Transzendenz

Es ist ein 21. Februar in einem der schönsten Länder der Welt. Nass vom Schweiß, wie Hose und Pullover von den letzten beiden Nächten gezeichnet, ist mein Hemd an den oberen Knöpfen offen. Gerade war ich auf dem Basar und habe das dringende Bedürfnis zu schlafen; nur meine Pflicht zu schreiben, oder der Wahn, lässt mich nicht ruhig, treibt mich an, zu so vielen Gedanken, die ihren Platz finden wollen und in mir sterben. Morgen um zwei Uhr fliegt mein Co-kulturweitler Jonas nach Hause und darf dort bleiben, mich hält der Dienst hier. Gestern feierte er in einer bekannten, angenehmen Gruppe seinen Abschied, wohlverdient und in seichter Ergriffenheit, die dunkle Nacht führte weit, aber immer bewusst und ohne Sterben, ohne Teufel und Dämonen. Man sieht, die Nächte haben mich ausgenommen, gestern kam ich um sieben Uhr morgens ins Bett, man frage nicht wieso. Von wegen Acht-Stunden-Minimum. Ich hatte meinen Pass dabei, will sagen, an mir lag es nicht, die Stunden des Wartens. Es ist auch Müdigkeit mehr als der Alkohol, die mich ergriffen hält und dumpf entschleunigt, alle Hirnaktivitäten absenkt und schließlich zu einem Zustand schwebender Trunkenheit, oder dereflektierender Transzendenz führt. Es ist auch die Hitze, im Schatten selbst, und der Mangel an Wasser, die den Nachmittag zu einem Tanz des Irrealen machen, schließlich ist Februar und der Winter scheint vorbei, als wären diese nächtlichen Minusgrade vor sieben Tagen alles, was er zu bieten hatte, dieses Mal etwas kraftlos. Umso ängstlicher erwarte ich den Sommer, wenn alles in der Sonne steht oder zusammensackt, die Kleider müssen noch erfunden werden, die mich nicht verglühen lassen. Ich hätte lieber einen ordentlichen Kälteschwung gehabt, nun hoffe ich, der Sommer schlägt nicht mit umgekehrt potenzieller Kraft, heißt, je schwächer der Winter, umso strenger der Juli, hoffe auf Erbarmen oder zumindest genug Tee, um all den Schweiß zu kompensieren. Wenn es schon im Februar losgeht. Als am Vormittag die Sonne schien, war es wie am Strand oder im Badeparadies, das Schwimmbecken im Garten der gestrigen Party, zu der ich aus Muße mittags zurückkehrte, hätte ebenso gefüllt sein können und den Mantel mitgenommen zu haben bereute ich. Der Weg zum Basar glücklicherweise war mit Schatten gefüllt und ohne viel Leid, Schmerz, Reue beging ich die geplanten Einkäufe, nur schwitzend auf dem Rückweg, mit dem Eierkarton, 25 Stück, weil sie weniger nicht verkaufen, und der korzinka-Tüte, in der alle Mögliche seinen Platz fand – Zwiebeln neben Rettich, überlebenswichtigen Keksen und Taschkentskij-Tee, die gelbe Sorte. Mehr ist nicht passiert. Es scheint, als passierte allgemein wenig hier, und in diesen Wochen besonders, wo das Schweben Gewohnheit ist, und zwischen den Tagen das Rutschen ist wie ein fortlaufendes Band, dabei jede Rotation der Erde einzeln zählend, wie am Rosenkranz gebundene Holzperlen, die langsam, eine nach der anderen, die Hand des Betenden passieren, ein ums andere wächst die Sehnsucht nach Sühne, und die Hoffnung auf Erlösung, schwitzige Hände, mal verzettelt sich der Mund im Gestrüpp der Worte, die alle leer klingen und wie aus fremden Köpfen, der eigene dampft und liegt brach, man will brechen und doch endet nach sechs Perlen die siebte in langen Nächten, die man vermeiden wollte – Eclipse of the mind, Verzögerung der erlösenden Schrift und dem Weichen der Sünden. Ich armer Tor stehe jede Woche gleich da, und überlege mir, wie sehr ich die Wochenenden zu expressiver Tanzmusik verbringen soll – denn wenngleich ich die Momente einzeln genieße und keinen Schluck bereue, wenngleich die so verbrachten Abende keineswegs exzessive Ausschweifungen sind, sondern Wochenendaktivitäten eines üblichen jugendlichen Lebens – endlich einmal bin ich normal, so hätte ich die Schulzeit verbringen müssen – doch frage ich mich, ob es eine Grenze gibt zu den tausenden Büchern, die ich gelesen habe, lese und lesen werde, die vielen ungelesenen auf meinem Schreibtisch, Marx, Tschechow, Dostojewskij – mir ist es zu knapp, ich liebe die Gegensätze und würde noch betrunken Adorno zitieren, trotzdem widme ich zu wenig Zeit der lieben Einsamkeit und sehe bestätigt, was nur alle sowieso bestätigen würden, die mich irgend kennen: Feuerbach, nicht Kerouac ist mein Geistesgenosse. Vergeistigung, und wenn in tiefer Widmung der Kunst, wiegt leichter als das Treiben durch Nächte, im Halbrausch und Tiefschlaf des Gedankens, ein Sandkorn hiervon genügt, um die Waage im Gleichgewicht zu halten und erstaunlich, dass ich mich immer wieder zu Abendvergnügungen hinreißen lasse, nicht, ich sagte es bereits, freudlos, kein Opfer, es ist Gier, die mich treibt, nicht Vernunft, sondern Instinkt, den dreckig lachen ich zu hören genieße. Pur. Wenn ich meine Tage in Gesellschaft verbringe, deckt sich die Zeit zu schreiben mit der zu jammern, so tragisch es ist. Ein Leben ohne Zieselei, schlank und einfach, wünsche ich mir, und diesem Ideal komme ich hier nur näher, wenn ich meine Süppchen koche, lese oder schreibe. Immer noch bin ich mit Turgenjews Asja nicht am Ende, obwohl ich sie schon so lange betrachte, eine Lösung gibt es nicht. Die meisten Stellen lese ich mehrmals, denn beim ersten Mal flackern die Zeilen noch vor dem Kopf, ein zweites Mal klärt den Kontext und beim dritten verstehe ich die Aktion – Wörter, die wie Leuchttürme aus dem Text aufragen, aus all den unbekannten Variablen und Zeichen, deren Sinn mir versteckt ist – so muss ich ihn rekonstruieren, wieder ein Barockaltar. Meine Russischkenntnisse gewinnen an Substanz, traurig dachte ich am Freitag, im Theater, ich würde schon so viel verstehen wie damals, als das lettische „Melnais Piens“ der Euroscene den Titel gab und ich ohne Kopfhörer dem Original lauschte – wahrscheinlich war der Eindruck nur Illusion. Denn im kleinen Ilkhom-Theater, die Künstlerelite des Landes, wird alles größer, näher, aus der zweiten Reihe erst recht. Dorthin haben uns die Freikarten gesetzt, die Ravshan vom Goethe-Institut zur Vorstellung einluden, die aufgrund seines Urlaubs aber an mich weitergereicht wurden. Es handelte sich um ein Gastspiel aus Almaty, das bekannte „ARTiSCHOK“ entsandte zwei Stücke, darunter diese Geschichte einer blutjungen, begabten Pianistin, die im Petersburg der Revolution von einer eitlen Opernsängerin aufgenommen, aber von ihr und der harschen Luft der Gesellschaft missachtet, unterdrückt wird. Ein Wind von Wahnsinn durchwehte die Augen und Glieder der Darsteller. Das Theater ist klein, der Saal im Keller unattraktiv für Theaterinszenierungen, das Gebäude ein faszinierender Hort der Opposition in Usbekistan, erfrischend aktiv und alternativ, sie haben moderne Kunst an die Wände des Foyers gehängt, verkaufen selbst gestrickte Mützen und Pullover, spielen Weltliteratur, Bearbeitungen, Folklore, aber immer intelligent und kreativ, so nehme ich an, so hörte ich es. Die Aufführung der Kasachen glich einer Tour de Force, ohne mehr als grobe Punkte zu verstehen, so lustvoll grausam und blitzend blank, dass ich noch immer nach Worten ringe, die eigentliche Performanz zu umfangen. Eine blonde, kleine und dürre Frau spielte die in ihrer Entwicklung unterdrückte Pianistin mit einer Gewalt, die alle Lust am Spielen in mir selbst hervor brach, wieder an die Oberfläche, als wollte ich noch einmal, bitte, mich vollends verausgaben in Rollen, in denen ich wild sein darf, hässlich und böse – ein brechtsches Panorama der Gefühle. Theater, so blitzte es in mir auf, das war mein Sport, in Leipzig, im letzten Jahr – diese Brecht-Revue, was für ein Stoff! Wer muss schon den Iron Man bewältigen, wenn er dieselbe Kraft auf einer Bühne zu entwickeln vermag, den Voyeurismus der Masse mit bemessenen Akten genießend, sich bloß zu stellen und doch nicht sich, sondern den Charakter einer bösen Macht in sich. Sie robbte über den Boden, mit ihrem Oberkörper alleine, stolperte 20 Minuten in drei Schichten Winterklamotten über die heiß angestrahlte Bühne, tanzte, die Beine hoch reißend, zu einem hastigen Monolog, in dem sie jedes einzelne Wort, zwischen den kaum spürbaren Atempausen, zu fassen und auszusprechen vermochte, ja, stand sogar, verschwitzt mit den Klamotten im Petersburger Winter, mit dem Rücken zum Publikum und wurde in ihrer mageren Gestalt bis auf das Höschen enthüllt, um ein neues Gewand umgelegt zu bekommen, undenkbar in einem Land wie diesem, und bewältigte sowohl die wiederkehrenden epileptische Attacken wie die Starre der Stille, legte alles in allem eine überwältigende Vorstellung ab, aber nicht alleine. Auch die anderen beiden Frauen wussten ihre Kunst zu spielen und gaben eine Vorführung par excellence ab. Weder bin ich Kritiker, noch engagierter Theatergänger, aber Henrik Ibsens „Gespenster“ haben in meinem Plan für nächste Woche ihren Platz gesichert. Wenn die Ilkhom-Truppe ähnlich gut ist, und so wurde es mir von allen Seiten geflüstert, geschrieen und gejammert, so wird es mich wohl öfter an diesen Ort verschlagen. Wie der Yangiobod-Basar habe ich es nun erst in der zweiten Hälfte meines Lebens entdeckt, und so sehr ich die Einsamkeit liebe und seufze, wenn Wochenenden wie dieses mit Müdigkeit, Kater und leeren Gesprächen vergehen, zu beiden hätte ich mich vielleicht ohne Bindung an die Gesellschaft, so klein sie auch ist – je kleiner, desto besser – nicht aufgerafft und hätte gewartet, gewartet auf nichts. Auch das Warten, die Entscheidungslosigkeit ist ein verhasster Zustand. Wenn ich feiere, so wenigstens passiert etwas, bewegt das Leben sich und ich bleibe nicht stehen. Dafür mit leeren Gesprächen zu bezahlen, mit schweren Morgen und müden Abenden, das ist nicht zu viel – so wechseln die Pole, denn nichts ist „either good nor bad, but thinking makes it so.“ Resümee: Ich denke zu viel. Doch was soll ich mit den Gedanken machen? Sperre ich sie im Wodka weg, so erscheinen sie auf dem Papier, sonst – auch, aber versteckter, intelligenter. Hätte ich sonst eine große Geschichte erzählt, die sorgsam einbettet, was nun Ergebnis dieses schriftlichen Prozesses ist, so muss ich heute im Schreiben denken, um zu gesunden, d.h. um in den Zustand geistiger Klarheit zu erlangen, der nötig ist für die Lektüre von Marx, Adorno, die lese ich ja gerade gar nicht, also eher für Schiller und Kleist. Den Don Quixote, zweiter Teil, habe ich liegen lassen, viel zu lange schon. Jonas ist weg, so bleibe ich weniger Abende aus – er ist in meinem Alter, jemand, der noch Lust und Energie hat seine Gesundheit zu verschwenden, wie ich. Es wird ja doch nur schwerer, da bin ich glücklich, mich einmal gehen zu lassen. In Deutschland wieder komme ich den Kosten nicht hinterher, hier werden einem die Scheine nachgeschmissen. Wenn ich geize, dann weil ich einem gewissen Kontostand anvisiere, dessen Größe einen Wert hat, dass ich mir Abstriche erlauben kann. Ja, ich halte Balance, mal will ich nicht glauben, dass Wochenenden ohne intensive Lektüre, Filme und langen Blicken aus dem Fenster viel Wert haben, mal packt mich schamloses Glück über das Spiel Usbekistan und wie einfach ich es habe, wie unerwartet leicht die Nächte funktionieren, nach denen ich mich in Deutschland nie gesehnt hatte.

So leicht also das Leben fällt, so schwer fällt mir die Sprache. Was, wenn nicht Einzelheiten, sollte ich schildern? Obwohl die Tage ein Fluss sind, sehe ich nur Steine in ihnen, das Fließen selbst geht über mich, durch mich, um mich, ohne mich zu berühren, ich muss mich anstrengen, das Wasser zurück ins Bewusstsein zu holen, das doch erst den Sinn ausmacht im Text, ohne welches alle trocken, spitz und weit auseinander ist. Ich habe oft überlegt, in den letzten Tagen, wie es mir gelingen kann, wieder kohärent zu schreiben, ohne all jenes, das mir im Kopf herumgeht, all die spannenden Einzelheiten, hastige Beobachtungen oder gereifte Erkenntnisse, liegen zu lassen. Ich habe noch keine Lösung gefunden. Momentan noch fühle ich mich wie jener Lord Chandos, der, außen glücklich, innen vergeht, weil er für die Dinge seines Lebens keine Sprache mehr findet. Und doch glücken ihm die einfachsten, somit wunderbarsten Sätze, die sein Problem in einer Gesundheit schildern, die ihm alle Krankheit aus dem Kopfe schlagen sollte. Wir müssen annehmen, dass der Brief des Lord Chandos an Francis Bacon den Lord von seiner Stummheit befreit hat und ihm bereits in der Beichte des Problems die ersten Flügel verleiht. So ähnlich stelle ich es mir vor, wenn ich schreibe, stumm bin, aber reden will, dann rede ich über meine Stummheit und sie wurde mir gelöst. Es stimmt nicht, über zwei Zeilen löst sich kein Wahn in Rauch auf, aber mit der Zeit beginnt die Schrift sich vom Papier zu heben, wie sie es in den besten Stunden getan hatte, und ohne, dass ich die Feder berühre, ohne sie führe und ohne mir der Gedanken bewusst zu sein außerhalb des Schreibens, entstehen luftige Gebilde, klare Bäche und Wälder, die sprießen und summen – Leben, dass die Überwindung des Todes von mir getrennt hat. Nun bin ich frei und tanze durch die Gärten, die ich selbst erschaffen, wie ein Gott in meiner Welt, und doch ist es eine Höhle, ein Studierzimmer oder ein weißer Raum mit Kram, einer Ikone und einem Plastikkronleuchter. Ich finde mich im Paradies, obwohl die Erde Meilen entfernt liegt – so ist das Schreiben eine Therapie, Balsam für die Seele, wenn auch der Rücken vom ewigen Sitzen schmerzt und die Augen vom Starren auf den Bildschirm, denn leider ist auch die Feder nur in meinem Kopf, so tanze ich eben mit Klick-Klacks auf Tasten, auf Felder, und sehe entstehen, nur virtuell, was ich denke, erhebt sich und bleibt doch irreal. So erlaube ich mir zu schreiben, was mir in den Sinn sprießt und was mir gefällt, denn achten muss ich die Realität, was so intellektuell in Wellen und im leeren Raum bleibt, dass ist bloße Illusion.

Ehrlich gesagt, wird es mir langsam schwer, zu fassen, was ich noch schreiben kann. Nehme ich die Blogartikel zusammen, ist schon ein kleiner Roman entstanden, doch mir juckt es in den Hirnzellen, ich muss schreiben und kann jetzt nicht aufhören, wo doch gerade erst die Halbzeit erreicht ist. Ich nehme auch keine Themenvorschläge aus den Reihen der Leser an, denn es muss mir selbst kommen, so denke ich, muss mich selbst schlagen und zwingen, zu schreiben, die Worte niederzuringen, aus dem weiten Kopf auf das enge Papier, meine Hirnlappen auswringen, bis der Saft ausgepresst ist. Die Geschichte hat sich eingefahren, der Alltag ist eingebrochen und ich sitze nun, die Tage vergehen, fast an selber Position, und versuche Brocken aus meinem Leben zu brechen, die ich hier servieren kann, doch meist sind sie trocken und gelb, sind nicht gut zu schlucken und sehen nicht einmal appetitlich aus. Was soll’s, solange ich nur schreibe, wird mir etwas einfallen, worüber ich schreiben kann. Immerhin sind die Ereignisse, die so an mir vorbei zischen, nicht das eigentliche Ziel der Schilderung. Sie sollen Boten sein für einen Eindruck, den ich transportiere, den ich über das Land filtere und weitergebe, einen Eindruck, der oft zu kurz kommt unter Beschreibungen meiner Schritte auf derselben Erde, die in Deutschland schlammig ist. Auf der auch Blumen blühen, aber wenige.

Wie fühle ich mich denn, darf man die Frage stellen? Ich darf es, solange sie rhetorisch ist. Ich fühle mich unter Druck, wegen der politischen Situation, die Geschichten, die ich höre, sie machen mir keine Angst, sondern empören mich und der Druck wächst, die Gedanken, in so einem Land könnte ich nicht leben. Ich bin natürlich verwöhnt, nicht nur politisch, und gebe mich gerne in die Härte, wo ich doch so eine zarte Seele bin. Was war die Reise nach Buchara und Termez anderes als ein bewusster Sprung ins kalte Wasser, damit ich endlich mein Fett weg kriege? Dass ich Shahrisabz an Samarkand gehängt habe, ist auch meiner Abenteuerlust zu verdanken, die mich dann und wann im Wahn befällt – denn, wirklich, ich bin doch gerne hier, bequem, sitze und tippe, esse Kekse oder Apfelsinen, um mich aufzuputschen, in der Hoffnung, meine Gedanken rutschten besser, ich bin gerne in Taschkent, an den bekannten Orten und mit gezähltem Geld, solange es die Obergrenze nicht überschreitet, ich habe gerne einen Tagesablauf, der nach der Arbeit das Schreiben vorsieht, dann Schlaf, dann Arbeit, und vielleicht noch Russisch oder Lesen in der Zeit, die übrig bleibt – alles am besten einsam und allein, in der Arbeit mit genauen Vorgaben, was ich bis wann zu erledigen habe, und zuhause mit der Freiheit, die das elektronische Papier mir lässt. Ich bin gerne faul, schlafe viel und gucke Filme, lese, alles an Ort und Stelle, während die Welt sich um mich bewegt statt ich mich um sie. Doch dann packt es mich wieder, ein Fieber, wenn ich auf meinen Kontostand sehe und weiß, ich könnte so viel schaffen, wenn ich raus schaue und die triste Abendluft Taschkents sehe, im Bus stehe, im Büro sitze und mir Abwechslung wünsche, dann werde ich unruhig und sehe die Möglichkeiten – und viel habe ich bereits geschafft. Ich bin, wenn auch nur kurz, durch das Ferganatal gefahren (ein weiterer Besuch muss nicht unbedingt sein), ich war in Chiwa, Urgench, Buchara, kurz Qarshi, in Termez, Samarkand, Shahrisabz, mir fehlen noch zwei Regionen – die Wüste: Navoij, Zorafshan, Uchquduq, Planstädte, Öl oder Gas und Fabriken, und Karakalpakstan: Nukus, Moynak, die tatsächlich auf der Agenda stehen, wenn es sein muss, wahrscheinlich muss es das, im Juli, kurz vor meiner Abreise. Dazwischen plane ich Tadschikistan und mit Glück fällt noch die ein oder andere Dienstreise für mich ab, ganz zu schweigen von der Woche, in der ich den Reiseführer für meine Familie geben darf – oh ja, ich sehe dem Abenteuer nicht zögerlich in die Augen, doch… gerade wieder einmal sehe ich dem Abenteuer zögerlich in die Augen. Es wäre mir viel geholfen, wenn statt der Gesellschaft, die ich um mich finde, Einsamkeit meinen Himmel zierte. Andererseits bin ich fasziniert von dem Tiegel an Kulturen, die sich hier verschmelzen – Lektoren, Freiwillige, Arbeitende aus allen Ländern, die sich unter dem Schirm Usbekistan treffen und alle ihre Geschichten und ihr Wissen haben, das ich am liebsten aufsaugen würde, wenn nicht sowieso das meiste aus dem Kurzzeitgedächtnis ins Archiv wanderte – es ist kein Platz für Neuankömmlinge im Langzeitgedächtnisraum, man sollte ihn renovieren und ausbauen. Nur, wenn ein Groschen fällt, wieder unbenutzter Platz gefunden ist und auf das Palimpsest die neue Lage geschrieben werden kann, weil die alte ausradiert und im Material gespeichert ist, dann öffnet sich die Tür zur Bibliothek von Babel, die mein Gehirn zweifellos anstrebt zu sein, sonst könnte man sich diese Öffnungszeiten nicht erklären, und ein Bild geht in die Mitte, und hört im Innern auf zu sein. Welche Müllgirlanden schreibe ich nun wieder? Gut, dass niemand das lesen muss. Ihr würdet besser daran tun, diesen Absatz zu überspringen und den nächsten oder übernächsten Beitrag zu lesen, wenn wieder etwas von Bedeutung passiert.

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