Wachsen und Entschwinden
Als am 02. April gegen halb Drei meine Eltern, Geschwister, Großvater und Tante im Gemenge zur ersten Kontrolle unter vielen am Flughafen Taschkent verschwanden, mischte sich in meine kurzlebige Trauer eine unbeschreibliche Leichtigkeit, geschuldet der Last dieser Woche – ich bin nun so fest nicht gebaut – die nun von mir abzufallen begann wie ein Stein. So schön das Wiedersehen mit der Familie, noch dazu in so großem Kreis, in einem gemeinsamen Urlaub, nach dem man fast mitfliegen könnte, so nah ist man plötzlich wieder an Deutschland, so schön das Wiedersehen auch ist – alleine lebt es sich doch freier, leichter, und so marschierte ich los, ungewiss, was ich nun mit der Freiheit anfangen sollte, noch mein deutsches Handy in der Tasche – eine Stunde später fragte ich nach, ob alles glatt gegangen sei, und das war es, die Antwort endete mit: Entspann dich – aus dem Gelände des Flughafens heraus, seltsam unbelangt von usbekischen Taxifahrern, die vielleicht keine Lust hatten auf einen bärtigen Ausländer, die vielleicht auch gesehen hatten, wie ich gepäcklos angekommen war und gleich wieder abzog, mit dem Gedanken, ich hätte sicher ein eigenes Fahrzeug irgendwo versteckt, unbehelligt auch von der Nacht und der doch recht frischen Luft, einfach in Richtung zuhause, das so weit entfernt nun auch wieder nicht liegt. Zudem hatte ich durch die Tage zuvor – Samarkand, Buchara, auch verhältnismäßig viel Taschkent; für Chiwa war die eine Woche Schulferien meiner Geschwister zu knapp – einige Übung im Laufen, mehr zumindest als durch meinen Arbeitsalltag im Büro, und stellte schon bald fest, wie schön es sich nachts spazieren lässt, um halb Drei. Die große Straße, die als Brücke noch mehr große Straßen überquert, ließ sogar zwischen einer Betonschwelle und dem Geländer einen für mich gerade großzügig genug angelegten Freiraum, sodass ich auch hier unter Anhupen der wenigen Autos, die mich als Fahrgast wollten, bequem passieren konnte. Noch ungewiss, mit welchen müßigen Gedanken meinen Kopf zu füllen – in der letzten Woche hatte ich immerhin als Manager, Buchhalter und Guide gedient und keine Zeit zum freien Denken – ließ ich sie durch ganz gewiss unbedeutende Gefilde gleiten, meine Füße in den schnurgeraden Straßen kaum zu lenken. Lässt man die seichte Biegung der anfänglichen Brücke und dem letzten Teil der Straßen außer Acht, so hatte ich genau eine 90–Grad–Wendung zu tun und zweimal eine Ampel zu passieren, bis ich um Viertel vor Vier bei mir zuhause ankam, mich über die vier offenen Geschäfte wundernd, die anscheinend immer noch oder schon wieder auf waren, arbeitend – oder an ihrem Arbeitsplatz schlummernd, weil keine Kundschaft da ist, in einem Land, in dessen Hauptstadt die Schüler und Studenten um Zehn daheim sein müssen. Ich habe es aber doch genossen, so viel muss ich mir eingestehen, eine Woche nur dafür da zu sein, selbst Wege zu zeigen, mit dem Geld umzugehen, Restaurants zu reservieren oder zu recherchieren und letztendlich all die kulturellen Schätze in Buchara und Samarkand ein nunmehr zweites Mal zu sehen – bekanntlich wirkt dann alles schärfer, man kann selber ein Stück Geschichte erzählen und das Bild dieser Städte, dieses Landes wird einmal klarer. Ich kann auch nicht behaupten, dass diese Art von Management mir nicht gefällt, ich weiß nur: für eine Woche reicht es, für mein Leben zu gering. Nun fertig mit der Einleitung, die Stunde zum Grand–Mir–Hotel, ehem. гостиница Россия, dem gegenüber ich immer noch bei Elmira und Alisher wohne, mit deren Abwesenheit ich mich inzwischen ganz gut abgefunden habe, kühlte meinen Kopf überaus gut und entweder hiervon oder von dem teils schlechten Wetter in Buchara und Taschkent oder von beidem holte ich mir einen leisen Schnupfen, den in seiner Stille ich trotzdem mehr genoss als ich das bei übermäßiger Hitze getan hätte.
Nun sind seitdem zwei Wochen vergangen und trotzdem scheint es gar nicht so lang – zahlreiche kulturelle Events warteten nur auf mich und ich schritt sie alle ab, die Arbeit rief zurück zur Tagesordnung, mit alltäglich gut gefüllter Arbeitsmappe (so was habe ich ja gar nicht) und mittendrin blieb so manches auf der Strecke – so habe ich nun geschätzt vier Seiten Blog vor mir, mehrere Ideen purzelten kommentarlos in mein Tagebuch, gepaart mit Gedanken, wie ich sie wiederbelebt hatte. Der Reihe nach. Gleich nach der Abfahrt meiner Eltern muss ich wohl auf der Suche nach sinnvoller Beschäftigung gewesen sein, als ich an den Feierabenden zweier Tage – Montag und Dienstag – ins Ilkhom spazierte und eine Vielzahl an Karten für den April besorgte – es wurde und wird gewissermaßen ein literarischer Monat. Dies fand und findet in einem wunderbaren Büchlein seine würdige Fortsetzung, das meine Eltern mir mitgebracht hatten: Ilja Trojanows Zusammenstellung von literarischen Kommentaren aller Art zum Thema Spazieren, Laufen, Wandern mit dem grausamen Titel „Durch Welt und Wiese“, der doch an Schlager mehr als an Klassik erinnert. Texte über den Gang haben es jedoch an sich, vom Thema aus allein Freiheit und Leichtigkeit zu vermitteln, und gerade solch luftiges Intermezzo konnte mein angestrengtes Hirn in den Tagen gut gebrauchen. So schlug ich, wenn mir danach war, einen meist beliebigen Artikel auf und nach zwei, drei, fünf Seiten, wenn Schluss war, lehnte ich mich zurück, dachte über das Gelesene nach oder wenigstens darüber, was ich zuvor getan hatte, bescherte mir, wie auch immer, eine elegante Pause, ohne mich abzulenken, was im Konsumieren von Musik, Film oder Literatur – ob nun fordernd durch Präzision oder Langeweile – der Fall gewesen wäre. Das Glas Wein dazu (wenn es nicht gerade morgens beim ebenfalls mitgebrachten Kaffee war) tat sein Übriges, mich und meinen Gedankenmuskel (jaja, ist kein Muskel) sowohl in Freude als auch Ruhe zu versetzen – Ruhe, wie ich sie mir zweifellos gönnen durfte.
Gleich drei Projekte forderten in der erste Woche zumindest teilweise meine Aufmerksamkeit, kulminierend im gemeinsamen Essen zu zweiundzwanzigst am Mittwoch. Während ich mich noch im Urlaub und meine Eltern in Usbekistan befanden, reisten sieben Leute aus Heidelberg an, die jenes Theaterprojekt, das aus irgendeinem anderen Blogeintrag bekannt sein sollte, mit ihrer Aufführung, d.h. der usbekischen Inszenierung mit deutschen Schauspielern, fortsetzten – zur Premiere nahm ich meine Familie mit. Glücklicher Weise, oder schädlicher, je nachdem, musste ich nicht viel mehr mit ihnen unternehmen, kam so neben etwas Ruhe natürlich nicht zu einem Gespräch mit ihnen, Schauspieler, wie sie immerhin sind, und ganz und gar keine schlechten. Nichts im Vergleich zu meinen Lieblingen aus dem Ilkhom, aber den Geschmack wiegt ja nichts auf. Ein weiterer Künstler, diesmal aus der Metropole Leipzig, ehemaliger DLL–Student und nun Autor, Matthias Jügler, reiste im selben Zeitfenster an, um für die Abteilung Information und Bibliothek einen knappen Monat in Usbekistan zu residieren – Lesungen, Workshops, hoffentlich gute Eindrücke, es muss ja etwas Schönes sein, in einem fremden Land. Am Mittwoch hielt er seine erste Lesung, in Taschkent, vor einem Publikum, das durchaus größer hätte sein können, das zumindest aber interessiert war – nicht zuletzt, weil Cedric wieder einmal über Monate einen Buchclub durchgeführt hatte. Es ist dieser ruhige, realistische Stil, den ich nicht so sehr mag an erzählenden Prosatexten, der aber, einem vorgelesen, gleich viel angenehmer zu rezipieren ist als alleine unter dem Fenster. Interessant für mich ist weniger sein Debüt, „Raubfischen“, als die von ihm kürzlich herausgegeben Anthologie, die ich hier allen ans Herz legen möchte: „Wir wir leben wollen. Texte für Solidarität und Freiheit“ von 25 Autoren der tendenziell jüngeren Generation zum aktuellsten Thema der deutschen Gesellschaft: Integration, Ausgrenzung. Heimat, Fremde. Tief verwurzelter Rassismus gegen unverhohlene (gestellte?) Freude. Sehr spannend, literarisch hochwertig und sicher genug Stoff für eine Auseinandersetzung mit der Zukunft–Gegenwart, auch, aber nicht nur im Spiegel der Vergangenheit.
Im Anschluss war eben jenes Essen geplant, zu dem die sieben Heidelberger und die Protagonisten aus dem Jugendtheater Usbekistans zum Abschluss des zweiten Projektteils eingeladen wurden – der dritte wird Ende April in Heidelberg stattfinden, ohne das Zutun des Goethe–Instituts Taschkent, wohl aber unterstützt durch jenes in München, Deutschland. Dazu ging es in üblicher Manier ins „Manas“, in dem ich sogar mit meiner Familie war, und das trotz der offensichtlichen Speiseauswahl immer wieder großartig ist. Am Ende unterhielt ich mich ein wenig mit den Heidelbergern, die hinter der Bühne aktiv waren, als Regieassistenz und Dramaturgin, die mir dann ihr übriges Geld in Sum gaben, auf dass ich den Taschkenter Technikern etwas kaufen solle – noch immer habe das Versprechen nicht eingelöst, langsam wird es Zeit. Verwoben darin war nun unser drittes Projekt, von dem ich sprach: Der Architekt und Autor Philipp Meuser, der seit 2000 in unregelmäßigen Abständen das Land besucht und dessen Büro u.a. in Mali, im Yemen und in Turkmenistan aktiv ist und war, der Botschaftsbauten etc. entwirft und die weltweit ersten Architekturführer zu Astana oder Pjöngjang verfasst hat, der wollte nun auf einen Vortrag ins Institut kommen und war eben einen Abend früher bei diesem Essen anwesend.
Im Gegensatz zu Jüglers erzählender Lesung war der Saal für Philipp Meuser hervorragend gefüllt. Hier waren wir aber auch speziell auf die interessierten Stellen der Stadt zugegangen, die Architekturhochschule zum Beispiel, von der aus neben einigen Studenten auch ein Austauschprogramm inkl. Dozenten aus Frankreich anwesend war. Die es naturgemäß schwer hatten, da eine Übersetzung des deutschen Vortrages ins Russische, nicht ins Englische vorgenommen wurde. Das Thema des Vortrages war im Prinzip jene Epoche von Stalins Tod bis zur Perestroika, und darin eben der Wohnungsbau in Taschkent. Im Zuge der Entstalinisierung vollzog sich auch ein gedanklicher Wechsel fort von den barocken Thronsälen des Zuckerbäckerstils hin zur in Europa vorgedachten Stilisierung des Brutalismus, heißt: Plattenbauten, überall. Die in Taschkent sind aber besonders schön, weil auf der Suche nach Identität die Fassaden mit folkloristischen Elementen verziert wurden, das Praktische dabei mit dem Schmückenden verbindend, und weil farbige, faszinierende Mosaike den steilen Betonwänden unzähliger solcher Häuser einen Hauch der Schönheit schenken. Und nicht nur das, in Chilonzor, einem südwestlichen Bezirk der Stadt wurden auch zeitgleich zu Moskau die ersten Viertel in solchem Karree an hohen Platten errichtet, die es danach überall gab. Ein weiterer Schwerpunkt des Vortrags lag anschließend in der Beschreibung der mit dem schweren Erdbeben Ende April 1966 einhergegangenen städteplanerischen Veränderungen, die nicht nur gutwilliger Art waren. Zwar wurde ein großer Teil der weniger stabil errichteten Altbausubstanz bei dem langen Wackeln zerstört, aber Menschen starben nur wenige. Trotzdem gab es den sowjetischen Herren die Möglichkeit, ihren Generalplan, der bereits in der Schublade lag, sofort und ohne Zögern umzusetzen, weil ihnen ihr Gott ja nun einen guten Grund geliefert hatte. Also wurden solidarisch Arbeiter aus allen Herren Sowjetrepubliken herbeigerufen und die Straßenführung konnte ihren geraden Lauf nehmen, den sie auch immer noch besitzt. Wichtig hierbei: Vieles wurde erst nach dem Erdbeben zerstört, mit dem heuchlerischen Anliegen der Stadtverschönerung. Dies wird in bester Tradition fortgeführt, wie man in Taschkent, Samarkand und besonders gerade in Shahrisabz beobachten kann. Der französische Austauschdozent meinte zu uns im Anschluss, er sei zum dritten Mal hier und werde immer pessimistischer. Auf eine Bemerkung von woanders her, es gebe ja Veränderungen zum Guten und zum Schlechten in der Architektur, meinte er, das Gute daran wolle er mal sehen. Zahlreiche Fragen wurden nach dem Vortrag gestellt, und obwohl sehr wenig über die derzeitige Baupolitik gesagt wurde, lag der Bezug des Dargestellten jedem Anwesenden auf der Brust – die Bilder und Worte klangen einfach zu ähnlich, ältere Architekten erzählten erstaunlich offen über die Sowjetzeit und die Platten, welche in Taschkent die Lehmhäuser ablösten, ein Bild geistiger Kontinuität ergab sich, wie man es sich von oben sicher nicht wünschen würde. Wieder ein Schritt in Richtung Freiheit der Gedanken, Meinungsfreiheit. In der Beschreibung des „Clubs der Freunde des Ilkhom–Theaters ’Mark Weil’“ ist dieses Wort sogar nachzulesen: „Meinungsfreiheit“. Falls man das mal braucht. Eigentlich war ich wirklich müde und – verwöhnterweise – keineswegs geneigt dazu, mit Ravshan, Julia und Philipp Meuser essen zu gehen. Ravshan wollte auch nicht. Und dann gingen wir gemeinsam ins Assorti, eines der teuren Restaurants und aßen gute Fusion–Küche, sprachen über die usbekische Tourismusbranche, bevor Meuser ins Hotel fuhr, und ich nach Hause. Müde. Manchmal scheint es mir das einzige Wort, das ich noch weiß.
Das Wochenende: Ausruhen. Zur Hälfte von meinen Eltern, zur Hälfte von der vorherigen Woche, zur Hälfte vom Samstagabend. Zur Hälfte von der kommenden Woche. Sie fängt beschäftigt an und endet beschäftigt, und zwischendrin: ganz viel Theater.
Die Ausstellung, in die ich am Dienstag, halb privat, halb dienstlich, gehen wollte, öffnete im Ilkhom–Theater, nach dem ich in letzter Zeit so süchtig geworden bin. Den Auftakt zum Marathon machte bereits am Freitag ein Stück von Edward Albee, Three Tall Women, mit englischen Untertiteln, deren Nutzen aber knapp unter Nichts gesetzt werden kann. Ein wenig halfen sie, die Thematiken zu verstehen, sonst aber hinkten sie hinterher, verwirrten mich oft, weil ich halb auch das auf der Bühne Gesagte verstand, was zu den Worten auf der Tafel nicht passen wollte – aber ein schönes Stück. Die Alte – fantastisch, rasend, großartig, ein Tier, eine Nemesis und gleichzeitig die Heimgesuchte – berauschendes Spiel. Die Story – komplex. Die drei Charaktere verwandeln sich im Fortgang des Stückes immer mehr zu ein und derselben Figur, der Alten, in unterschiedlichem Alter und enden alle so gut wie tot – für ein Taschkenter Publikum sicher eine Herausforderung. Deshalb liebe ich sie, die Spieler, das Theater – weil sie herausfordern, sehr klug und vorsichtig, andererseits hoch provokativ. Eine von der Alten erzählte Fast–Sex–Szene aus ihrer Jugend wäre genug, das Goethe–Institut, hätten wir sie in unserem Saal gezeigt, zu sanktionieren. Das Ilkhom ist eine Art Andersort und hat sich in den zähen Jahren seiner Existenz eine Blase verdient, die es bis zu einem gewissen Grad intouchable machen. Aber nein, das erste Stück aus dem Marathon war es gar nicht, der Auslöser fehlt – am Abend, bevor meine Eltern anreisten, Karfreitag, hatte ich die Möglichkeit, auf Einladung zu einem Element der Reihe „Laboratorium – Theater und Musik“ zu gehen – eigentlich bekam Julia den Brief, aber wie bereits zu jenem Gastspiel aus Almaty fragte sie mich als Nächstbesten, ob ich nicht statt ihrer gehen wollte – wollte ich. Die Karte war für zwei Personen. Nächste Aufgabe: Eine zweite Person finden. Der Spanischlektor David war schließlich der einzige, der sich finden ließ und so gerieten wir in einen Experimentraum, eben jenes Laboratorium, das die Macher sehr wörtlich genommen hatten. Zusammen mit den Schauspielern des Hauses waren Musiker aus dem Ensemble „Omnibus“ anwesend, die oft genug mit uns (GI) zusammengearbeitet und eben aus diesem Grund Julia eingeladen hatten. Das letzte Mal fand ein Konzert mit einem jungen, deutschen Komponisten statt, zu dem ich aber in Kirgistan und dann Ulan–Bator weilte, man erinnert sich, ist das lange her. Was fand nun auf der Bühne statt? Die Szenerie war wie für das Ensemble gebaut, der musikalische Leiter trat auf und hielt einen kleinen Vortrag über die Art des „Laboratoriums“, ein Querschnitt aus der Arbeit, kein Konzert, kein Theaterstück, auch keine Performance – nein, Arbeitsergebnisse und Übungen, minimalistisch, ein Nachspüren der Wirkmächte der Stimme, des Klangs… So führte die Vorstellung über Rhythmus– oder Reaktionsspielen in der Reihe oder im Kreis und Einzeldarbietungen verschiedener Mitglieder des Schauspieler– oder Musikerensembles, alle einzeln stehend und nur durch ein Thema verbunden, dass dieses Mal „Counting to Seven“ lautete, nach dem Zyklus eines zeitgenössisch amerikanisch–französischen Komponisten, der die Zahlen Eins bis Sieben in zahllosen Sprachen zur Grundlage seiner mathematischen Rhythmus– und Klangspiele gemacht hat. Aus dem bloßen Knochenbau einer Zahlenreihe in Hebräisch, Baskisch, Deutsch oder Italienisch brachten die Spieler teils verzaubernde, teils haarsträubend überwältigende, teils wirkmächtige Vorstellungen hervor, die nie über die Dauer eines guten Gedichts gingen und doch alleine eine Welt der Mystik und der Gewalt errichteten wie eben solches – einzig und alleine gezogen aus dem Klang der Zahlen bis Sieben, und aus dem schier unerschöpflichen Talent der Spieler in ihren kurzen Rollen, die sich danach, wie niemals im Theater, aus Freude über ein vollbrachtes Kunstwerk in einem ungekünstelten Lächeln ergehen. Vielleicht am meisten beeindruckt hat mich das letzte Stück, erstmals vom personellen Minimalismus abrückend, hin zu einem Kammerensemble – für diesen Part allein war die Bühneneinrichtung mit Pulten, Stühlen, Instrumenten seit Anfang präsent. Eine schmale Schauspielerin in verschmitzt kariertem Hemd betrat die Bühne und blieb vor den Musikern stehen, schaute ins Publikum, die Schultern nach vorne geneigt, scheinbar ohne Spannung und begann, mit leiser Stimme eine Geschichte zu erzählen, von der ich nur verstand, dass es ein mathematisches Denkspiel war, bei dem es um die Vermehrung von Königskindern in 17 Generationen ging. Die Zahlen vermehrten sich in jeder Generation potenziell und nach jeder spielte die Gruppe eine bestimmte Notenfolge. Nach dem Beginn der Erzählung, den ersten Kindern, war ein Strich alles, was sie übrig hatten, ein kurzer Akkord, der im nächsten Schritt nur um sich selbst vermehrt wurde. Bei der 17. Geschichte handelte es sich um ein volles Zwei–Minuten–Werk. Dazu die kleine, junge Frau mit den schwarzen, leicht gelockten Haaren in ihrer lockeren Pose, die mit ihrer Stimme, so leise und schwach sie auch war, eine Stille ins Publikum brachte, die ehrfurchterregend war. Ihre Mimik, das Zittern ihrer Stimme steigerte sich, wie bei einer tragisch-grausamen Geschichte, bis zur etwa 14. Generation ins Unermessliche, die Zahlen der neuen Königskinder, die am Ende die Tausend weit überschritten hatten, lagen ihr so schwer auf der Zunge, dass man fast Angst um ihr Spiel haben musste. Dann wurde sie, nicht auf einmal, ganz sanft und, auch ohne dass man verstand, wieso – sehr ruhig, nahm die Zahlen ausdruckslos hin, resigniert, vor den Nummern, die doch nichts bedeuten. Diese Frau habe ich, sooft ich auch im Theater war, seitdem nie wieder gesehen. Diese Vorführung, deren Bild und zittrige Stimme mir noch zwei Wochen später im Ohr klingen, war so bombastisch, dass der Entschluss vorstieß und plötzlich die Gewissheit da war: Dieses Theater ist es verdammt noch mal wert, dass ich so viel Geld wie ich habe da rein stecke. Wenn ich schon in der Position bin, Theatergänger, im weitesten Sinne Unterstützer, zu sein, gleichzeitig die Möglichkeit habe, erstklassiges Theater zu erleben – ich war dumm, nicht früher schon die Gelegenheit genutzt zu haben. Es gilt, eine Menge nachzuholen.
Damit fange ich gleich an. „The ball I threw while playing in the park/has not yet reached the ground.“ Den Bogen, den ich aufgemacht habe, vergaß ich zu schließen. Die Ausstellung in die ich halb privat, halb dienstlich gehen wollte, besuchte ich in zwei Rollen: als Vertreter des Goethe–Instituts, weil Julia wieder Wichtigeres zu tun hatte und der Veranstalter ein von uns unterstützter, abtrünniger Filmemacher ist (Man erinnere sich an die Veranstaltung, die wir im letzten November, vom Ministerium nicht genehmigt, einen Tag vorher absagen mussten: Der), der unsere Gegenwart aus Höflichkeit und Zeichen der Zusammenarbeit erwartete. Zweitens war ich da, weil ich Gefallen am Sehen und Gesehen-Werden der Kunstwelt gefunden hatte, so abseits sie doch von allen Normen des Staates ist – dann ist das Ilkhom natürlich der richtige Ort. Der rätselhafte Name der Ausstellung, die in anderer Zusammensetzung der Künstler schon im Haus der Fotografie und in der Bonum–Factum–Galerie zu sehen war, lautet in wörtlicher Übersetzung „Kunstpuzzle: Rahmen bis zur Geburt“ und bestand aus Serien von Fotografen und bildenden Künstlern, die von einem der drei anwesenden Komponisten mit einer eigenen Musik versehen wurden, teils klassisch, teils Pop, teils minimalistisch. Ganz anregend und interessant, andere Worte finde ich nicht dafür, aber eines hat mich doch ungemein beeindruckt. Sehr enttäuscht von der lapidaren Erläuterung des Künstlers, das seien Dracula, Der kleine Prinz, Hamlet und Zorro – in aufsteigender Reihenfolge die creme de la creme der Literaturhelden. Davon ungestört, zeichnete ich gegen Ende des Abends ein kleines literarisches Porträt der vier Fotos, die sämtlich auf schwarzem Grund das grandios agierende Model in Schwarz–Weiß und fahlem, einseitigen Licht zeigte. Die dahinterstehende Idee, diese Männertypen mit einer weiblichen Figur abzulichten, gaben dem Werk nicht nur eine Seite, die mir rein ästhetisch gefiel, sondern auch Stoff zur tieferen Analyse, den ich euch hier ersparen möchte. Und zwei Bands spielten auf – jenes Model gab in der ersten den Gesangspart, glücklicherweise spielten sie nur wenige Lieder. Obwohl, anzuschauen ist sie sehr hübsch. Die zweite Band gab mir mit ihrem längeren Spiel und einfachen, d.h. den Zuhörer nicht herausfordernden, Rhythmen bei gleichzeitig angenehmer, d.h. nicht anstrengend eintöniger, Melodik Raum zum Schreiben, mal sehen, ob ich es je als ein Ganzes zusammenfügen kann.
Weil ich jetzt selbst müde bin, mein Schreibfluss in einer Art verzerrten Homogenität verschwimmt, während es immer schwieriger wird, unverbrauchte Worte zu finden, kläre ich schnell die Überleitung zum Freitag – der Teil liegt unten schon fertig, dann hab ich Feierabend – was den Blog angeht. Erwähnenswert sind sowieso unter all den Stunden wieder nur jene, die ich im Ilkhom verbracht hatte, nämlich die des Donnerstagabends. Es war ein Konzert, auf das ich mich ungemein gefreut hatte, Antikriegslieder, seit letztem Jahr im Programm als Erinnerung an 70 Jahre Ende des Zweiten Weltkriegs und als Mahnung – nie wieder. Этот поезд в огне, This Train’s on Fire, doch die Lieder waren alle auf Russisch, und die paar Zeilen hier und da ließen mich wünschen, ich verstünde den ganzen Text. Die Akteure waren Soldaten, Heimkehrer, Freunde, Mütter, Geliebte – alle betroffen, alle exzellent in ihrem Spiel und Ausdruck, alle angenehm im Gesang, einige hervorragend. Diese Stimmen, diese kleine Bühne, die bei jeder Vorführung ihren Körper wechselt und eine neue Haut anstreift, so wie man sie noch nie gesehen hat, diese Spieler, die ihren Körper ganz der Bühne, dem Zuschauer, dem Spiel geben, und wenn sie wahnsinnig werden, dann glaubt man ihnen das. Das ist kein Spiel, das ist realer Konflikt, und den verstehen sie meisterlich weiterzugeben an uns, die wir dafür Geld bezahlen, die wir innerlich danach lechzen, Extremerfahrungen, Augenblicke von Tod und Schmerz, so über einen Mittler, den Akteur, zu erfahren, als sei es an unserer eigenen Haut. Ja, sie können, was sie tun, ja sie wissen, wie sie sich inszenieren, und sogar, was Krieg ist. Auf dem Nachhauseweg passiere ich Hundertschaften Polizisten, an allen Ecken lungern sie, der Unabhängigkeitsplatz ist für Fußgänger gesperrt, dort brennt einsam die ewige Flamme der weinenden Mutter. Irgendwelche wichtigen Leute aus Kasachstan sind da, vielleicht sogar der Präsident, es interessiert mich wenig. Ich marschiere in geliebter Einsamkeit die 40 Minuten nach Hause, wo Bücher und Schlaf mich erwarten, und denke über morgen nach – denke daran, dass ich wieder ins Institut fahren werde, den halben Tag mit Arbeit verbringen werde und den Rest im angestrengten Nachdenken darüber, was mir noch zu tun bleibt, bis es mir wieder einfällt, und so bleibe ich, am Ende beginne ich „Der Staat gegen Fritz Bauer“ zu gucken, der in etwa das Gleiche ist wie „Die Akte General“, aber Burghart Klaußner macht die Geschichte wert, noch einmal zu passieren, bis es soweit ist – IlkhomRockFest.
Es ist einfach wohltuend, in einem Land der Strenge und Konfrontation so unangepassten Rock, so ausbrechende Performances zu erleben, mitgerissen zu werden von einem Hauch der Freiheit in einem unfreien Staat. „The Doors of Perception“, hieß – freilich auf Russisch – das Programm für den heutigen Abend, und ließ hoffen auf guten Rock und gute Stimmung. Im Internet stand: Titel von John Lennon und The Doors – im Endeffekt war es hauptsächlich letztere, die sich als Autoren kennzeichneten, dazwischen Evergreens wie Imagine, Norwegian Woods – in einem fantastischen, psychedelischen Arrangement – und einem unpassenden Lied, das ich nicht kannte. Die Bühne ein Friedhof, Jim Morrisons Name auf einem der Steine, dazwischen tanzend, springend und die spät heruntergebrannten Teelichter verschüttend, ein Mann mit Spitzbart, Brille, offenem Frack auf Haut und einer Melone, die von Zeit zu Zeit auf seinem Kopf, in seiner Hand, auf seinem Bauch mittanzte – ein Männlein, das dem Zauberer eines Irrenhauses nicht unähnlich sah und den alptraumhaften Rumpelstilzchen, die manchmal jemandes Kopf bevölkern ebenso wenig. Ohne die Gefühle der Künstler verletzen zu wollen – die Gesangsqualität war am vorherigen Abend besser. Man muss auch wissen, wie man ein Mikro benutzt und dass man es sich nicht direkt an den Mund hält, wenn man schreit, weil dann alle Ohren im Raum kaputt gehen und aus den Lautsprechern etwas kommt, dass dem Geräusch eines Schädels im Zermalmen nicht unähnlich ist. Zudem gab es eine junge, sehr attraktive, auch noch lasziv spielende Dame auf der Bühne, für deren Auftritt zweifellos nur Männer im Publikum geklatscht haben, denn singen konnte sie nicht. Ihre Rolle schon. So etwas wie Gesang und Wohlklang ist aber auch unnötig, wenn man sich The Doors in Usbekistan anhört – fast wie eine Massage, wenn er singt, Tell me the way to the next little girl. Man hatte gehofft und gezittert, nach einigen ordentlichen Gesangseinlagen doch wieder versöhnt, von den guten Gitarren, Bass und Schlagzeug sowieso, und am allermeisten von all den Lieblingssongs, die einem nun wieder im Kopf herumschwirrten, und dann der allergrößte und allergewaltigste, den die Gruppe geschrieben hatte: The End, in voller Länge, mit allen Zeilen, die das Herz eines patriotischen Usbeken, der Vater und Mutter liebt, bis ins Mark erschüttern wollten, doch glücklicherweise schien das Publikum voll von Russen oder zumindest Leuten, die kein Wort dieser Zeilen verstanden. Oh, wie die Bühne das auskostete, endlich all den Rotz aus den Lungen zu kriegen, und es war gut, ich bin gereinigt, durch die Tore der Wahrnehmung gegangen – The End in Usbekistan, wunderbar. Wun–der–bar. Das Beste – die Show spielen sie schon zum zweiten Mal, das erste hatte ich, Anfang Dezember, verpasst, nun wieder – und wieder, und wieder – bis ihnen die Augen und Ohren abfallen und den Verstand dazwischen freilegen. Oder in einer Wolke aus Lärm ertränken. Nicht, dass man mich falsch versteht – mich ergötzen nicht die schlüpfrigen Texte, ich labe mich nur köstlich an der Provokation, die sie bedeuten.
Welche Schönheit in der Ruhe liegt! Nichts tut so gut, wie nach einer langen Woche, zahlreichen auswärts verbrachten Abenden und wieder einer langen Nacht einen Samstag des Dösens, Nachdenkens, vereinzelten Lesens und Schreibens zu haben – völlig entbunden von Pflichten, außer denen, die sowieso dem Herz und nicht dem Kalender entspringen. Doch zu kurz, ein Tag, ein Urlaub an der Küste wäre höher gewesen, aber wer will sich beschweren nach einem simplen, schönen Erdenkreis? Nach dem Aufstehen und geruhsamen Frühstück wollte ich mich zum Mirobod–Basar aufmachen, um Geld zu wechseln. Ein kurzer Blick ins Fenster, ein Schritt auf die Öffnung zu und ein pupswarmer Wind streicht hinein – es sind Augusttemperaturen mit Ankündigung – denn bereits die Nacht war so schwül gewesen, so leicht und sommerlich, dass ich, als ich um halb Drei hundsmüde aus dem Barduck am Broadway stolpere, weit entfernt davon bin, meinen Pullover aus dem Rucksack ziehen zu müssen. Es ist der Rucksack mit allen Papieren, Heften der Arbeit, denn zwischen Feierabend und Bett lagen rastlose Stunden, nur nicht zuhause. Nach dem Konzert trafen wir auf Farid und seine Freundin Juna, die verrückt, aufgedreht und immer an der Flasche, mit Zigaretten und manchmal – nie in meiner Gegenwart – mit anderem, zu jenen Leuten gehören, die nicht in dieses Land passen. Zu unangepasst, zu Underground, er ist Englischlehrer, sie Fotografin – soweit sie erzählen. Mit Jonas, als der noch hier war, haben wir einige Abende verbracht, und er kennt eine Menge Leute, Orte, die man in jener Ausländerblase, aus der auszubrechen nicht einfach ist, kaum wahrnimmt, von denen man, in ihrer Freiheit, kaum ihre Existenz, gerade hier, vermutet hätte. So kennt Farid auch die meisten Schauspieler des Ilkhom, die er dann, als sie lange nach Ende der Vorführung auf den betonumbauten Hof kommen, sich ihre Zigaretten anzünden und ein wenig im Ton des Abends schwelgen – kurze Phrasen aus Light my Fire oder Riders on the Storm anstimmen – begrüßte und mit denen sie, ich im Schlepptau, fasziniert, sich die Straße hoch in jenes Kafe setzten, in dem wir (anderes Wir) schon vor der Vorstellung auf eine Suppe vorbei geschaut hatten. Nach langem Hin– und Herrücken der Tische und Stühle, ich wortlos daneben, für eine Gruppe unserer Größe – gute 20 Mann (und Damen), kam es im üblichen Rahmen zu Bier und Schaschlik und Unterhaltungen, an denen ich mich nach ein, zwei und im dritten Bier mit wachsendem Eifer beteiligte. Mir gegenüber saß ein Mensch, der offenbar ursprünglich aus den USA stammt („We in Alaska…“), dann eine Schauspielerin geheiratet hat – jedenfalls sind sie zusammen – und geblieben ist. Schon der vorherige Abend hatte mir den Gedanken eingepflanzt, vielleicht – obwohl es eine Schnapsidee ist – doch einige Jahre anzuhängen. Das Theater bietet immerhin eine dreijährige Ausbildung zum Schauspieler und in diesen Räumen zu spielen, das wäre schon eine Klasse für sich – eine der großartigsten Jobausschreibungen, die mir über den Weg gelaufen sind. Suchen Schauspieler für avantgardistisches Spitzentheater mit maximal hundertzwanzig Sitzplätzen, geringer Bezahlung und hoher Beschäftigung in einer der Top Ten unter den Diktaturen dieser Erde. Lust bekommen? Gerade Taschkent wäre eine Stadt, in ihrer Erschöpfung und Weite, Monstrosität allein in ihren Ausmaßen, in der ich sicher auch gut schreiben könnte, zum Beispiel. An Erfahrung mangelt es hier nicht, im Gegensatz zum langweiligen deutschen Alltag. Irgendwann bricht auch hier der Alltag ein und dann könnte es schrecklicher werden als jemals gedacht – wenn die Repressionen zunehmen, die Arbeit schwieriger wird und weniger Leute kommen, das Gehalt schrumpft… Und mein Magen, allein für meinen Magen ziehe ich Deutschland vor – wer weiß, vielleicht wird es jetzt, in der tristen Bürokratie und Berechenbarkeit der deutschen Lebensweise, mit den Flüchtlingen und Company doch ein wenig spannender, herausfordernder… Ich will nicht, dass sie gehen, ich habe Lust, ihren Einfluss auf die Kultur zu sehen und kräftig mitzumischen, wenn etwas von Bedeutung passiert, Veränderung in Richtung Kreativität und Offenheit statt trockenes „Gewäsch und Seifenschaum“. Also doch Deutschland, hätten wir das geklärt. Die Verlockung bleibt. Mein Magen würde stöhnen. Nach dem Zusammensitzen im Nilufar oder wie das Kafe hieß, nahmen einige der Mannschaft Abschied, um ins Bett zu gehen, wer morgen arbeiten musste, der andere Teil, und ich mit ihm, verschwand für einige Stunden noch in eben jenes Barduck, von dem außen keine Beschriftung und kein Schild an der sichtschutzbraun getönten Plastikscheibentür kündet. Weil Farid und Juna sich noch mit zwei Spielern unterhielt – darunter das Rumpelstilzchen, das nun, ohne Frack und Hut, mit einem Fahrrad und ernstem Gesicht, gar nicht mehr dämonisch aussah – wartete ich mit den Vieren, durfte mit aufs Selfie, bevor die Akteure abdampften und trottete anschließend neben den beiden Verrückten her, um in der Bar, die irrsinnig billig ist und gleichzeitig angenehm eingerichtet, obwohl typisch zwielichtig dunkel, verraucht und etwas modrig, wieder auf jenen Teil der Truppe zu stoßen, der sich vorhin absentiert hatte, von dem sehr bald ein Großteil auch ging. Nur ich, zu sehr an die Idee gebunden, hier mit diesen Spielern zu sitzen, deren Theater ich so sehr bewundere, wollte mich nicht meiner Müdigkeit ergeben und sprach dann, auf Englisch oder Russisch, in einer Runde mit dem Keyboarder, der auch am Donnerstag gespielt hatte und mich unglaublich an die Bilder Keith Emersons in den 70ern erinnert, dem Gitarristen, der bei „Sem Lun“ – Sieben Monde – auch Kontrabassist ist, und dem Spieler des Sergej Jessenin, der in gewisser Art und Weise wie Val Kilmer in „The Doors“ und so wie eine usbekische Wiedergeburt Jim Morrisons wirkt – der am Vorabend auch einen der – in meinen Augen – Höhepunkte des Programms dar geboten hatte. So wurde es natürlich spät und ich, obwohl eigentlich wenig Alkohol im Spiel war, wachte am nächsten Morgen mit leichten Kopfschmerzen auf und eben jener Überzeugung – heute ist Ruhetag.
Eben der führte mich gegen Mittag in der gleißenden Sonne, ein wenig stechenden Hitze zum Mirobod–Basar, der sich inzwischen auf dem Parkplatz neben der Hauptkonstruktion um ein zum Ark hin an zwei Seiten offenes Fünfeck tummelt, in knapper Sichtweite der orthodoxen Kirche, die mit ihrem Blau an diesem Tage wieder mal eine Augenweide ist, und die Stände lassen mit ihrem blauen Sonnenschutz schmale, schattige Gassen und ich komme mir schon gleich vor wie in Algier oder auf den Basaren Marokkos – Apfelsinen, Pilze, Erdbeeren, von denen ich mir ein Kilo mitnehme – sie schmecken wie Sommer, und es ist April. Der Grund für diese Tummelei ist die Renovierung des Basars, der riesigen Konstruktion, deren Zierstreben abends eine Masse kreischender Vögel anlockt, welche den großen Raum mit ihrem Geschrei füllen, unter dem die Händler auf ihren nummerierten Steintresen die frischen Waren präsentieren, breite Wege lassend für Käufer und Besucher. Darum herum, in den Wänden des Fünfecks, Läden für Kosmetik, Fleisch und Kühlwaren. Hier bauen sie wenigstens nicht das ganze Gebäude neu (wie am Alaiskiy), obwohl man die Konstruktion der Streben mit ihrer Anziehungskraft für Vögel doch hätte überdenken können. Hier reißen sie nur die Tresen ab, erneuen Farbe von Wand und stählernen Trägern, damit es hübsch aussieht. Diese Maßnahmen sind für ein bedeutendes Treffen der Shanghai Cooperation Organization, dessen Vorsitz Usbekistan in dieser Periode hat. Eine Frau stellt sich neben mich und fragt mich, was das soll, das Alles–neu–Alles–schön. Ich erkläre es ihr. Aha, meint sie dann, damit sie sehen, dass in Usbekistan alles funktioniert und sauber ist. Und schön, füge ich hinzu, die Bitterkeit ihrer Stimme aufgreifend. Es gibt im Volk nicht vollen Rückhalt für diese Bauvorhaben – siehe Shahrisabz. Wenn er sie ausdehnt, könnte es ihn noch vor der Zeit den Hals kosten.
Der Ausblick auf den Abend versprach ein langes Programm, zum Glück hielt letztendlich mein Magen mich davon ab, nach dem Restaurantbesuch noch weiteren Alkohol zu trinken. Von Anfang an: Dritter Ilkhombesuch in Folge. Diesmal kostenlos, weil das Goethe–Institut die Inszenierung finanziert hatte, ähnlich diesem Kafkaprojekt, das Ende Mai premieren soll. Der „Goldene Drache“, Золотой Дракон, ein Stück von Roland Schimmelpfennig über die Bewohner eines Hauses, in deren Erdgeschoss das chinesisch–vietnamesische Restaurant jenen Namens liegt, in dem die Köche einen jungen, fernöstlichen Flüchtling verstecken, der Zahnschmerzen hat und an den Folgen der brutalen Behandlung durch die Köche stirbt, von ihnen anschließend ins Wasser geworfen wird. Dann die Geschichte seiner (vielleicht) Schwester, die als Prostituierte endet und von allen Bewohnern des Hauses aus Eigennutz und Einsamkeit misshandelt, sexuell missbraucht wird, zwar nicht stirbt, aber an einem Ende ist, von dem kein Weg mehr an den Anfang führt. Insgesamt war das Stück voll von Einsamkeit und Charakteren einer sozial gestörten Gesellschaft – Deutschland. Phänomenal: die Schauspielerin mit dem koreanischen Gesicht, die beide Flüchtlinge spielte – die Prostituierte wie den letztendlich toten Jungen. Weiterhin: die Alte, die den Zuhälter und eine Köchin verkörperte, die bei Three Tall Women die 92–Jährige gegeben hatte und bei Sem Lun, das ich am Mittwoch wieder sehen werde, ebenfalls eine Alte spielt, die beim Antikriegsliedabend dabei war und bei jenem Ilkhom–Laboratorium, die einfach in allen Rollen brilliert und beeindruckt – Hut ab. Mir gefiel die Geschichte, Kristina (meine Russischlehrerin) fand sie seltsam und die beiden Japaner, die sie mitgenommen hatte, sagten nicht viel dazu, verstanden wohl auch nicht viel. Zum Abschluss der Fernost–Runde ging es in geplant großer Runde zu einem Koreaner, in dem wir schon einmal waren (d.h. die üblichen Verdächtigen) und nun wenig neue Leute dazu kamen. Julius aus Samarkand, der in Usbekistan noch alles happy fand (das für’s Protokoll), war dabei, alle Deutschen und Deutschsprachigen, der Spanischlektor David, Vilja und die beiden Japaner. Das Essen muss es wohl gewesen sein, dass mir anschließend in der Elvis–Bar, die Julius, der Berliner, mit hellem Ausdruck des freudigen Erstaunens betrat, die ersten kleinen Schmerzen bescherte, die wiederum mich dazu veranlassten, vom Wodka abzusehen. Es war eine kleine, kurze und traurige Runde – die Bewohner des Deutschen Hauses verließen bald den Ort und zurück blieben Vilja, Julius und ich – für Erstgenannte eines der letzten Male. So was passiert der UNDP nicht zum ersten Mal, es ist aber immer wieder unangenehm, erst recht, weil sie erst seit Januar hier ist. Aber da lässt die Politik nicht mit sich reden, da hilft auch keine note verbale, wenn die Verlängerung der Akkreditierung unbegründet zurückgewiesen wird, bleibt ihr nichts anderes übrig als das Land zu verlassen und an einem anderen Ort wieder angestellt zu werden. Zwei Jahre wollte sie bleiben, ein Drittel war es nun, noch bevor unser „Shum bola – 2016“ beginnt, muss sie gehen. Das war schon eine ganze Weile klar, langsam darf man es weiter erzählen. Also irgendwie gedrückt machten wir uns auf, wollten noch woanders hin – Farid hatte gesagt, dort fände eine Open–Air–Party statt – und als wir ankamen, fing mein Magen wieder an, ganz von alleine, ich sagte Tschüss, die beiden verschwanden in der Bar, und ich erklärte einem betrunkenen Farid, der schon wieder ganz woanders war, am Telefon, dass ich nicht zu ihm stoßen würde.
Der nächste Morgen seltsam. Kopfschmerzen und ein beklemmendes Gefühl im Bauch, das sich den ganzen Tag über nicht legte. Die am Samstag gekauften Erdbeeren mischte ich nun mit Kefir in eine Art Joghurt. Ein bisschen fühlte ich mich krank und, obwohl die Augen ohne Hilfe offen blieben, sehnte ich mich nach endloser Ruhe und irgendetwas, irgendetwas, das meinen Magen nicht reizen würde – wenn es auch nur ein wenig ist, gerade in dieser letzten Zeit, den beiden Wochen, seit meine Eltern weg sind und ich viel zu tun habe (Stichwort: emotionaler Stress), spüre ich alles quer liegen und mein Körper fühlt sich alt und fahl. Nicht bestimmt grausam oder groß, der Schatten ist eher klein, aber bis heute gewachsen – ich will nur, dass er wieder abnimmt. Ich verlange keine Auflösung in nichts, nur eine Lockerung dieses Gürtels, der sich ohne mein Zutun um den Nabel schnallt… Aber ich lamentiere ja nur wieder über irgendetwas, Hauptsache, ich kann jammern und larmoyant sein, das alles klingt immer schlimmer als es ist – Anstrengung, mehr nicht. Ein bisschen Herausforderung muss sein.
So auch beruflich. Das Goethe–Institut ist weiter diesen bestimmten Repressionen ausgesetzt und verwendet immer größere Mühe darauf, einen Ausweg zu finden oder eine Möglichkeit, weniger strikt behandelt zu werden als andere Organisationen, sozusagen im Austausch unserer bereitwilligen Selbstanerkennung als NGO im Gesetz. Es wird trotzdem nicht einfacher, die Hoffnung zielt auf lange Sicht, und je mehr Zeit ich hier verbringe, desto paranoider, desto pessimistischer werde ich und freue mich auf Deutschland – auch wenn die Freude in einer Schublade rumoren darf, wo „weit weg“ drauf steht, das ist alles mehr als 30 Tage entfernt. Aber eine Ausbildung am Ilkhom – was das nicht wäre! Unter so vielen Charakteren auf einem Fleck – gegen die deutsche Kühle, Expressionslosigkeit und Angepasstheit – all das, wofür Angela Merkel steht – ist das ein Bienennest, Hort des Widerspruchs und der intelligenten Dissidenz. Hier werde ich noch häufig hinkommen, in diese Hallen. Und sind es nicht – trotz aller Erschöpfung und Müdigkeit vom Land, von den Leuten – gerade die Momente des intelligenten Widerstandes, in denen Herz und Verstand gleichermaßen blühen und zu einer harmonischen Einigung führen, die ohne die äußerlichen Widrigkeiten und Probleme gar nicht so erlösend, weit nicht so schön und berührend wäre? Es entsteht wenigstens der Eindruck, man gehe gegen die staatlich verordnete Homogenität und den Konformismus vor. Die Extreme bilden den Charakter, und hier ist der Punkt, auf den ich baue: In Deutschland werde ich nie wieder so durchgerüttelt werden, so zwischen den Stühlen oder in solcher Ekstase – hier bin ich Dissident, hier darf ich sein. Darum ist es noch immer gut, hier sein zu dürfen und noch immer gut, nicht nach Hause zu können – weil mich immer noch etwas hier hält, und das ist glücklicherweise nicht nur die Arbeit. Das ist Theater, das ist die Gastfreundlichkeit, das ist der kleine Kreis, in dem wir feiern – das ist Leben, unverdünnt – für mich unerfahrenen 20–Jährigen vielleicht ein wenig zu stark gebraut, aber nicht unerträglich. Nicht schlecht.