut und Blog, Englisch mit allen anderen) und einer Ruhelosigkeit, die einer Serie morgendlicher Kopfschmerzen in der letzten Woche ihren Höhepunkt fand. Es ist vielleicht gut, wenn mich das Festival noch einmal durchschüttelt, bevor ich wieder anfange, im Mai, mit den Theaterbesuchen und Abendveranstaltungen, Feiern und dem Trinken – nun gut, es stand in den letzten Wochen hinter den Begegnungen und Gesprächen zurück, auch wenn die Müdigkeit einen Großteil wieder verschluckt hat – ich bin, das möchte ich sagen, zufrieden. Und es gefällt mir nicht besonders, zufrieden zu sein. „Shum bola“ bringt, zumindest in Taschkent, wieder eine Herausforderung ganz eigener Art mit sich. Ich forciere die Lockerung des Alltags, und mein Alltag wurde sehr monoton – Wochenenden auswärts, Woche Goethe, zuhause zum Schlafen. Abgesehen von dem Geld, das es kostet, kostet es Klarheit, Gedanken. Ich hatte viele Gedanken, aber viel zu viele auf einmal, dann finden sie ihren Weg auch nicht aufs Papier, ins Tagebuch, sondern verschimmeln halb gereift auf dem Weg zur Hand. Ich beschwere mich nicht, ich beschwere mich nie, denn ich bin zufrieden. Aber doch, ich freue mich schelmisch, wenn ich sie wieder aufbrechen kann, für Unruhe sorgen, provozieren – ach, alles so anders als in Deutschland, dem rasenden, geraden Deutschland. Hier ist alles so viel interessanter, bietet so viel Eindruck, Erfahrung, und darum geht es, das zählt, alles andere darf – für die Dauer diesen Jahres – hintenan stehen.

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