Atempause

Es gab wunderschöne Tage – wolkenbedeckte Tage in kühler Luft, Frische, einem Hauch von Luft, der um die Ohren zieht und, ja, die Blüten, für die alle hoffen, sie mögen jetzt bleiben. Im letzten Jahr rauschte Anfang März eine Kältewelle über das Land, oder die Stadt, und verdarb die Frucht nachhaltig – niemand wünscht es sich jetzt. Die Tage waren perfekt. Nicht geplagt von der Hitze noch blendender Sonne gingen die Stunden vorbei und ich wünsche mir, draußen zu sitzen und Mails zu schreiben, Telearbeit würden wir es nennen. Nun sitze ich stattdessen in einem klimatisierten Klotz, der für einen Klotz doch recht freundlich gestaltet ist, und schreibe meinen Blog. Es ist Freitag und ich habe viele Kleinigkeiten erledigt, nur darauf wartend, dass mir viele andere Kleinigkeiten wieder einfallen. Man wundere sich nicht, wenn es am Ende des Texts plötzlich Sonntag ist, so schnell vergeht die Zeit. So schön die Tage des seltenen Bedecktseins von Himmel und Seele auch waren, so schwer wurden sie mir – im Morgen. Es ist nicht meine Art, mich aus dem Bett zu quälen, aber die letzten Nächte waren unruhig, ein Kampf, was weiß ich. Einzig, dass ich aufwache wie nach Alkohol und langer Nacht, obwohl es acht Stunden nüchterner Schlaf waren, dass mein Körper sich alt fühlt und traurig, und wie aus gerotteten Träumen, immer die Blindheit im Kopf und Ziellosigkeit, wer und wo bin ich, ich kann die Fragen nicht nennen, weil sie sich mir auf anderer Ebene stellen, keine Worte benutzen. Es mag deshalb sein, dass ich sie nicht richtig verstehe.

Wenigstens war die Arbeitswoche kurz und schmerzlos. Kurz, weil der achte März als Frauentag frei ist, der Montag zum Brücken- und der vorhergehende Samstag zum Arbeitstag gemacht wurde, und schmerzlos, weil nichts anderes anfiel als Ordnen, Schreiben, Altbekanntes. Russischunterricht, wie fast jede Woche und mit einem geruhsamen Ausklang: Am Freitag fand ein erstes Künstlertreffen zum Projekt „Zoom“ statt, bei dem es galt, dem Klang der Sprache zu folgen und Impressionen aufzunehmen. Übungen, die ein ehemaliger Schauspieler des „Ilkhom“ mit den Teilnehmern durchführte, notierte ich mir gleich in mein Heft, für Theaterworkshops und liebe Dinge. Obwohl ich inklusive dem vorliegenden drei Texte beenden konnte, schien die Zeit mir doch voll von Aktivitäten und Verlustierungen, die alle ihr eigenes Budget beanspruchten. Natürlich, dass eine weitere Deutsche hier ist und bis Juli bleibt, dass der neue „kulturweit“-Freiwillige in Samarkand angekommen ist, also die neue Personalie, macht erstmal das Leben wieder bunter. Am Donnerstag habe ich mir sogar erlaubt, ins Kino zu gehen, einen schlechten Actionfilm zu sehen, bzw. bei einer Überlegung zur amerikanischen Drehbuchstruktur wirr zusammenhängende Bilder zu sehen, und das zwei Stunden lang. Um zu verstehen, musste man weder der russische Synchronisation noch den Flügen, Animationen und lauten Schlägen folgen, nur einzelne Bilder aufnehmen, Syd Field und vielleicht Christopher Vogler kennen. Ich arbeite intensiv an einem Sequel.

Am Samstag, den ich halb mit Schlaf verbrachte – kühlem, heilsamem Schlaf – ging es für Julia und mich zur Galerie „Bonum Factum“, eine Plakatausstellung anzusehen, Ergebnisse, an denen das Goethe-Institut unterstützend Anteil hatte. Nachdem ich aus der Mittagsruhe nur schwer hervor gekrochen kam, klapperte ich steif die tausend Treppenstufen herunter, auf den Hof, und, die schwere Metalltür mit einem quietschenden Scheppern zugeschlagen, durch das gusseiserne Tor auf die helle Straße, nach rechts an Schreibwaren und dem Friseur vorbei, über Xerokopien, Kuchen bis nach einigen Schritten Julias rotes Auto Kontur annahm, eines der wenigen Male, wo ich mich tatsächlich anschnalle. Die Galerie ist nicht leicht zu finden, Julia war schon einmal dort und suchte sich den Weg durch die Gassen, Betonbäume. Durch die polierte Tür eines unscheinbar braunen Neubaus am Ende einer Sackgasse traten wir in den Ausstellungsraum und sie traf schon die ersten Bekannten, wir gingen hinunter, drei Treppenabsätze, bis wir in den Raum der Plakate gelangten, der nur wenig bevölkert und eng bemessen war. Hier hingen schöne Zeichnungen, Collagen, Malexperimente mit Formen und Farben, viele sich wiederholende Themen zu 100 Jahre Dada oder Reflexion über Kunst, sogar eines, auf dem die ersten Verse vor abstrakt gezeichnetem Hintergrund quer über dem Bild hingen: Die Gedanken sind frei… Ich habe nun nicht gefragt, welcher Künstler diese atemberaubende Idee hatte, denn Deutsch wird selten zensiert, war aber amüsiert und insgesamt von den Motiven überrascht, auch wenn mir die Bilder eines Goya besser gefallen – hier fehlte die Konkretion. Dieser Künstler, Akhunov mit Namen, der bei unserem Kohlhaas in den Zuschauerreihen saß und den ich zum Biennale-Workshop im Oktober kennen gelernt hatte, war natürlich – wie zu allen Ereignissen der Kunstwelt – anwesend, über ihn mussten wir von anderer Seite erfahren, dass er sich auf Künstlerreise in Russland folgenreich politisch über sein Heimatland geäußert hat, das wollten sie nicht dulden. Es ist schwierig, denn wir arbeiten mit ihm zusammen und Fehltritte, auch über Dritte, dürfen wir uns in der jetzigen Situation nicht leisten. Anscheinend habe ich es falsch verstanden, dass er Reiseverbot hat – in die GUS-Staaten durfte er nämlich noch. Wenn er weiter so provokant (ehrlich) ist, vielleicht nicht mehr lange. Aber am Ende wusste ich noch von nichts, saß in der Ecke und schrieb einige Gedanken, ein kleines Gedicht nieder, und war irgendwie glücklich. Kein Stress, kein Mutterkorn trübte meinen Kopf, wie klares Wetter an einem bewölkten Tag, denn dumpfe Gefühle bleiben noch immer – seit Shahrisabz, so meine ich ausgemacht zu haben, erschrickt mich die Müdigkeit und Lethargie, aber es geht vorbei, so wie alles vorbei geht. Vor dem Essen am Abend blieb ein kurzer Moment zuhause, ein Durchatmen und dann wieder los. Der Georgier, der zehn Gehminuten von mir liegt und auf hohem Niveau ein Angebot traditioneller kaukasischer Speisen anbietet, war das Ziel, und wir rückten in Schüben zu Zwölft an, die deutsche Community zu einer ihrer feucht-fröhlichen Versammlungen. Der neue „kulturweit“-Freiwillige in Samarkand, Julius, war dabei und wurde gleich von Cedric und Kai, dem ZfA-Lehrer, seinem Chef, unter Beschuss genommen, was dieses Land angeht – wie er es zu empfinden habe. Die Oberfläche, das finde ich jetzt auch, darf einen nicht blenden, sonst ist man schuldig mit all den anderen. Einen scherzhaften Umgang mit Plov, Amir Temur und Usbekistan zu lernen, ist nicht schwer – für einen Außenstehenden vielleicht gewöhnungsbedürftig. Für uns überlebensnotwendig – man stirbt, wenn man alles ernst nimmt. Bei Jonas fand das darin seinen Höhepunkt, dass er nichts mehr ernst genommen hat, Polizisten und ihre Wachen eingeschlossen, und auch das ist noch gesünder als sich der Realität hier mit Eifer und Ehrgeiz zu stellen. Immerhin sind wir Europäer, und zumindest über mich kann ich sagen: ernst würde ich sterben.

Mit jenem Julius, der am Sonntag um Fünf weiter in seine neue Heimatstadt fahren sollte, spazierte ich am Sonntag über den Temur-Platz im Herzen Taschkents und statteten dem Museum gleichen Namens (jenem des Helden) einen Besuch ab. Es ist dieses Museum, dessen Bild den 1000-Sum-Schein ziert, ich also Tag für Tag vor Augen habe, das zum Stolz des Erbes gebaut wurde und missverstanden werden kann als lächerliche Farce. Wie viele Gebäude nach ihm ist auch das Museum einem alten persischen Stil nachempfunden. Der Eingang liegt unter dem Straßenniveau und war gerade geschlossen. Der uniformierte Mann, der davor dringlich telefonierte, rief uns zwischen seinen Gesprächsfetzen nur zu: „Obed!“ – Mittagessen – und wies uns an zu warten. Während die Kasse aus ihrer Pause zurückkehrte, schauten wir uns die Souvenirshops an, einer gewöhnlicher als der andere, nur mit einer außerordentlich guten Karte von Taschkent, die zu kaufen ich ernsthaft erwogen hatte. Doch dann wurden wir an die Kasse gebeten, bezahlten und traten ein in ein Heiligtum ohnegleichen, und wäre es alt, was zweifellos zu unterscheiden gewesen wäre, würden wir gebannt stehen bleiben und staunen. Die Decke sieht aus wie eine Kopie irgendwo aus Samarkand, in Gold und Blau, ebenso poliert und wahrscheinlich ebenso billig; ein gigantischer Kronleuchter (mit diesen Plastikketten) hängt von der Kuppel, die außen in abblätterndem Grün ist, wie alte Kupferdächer, nur nicht von der Zeit gefärbt. Die gegenüberliegende Wand ist bemalt wie jahrhundertealte Wände, die traditionellen großen und heiligen Stätten Samarkands sind hier zu sehen: Shohizinda, Gur Emir und Bibi Xanom, in der Mitte liegt geöffnet die Kopie einer Koranabschrift aus dem achten Jahrhundert. Ich habe keine Lust zu fotografieren, selbst wenn ich den Apparat mitgebracht hätte. Noch eine Treppe nach oben wenden wir uns auf eine Galerie, die den großen Kuppelraum umschlingt und auf der Karten, Alltagsobjekte und Modelle ausgestellt sind, alles in dem Versuch, sie mit Tamerlan zu verbinden, dessen Erbe eine rekordverdächtige Rehabilitation erfuhr. Das Ergebnis ist die fast gänzliche Abwesenheit von Originalen; überall thronen die Wörter: „Original in:“, und ein Verweis auf Kopenhagen, Großbritannien etc. Auf- und Abgang werden jeweils mit einem Karimov-Zitat zur historischen Bedeutsamkeit Tamerlans, sowie einer Kopie der Portalgestaltung einer Medrese geziert: einmal ist es die Sherdor-Medrese Samarkands, ein anderes Mal die Devon-Begi-Medrese Bucharas. Überall ist der Geist des neuen Usbekistans zu spüren, nicht umsonst ist mit der Ehrung auf genannter Banknote die Importanz der Gedenkstätte festgeschrieben: Vielleicht bildete das Museum ein erstes Mal, dass der Blick auf Tamerlan derart pompös ausgestellt wurde. So ist es nicht nur ein Propagandastück erster Güte, sondern – mit kritischem Kommentar – auch ein Einsteigerkurs, um diese grotesk erhobene Figur in ihrer Bedeutung zu verstehen. In den Neunzigern war plötzlich das einzig bindende Glied gefallen, dass diese Grenzen, „Usbekistan“, zusammengehalten hatten – die Sowjetunion. Waren früher Chiwa, Buchara und Samarkand Teile ganz verschiedener Kulturkreise, zerschnitt Stalin in den 1920ern bewusst die Grenzen zwischen den Völkern, um ihnen die Kraft des gemeinsamen Widerstands zu nehmen – Divide et impera, mach aus einem Volk fünf Länder und herrsche. Die Grenzen zwischen den zentralasiatischen Stans könnten künstlicher, forcierter nicht sein und doch wurden sie nach 1991 offizielle Staatsgrenzen – Stalin hatte noch nach seinem Tod den unverdienten Erfolg, größter Länderschlächter der Geschichte zu sein. Jemand wie Herr Karimov musste Angst um sein großes Land haben, gerade weil durch jenes mehrere Kulturgrenzen verliefen und verlaufen, die alle ein gemeinsames Bindeglied brauchten. So erfand er Amir Temur, Vater der Usbeken, der in Wirklichkeit die Usbeken um Jahrhunderte überholte, als mythischen Kriegsheld – in Europa, auf dessen Stundenplänen er keinen Platz findet, wird er allgemeine als blutrünstig angesehen. Timur Lenk, der Lahme, war sein Name über viele Jahrhunderte, so kannte ihn auch Goethe. Als Jugendlicher war er Chef eine Vagabundenbande, Räuber – und so jemand wird nun Held und Volkes Vater. Gestern lief in der Elvisbar ein Mann herum und trug ein T-Shirt „Tamerlane. Commander and Conqueror“. Das ist nicht ironisch gemeint, auch „My sunny Land Uzbekistan“ nicht.

Ich kann mich nur beschweren, auf Distanz lustig machen, näher heran traue ich mich nicht and das Land – es könnte alles zerstören. Man denke nur, wie leicht die Willkür ausrutscht und einen Mitarbeiter von der Leiter schubst, der nur für die falsche Organisation arbeitet. Wie froh bin ich abermals, in keiner bedeutenden, keiner verantwortlichen Position zu sein, nur ein Praktikant, „Freiwilliger“, unwichtig und nebensächlich, der kleinste Stein in der großen Politik, nicht einmal für die Arbeit bedeutend, nur allen helfend und versuchend, von ganz unten den Blick nach oben zu erhaschen.

Nebenbei beginne ich langsam, mich wieder intellektueller Lektüre zu nähern, habe einen Vortrag zu Hegel gehört und Siegfried Kracauers Gedanken zum Thema Film und Realität gelesen, während die Kapitel der Dialektik der Aufklärung noch immer um Vertiefung betteln, und während Marx noch beinahe jungfräulich in der Schublade liegt, zusammen mit der Bibel, die ich auch nicht verfolgt habe. Dafür bin ich in einer umfassenden Mission des Russisch-Lernens, habe Gedichte Bloks gelesen und Jessenin und Tschechow vertieft… Nun, es ist nicht leicht. Wenn ich meinen Kopf in drei Bücher pro Tag stecke, sollte ich mich über die Müdigkeit nicht beschweren können, und doch – ich will alles, denken, lernen, den Geist der Prosa spüren… Es gelingt mir nicht schlecht und ich denke an all die Momente in der Zukunft, in denen ich Russisch gebrauchen kann, wenn ich es nur hier, in den letzten Monaten bis ich gehe, bis zum Fließen lerne, um es auf ewig zu behalten – anders als jenes Lettische, das beinahe schon Vergangenheit ist.

Russisch ist sowieso Umgangssprache – Besprechungen, Geschäftsessen und Business… finden auf Russisch statt, auch unter Usbeken; Sender, auch in den Restaurants, aus Russland sind nicht selten. Vielleicht fragen sie mich deshalb vermehrt, wie es um Deutschland stehe, fluchen auf die „Araber“ in diesem fremdenverseuchten Land und schütteln den Kopf über die Zustände, prophezeien eine düstere Zukunft. Deutschland, mit seinen drei Millionen Flüchtlingen, wie nicht erst einer behauptete. Vielleicht deshalb fragen so viele nach meinem Heimatland, wenn sie es in russischen Nachrichten mit fremden Augen sehen.

Breche ich ab, bevor es politisch wird? Ich bin nicht in Kampfeslaune, ziehe mich zurück und warte stumpf auf den nächsten Schlag, mich erholend und in ruhigem Puls meine Freiheit genießend, die mich immer höher halten wird als dieses Land. Eine Atempause soll es gewesen sein, bis zu jenem Moment, in dem wieder alles stürmt und hagelt, morgen geht die Arbeit los. Dann gibt es sicher schwarze Momente, in denen ich mir Ruhe wünsche – gedankliche Ordnung. Warum überhaupt Pause? Ging nicht alles einfach weiter, hatte ich den Luft zum Atemholen?

Nun ist es Mittwoch und der Regen fließt in Bächen dem Grund entgegen, als folge es einem geheimen Ruf, eine Versammlung des Wassers, und wenn ich morgens reißenden Ströme durch Schlaglöchern und Straßenrinnen entkommen muss, fühlt es sich schon apokalyptisch an. Doch nichts hier ist so katastrophal, wie die Politik, die sich von den Menschen entfremdet wie von ihrer Geschichte. Ein Tag wie dieser scheint normal für den Deutschen in mir, der usbekische Hochmut verlangt ewige Sonne und blauen Himmel, der Dichter und Denker sieht eine Apotheose meines Gefühls in diesen Strömen, die heute Morgen vom Himmel kamen, wie Götter, oder ihre Speere, aber im Verlaufe des Tages wurden aus Strömen Pfützen, die Bäche wurden nasser Asphalt, und ich wurde ruhiger, abschweifender, ich-weiß-nicht-wohin abgehender, und alles gehört zur Atempause, nur weil ich es will. Nach dem Pub Quiz, das jeden zweiten Mittwoch statt findet, hatte ich noch das unbändige Verlangen zu schreiben, nicht nur über den Regen, sondern über die Welt, aber worin erschließt sich die Welt besser als gerade im Regen? Nur der Text leidet, ich bin glücklich. Ich bin glücklich, ein solches Land kennen zu lernen, in dem nichts unmöglich ist und alles eingeschränkt, in dem die Furcht und Vorsicht in einem Maße wachsen, das außer aller Vernunft ist, aber was soll ich sagen? Das einzige, dem ich hinterher jage, ist die Erfahrung, die hier überall lauert und mich fertig macht, mich glücklich macht, denn endlich bin ich gefordert, wird mein Tellerrand überschwemmt, nicht vom Regen, von der Politik, endlich erfahre ich Leben, von dem ich im Blaseneuropa immer durch Zaun und Stacheldraht getrennt war, nicht wissend, ob ich geschützt werden soll oder eingesperrt – es ist ja manchmal schwer zu unterscheiden. Die Krankheit des Vollgefressenseins kuriere ich hier aus, zuungunsten vielleicht meiner Gesundheit, wahrscheinlich meines Kopfes, sicher zugunsten meines Lebens, dass es gefüllt sei, nicht leer wie von Schwämmen gestopft, dass ich Augen habe zu sehen, nicht zu bestätigen. Ich bezahle, das ist wahr und unmittelbar: Die Müdigkeit schlägt mich jeden Tag aufs Neue. Ein Tag wie dieser, an dem ich mir zwei Stunden mehr nehme als gestern, ist tödlich, und morgen brauche ich, das weiß ich jetzt schon, einen Espresso und noch viel mehr: ein Bett, das erst wieder abends steht.

Die Atempause war eine Flaute der Gedanken nach Stürmen und Wasserfällen. Ich hatte mich und meinen Körper, und bin nicht außer diesem Kreis gefallen. Ich war müde und habe es in meinen Gliedern gespürt, ich war traurig und habe es in meinen Gliedern gespürt, ich war erschöpft und habe nicht versucht, dem forciert beizukommen, nicht mich zum Lesen gezwungen oder zum Filmeschauen – der Fluss des Lebens, des Körpers blieb ununterbrochen, sodass ich vor Müdigkeit keine Zeit hatte, mich schuldig zu fühlen, metaphysische oder moralische Fragen durch die Venen zu jagen, ohne sowieso je der Wahrheit näher zu kommen. Stattdessen bin ich bei mir geblieben, in mir und mit mir, einfach, in Gesellschaft gewohnt flach – alles eins, ein großer, freier Weltgeist. Nun ist er am Ende. Es macht nichts, denn sobald ich wieder streite und meinen Kopf überladen finde mit Nichtigkeiten oder Abstraktion, erinnere ich mich an die Erschöpfung, und vielleicht gelingt es mir erneut, einen Moment lang still zu sein, in schweigender Anerkennung meiner Körperlichkeit, die mir so oft vergessen scheint.

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