Januar
Wenn ich nun auf meinen Januar Rückschau halte und versuche, ihn mundgerecht zu präparieren, dann mit einem Schnupfen und leichtem Husten, den ich aus dem Temperaturtaumel der letzten Wochen mitgenommen habe. Ich muss mich schon als Held fühlen, nicht früher krank geworden zu sein – mit welcher Hitze der Januar begann! Jetzt endet er mit angemessener Kälte, obschon sie erst der Übergang zu ordentlichen Minusgraden sein sollte – Minusgrade, wie wir sie nicht hatten. Einige fürchten wieder Schnee im März, der die Blüten und kommende Früchte verdirbt, wie letztes Jahr, als alles teurer war. Ich trinke meinen Tee mit Zitrone und hoffe auf eine Mäßigung der Schwankungen, dann bin ich zufrieden. Es war vor einer Woche teuflisches Arbeitswetter, als die Zentralheizung brüten und das offene Fenster frieren machte. Der Schnee, der vorgestern fiel, ist schon wieder getaut, aber wenigstens werden es keine 15 Grad mehr. Gerade komme ich übrigens vom Yangiobod, einem gigantischen Floh- und Gerümpelmarkt am Rande der Stadt, der alle Ausmaße menschlicher Kreativität sprengt. Für die meisten der übereinander gestapelten Dinge habe ich nicht einmal einen Namen. Einiges Bekanntes kommt einem unter die Augen, Stacheldraht, Haustüren, Hühner und Teetassen. Natürlich viele alte Bücher, letzte Woche habe ich Gedichte von Ossip Mandelstam zweisprachig deutsch-russisch und „Ausgewählte Werke“ von Marx und Engels erworben, für 4000 Sum. In der Woche davor durfte es ein Dostojewski sein: Schuld und Sühne, im Original. „Преступление и наказание“. Ich war jetzt das vierte Mal dort, vier Wochenenden in Folge, und niemals allein, wie ich diesen Moment erwarte – ihm ist ein eigener Beitrag angemessen. Heute war ich mit einem Engländer und seiner usbekischen oder russischen Freundin dort, die immer im Patrick’s Pub sitzen, wo alle zwei Wochen ein Pub Quiz stattfindet, von jenem Luxemburger, der hier DAAD-Lektor ist, und seiner russischen Frau, die auch Deutsch und Französisch spricht und meine Sprachkurslehrerin ist. Nächste Woche steigen sie aus der Winterpause. Mit den beiden Erstgenannten, die jeweils an einer Privatschule unterrichten, war ich also heute dort, und weil es kalt war, sind wir kurz über den Markt gehuscht, haben das Wesentliche durchkreuzt und uns in einem Inner-City-Café bei Brunch und Kaffee erholt. Letzte Woche waren wir zu viert auf dem Basar, drei Deutsche und die eine Finnin, die Anfang des Jahres hier auftauchte, um zwei Jahre für die UNDP zu arbeiten, und die praktisch gegenüber von mir wohnt. Die beiden anderen sind deutsch, der eine Samarkander Kulturweitler, der in drei Wochen sein Jahr an einer Schule abgesessen hat, und ein Robert-Bosch-Lektor, der wenige Wochen vor mir kam und wahrscheinlich ein Jahr länger bleibt. Ich komme also ein wenig unter die Leute, mit der Clique kann man abends ausgehen, zum Beispiel in die kleine Elvis-Bar, in der sich am Wochenende die Gemeinde der Englischsprachigen und Ausländer trifft und mit den reichen Usbeken oder Russen zusammen auf engstem Raum zu Livemusik tanzt, während der Wodka in 100 Milliliter (man sagt ja hier Gramm wie in Russland) 6000 Sum kostet. „We don’t need no source control!“ Tja, in gewissem Ambiente kann man auch solche Songs spielen, die gegen Folgsamkeit und Folgewilligkeit verstoßen, hier sind sie toleriert. Noch toleranter wurde es am Abend darauf, dem Samstag, als wir vom Manager der Internationalen Klinik, Dauergast der Elvis Bar, zu einem Konzert seiner Band im Docker’s Pub eingeladen wurden, fußläufig zu unser aller Wohnungen, die doch auf dieses Stadtviertel zentriert sind – ein guter Ort zum Wohnen. Teure Steaks, mittelmäßiges Bier – obwohl, das dunkle war eigentlich sehr schmackhaft – und ein Gebäude mit Apsis und drei Schiffen wie eine ehemalige Kirche warteten auf uns und schicksalsgläubig setzten wir uns unter den Lautsprecher. Zu spät, als es begann. Der ZfA-Lehrer aus Fergana saß auch bei uns, war irgendwie gerade in Taschkent. Der Manager kam an unseren Tisch: „Rock n Roll!“, sagte er und verschwand hinter seinem Schlagzeug. Die ersten Töne klingen eher schlecht gekonnt und gut gewollt, aber sie spielen sich ein; man gibt ihnen die Zeit, während man am Bier süffelt und den alten Hits, die sie spielen, nachspürt. Sie brauchte einige Minuten, darunter Bowies (RIP) Space Odyssey, die eindeutig später hätte kommen müssen, bei mehr Bier und Publikum, um sich warm zu trinken. Es wurde besser und der Keyboarder lieferte, im Gegensatz zu seinem Kollegen an der Gitarre, sogar ordentliche Gesangseinlagen ab. Später, während die Band sich erholte, lief „Tomorrow Never Knows“ vom Band. Gut, dass die Gruppe keine ausländische NGO ist und ihre Texte zur Genehmigung einreichen muss. An die Richtlinien haben sich die Stones und David Bowie nämlich nicht gehalten. In der Lautstärke zum Schweigen angehalten, versuchen der ZfA-Lehrer und ich uns trotzdem über Filme zu unterhalten, während der Rest tanzte und eine Schar Mittvierziger dem Treiben zusah. Kommentiert von ihm, „Die ganze Internationale Schule ist hier“, und meint natürlich die Lehrer. Ein Samoaner unter ihnen, wie der sich wohl hierher verirrt hat… Achteinhalb hätte er neulich gesehen, woraufhin ich mir Fellinis Krisis-Werk vorgestern wiederholt vornahm und, gelinde gesagt, beeindruckt war, wo das erste Mal mein Verständnis nicht recht hinterher gekommen war. Mit der Übung an Tarkowskij, German und Co. habe ich sicher eine größere Ausdauer als damals, wann war es? Muss in Lettland gewesen sein, oder kurz danach. Auf den Fernsehern, die hier wie überall Aufmerksamkeit in den Restaurants erheischen, spielen sich indes Modeschauszenen ab, wie sie nicht hätten erschütternder sein können: Waren es alte Aufnahmen der späten Neunziger, als die Welt noch an Globalisierung und Kunst glaubte? Männer mit todernstem Gesicht schreiten zielsicher durch das trockene Laub, das von zwei Besucherreihen gesäumt wird, drehen hinten um und gehen wieder zurück, als berührten die Leute mit den Notizblöcken und Stiften gar nicht ihre Welt. Oder dies: ein schwarzer Raum, Publikum und ein Steg, auf dem wie Mickey-Maus-Helden Männer in Mützen herumstolzieren, der eine mit Schlafanzug und Krawatte, der andere mit Mantel und Reisekoffer, ein dritter ohne Mütze. Der Blick will doch immer wieder zu diesem leuchtenden Bildschirm, der die Augen fängt wie das Licht Motten, bis er von einem überdimensionierten Hockeyhandschuh an der Rückwand der Bar aufgefangen wird, auf dem ein Spruch und der Sponsor des lettischen Eishockeyteams steht, natürlich ist der Spruch auch auf Lettisch. Sie könnten sich nicht mehr erinnern, vor Jahren sei der hierher gekommen, meinen sie, und scheinen sich nicht recht dafür zu interessieren, dass ich fasziniert bin von einem blöden Fanartikel meiner zweiten, ehemaligen Heimat, den ich anstarre wie einen okkulten Götzen.
Gleich nebenan, einige Meterchen weiter, ist übrigens ein guter Georgier, der köstliche Speisen und gut trinkbaren Hauswein serviert, bei dem wir auch einmal waren, vielleicht vor vier Wochen oder drei sollten es gewesen sein, mit Simon, Bosch-Lektor, Simone, seiner Kollegin in Fergana, Cedric, jenem DAAD-Lektor, Jonas, der Samarkander, der 19 ist und etwas verrückt, im neuen Jahr jedes Wochenende in Taschkent verbracht hat und verbringen wird, um zu feiern, tanzen und auf die Gesellschaft zu treffen, die er in Samarkand, es ist doch Provinz, vermisst, ach, und dann waren da noch zwei Gesellen, die in Nukus weilen, im fernen Karakalpakstan, sie Ethnologin, er ihr Mann oder Freund, und dort arbeitsam tätig sind. So in etwa stellt sich die deutsche community im Taschkent meiner Umgebung dar. Ausgenommen sind also alle Deutschen, die bei der giz, Botschaft etc. arbeiten. Nun war ich tatsächlich, ein sehr aktiver Monat, jedes Wochenende unter Leuten, fernab meiner geliebten Einsamkeit, und musste den Blog opfern, schleifen lassen, in der Hoffnung, ihn nun geschliffen präsentieren zu können. Einen Augenblick, wo war ich? Ich wollte zurück zum Georgier. Es ist faszinierend, und jetzt fällt es mir in aller Gewalt des Wortes ein, wie gut man in Taschkent speisen, d.h. essen, kann. Empfehlenswerte Restaurants, die nicht allzu teuer sind, gibt es viele, gute Choyxonas oder usbekische Kafes ebenfalls, nun vermehrt auch diese europäischen Cafés, in denen ordentlicher Kaffee und ausgewogenes Frühstücksangebot selbstverständlich ist, und sogar nachts gibt es noch Plätze, an denen man essen und trinken kann, wie Elvis, und verrotzte Tanzschuppen wie die VM-Bar oder das Pioneer – letzte Woche kamen wir am Sonntag um Zwei aus dem Elvis, hungrig, und fanden ein Bistro um die Ecke, das noch um halb Drei, als wir gingen, neue Gäste aufnahm und wo die Mahlzeit 9000 Sum kostete. Ich freue mich, dass soviel Freiheit sein darf.
Apropos Freiheit: Dass usbekische Gerichte nicht den Gourmet-Vorstellungen verwöhnter Europäer entsprechen, ist schon eine Selbstverständlichkeit. Ich mag das ja. Auch dann, wenn ich die Ausgewogenheit der Kuriosität opfern muss. Neulich habe ich einen großen Teller voll Kichererbsen serviert bekommen, auf dem einige Stücke Fleisch, Fett und rohe Zwiebeln lagen. Nicht, dass ich es bereuen würde, außerdem hatten wir Wodka dazu bestellt, aber dies zum Thema Freiheit – so kreativ, luftig leicht. Für mich immer noch exotisch.
Der Januar hat mir Taschkent als eine Stadt gezeigt, die, wenn sie auch nicht mit Berlin oder Leipzig mithalten kann, doch immerhin versucht, dem Anspruch nachzukommen, Vergnügen und Lebensstil zu offerieren. Es kann ja nur im Interesse der Staatsmacht sein, das Volk zufrieden zu halten. Also genug der Vergnügungen und Zerstreuungen (mache ich dort weiter, wo ich in „Zwei Masken“ aufgehört habe?), wir kommen nun zu den ernsten Dingen des Lebens. Mein Geld zehrt natürlich unter der Belastung des Monats und zum ersten Mal stehe ich am Monatsende mit einem Kontostand da, der im Vergleich zum Vormonat kaum gewachsen ist. Beklagen sollte ich mich nicht, solange ich das Geld habe und mir nur das am Ende Ersparte verringere. 50 Dollar in der Woche sind noch immer eine verträgliche Summe und ein fliegender Geldbeutel macht das Leben leichter. Es ist die Entscheidung zwischen jugendzentrierten Annehmlichkeiten und geizgleicher Enthaltsamkeit, vor die ich mich stelle, und meist sehne ich mich nach ersterem. Das Kreuz, das zweiteres darstellt, muss ich nicht tragen, wenn ich doch in der Gesellschaft bin – alleine verspricht der Verzicht das Lob der Musen und Engel; gemeinsam lasst uns feiern und trinken. Wofür muss ich mir die Härte aufbürden, in Gegenwart anderer fühlt sich Verzicht an wie Geiz. Wenn ich nicht trinken will und verschwenden, bleibe ich alleine. So einfach werde ich es nie wieder haben, Geld auszugeben.
Wo wir dabei sind – die Gehaltserhöhung für unsere Mitarbeiter ist durch und darf ausgeführt werden. Endlich verdiene ich weniger als der Sekretär. Sie haben es nötig, alle. Inzwischen steht der Dollar konstant bei 6000 Sum, die offizielle Angabe von ca. 2700 bleibt bestehen. Im Vergleich zu mir werden die Bewohner Taschkents immer ärmer. Und ihre Stadt immer teurer. Der Preisanstieg ist spürbar. Zu Beginn mein Lieblingssupermarkt, hat sich „Korzinka“ gewandelt. Seine Preise sind genauso hoch wie im „Sunday“ direkt gegenüber meinem Wohnblock, die Leuchtreklame dringt zu mir ins Blickfeld, wenn ich raus starre, nach Worten suche. Vor einigen Monaten war dort noch „Kontinent“, ein teurer Supermarkt mit schlechtem Angebot, und als Sunday öffnete, war er teurer, aber näher und so: bequemer. Wie sehr ich auch Sympathie gegenüber den mehr verkramten, weniger westlichen Korzinka hege, die zehn Minuten Weg sind mir meine meist geringen Einkäufe nicht wert. Für größere gehe ich am Wochenende auf den Basar. Nun bin ich immer etwas traurig, einzukaufen. Wenigstens muss ich keine Angst haben, dass mir die Scheine ausgehen… Für jede Woche erstelle ich bereits fleißig Budgetrückschauen in Sum und jeden Monat in Dollar – da sticht sich der Januar als teurer heraus. Noch im Vergleich zum Oktober oder November gebe ich wöchentlich über die Hälfte mehr aus, und davon entfällt längst nicht alles auf Tanzen, Wodka, Restaurants. Ich sehe denselben Effekt wie in Lettland, tendenziell war es damals ähnlich: Ich hebe einfach meinen Standard mit jedem Monat, den ich hier lebe, will ich es angenehmer haben, mir mehr Bequemlichkeit verschaffen.
Es gibt verschiedene Gründe. Auf dem Basar habe ich mein Essverhalten geändert – von ewiger Suppe geplagt, bin ich seit meiner Rückkehr aus Ulan-Bator, also seit über zwei Monaten, Freund der nahrhaften Speisen, „бифштекс“ und „бефстроганов“ beim Tartaren, die man sich mit köstlichen Beilagen wie Buchweizen, Reis oder Fritten wünschen kann und mich etwas teurer zu stehen kommen als nur Suppe mit Brot. Falls mich doch einmal die Lust auf Gemüse oder etwas Gesundes packen sollte, so ist Loschka Kartoschka die richtige Wahl – zwischen Delikatesssuppen wie Soljanka, Borschtsch und Rassolnik lässt sich entscheiden, als Beilage wähle ich Xanum: Kohl mit Kartoffel und Tomatensoße, für kleines Geld ein Guss in die Seele wie aus… ach, ich weiß nicht. Kantinenessen, mikrowellenerwärmt, bleibt es trotzdem. Daher die fortgeführte Angewohnheit, am Wochenende zu kochen, falls ich nicht in anderen Etablissements lande, und gerade bin ich fleißig dabei, ein Kilo Rote Bete zu verbrauchen. Da verzichte ich unter der Woche auch mal auf Borschtsch. Wenn ich koche, wird es gerne kreativ, frei nach der in Mathe gelernten Formel: Wie viele Kombinationsmöglichkeiten aus a) drei Beilagen, b) zwei Sorten Gemüse und c) zwei Sorten Kräutern gibt es? Reis, Gretschka (Buchweizen) und Kartoffel mische ich in beliebiger Konsistenz (Brei bis Suppe) mit dem Gemüse, das ich gerade im Kühlschrank habe, und füge eine Gewürzmischung und viele Kräuter hinzu, fertig ist die Brühe. Zum einen habe ich nur einen Topf ziemlich normaler Größe zur Verfügung (plus zwei überdimensionale) und eine Pfanne, die aussieht, als würde darauf alles anbrennen (Zitat: Jonas). Fleisch ist mir immer noch zu teuer und ich lebe ja gesund. Falls wir Eier hätten (vielleicht sollte ich welche kaufen) könnte ich mir auch Spiegeleier braten, am Wochenende, als Ausgleich zum Frühstück der Woche aus Lepjoschka und russischer, fast hätte ich gesagt, sowjetischer, Wurst. Wenn mein Nahrungsplan hin und wieder der Ergänzung bedarf, leiste ich mir tatsächlich auch Kefir, vitaminreichen Saft oder schokoladengefüllte Kekse, die mir die liebsten sind und viel Arbeit am Blog erleichtern – oder die Lektüre des zweiten Teils des „Don Quixote“, der sich lange hinzieht, nachdem ich den ersten recht schnell beenden konnte. Überhaupt ist das Lesen auf dem Bildschirm keine gesunde, aber überaus erfreuliche Sache, da aus den Weiten des Internets die spannendsten Dinge zu fischen sind, die ich mir in freudiger Erwartung aus dem Institut nach Hause mitnehme. So eine Reihe Gedichte von Poe, Musils „Drei Frauen“ oder Dramen von Strindberg, Schnitzler, Klabund – weiß was ich, was nicht noch alles dabei ist, so langsam verliere ich den Überblick. So schnell kann ich nun auch wieder nicht lesen. Dazu kommen noch all die Artikel und Texte, die ich in meiner freien Zeit im Internet des Instituts mir angle, lese oder herunterlade – so meine intensiv begonnene, nicht fortgeführte Beschäftigung mit dem Bücherverlust in der Spätantike, zu dem ich mich reichlich durch Wikipedia geforstet habe oder Artikel zu Künstlern, Schriftstellern, was auch immer, Hauptsache kurzlebig interessant, vielleicht bleibt im Gesamtbild doch was hängen. Kampflektüre. Und während ich mich so durch die Weltgeschichte gelesen habe, musste ich versuchen, meine Blogs zu einem Ende zu führen, sie nicht ausufern zu lassen zu Konstrukten gewaltigen Wahnsinns (als wäre ich schon so weit), Monumente meines Scheiterns. Obwohl es reizvoll wäre.
Es mag sich ausnehmen, dass ich kaum Arbeit hatte, wenn so scheinbar viel Zeit zum Lesen, Florieren und Betrachten blieb? Da mag was dran sein, v.a. da die Filmreihe, dieses groß gewünschte Projekt, mit dem ich jetzt genug zu tun gehabt hätte, ausfällt. Natürlich. Drei Ablehnungen, drei Annahmen, über die vier verbliebenen Fälle warten wir noch immer auf Antwort – ohne viel Hoffen im Wissen um die Inhalte – nachdem wir unserem Kinder- und Jugendfilmfestival im April Priorität eingeräumt haben. Aber Ablehnungen gibt es ja nicht. Es sind Fälle, in denen Uzbekkino dem Justizministerium ein stumpfes „Nicht zur Vorführung empfohlen“ mitteilt. Unter den durchgekrochenen ist überraschenderweise „Victoria“ – schön, schön. Weil alles lange dauerte und unsere Reihe ohne diese Filme die Berechtigung ihrer Konzeption verliert – „Träumen und zündeln“ sollte sie heißen – wird sie ins Ungewisse verschoben, und jetzt, nächste Woche wäre Auftakt gewesen, lassen wir sie auf dem Weg, auf der holprigen Straße der Vernunft und konzentrieren uns auf das nächste „Shum bola“ – „Schlingel“ ins Usbekische übersetzt. Auch hier wäre es zu schön, liefe alles reibungslos, aber wo leben wir denn! Uzbekkino, die wir in diesem Falle bewusstermaßen anschrieben, da unsere Vorführungen in der Öffentlichkeit stattfinden sollen, hat einen neuen Leiter, der weder Praktiken der alten Regie kennt noch so leicht diese suspekten, deutschen Kinderfilme genehmigen will, ohne Hintergründe zu erfahren. So haben wir hier am Freitag erst eine Liste der zu zeigenden Filme erhalten, immerhin dürfen wir optimistisch sein. Einzige Änderung, das Wegopfer auf oben genannter Straße, besteht im Titel, es soll ein deutsch-usbekisches Festival sein und der Logik folgend sollen auch usbekische Filme gezeigt werden. Julia, mit ihrer diplomatischen Ader, führte uns um den Dammbruch herum und verhandelte für dieses Jahr, usbekische Kurzfilme zu zeigen. Immerhin haben wir ein Konzept und hätten gerne ein wenig Vorlaufzeit, bevor es mit Langfilmen weitergeht – die wahrscheinlich im nächsten Jahr folgen werden. Der neue Leiter der staatlichen Kinobehörde ist genau der richtige Mann für uns: von Beruf Schauspieler, erklomm er die Leiter der Politik, wurde stellvertretender Kulturminister und dann Mitglied des Beraterstabs für den Präsidenten, wo er Experte für die Organisation von Massenveranstaltungen war. Ich finde, das hört sich seriös an. Zumindest meinte einer der Usbeken zu mir, er habe ihn neulich betrunken getroffen und sich mit ihm unterhalten – also, er meinte, sie beide waren betrunken. Auch Julia und Ravshan kamen unaufgeregt vom ersten Treffen zurück – anscheinend bewahrt er zumindest die Logik seiner Weltsicht. Dem Festival kann nicht mehr viel passieren, hoffen wir es doch. Zwei von drei Jugendfilmen haben sie schon ausgewiesen, weil natürlich – wir filmen die Wirklichkeit – Sex Thema der Jugend ist, und zwar auch in Bildern. „Meine Tochter Anne Frank“ ist dabei und sie rechtfertigt es, das Festival weiterhin für Kinder und Jugendliche zu organisieren, wie es das „Schlingel“ ist, auf dem unser Event basiert. Ich darf mich freuen, als niederer Praktikant, denn eine ganze Delegation wird voraussichtlich den traditionell anwesenden Leiter des „Schlingel“ in Chemnitz begleiten, Halbpromis, um die ich mich kümmern soll, darf, muss.
Auch im Moment haben wir Gäste, die aber so lange bleiben und mit uns so wenig praktisch zu tun haben, dass wir sie nicht begleiten müssen. Es handelt sich um ein Projekt, das Anfang März seine Aufführung erleben wird – eine Inszenierung von Kleists Kohlhaas, bearbeitet als Theaterstück, mit Schauspielern des Taschkenter Youth Theatre of Uzbekistan und der Regisseurin vom Heidelberger Jungen Theater. „Michael Kohlhaas in Usbekistan“ könnte selbst eine moderne Bearbeitung der Novelle sein und mit fest gedrückten Daumen hoffen wir, dass dieses hierzulande, gelinde gesagt, provokante Stück einen Weg durch die Behörden findet. Kohlhaas in Usbekistan, das ist tatsächlich ein Coup, wenn das gelänge. Auflehnung gegen von oben protegierte Ungerechtigkeit, gegen politische Diskriminierung und für absolute Gleichheit, rasend gegen injustice, mistreatment und gefährlich nah an Selbstjustiz. Alle werden es verstehen. Ich freue mich auf die Reaktionen. Wenn es denn welche geben wird, weil erlaubt wird. Die Heidelberger Regisseurin und ihr Bühnenbildner sind jetzt für anderthalb Monate da und versuchen ihren Job zu machen. die Schauspieler sind mittelmäßig, das Theater hat bessere Tage gesehen, ist staatlich und zeigt Kinderstücke, die, so Julia, kaum auszuhalten seien. Die Akteure spielten auch außerhalb von Kinderstücken wie für Kinder. Als wir letzten Montag bei einer Probe anwesend waren, fand ich es gar nicht so schlimm, ein wenig unmotiviert vielleicht. Witzige Geschichte: Der Regisseur und Betreiber des Theaters, der die beiden betreuen sollte, ist wenige Tage vor ihrer Ankunft selbst, unangekündigt, ohne jemandem Bescheid zu geben, für drei Wochen nach New York geflogen – wegen einer medizinischen Behandlung, die Gelegenheit aber nutzend, sich in der Theaterszene umzusehen. Es geht auch ohne ihn, wie man sieht, sein Sohn, der selbst in Heidelberg die erste Version auf Deutsch inszeniert hat, ist ja da. Nach dem Besuch der Probe sind wir zu viert, d.h. die beiden Gäste, Julia und ich ins Manas gegangen, jenes kirgisische Restaurant, das mir aus meiner ersten Woche bekannt war, und das eine wirklich gute Speisekarte aufweist, wenngleich die Preise für hiesige Verhältnisse hoch sind. Nach den Unterhaltungen ums Theater, scheint es mir, müsse ich dringend ins „Ilkhom“ gehen, wo ich seinerzeit die Szenischen Lesungen u.a. von Werner Schwabs „Präsidentinnen“ verpasst habe, weil ich in Ulan-Bator weilte. Nachdem mir unzählige Seiten bereits einen Besuch empfohlen haben, wird es auch von den beiden Profis hoch gelobt. Freilich, auf Russisch, das macht nichts. Spätestens, wenn sie Ende Februar Ibsens „Gespenster“ aufführen, werde ich mich hinbemühen und im Mai werden sie voraussichtlich mit Kafkas „Prozess“ premieren, vom Goethe-Institut bezahlt und wieder eine heikle Geschichte in einem Land wie diesem. Doch sie wollten es mit dem „Brief an den Vater“ verbinden, so wird es weniger politisch. Kohlhaas hingegen bleibt ein Wagnis.
Wie wir weitere Maßnahmen durchführen können, müssen wir erst erfahren. Es ist ein kontinuierliches Kreuz, dass nichts gesagt wird, nur auf Nachfrage, und die Antwort auch dann meist wenig Klarheit bietet – auf institutioneller Ebene. Ich werde einmal gesondert schreiben, wie es genau um unsere Arbeit steht, sonst platzen wieder Zeit und Umfang der Texte, damit will ich gleich aufhören. Zunächst versuchen wir also, zu laufen wie es geht und fördern, initiieren fleißig weiter, vorsichtig, aber bewusst auf die Weiterführung der kulturellen Arbeit drängend. Beispielsweise ist da jene Frau, die das Goethe-Institut kennt und mit uns bereits Projekte durchgeführt hat (nicht mit mir). Ein solches wollte sie starten und hatte grundsätzlich unsere Unterstützung. Ein Kick-Off-Treffen, bei dem wir Klarheit über das Projekt – es sollte um „Performances“ gehen – erhofften, organisierte sie in unserem Veranstaltungssaal und so staunten wir nicht schlecht, dass sie über 30 Leute erwartete. Des Rätsels Lösung war einfach. Sie hatte Leute eingeladen, die vielleicht interessiert wären mitzumachen, zwei bekannte Künstler, die ein bisschen vor sich her referieren sollten, das Projekt anleiten, sprach noch einmal das Thema an und fragte dann – Was machen wir jetzt? Vorbereitet hatte sie nichts. Dass das Institut sie nach der letzten gemeinsamen Arbeit um etwas mehr Organisation gebeten hatte, war offenbar an ihr vorbeigegangen. Selbstverständlich war zu Ende der Veranstaltung wenig klarer, was eigentlich getan werden sollte, außer, dass eine (oder mehrere?) Performance entstehen sollte. Inzwischen hat sie eine Teilnehmerliste und ein Budget erstellt. Aber was soll man ihr vorwerfen? Es ist für mich belustigend und am Ende klappt es doch, wie alles hier. Außer, dass Ministerium verbietet es uns. JuMi übrigens, falls ich vorstellen darf, das Justizministerium. Erwähnte ich das?
Hier noch etwas auf der Übrigens-Skala: Im Januar stand der, ob russische oder usbekische, Männertag an, und wie das so ist, gab es gleich ein fröhliches Festchen während der Arbeitszeit. Wenn der deutsche Steuerzahler das wüsste… Dumme Wettbewerbe und platte Spielchen sollten je einen Gewinner unter den Misters des Instituts auslosen, während die Frauen die Fragen stellten und Preise vergaben, d.h.: Für jeden Mann war eine Tasse zugedacht, je nach Wettbewerb verschieden, und am Ende wurden die übrig gebliebenen an die zugeteilt, die sich entweder nicht durchsetzen konnten oder sich den Wettbewerben verschlossen hatten. Zu jener letzteren Gruppe zählte ich und kam noch sehr gut bei weg, als ich schließlich mit „Mister Antistress“ ausgelobt wurde – eine Tasse, die im übrigen sonst sehr kitschig ist und deren Boden ein Klebeschild „Made in China“ ziert. Da bin ich aber beruhigt.
Natürlich ist ihre Stellung hier zwischen den Welten des Ostens und diesem Treibhaus Europa dramatisch. Einerseits sehen sie in den Westen als Tal voller Versprechungen, Glück und Zufriedenheit. Ihre Sehnsucht begründet sich im Allerweltsanspruch, den Europa selbst fährt, lassen sich blenden von Demokratie und endlosem Frieden, für den die Europäer ihre Seele gegeben haben. Andererseits steht östlich von ihnen China, selbst eifrigster Plagiator des Westens, dessen Rezepte er ungefragt übernimmt, anwendet und das nur schneller, billiger, umweltzerstörend, unreflektiert. Sie hier, die blind gestellten Bürger der nicht geduldeten Freiheit sehen nicht, wie schwer Europa wiegt. So suchen sie ihm gleich zu kommen und ergehen sich dabei in blassen Kopien, ohne eigenen Kopf und eigene Schöpfung. Und wenn sie Europa kopieren, so vergessen sie stets die Sehnsucht, denken Leben ohne Sorge, Reichtum ohne Müdigkeit, Glück ohne Bitternis, Wärme ohne Verzweiflung, Erfolg ohne Opfer. Alle denken an ihre Zukunft. Elmira will in Deutschland wohnen, Shomansur, der Sekretär, sein Haus umbauen – alle denken an ein schöneres Leben in besserer Zukunft, als wäre es natürlich, ein Wachstum von Glück und Wohlstand, von Wert und Tugend. Hier ist der Glaube noch da, während in den westlichen Ländern, Europa, dystopische Visionen zunehmend den Glauben an Zukunft ersetzen und in sich auflösen. Und sie sehen hoffnungsvoll auf diesen Kontinent, der selbst seine eigene Hoffnung aufgegeben hat. Der Glaube daran jedenfalls scheint ohne Zukunft.
Aber ich jammere schon wieder. Es gibt doch so viel Schönes und Angenehmes. Die Erdbebenphase scheint aufgehört zu haben. Ich kann abends ausgehen, ohne um mein Geld zu fürchten, ich könnte hier sehr gut leben, aber um meiner Freiheit willen lasse ich die Zügel angespannt. Ich war beim Friseur, d.h. endlich sind meine Haare weg, mein Kopf leichter, alles wird einfacher! Zu Weihnachten habe ich mir einen Handfeger gekauft, endlich kann ich mein Zimmer fegen, das hatte es dringend nötig und erweist regelmäßig seinen Nutzen. Sauberkeit, wie schön! Im Februar stehen zahlreiche spannende Ausflüge an – ein großer nach Samarkand, kleinere ins Theater, mein Russischunterricht wird fortgesetzt. Mit etwas Glück komme ich auch noch vor dem Frühling in die Taschkenter Oper, das Navoi-Theater, das seit November oder Dezember fertig renoviert ist und nun wieder für Ballett- und Opernfreunde offen steht. In der Programmabteilung haben wir gewettet, darum, wie viele Filme aus der Reihe es schaffen werden. Endgültig entschieden ist die Wette noch nicht, aber ich liege mit vier ziemlich gut. Der Verlierer muss Tickets für eine Vorstellung im Navoi-Theater organisieren.
Ja, das Leben ist ein Spiel hier. Wie auf einem großen, großen Brett, ohne wirklich die Regeln zu kennen, aber mit einer Atmosphäre so künstlich und gestellt, darin als Ausländer, Fremdkörper frei beweglich, was alle anderen bindet, so schweift man herum und guckt und lacht leise… Wir können es uns leisten, unser Leben etwas leichter zu nehmen. Zu Schulzeiten wäre das unmöglich gewesen, als der Ernst des Lebens noch mit Stacheldraht und plumpen Worten eingebläut wurde. Ich bin froh, hier zu sein. Ungeahnte Freiheit, in einem Land, das das Gegenteil verspricht. Nur weil ich Ausländer bin.
Und wenn endlich das Wetter seine angekündigten Versprechungen hält und nicht ständig, wie ein Schiff seitwärts zu den Wellen schaukelt und kippt, dann habe ich auch keinen Grund mehr, krank zu sein. Aber wie gerechtfertigt ist die Hoffnung, wenn der Wetterfrosch einen Temperaturanstieg von 15 Grad in drei Tagen ankündigt? Ich glaube ihm nicht, Problem gelöst. Solange es noch Zitronentee gibt, bin ich gerettet.