Zwei Masken

Anmerkung: Dieser Eintrag entstand im Verlaufe von anderthalb Monaten, in denen ich vor Reisen, Lesen, Feiern und Erschöpfung nicht dazu kam, die hier geschilderten Erlebnisse kohärent niederzuschreiben. Die Chronologie beginnt mit meiner Reise nach Urgench (30.11. bis 05.12.16), um einen Theaterworkshop durchzuführen, und endet mit den Tagen nach Neujahr. Über den Januar muss ein neuer Artikel erzählen.

 

Zwei Masken beherrschen jene Tage. Die erste des Glücks, des Lachens und Feierns; die zweite von Verdruss, Unruhe und Zerstreuung. Es ist eine lange Zeit vergangen, dass ich gemäß der Tagesordnung schrieb – nach dem „Weg durch die Freiheit“ brauchte ich Ruhe und doch ging die Zeit weiter: Ich arbeitete mal hieran, mal daran, bis ich vor ungewissen Fragmenten stand, die es galt, zusammenzuklauben, nachdem der Stress verschwunden war. Meine beiden letzten Einträge behandeln das Reisen und das Außerordentliche, jetzt gilt es zum geordneten Leben zurückzufinden, die Arbeit und den Alltag.

Zwei Masken, so sagte ich – immerhin war Neujahr, ein großes Fest hierzulande, wo Weihnachten kein Begriff ist. Wo Sterne und Weihnachtsmänner, gelegentlich Rentiere und natürlich Tannen die Straßen und Häuser, Cafés und Geschäfte zieren, in allen Farben des Kitsches und der Leichtigkeit, nur eben nicht zum Weihnachts-, sondern zum Neujahrsfeste. Sogar Geschenkchen gibt es im engen Kreis der Familie, ich habe mit Elmira, Alisher, dessen Cousin und seiner Frau und Kind, Elmiras Schwester und der gemeinsamen, demenzkranken Mutter gefeiert, vor allem: gegessen, fern geguckt und in einer anderen Familie wäre auch ordentlich getrunken worden. Der Wodka wurde mir angeboten, aber alleine fühlt man sich eher fremd dabei. Ich habe abgelehnt – hatte genug am vorherigen Tag. Ein frohes Fest, bei dem ich eben nicht nur die Beschaulichkeit und gute Hausküche mitbekommen habe, sondern auch jene russischen Neujahrsfeiern, die auf den großen Sendern laufen – Show: Glanz, Glitter und Gloria, Gesang und Unterhaltung, Tanz und Champagner. Den gab es bei uns auch – süß wie jener, den ich früher als Kind begehrt habe, nur mit Alkohol. Die Russen auf den Kanälen feiern laut und kräftig, voll im Spaß und jeglichen Tiefgang vermeidend. Es dürfen doch mal politische Witze oder gesellschaftliche Amusements sein, die dann auf Kosten Elton Johns, Angela Merkels oder des Westens gehen. Zweimal durften wir Putins bewegende Neujahrsansprache sehen, um Acht und um Zehn unserer Zeit, und zweimal die Glocke Mitternacht schlagen, zweimal die russische Nationalhymne in all ihrer Pracht hören. Ich hatte viel Zeit, alles mit anzusehen, denn zwischen Acht und halb Zwölf wurde tatsächlich nicht mehr getan als ferngesehen. Hilflos wiederholte der Bildschirm von Zeit zu Zeit seine Nachricht: „Health advise: You are watching TV for 2 hours.“ Im Anschluss die Runde der Geschenkchen und ein weiteres Essen. Es ist natürlich nicht mein Charakter und das ewige Sitzen tut meinem Rücken nicht gut, dennoch werde ich nun auf immer wissen, wie russische Fernsehsender Neujahr zelebrieren…

Zwei Masken – als ich zum letzten Mal von meiner Arbeit erzählte, vom Goethe-Institut und meinem Schicksal dort, war es Anfang November. Zwei Monate sind eine lange Zeit, selbst wenn einer davon nicht mit Arbeit gefüllt war, durch Reise und Winterschließung. Es war tatsächlich kein Kontinuum, was sich da ab Ende November bis zur Freizeit am 19.12. erstreckte. Nach dem großen Weg, der Reise nach Ulan-Bator, war meine Ermattung groß und ich brauchte Zeit, mich zu erholen, glücklicherweise ohne viel Arbeit dabei, die großen Projekte des Jahres aus und vergangen, denn meiner harrte eine strenge nächste Woche: Es sollte nach Urgench gehen, 1000 Kilometer von Taschkent, statt an die Grenze Kasachstans nun an jene Turkmenistans, unweit des Touristenmagnets Chiwa und benannt nach jener nun turkmenischen Ruinenstadt, die zu vormongolischer Zeit Zentrum des Großreichs Choresm war – letzte Bastion Mittelasiens, die gegen Dschingis Chan noch stand und schließlich von ihm blutigst unterworfen wurde. Der Sieg brachte dem ersten Chan die Herrschaft bis zum schwarzen Meer ein. Namen wie Al-Choresmi, Lehnvater des Worts Algorithmus, sind mit der Region verbunden, der Erfinder jener noch gebrauchten arabischen Grammatik komme auch hierher und die Awesta, das heilige Buch des Zoroastrismus, älteste schriftliche Quelle des Glaubens, soll in Chiwa geschrieben worden sein. Ein spannendes Land, unbedingt, und doch war ich nicht im Urlaub dort, konnte außer einem halben Tag Chiwa und den vielen erzählten Geschichten nicht viel Historisches mitnehmen, denn es galt, mit 19 Schülern des Zweiten Akademischen Lyzeums, 16- bis 18-Jährige, in vier Tagen Michael Endes „Momo“ in einer Fassung einzustudieren, die ich bearbeitet habe, deren Original an unserer Schule mit mir als Schauspieler eine wundervolle Facharbeit des letzten Jahres darstellte.

Auch dies gehört zur ersten Maske, jener der Freude und des Feierns – besonders des Trinkens – und der Dezember startete so mit einem Berg an Erkenntnis und Erfahrung, die es weiter zu verarbeiten galt. Zwei Wochen blieben, in denen nicht viel geschah, wirklich nicht, außer ein oder zwei Feiern, der Langeweile und Muße vor dem Computer und der drängenden Frage nach dem Fortführen der Blogs. Am 20. Dezember ging es für mich erneut in die weite Welt, nach Buchara und Termiz, die man in einem vorherigen Text wieder finde, um nun – ich kenne es – erschöpft anzugelangen an dem Punkt, an dem ich erstmal bleiben will, Taschkent. Es ist schon etwas wie ein Zuhause, wenn ich mit Rucksack und Halldór Laxness aus dem Zug steige, die Morgenluft, die Abgase genieße, und mich aufmache in mein Bett. Kein Wunder, wenn die letzten anderthalb Monate des Jahres in so viele neue Orte führten, mich mitrissen durch die Weltgeschichte wie durch die Regionen, dann ist der Wunsch nach Ruhe vielleicht endlich ein gerechtfertigter, dem man nun mit Zufriedenheit statt Ungeduld, mit einem Lächeln statt verzogener Schnauze begegnen kann.

Die Tage nach Neujahr erstreckten sich in steigender Hitze vor allem vor dem Laptop, wo ich an allem Möglichen arbeitete, vor allem an meinen Blogtexten, die ich aufspannte, soweit es ging und dabei einen Haufen Material gekürzt habe und verworfen, der sich angesammelt hatte. Ja, und so starte ich befreit in das neue Jahr, mit Geist und Schrift im Grunde aufgeräumt und erwartungsvoll. Die Erwartung hält sich in den Grenzen Deutschlands, denn Usbekistan ist für mich ein Abenteuer, dem gegenüber das Wort falsch klingt – hier bin ich bereit für alles, was da kommen mag, und sei’s die Pest. Jene Erwartung bezieht sich auf die Freude, die mich in anhaltender Latenz seit Wochen begleitet, auf Deutschland, Leipzig, deutsche Sprache, deutsches Wetter… Jetzt bin gewappnet für eine große Durststrecke, für Arbeit und Anstrengung, Enttäuschungen und Erlebnisse. Mein Panzer ist wiederhergestellt.

Wie es eine erste Maske gibt, so muss es die zweite auch geben. Komplementär ist alles. Eine schwere Aufgabe, die Entwicklungen so festzuzurren, dass ich sie hier schwungvoll wiedergeben könnte, vorerst nur also eines, denn viele Worte warten noch auf ihre Entsprechung: Weder Person noch Körper sind betroffen, ich will nicht von mir erzählen, denn mir geht es blendend. Mehr hat es mit der Arbeit zu tun und mit dem Staat, mit Widerstand und Ergebung. Davon später mehr, wenn ich die Macht dazu habe.

Es ist eine Nebensächlichkeit fast schon, so turbulent die Tage und vergangen die Wochen: Wir sind umgezogen. Ich erzählte sicherlich von der Wohnung nebenan, die renoviert wurde. Nun, es stellte sich heraus, dass eigentlich diese auf meiner Registrierung als Wohnort angegeben wurde und eigentlich diese Zuhause von Alisher und Elmira ist. Ich habe ein neues Zimmer, nicht mehr das größte der Wohnung, in leisem Hellblau und mit sehr seltsam lackiertem Holzfußboden, die Dusche hat keinen Vorhang und es gibt kein Waschbecken. Während wir den Tisch aus meinem alten ins neue Zimmer trugen, jenem runden, an dem ich meine Blogs zu schreiben pflege, fiel mir ein Aufkleber am kräftigen Standbein auf, kurz unter der Platte, bei normalem Gebrauch nicht sichtbar. Dieser Aufkleber ist auch auf meinem Papierkorb im Büro und enthält eine Inventarnummer des Goethe-Instituts Taschkent. Stillschweigend gehe ich von einem ausrangierten Exemplar aus.

 

Verwilderung der Gärten

Hintergrund: Warum war ich, wo ich war? Es ergab sich die Möglichkeit, nachdem ich mich eingelebt hatte und man von Urgench erzählte, diesem besonderen Ort, wo die Schüler Deutsch lernen wie andere das Einmaleins, dann war der Vorschlag im Raum, ich könne doch einmal mitkommen, mit eigenen Augen sehen und der Wunsch, diese Reise mit etwas Dienstlichem zu verbinden. Ein Theaterworkshop stand schnell im Raum und der erhebende Gedanke, das Ganze auf Kosten der PASCH-Abteilung durchzuführen, stammte nicht von mir. Sowohl das Lyzeum als auch die 19. Mittelschule sind Fit-Schulen, Partner des Goethe-Instituts und werden als solche von uns mit Projekten, Finanzen unterstützt. Am 30. November war eine Prüfung auf die Niveaus A2, B1 und B2 des GER geplant, auf welche die Schüler sich monatelang vorbereiten, um das Goethe-Zertifikat zu erhalten, mit dem sie weltweite Akzeptanz zu finden erhoffen. Diese Gelegenheit durfte ich nutzen, einen Workshop hintenan zu hängen, nach den Prüfungen noch einige Tage zu verweilen. Soweit so gut und alles hört sich friedlich an, doch Wolken dröhnten schon im linken Ohr, als ich aus meinem Traum, irgendwo im Osten, zurückkehrte und die Welt verändert vorfand, sowieso von dem Erlebten völlig überfordert und wie in Wolle gewickelt, schwebend, und am Boden liegend, so musste ich mich sammeln. Es war und wurde schlimmer; die Programmarbeit wird an Händen und Füßen gefesselt, dass sie noch mit dem Kopf nicken kann und Worte der Entscheidungslosigkeit, politisches Nichts, murmeln – in ihren Bart, sozusagen. Es fing an, dass in der Zeit meiner Abwesenheit die Forderung des Justizministeriums erging, bei allen Veranstaltungen, Projekten und Vorhaben eine Bestätigung ihrerseits ab jetzt unerlässlich sei. Eine Meldung unsererseits, wie bisher unschuldig praktiziert, gilt nicht mehr als Erlaubnis – so haben wir regelmäßig aus Nichtantwort geschlossen. Für unsere Filmreihe ab Februar wurde die Ordnung verhängt, alle zu zeigenden Filme zuerst der staatlichen Kinobehörde Uzbekkino, ungeblümt: Zensur, zu geben. Ein Paradeschlag in das Herz des Ungetüms: „Finsterworld“, wo menschliche Hornhaut zu Keksen und eine Schülerin in einen alten Vernichtungslagerofen gestoßen wird; „Unter dir die Stadt“ mit seinen Sex- und Nacktszenen, ganz zu schweigen das Thema des Ehebruchs. „Kreuzweg“, härteste Lektion über religiösen Fanatismus – christlichen, dennoch. „Als wir träumten“ – Drogen, Waffen, Revolution; „Wir sind jung. Wir sind stark“ – hier brennen wieder Menschen; „Victoria“, ein Experiment, Gewalt in schrillen Clubfarben. Die Doktrin lautet: Keine entblößten Schauspieler, keine explizite Gewalt, keine Religion. Für die Reihe können wir nur beten, und selbst da ist nicht viel zu hoffen. Anders als Faust, der am Ende trotz seiner Fehltritte gerettet wird, hat diese Reihe nichts zu erwarten. Ja, das ist Usbekistan, wenn jemand fragt – das ist es. Massenveranstaltungen bedurften seit jeher der speziellen Erlaubnis des Kulturministeriums, nun wurde die Anzahl von 100 auf 50 Leute heruntergestuft – und schneidet damit unseren Veranstaltungssaal mit 80 Plätzen. Jegliches öffentliche, hauseigene Treiben müssten wir bei zwei Ministerien melden, zwei Erlaubnisse einholen. Nicht nur die Bürokratie schreckt ab – auch müssen wir, um alles rechtzeitig genehmigt zu bekommen, zwei Monate Vorlaufzeit einplanen. Einen Kurzfilmabend im November mussten wir einen Tag vorher absagen und später wurde leise deutlich gemacht, ganz höflich, man wünsche nicht, dass wir mit diesem Partner zusammen arbeiten – ein selbständiger Regisseur, der anders macht als Uzbekkino will. Theaterveranstaltungen müssen erst von staatlicher Seite kontrolliert werden, das fertige Stück muss warten, bis die Herren ihren Daumen gerichtet haben und darf dann erst premieren.

Beinahe wäre auch der schöne Coup mit Momo nicht gelungen. Beinahe, wenn nicht irgendwer noch Mut und Enduranz hätte, irgendjemand. Bis Freitag warteten wir, zähneknirschend, ungeduldig, auf eine Antwort des Ministeriums. Pünktlich, einen Monat, 30 Tage, vor Beginn unserer Reise hatten wir sie angemeldet, noch von stillschweigendem Einverständnis ausgehend. Diese Zeiten sind vorbei und sie werden nicht wiederkommen. Man telefonierte, hakte nach und nie ist der Richtige da, und wie froh bin ich, dass nicht ich der immer wieder Vertröstete war, bis Freitagnachmittag der Höhepunkt der Spannung brach – werter Kollege des Justizministeriums war um Vier in sein Büro gekommen, ausgeschlafen. Ich wollte nach Hause, müde, und mit einigem an Arbeit, was Momo betrifft. Ganz zu schweigen vom großen Bericht über meine endlose Reise, mein „Far, far away“ der Wochen zuvor. Nur durch Dunst und Watte, wie man mich kennt, nahm ich den Tag wahr und nahm hin, als plötzlich die Antwort war, er habe es nicht geschafft, wir hätten uns früher melden sollen und könnten, wenn wir jetzt noch einmal anmelden, in zwanzig Tagen die Prüfung durchführen, und den Workshop. Man lächelt da müde drüber und stimmt der Institutsleiterin zu, wenn sie anruft und selbst mit Schuldzuweisungen überhäuft, im Anschluss sagt, Lasst es uns nur einmal vor die Wand fahren. Was soll ich kleiner Freiwilliger da sagen, tun? Ich laufe durch die Gegend, es zischelt und eine aus der Verwaltung flüstert: Das klingt nach Provokation. Und wie gesagt, heldenhaft ist es den beiden Ortskräften der PASCH-Abteilung zu verdanken, dass am Samstagnachmittag ein Anruf einging und ich erfuhr, ich darf, wir dürfen fliegen. Für die Freistellung der Schüler bedürfte es offiziell noch der Zustimmung des Hochschulministeriums, damit das Justizministerium die lokalen Behörden um eine Freistellung bitten kann. Erst dann hat alles seine Ordnung; die scheint in diesem Land lange abhanden gekommen zu sein.

Sorgfältig konnte man in dieser Zeit durchdenken, was bei endgültigem Nein passieren würde. Die Schüler, durch drei Monate hindurch intensivst vorbereitet, stünden mit leeren Händen da, ihr Prüfungstag ginge vorbei und sie ohne Prüfung, ohne zufriedenem Ablegen der Spannung letzter Wochen – man kann sich nicht vorstellen, was es für sie bedeutet, dieses Niveau zu erreichen. Erfahrungsgemäß bestehen sie fast alle an diesem Lyzeum. Die Leistungsrate ist enorm, die Motivation und Freude der… sage ich Kinder, wo ich kaum mehr ein Kind bin als sie? Nun, ist enorm.

Nicht gestattet wurde dem Abteilungsleiter, in seine andere Schule vor Ort zu gehen, die erwähnte neunzehnte. Er wollte Geschenke an zwanzig Schüler verteilen. Aber da die Schule unter Kameraüberwachung steht, will es sich der Direktor nicht leisten, etwas ohne Zustimmung des Ministeriums zu machen – die Verteilung der Geschenke hatten wir nicht selbst als Veranstaltung angemeldet. Noch Wochen später wurde die Leitung zum Justizministerium bestellt, weil wir die Geschenke doch verteilt hatten, ebenso unangemeldet im Lyzeum. So geht das nicht. Genauso bei einem Lyzeum in Taschkent, in welchem die andere Praktikantin – nun wieder in ihrer Wahlheimat Leipzig – bis November noch ein Stündchen pro Woche Unterricht gegeben hatte, als Muttersprachler wertvoll für die Schüler – man wollte sie nicht mehr hereinlassen, nachdem der Direktor neu war. Heinar, PASCH-Leiter, erzählte mir von Schulen, wo man die Eltern draußen stehe lasse, sie dort ihre Kinder in Empfang nehmen müssen wie Sträflinge aus der Anstalt und das Gebäude nicht betreten dürfen – aus Sicherheitsgründen. Die Geschichten nehmen kein Ende und am deutlichsten trifft es die Programmarbeit: Wir versenden für unsere Großveranstaltungen Briefe an alle, die hinterher irgendwie sagen könnten, warum haben wir davon nichts gewusst? Kleinprojekte lassen wir ganz sausen – der bürokratische Aufwand und Stress lohnt sich nicht mehr. Was sagt das Gesetz dazu? Abgesehen davon, dass sich die Bürokratie immer gerne darauf beruft, klingt es primär wie eine Absicherung gegen alles potentiell die Staatsordnung Gefährdende. Nicht direkt gegen uns ist es gerichtet, aber doch strahlen ausländische NGOs einen Lichtpunkt der Freiheit aus, und Freiheit ist hier das Gegenstück zu Kontrolle. Kontrolle aber wird kontinuierlich wichtiger, wenn tausende Usbeken in Syrien kämpfen, wenn die Opposition nach außen verdrängt ist und von dort gefährlich werden könnte oder wenn sich ein Ende der Machtzeit des Herrn Karimov abzeichnen sollte, dessen Nachfolge so offen steht wie das Tor zur Hölle.

Wie schaffe ich nur den Übergang von der Programmabteilung zur Theaterarbeit, zum Urgencher Lyzeum, wo ich mich so verzettelt in meinen Notizen finde? Am besten ich ahme Robert Walsers Räuber nach und schiebe jenes Löffeli ein, welches die Dame dringend putzen sollte. Oder ich nehme mir diese kleine Angeberei heraus, dass es ein Vollstipendium für ein Studium in Deutschland gibt, welches jährlich für die ab der ersten Klasse deutschgelehrten ZfA-Schulen ausgeschrieben wird und seit jüngstem auch für Fit-Schulen geöffnet ist. Erst zweimal – weltweit – ist es Schülern solcher Institutionen gelungen, eines der jährlich drei Stipendien abzugreifen. Einer kam aus Russland, der andere – aus jenem Lyzeum in Urgench. Man kann sagen, die dortigen Deutschlehrer peitschen ihre Schüler, nicht feindlich, aber konsequent, durch ein enormes Pensum an Aufgaben, Übungen, sodass sie nach zwei Jahren von Null auf B2 gelangen können, oder in drei Monaten von Null auf A2 – unnötig zu erwähnen, dass dieses (letztere) Niveau nach in Deutschland zur Erreichung vorgesehenen drei Jahren kaum jemand drauf hat. Man sieht, wie viel vom Lehrer abhängt – vorausgesetzt, er hat die zeitliche und planerische Freiheit, seinem Fach Geltung zu verschaffen. Die Ausgezeichnete, die Oberlehrerin des Faches Deutsch heißt Nigora und ist eine der wenigen impulsiven, etwas rabiaten, zupackenden Frauenpersönlichkeiten, die ich hier getroffen habe, sie muss Zauberkräfte besitzen, so ihre Schüler auf Zack zu bringen. Bei uns würde solch ein Lehrer größte Unbeliebtheit in den Reihen der Lernenden provozieren, hier ist das Verhältnis von einer Innigkeit, die über die Arbeit hinausgeht – undenkbar im kalten Orkus Deutschland.

Damit die Herren in den oberen Reihen auch tatsächlich einen so jungen Menschen wie mich passieren lassen, in die Provinz winken, wurde ich von der PASCH-Abteilung offiziell als Theaterpädagoge ausgegeben und angekündigt. Mit einer aufgespielten Profession habe ich ja Erfahrung aus den vielen Gesprächen, in denen ich Student der Religionswissenschaft bin. Hatte ich das erwähnt? Sicher. Begleitet wurde unsere Arbeit durch einen Wachhund des Justizministeriums, ein sehr netter Kerl, der nun den ganzen Tag lang Deutsch hören musste und kein Wort verstehen konnte. Außer einer improvisierten Liste der Tätigkeiten und Tagesaktivitäten musste man ihm nur den Inhalt des Stückes übersetzen und den Text auf Deutsch aushändigen. Auch wenn er also nicht sonderlich gestört hat, seltsam war es schon, beobachtet zu werden.

Von Anfang an gestaltete sich die Arbeit mit den Schülern locker und unkompliziert. Das Alter der Teilnehmer (ich sagte es: 16 bis 18) ermöglichte eine Arbeit auf Augenhöhe und vor allem eine lockere Hierarchie. Man hatte mich im Vorfeld gewarnt, usbekische Schüler seien von alleine nicht im Stande, etwas aus sich heraus zu leisten, kreieren – wenn man nur Anweisungen, klar, direkt, alternativlos, gäbe, erfüllten sie diese mit höchster Präzision und engagiert. Dieser Auffassung, wie sehr sie auch für den Großteil der Schüler zutreffen mag, muss ich im Falle „meiner“ Gruppe wiedersprechen: Es brauchte eine Weile, den ersten Tag, um alle warm zu haben, eine Stimmung herzustellen, mit Spielchen, Erzählungen und einfachen Fragen, einfachen Unterhaltungen. Der vorherrschende Typus Schüler ist devot und untertänig dienstbar, besonders die Mädchen still, ergeben und legen es auf Eigeninitiative nicht an. Das ist durchaus in der usbekischen Erziehung angelegt; Frauen sind darauf bedacht, ihren Männern zu gefallen und… zu gehorchen. Jener Typus Mensch ist im Theater unwohl aufgehoben und so fand ich mich höchst glücklich, als sich alle zwar zögerlich, aber aus eigenem Willen bereit dazu fanden, die Rollenaufteilung selbst zu übernehmen. Ab dem zweiten Tag kamen immer wieder Vorschläge, wenn ich darum bat, da ich versuchte, die Regie offen zu halten, meine eigenen Ideen nur in Bezug auf die ordentliche Implementierung auf der Bühne zu bestimmen. Was soll ich auch anderes machen, wenn ich außer von einigem Zuschauen kaum die Regeln der Kunst kenne und mich doch als Laie am Stück versuchte… Es klappte.

Den Text las ich zu Beginn den Schülern vor und war beglückt, dass er nicht nur sehr gut bei ihnen ankam, sondern auch weitgehend auf vollstes Verständnis stieß. Nicht umsonst wird die Schule von Heinar so gelobt und erreicht Spitzenergebnisse bei den Goethe-Sprachprüfungen. Deshalb wundert es mich nicht, wenn sie mich überraschen, eher bin ich froh, meinen Anspruch heben zu können und dass ich von ihnen real etwas verlangen kann. Die Bühnenarbeit wurde mit diesen lernbegierigen Kindern großartig, weil alle innerhalb eines Tages ihren Text lernten, den ich rücksichtsvoll auf wenige Sätze pro Rolle zugeschnitten hatte, und die Szenenübergänge nach zwei Malen einfach drauf hatten – da schlagen sie unsere getränten Tüten um Meilen. Hier streiten sie sich um den meisten Text – es ist eine Ehre, wenn sie reden dürfen und eine Enttäuschung, wenn sie wenig bekommen. Und so stehen sechs Bewerber um die Momo an. Die Lösung brachten sie allein zustande, ich habe sie nur auf die Bühne gebeten zum Vorsprechen und schon gewann die Wahl ein Eigenleben. Apropos Ehre, die steht hoch genug, dass sie sich um meine prügeln. Ein fremder Schüler kam plötzlich zur Probe herein geplatzt und schrie „Hitler kaputt!“, woraufhin, ohne mir große Zeit zum angemessenen Reagieren zu geben und völlig überraschend für mich, alle fünf Jungs aus der Gruppe dem Fremden hinterher stürmten, auf den Gang, und eines der Mädchen, die hingelaufen waren zuzusehen, meinte: „Sie schlagen sich!“. Ansonsten aber verlief alles sehr ruhig und in gemessenen Bahnen, wie von mir nicht besser erhofft, ein wahres Freudenspiel und ich hob den Gedanken wieder auf, nach meiner Rückkehr eine Theater-AG an meiner alten Schule zu leiten, um diesen Brettern treu zu bleiben. Wiewohl in unserem Falle die Bretter sowjetteppichüberzogen waren, in hohem Raum, der Aula des Hauses, die mit drei Dritteln Etagenreihen an Stühlen aufwarten konnte, gänzlich in Grün gehalten war und deren Rückwand, vor der wir spielten, mit einer überragenden Größe festgehaltenen usbekischen Fahne bemalt war, wie sie zum Ruhme des Vaterlandes gereicht…

Besondere Achtung zollte ich in der Arbeit natürlich dem, was ich tatsächlich kann und gelernt habe – Haltung, Impuls, lautes Reden: letzte Reihe. Am Ende, nach einigen Wiederholungen, haben sie zum Großteil konzentriert gesprochen, standen mit Spannung, aber nicht steif, und legten im besten Fall noch Betonungen in ihre Texte, die sie lebendiger machten. Jener Lehrerin gilt meine ganze Achtung, die sie zu so formbaren Gebilden gemacht hat. Ein wenig gruselig ist es auch, ich gebe es zu. In puncto Persönlichkeitsbildung steht natürlich die usbekische Gesellschaft weit ab von unserer deutschen Möglichkeitsgesellschaft, Zivilgesellschaft etc., doch als Schüler sind unsere Lerngespenster Schatten gegen den Spaß und Eifer, den die Usbeken hier an den Tag legen.

Eine Anekdote möchte ich euch nicht vorenthalten, die Generalprobe betreffend. Am vierten Tag hatte ich um Zehn, nach den üblichen Spielchen und Übungen, die finale Probe angesetzt, um anschließend an den ausstehenden Lücken zu arbeiten, bis um Eins die Mittagspause und um Zwei die Aufführung stattfinden sollte. Nun sind Pläne im hiesigen Umfeld gewöhnlich sehr undurchsichtig, weshalb ich nicht mehr besonders überrascht bin, wenn doch mal jemand Anspruch erhebt auf das, was ich gerade in der Hand habe. Kurz vor Zehn, bereits in den Spielerklamotten, wurden wir von jungen Damen aus der Aula verjagt, die meinten, diese nun für irgendeine Veranstaltung gebucht zu haben und rechtmäßige Mieter des Raumes zu sein, bis Elf. Das hat mich schon ein wenig geärgert, doch nehme ich, was man mir gibt und verziehe mich mit den Schülern nach oben, in das Deutsch-Kabinett. Kaum angekommen, tritt eine von ihren zügigen Schülern unterrichtete Nigora ein und spricht, nein das ginge nicht, wir seien jetzt in der Aula und sie werde das einrichten. Ob es nun ihr gutes Verhältnis zum Vizeschulleiter oder ihre impulsiv überzeugende Art war, auf jeden Fall konnten wir um halb Elf mit unserer Generalprobe anfangen und blieben die restliche Zeit über ungestört.

Das Ergebnis von vier Tagen Arbeit – ein ganz großartiger Text und trotz der schweren Philosophie präzise genug, um die Grundlage für 40 Minuten Spiel abzugeben. Die Gruppe, ursprünglich für A2 verschlossen, dann einen Spalt breit geöffnet, als zwei so sehr bettelten, mitmachen zu dürfen, füllte ihre Rolle beeindruckend aus und agierte nach wenigen Proben mit solchem Eifer und solcher Präzision, dass der einzige Fehler bei der Aufführung mir unterlief, als ich den Ton des Computers ausgeschaltet ließ und für Sekunden tiefer Stille sorgte, wo eigentlich bedeutende Musik erschallen sollte – Beweis, dass auch die usbekischen Zuschauer vom Text beeindruckt, keineswegs gelangweilt oder zu sehr überfordert waren. Natürlich war sämtlichen eine Grundlage der deutschen Sprache zu Eigen. Da von Nigora zu einem Lehrerseminar am Aufführungstag, dem Freitag, gerufen wurde, und die 19. Schule eingeladen wurde, war die Zahl der Zuschauer groß – größer als bei mehrmaliger Aufführung in Leipzig. Nach der Aufführung werde ich von einer Studentin gefragt, ob ich nicht ein Seminar für Theaterpädagogen ausrichten wolle – verlegen antworte ich, dass ich das natürlich erst besprechen müsse…

Was für eine Zeit – tolle Jugendliche, ein tolles Stück und diese Mitarbeit. Bewegbare Gebilde, die sie sind, machen sie einen Blitzworkshop wie diesen möglich – und dabei sind sie noch so einfach! Wie? Kindisch, naiv, offen, ehrlich, was weiß ich – schöne Gemüter im schillerschen Sinne, so ganz ohne Böse, Neid und Hass. Nach der erfolgreichen Aufführung fielen drei Schüler ihrer ehemaligen Deutschlehrerin aus der 19. vor Wiedersehensfreude um den Hals, als sie sich sahen – ein kristallener Ausdruck der Freude, ich will nicht rührselig werden, aber rührend, doch. Nun denke ich mit Wehmut zurück ans Lyzeum und frage mich, warum meine Schulzeit, die letzten zwei Jahre, so fad waren – wenn ich selbst diese vier Tage genossen habe und die Schüler so glücklich gesehen? Ich sehe schon, ich verfalle wieder in meine Europa-Depressionen.

 

Ein choresmischer Traum

Als wir in Urgench ankommen, ist es sieben Uhr am Montagmorgen, die Luft ist kühl und klarer als in der Hauptstadt. Wir sind im Nebel gestartet, eine unheimliche Atmosphäre und in den dichten Bahnen, die ich auf der Hinfahrt mit dem Taxi durchquert habe ein Wunder, dass sie fliegen. Urgench ist keine sehenswerte Stadt, besser als Termiz, doch flach wie das choresmische Weißbrot, das wie in jeder Region eine eigene Spezialität ist – eine Stadt in zwei Stockwerken. Als wir ins Zentrum fahren, merke ich – diese Stadt ist eine Scheibe, nirgends nichts und das wenige so verteilt, dass alles gedehnt ist und die riesigen Straßen, die Autos der einzige Weg sind, in diesem Nichts von einem zum nächsten Leuchtfeuer zu gelangen. In der Schule werden wir mit Freuden aufgenommen, es gibt Kaffee und Brot, Wurst und einiges anderes zum erbaulichen Frühstück, während die Schülerinnen in Uniform mit Rock und Schleife im Haar fleißig bedienen und Nigora umherrennt, aufs Gastrecht bedacht, das wir genießen. Der Vizeschulleiter ist ebenfalls anwesend und verlässt uns, als wir uns aufmachen, in das Deutschkabinett. Die Prüfung besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil, von welchen ich den schriftlichen im Niveau B2 betreuen darf. Hören, Leseverständnis und Schreiben sind die Aufgabenbereiche und ich passe auf, dass niemand schwatzt. Natürlich werfen sie sich, in ihren Anzügen und Kostümen, auffällig Blicke zu und flüstern gegen Ende, dass ich meine Augen auf die Person wenden muss, bis sie, meinen Blick bemerkend, sich schnell wieder ihrem eigenen Papier zuwendet. Doch die meiste Zeit der drei Stunden habe ich, um meinen Faust I zu lesen, den ich am selben Tag beenden sollte. Dazwischen fand ein Mittagessen mit Fisch, Fleischtaschen und bestimmt einer ganzen Reihe mehr, das ich vergessen habe, statt, welches jedenfalls ordentlich bemessen war und in einem Raum abgehalten wurde, in dem wir während des Theaterworkshops eine vormittägliche Kaffeepause abhalten sollten. Noch fehlte, was ab dem Abend eine Selbstverständlichkeit werden sollte: Wodka. Denn Prüfungen lassen sich ohne Alkohol besser abnehmen; ich saß zwischendrin und las den Faust, hörte gelegentlich den Mädchen und Jungs beim Reden zu und hielt sogar eine Zeit lang bei der Prüfungsvorbereitung die Aufsicht. Es war wohl schon früher Abend, als wir endlich fertig waren und verkünden konnten, dass zumindest im mündlichen Teil niemand, aus allen drei Stufen nicht, durchgefallen war. Besonders beeindruckend müssen die A2-Prüflinge gewesen sein, die allesamt erst zu Beginn des Schuljahres, Anfang September, begonnen haben, die Sprache überhaupt zu lernen, und dennoch bereits kleine Dialoge führen können. Auch jene auf B2-Niveau, die vor einem Jahr noch B1 waren und im Frühjahr sich am TestDaF versuchen wollen, der als Sprachnachweis für deutsche Hochschulen genügt, hatten einen teilweise beeindruckenden Wortschatz und sehr gutes Verständnis. Eine solche Raffung des Sprachenlernens wäre in unserem Schulsystem allein politisch unmöglich.

Nach einem Besuch im Hotel, wo wir unsere Sachen ablegten und uns kurz erholten, ging es also auf zu einem der zahlreichen „Kafes“, die noch immer die Straßen aller usbekischen Städte zieren, wo wir in einem Separée vom üblich gedeckten usbekischen Tisch erwartet wurden, sprich: zwei Flaschen Wodka, zwei Flaschen „Konjak“ (Branntwein), Saft und Wasser, sowie reichliche Vorspeisen. Anwesend waren außer dem PASCH-Team und mir der Schulleiter, Nigora, die beiden anderen Deutschlehrer des Lyzeums, sowie die Deutschlehrerin der 19. Schule in Begleitung einer weiteren Lehrerin, die laut Heinar früher Wahrsagerin gewesen sei. Mit Wodka und Konjak wurde nicht gespart, wie versprochen und in Erwartung evoziert, als die drei deutschen Lektoren (Robert-Bosch, DAAD), welche wenige Tage zuvor die Schüler vorbereitet hatten, von übermäßigem Alkoholkonsum dieser Frau Lehrerin und ihrer Mitstreiter sprachen. Der Dienstag kündigte sich ganz ähnlich an, als ich meinen Workshop zwei Stunden eher beenden musste, um mit Nigora zum abschließenden Mittagessen zu fahren, zu dem es auch Wodka gab, nach dem die Abteilung PASCH wieder in die Hauptstadt fliegen sollte. Ja, es floss das stille Wässerchen und ich war ganz froh, in der nächsten Woche keins trinken zu müssen. An sechs Tagen zu neun Gelegenheiten чуть-чуть Trinken bringt den Organismus auf Trab und hält ihn in guter Stimmung. Lieber rede ich vom Essen, bevor ich den Lesern noch Sorgenfalten auf die Stirn zaubere, denn Choresm hat ebenfalls Traditionen, beginnend – ich sprach davon – beim Weißbrot, Lepjoschka, obwohl die klassischen Erbe der Sowjetunion wie in Taschkent omnipräsent sind – diese Salate mit Mayonnaise, erwähnte Flüssigkeit zu rauen Mengen etc. Klassisch ist Tuhum Barak, gekochte Teigtaschen mit Eifüllung, die man lediglich mit Sahne und Lepjoschka isst, und die – heiß und frisch müssen sie sein – so fantastisch schmecken, dass ich mich mehrere Wochen später noch eine Platte an meinen Tisch wünschte, aber vergeblich. Der choresmische Traum war vorbei und ich saß zu diesem Zeitpunkt wieder in Taschkent, bei meinem Lepjoschka und russischer (fast hätt ich gesagt sowjetischer) Wurst. Jung verheiratete Paare sollen am Tag nach der schicksalhaften Hochzeitsnacht gleich morgens Tuhum Barak zu sich nehmen, um die Fruchtbarkeit zu erhöhen, also dem Geschehenen auf sublime Weise nachhelfen. Eine Überraschung tat sich auf, als ich Gumma probierte, dass es in anderer Form auch in Taschkent auf dem Basar gibt, das aber in Choresm, wo es eine der meistgegessenen Speisen ist, dem mongolischen Chuushuur so nahe kommt, dass ich versucht bin zu sagen: Es ist das gleiche Essen. Fetttriefende, frittierte Teigtaschen mit fetttriefendem Gehacktem, wenig gewürzt und national dish?

Vielleicht, so meinte ich, hatte es Dschingis Chan gestohlen, nachdem er Millionen von Toten im Choresmerreich hinterließ. Jener, der mir das erzählte, hieß Oybek und war einer aus dem Dreiergespann der Urgencher Deutschlehrer. An dem Abend jedoch mochte er keinen Wodka, hatte am Montag zu viel getrunken, bestellte für mich aber hundert Milliliter, vorsichtshalber. Er ist ein großartiger Geschichtenerzähler und kann dieses Talent im Deutschen so fortführen, wie er es im Usbekischen können muss, denn alle schwärmen von ihm und ich war völlig begeistert von seinen Erzählungen. Choresmische Geschichte, ein Pool an Farben, Herrschern, Grausamkeiten und Leidenschaften, sodass ich ansatzweise ein Exposé für einen Hollywoodfilm im Kopf hatte, das aber schnell wieder verwarf. Was wollte Hollywood mit solcher Region? Zum Beispiel erzählte er mir von dem letzten Chan Choresmiens, der die Frauen liebte, und am Hofe Nikolaus II. die Zarenfrau ein wenig zu intensiv betrachtete, des Todes war und für den sein schlauer Wesir gerade noch so eine Milderung beim Zaren erbeten konnte, damit das Reich nicht auseinanderbreche: Statt Tod wurden dem Chan über Nacht zwei französische Frauen gesandt, die den Verbrecher nicht nur mit ihrem Körper beschenkten, sondern einer teuflischen Syphilis, die er nicht überleben konnte. Und erzählte mir von Peter I., der Choresm erobern wollte und dessen 4000 Mann mit einem Rauschfest empfangen und nach dem Alkohol leichter Hand abgeschlachtet wurden. So ist der Widerstand der Choresmer, so ist die Mauer, die Chiwa stets war. Auch gegen Dschingis Chan stand das Großreich Choresm, mit dem heute turkmenischen Konya-Urgench als Haupststadt, als letzte Bastion Asiens. Der Sohn des Königs, Djalal-ad Din, über den eigene Geschichten zu erzählen waren, wütete noch durch Indien und den Kaukasus, bevor er von einem Kurden ermordet wurde. Ja, vielleicht greife ich seine Person auf und erzähle an anderer Stelle weiter, zukünftig.

Der Höhepunkt des Feierns lag vor dem dritten Akt und hätte eine eigene Überschrift verdient: eine choresmische Hochzeit, wie sie noch zwischen ultramodernen Lichtshows und Pomp einerseits und Tradition, Folklore andererseits begangen wird. Hochzeiten in Usbekistan sind ähnlich denen Tadschikistans, nämlich groß, laut und viel. Es ist keine Seltenheit, wenn ein junger Mensch das Auto, seinen ganzen Stolz, verkauft, um die Hochzeit finanzieren zu können, noch weniger erstaunlich sollte sein, dass selbst arme Familien hunderte Gäste einladen. Die Hochzeit ist das wichtigste Fest im Leben, in stringenter Kohärenz mit der Beerdigung. Hochzeiten finde ich, glaube ich, lustiger. Wenn jemand gestorben ist, sitzen die Freunde tagelang vor dessen Haus und reden nicht – diese mystische Dimension erzeugt in mir immer einen Schauer. Das Fest des Lebens hingegen Ohrenschmerzen. Nigora nimmt mich mit, das kommt durchaus vor, dass Eingeladene ungefragt selbst Gäste mitbringen dürfen, die sie den Abend über zu umsorgen haben. Sie warnte mich im Vorhinein, dass es die Konvention so wolle, sie müsse mir andauernd etwas anbieten, zu essen oder zu trinken und ich soll mich nicht irritieren oder stören lassen. Es wäre zu viel, alles zu beschreiben, fast zu viel, alles aufzunehmen und wir blieben nur zwei Stunden. Es ist wohl üblich, als Gast zu kommen, die Bewirtung zu genießen und zu gehen. Wir mussten fort, weil der dichte Nebel sich um die Stadt gelegt hatte und der Flug für Heinars PASCH-Team ausfiel. Gemeinsam fuhren wir zu ihnen und ich blieb noch länger, in Begleitung der Kollegen – immerhin war ich der Musik entkommen.

Das Wodkatreiben setzte vorläufig neue Maßstäbe, als ich am Donnerstag zum zweiten Mal sowohl zum Mittag als auch zum Abend trinken sollte. Meine Proteste, ich müsse ja noch arbeiten nach der Pause, gingen in einem läppischen „Wir doch auch“ unter, das jeglichen Zweifel an der Sache behob und die Zielrichtung klärte – eine Flasche zu viert. Das Spiel gelang danach gleich besser. Abends lud mich Nigora zu sich nach Hause ein und damit ich nicht so alleine sitze, den stellvertretenden Schulleiter gleich mit (der ordentliche war ja schon am Montag dabei). Während ihr eine Flasche roten Weins genügte, tranken wir zu dritt von jenem Wodka, den ihr Mann als Dritter im Bunde ausschenkte, und zwar gütlich. Die erste Flasche leerten wir in zwanzig Minuten, für die zweite ließen wir uns Zeit. Man fängt immer an mit den Vorspeisen und lässt es im Hauptgang ruhiger angehen, bevor danach wieder ordentlich gebechert wird – inzwischen kenne ich das. Doch die Gesellschaft einer trinkenden Nigora, ihres trinkenden Mannes und schließlich ihres Sohnes, der als ältester Teil meiner Theatergruppe ziemlich gut Englisch, Deutsch, Russisch, Usbekisch spricht und mich dann nach Hause fuhr, war nicht unangenehm, im Gegenteil. Ihr Haus lag in einer neu errichteten Siedlung, deren Straße aus erhärteter Erde bestand, so zugerichtet, dass eine asphaltierte Schlaglochpiste ein Witz dagegen ist. Wie Wurzeln fühlten sich die Hebungen an und Schritttempo wurde von ganz alleine gehalten. Dann ging es wieder die großen, unerleuchteten Straßen Urgenchs entlang, bis das Zentrum wieder annähernd strahlte und ich mich vor dem letzten, großen Tag in meinem Bett verlor.

Nach der Aufführung am Freitag hatte ich viel an Motivation bereits verloren und dachte mit Seufzern daran, dass ich diese kurze Arbeit nun aufgeben musste. Ich verifizierte die Beobachtung, dass Leitungswasser hier salzig schmeckt – des Aralsees wegen, meinte Oybek am Mittwoch. Im Boden muss das Salz also eine Strecke von über 300 Kilometer gekrochen sein, bis in die Oase Choresm – entsetzlich, eigentlich, und doch bleibt mir nicht viel mehr als eine müde Zurkenntnisnahme. Über 300 Kilometer, das ist die Entfernung zum ehemaligen Aralseehafen Moynak, das heute stark geschrumpft und emigriert mitten in der Wüste liegt. Abends habe ich die letzte Gelegenheit verpasst, James Bond zu gucken, als ich erneut – welch Wunder – eingeladen wurde, zu Hühnchen an einem Ort, der für sein Hühnchen berühmt ist. Und so viel Hühnchen habe ich gegessen, dass ich danach satt war.

Man fühlt sich wie die Sultane, auch wenn hier Shahs und Emirs herrschten. All die jungen Mädchen, schüchtern, tugendhaft, hübsch; als Dienstreise in einem Hotel zu übernachten, essen zu gehen und dabei keinen Cent selber zu bezahlen, Wodka und Fett im Überfluss und am Ende wird mir noch eine Verpflegungspauschale überwiesen, die ich gar nicht gebrauchen konnte… Ich lebte in schwemmendem Überfluss und traumhafter Herrschaft, Leben in Verzückungen, Drogen – so, nehme ich an, wird man schnell alt, und gut, dass ich noch Leben zu verschenken habe.

 

Die Ödnis des Echos

Tatsächlich bereue ich nicht den Alkoholkonsum, die vielen Schluck des klaren Saftes. So ein Essen mit Wodka lässt die Zeit vergessen und es ist nur ein Augenblick, genossen, eine Stunde Leben, strahlend, und wenn man sich die Stadt anguckt, dann müssen die Urgencher sie durch angetrunkene Schönheit kompensieren: ihren Pragmatismus, die Weite, welche allein dazu dient, die Menschen sinnlos weite Schienen entlang zu senden und einander nur wie von Ferne zu sehen. Dagegen dienen die Treffen in den Kafes als Hotspots der Menschlichkeit und Wärme, und wenn ausgerechnet in Urgench ein Taxifahrer jault, er wolle hier nicht wohnen, und kaum seinen klapprigen Matiz in Gang zu setzen vermag, dann nehme auch ich das Trinken an als Notwendigkeit und unausweichliches Schicksal. Zwar fand ich mit meinen blauen Augen Termiz roher und abwehrender, abführender, doch es ist gleichzeitig enger, klebriger, während Urgench von einer Wolke Nichts durchdrungen liegt und vielleicht nur meine Sympathie zu den Personen sie heller erscheinen lässt. Die Stadt habe ich nicht „besichtigt“, weil keine Zeit mehr blieb zwischen Arbeit, Essen, Trinken, Schlafen. So ein Essen mit Wodka fand auch am letzten Tag statt, Samstag, an dem ich abends zurückfliegen sollte und vorher nach Chiwa fahren, in Begleitung von Oybek, dem Geschichtenerzähler, der mir diesen mit Vergnügen angenommenen Dienst am Mittwoch angeboten hatte. Als Fahrer hatte sich bereits am Montag der zweite Deutschlehrer angeboten und so holten die beiden mich am späten Vormittag in meinem Hotel ab, in dem mein Gepäck fürs erste verblieb. Doch empfangen wurde ich nicht, wie erwartet, mit der Fahrt nach Chiwa, sondern viel usbekischer – wir sollten erstmal essen gehen. Ich stellte mich um. Wir hielten vor dem Lyzeum, ein Unbekannter stieg ein und die beiden meinten, dieser komme auch nach Chiwa mit, ein Geschichtslehrer, könne auch berichten. Ich stelle mich ein zweites Mal um. Meine Reise wird zu einem Erlebnis gemacht – drei Leute, wo ich auch alleine gefahren wäre. Ich Ruhebedürftiger, Ruhe? Keine. Aber für eine Woche geht selbst das. Geduldig, wie man es lernt, warte ich also mit den drei Musketieren im Auto, die sich aufwärmen und nicht nach draußen wollen, wo der Wind mit ungewohnter Heftigkeit die kleinen Regentropfen an die Fenster schießt, der feindliche Beschuss wird zum feinen Nieseln und erliegt bald ganz. Doch der Wind ist kalt und stark. Bald hält ein zweites Auto vor uns und die beiden aussteigenden Männer lassen meine drei Musketiere die Türen öffnen, aufstehen in den Wind. Erst denke ich, es handle sich nur um einen Einkauf, denn aus dem anderen Auto werden zwei schwere Kartoffelsäcke umgeladen und ich bleibe zunächst sitzen, bis mir Oybek verständlich macht, auszusteigen. Ich gebe den beiden unbekannten Männern die Hand und gemeinsam gehen wir in eine Choyxona am Straßenrand, zweistöckig und mit hohen, getönten Glasfenstern. Fast niemand ist im unteren Stockwerk und um uns ganz allein zu haben, lassen wir uns in der höheren Etage nieder. Mir wird die Situation erklärt. Dieser Herr ist Bauer oder zumindest Besitzer einiger Felder – daher die Säcke. Seine Tochter ging an das Lyzeum, gegenüber dem wir nun sitzen, studiert nun Geschichte und Deutsch, und so hat er, dankbar wie Choresmer sich zeigen, die entsprechenden Lehrer seiner Tochter eingeladen. Irgendwie bin ich da auch dabei. Der andere Mann ist tatsächlich nur sein Fahrer und dafür zuständig, den Wodka einzuschenken, was er mit großem Einsatz bereitet. Fünf Minuten brauchen wir Fünf, der Fahrer trinkt selbst in Choresm nicht, um einen halben Liter Wodka zu töten, die erste Flasche. Als Gast darf ich, wie zu jeder Gelegenheit, mit besonderer Großzügigkeit behandelt werden und schauere selbst ein bisschen, nur: hier in Choresm macht das nichts aus. Wie zu anderen Begebenheiten denke ich mir: Nur ein Leben ist dir vergönnt, sei nicht geizig, wenn dir die Möglichkeit zu Ausschweifung geschenkt wird und sei es, wenn du sie erzwingen musst. In Taschkent bin ich vorsichtiger. Der grundsätzlich plastiküberzogene Tisch wird mit allerhand gutem Essen betischt, ich bin überrascht von der Qualität – den „französischen“ Salat (rote Beete, Mayonnaise, Chips, Kichererbsen und mögen es noch andere Zutaten sein), habe ich nirgendwo besser gegessen, und als ich dachte, das Huhn sei die Hauptspeise, musste ich durch eine Portion zusätzlichen Rindfleischs des Besseren belehrt werden – nicht nur Fleisch, nein auch Herz und Leber für jeden, großartig. Einen Monat später denke ich nicht nur an das Tuhum Barak, auch an dieses Rind mit Wehmut zurück – in den Kantinen des Alaiskiy bekomme ich das nicht. Ebenfalls zum ersten Mal esse ich hier Salztomaten, die nach dem Wodka gut tun und russisch schmecken. Als die Zeit des Gelages vorbei geht, fängt jene der Unterhaltungen an, und so wenig ich mich auch daran beteiligt habe, lädt mich der Chef des Tisches doch ein, falls ich wieder mal in der Gegend sei, auf seine Farm in der Nähe von Toprak Kala zu kommen, das vor 2000 Jahren Hauptstadt des ersten choresmisches Großreichs war. Ich nehme sie an – sollte ich je wieder in die Gegend kommen, und doch – sowohl Nigora als auch Oybek habe ich das bereits versprochen, und Versprechen – muss man halten, obwohl wir in Usbekistan sind, weil ich ein Deutscher bin. Zum Glück ohne die beiden Toprak Kalaer geht es dann endlich los, müde und gesättigt.

Ich muss den enttäuschen, der nun von mir ein berauschend atmosphärisches Porträt des berühmten Xiva erwartet, der ähnliche Wortbäche erwartet wie ich sie zu Osch herausgebracht habe. Ich möchte dem Wodka nicht alle Schuld absprechen, immerhin haben wir zu Mittag zwei Flaschen zu viert geleert, aber nach all dem Spielen, Handeln, Essen, essen, trinken, noch mal essen und trinken war ich langsam müde genug, nichts mehr denken zu wollen, nicht mehr gesättigt zu werden. Ich wäre gerne gelaufen, einen Waldweg, einsam, ringsum leises Rascheln von den frühlingswarmen Blättern, wie sie einander streicheln und ein kühler Wind weht durch die Äste, lässt mich schaudern und – oder ein riesiges Feld, Wind, es nieselt und die Bäume gehen in trunkenem Schweigen – ein Wetter zum Krankwerden. Wind gab es in Xiva, und was für einen – Nieselregen, sekundenweise – aber wo das Feld, die offene Landschaft zum Entspannen der Augen, des Gehirns? Kein Wetterleuchten am Horizont, keine rieselnde Melodie durch das rohe Geäst der Bäume – kalter Wind an kalten Steinen, kein Busch, kein Grün, und über uns der graue Himmel. In uns brennt der Schnaps und außen tobt die unsichtbare Kraft – alles still und leer, nur Himmelsatem greift uns an. Ich musste sehen, durfte nicht erholen, sondern schauen, und wer ungläubig über nächste Sätze stolpert, dem verzeihe ich: In meinem Zustand beeindruckt haben mich nicht die blauen Kacheln, wunderbar verziert, arabisch, Worte, Zeichen, Ornamente, oder das alte Holz, obwohl dieser Saal wunderschön ist: dutzende, hunderte Holzsäulen halten die Decke, einer anders als der andere, jeder anders als alle anderen, einzigartig geschnitzt, aus dem 10. bis 12. Jahrhundert, ein echter Schatz und wert wie sonst nichts in dieser Stadt, gesehen zu werden. Nein, beeindruckt haben mich mehr die kalten Steine, braun, dieser Stil aus dem 19./20. Jahrhundert, als Xiva vor den Augen der Russen gedieh. Man läuft durch Straßen wie aus Bildern, wie aus Filmen und fotografiert für das eigene Gedächtnis, ich war dort in diesen Mauern – und wäre gerne weiter gegangen, in den Nordteil der Altstadt, dort, wo nur noch Häuser stehen und Menschen wohnen, deren Heim seit 1990, seitdem Xiva UNESCO-Weltkulturerbe ist, ihnen nicht genommen werden darf, wäre gerne spaziert durch die alten Reihen und den kahlen Stein. Er hat mich, sage ich, am meisten beeindruckt und wirklich, schade, dass meine Begleiter so gedrängt haben – sie wollten nach Hause, es war ihnen zu kalt und windig, und vielleicht hatten sie auch Hunger; der Abendtisch wartete immerhin schon auf uns – wieder Essen, wieder Trinken. Nein, eine tolle Stadt, zum Ansehen gemacht und köstlich für den Historiker, der die Geschichten hört und kennt, der diese Räume ordnen kann und alte Zeiten anhand dieser Leere zurückzubringen vermag. Das konnte mein Begleiter, Oybek, und sein Kollege lieferte als Geschichtslehrer manchmal fehlenden Stoff bei. Ja, Dank ihnen, dass ich so vieles gehört habe, an Orte geführt wurde, die vielleicht nicht jeder sieht, der nämlich nicht die richtige Babuschka anquatscht. Ich beneide sie um die Einfachheit, mit der sie diese große Stadt mir beibringen wollten und die Selbstverständlichkeit, mit der sie ein Mehr ablehnen. Das alles ist vorbei und was bleibt, sind Geschichtchen, die toll dir ums Ohr wirbeln, dich süßlich versetzen in den Stolz der usbekischen Choresmier, ihr Xiva, ihre Hauptstadt. Ja, wenn ich ein nächstes Mal käme, so müsste es gleichfalls im Winter sein, und der geht so schnell vorbei; könnte ich den Stein genießen, wenn Massen über die Pflaster quellen, sprudelnd, lachend, unpassend verhöhnend die alte Tradition?

Ist es nicht vielleicht eine Schimäre, historischer Realität anhand der leeren Gebäude nachzuspüren, ist nicht das Vorbeiflattern in Geschichten, das seichte Durchkehren der Stätten, als wären sie Spiel und ihr Leben vorbei, der einzige Weg, ihr beizukommen – der Macht des Vergangenen? Ich gebe zu, je mehr ich auf Wodka, Wind und Eile verweise, desto mehr erscheint es mir im gesamten als Illusion, Xiva anders zu entdecken. Die Steine bleiben wo sie sind und altern in Jahrhunderten, mein Eindruck von ihnen ist so unvollkommen wie jener des Wanderers, der alle Stätten mit präzisestem Fuß abgeht und eine Woche in den Mauern verbringt – ein Leben lässt sich nicht nachspüren, wenn man es nicht lebt. Dieselbe Schimäre erschien mir schon in Neapel und in Paris, demselben Irrtum bin ich früher schon, in Rom, erlegen, als ich dachte, Tourismus könne tiefer schürfen als an der Oberfläche, könne die Bewegungen des Alltags reproduzieren. Nein, man muss leben, darf nicht eintreten, wie man austritt, die Welt erfassen als ein Leben und sich selbst darin stellen. Ich habe Xiva besucht und verlassen, eine fremde Welt, eine steinerne Behauptung gegen die Moderne. Ach was, ich kann sagen, ich war dort, und was nützt es? Diese Erkenntnis, die ich auf dem Papier gewonnen, ist zufällig aus Xiva erstanden, das Leben geht in Taschkent und alles andere, Osch und Termiz und Ulan-Bator sind Stationen, die der Kopf bereist und vielleicht das Herz besucht – lebende Städte sind mir lieber – und Eindrücke bleiben, mit denen man weltgewandt sich als Globetrotter ausgibt, mit dem gewichtigen Lächeln des erfahrenen Mannes, weltoffen, mit allen Wassern gewaschen. n Xiva konnte ich mein Herz nicht öffnen nicht, zu kurz der heftige Eindruck, das zuckende Elektrisieren und naturgemäße Staunen. Das macht die Müdigkeit, zieht Stunden zusammen und ich sitze vor den Fotos und wundere mich am meisten, dort gewesen zu sein, zwischen den blauen Kacheln und braunen Steinen.

Zum letzten Essen musste ich mich, bereits todmüde, zwingen. Und es geht dahin, plätschert, interessant der Vater des Geschichtslehrers, Psychologieprofessor, während ich brav meinen Wodka trinke, brav esse, was mir auf den Teller gelegt wird und brav warte. Ein Schockmoment zu Beginn, als ich sehe, dass den Tisch neben den Speisen auch zwei Liter Wodka zieren – zur Beruhigung an meine besorgten Eltern: Wir haben nur einen halben Liter geschafft. Ich denke daran, dass ich später noch zu einer Party eingeladen bin – das Must-Appear-Event bei Julia, der Institutsleiterin. Mit allem, was deutschen Rang und Namen hat, plus vielen, vielen Altbekannten. Müdigkeit ist doch relativ, wenn man noch einmal von vorne anfangen kann zu feiern. Man lobe sich den Inlandsflug, der zwar nicht pünktlich, aber reibungslos um halb Zwölf ankommt, in modernen Airbus-320-Maschinen und mit Zeit, auf den Sitzen zu ruhen – endlich! Vom Flughafen teuer in die Stadt, wie das für Ausländer eben läuft, und ab zur Feier, in die Feier, mit deutlichem Nachholbedarf, was den Alkoholpegel anbelangt. Innerhalb von zwei Stunden leert sich das Haus und ich leere so manches Glas, was am Ende ins Gästebett führt. Aufstehen war nie so einfach, wie mit noch ein bisschen Alkohol im Blut und schließlich hatte ich nach so viel Alkohol noch niemals einen so kopfschmerzlosen, zwar müden, aber mitnichten quälenden Tag. Tja, das Training aus Urgench, es zahlt sich aus. Ich habe mitgezählt und möchte die Zahl an Wodkashots aus sechs Tagen Ausschweifung niemandem verraten, der sich um mich sorgt – es gehört zur zweiten Maske, jene der Zerstreuung. Aber ich lebe und sogar ganz gut. Ja, ich war sogar, wie selten und schön, einmal zu erleben, rundum zufrieden. Zufrieden und gesättigt, dekadent gemästet – so müssen sich Schweine fühlen. Getrunken, gegessen, nichts gedacht und meine Aufgabe erfüllt. Ein Leben, vor dem ich mich fürchte – jetzt wird alles besser. Denn Zufriedenheit vollendet bringt nicht Glück und Ruhe, sondern Vergessen und Magenbeschwerden. Ich ziehe die Dialektik des Denkens und Schreibens vor, in der Glück und Frieden zuhauf zu finden sind und das Leben sein Spektrum an Gefühlen verschüttet.

 

Dezember

Ich ende in der Vergangenheit. Nun ist es schon Dezember und ich kann es kaum erwarten, wieder zu Hause zu sein. Ich halte hier aus – nun ist die Zeit, in der ich mich kuriert fühle, von Schule und Lernhetze. Ich könnte – nach einigen Wochen Ruhe, freilich, zu studieren beginnen. Wozu die Eile, habe ich nicht eben noch Momo gespielt? Nein, mich verbindet es sehr mit Leipzig, Deutschland und Usbekistan ist kein Ort, an dem ich länger bleiben möchte. Für ein Jahr habe ich mich entschieden. Ich bin verwöhnt, dass ich glaube, wenn auch nur augenblicklich, ich könnte mit dem Finger schnippen und wäre daheim – es ist nicht nur Freude, lasst mich leiden, sage ich, und springe in das Leben, rau, und lasse mich zwicken.

Man mag kaum glauben, dass es Mitte Dezember ist, wenn man am liebsten Goethes Osterspaziergang rezitieren möchte. Die Glocken der Kirche, welche zum Gottesdienst rufen, könnten auch zur Feier der Auferstehung klingen und die Menschen auf den Straßen könnten – nun, hier ist es Ostern im Regelfall wärmer. Doch Winter hält nur stundenweise Einzug, geschneit hat es wenige Male und weiße Welten waren immer nur von kurzem Atem. Dass aber tatsächlich Weihnachten naht, merkt man an einigen Lichterketten, Glitzerkram und Blinkereien – nicht am Wetter, keine Schokoladenweihnachtsmänner in den Supermärkten, keine Glückseligkeit bei Glühwein und Süßem an eisigen Abenden auf dem Weihnachtsmarkt. Bei offenem Fenster kann ich streckenweise trotzdem arbeiten; auch hier war es schon kälter. Und ich merke es an meinem Budget, das sich dehnt und größer wird; ich halte es sonst gar zu fest an der Leine, den Spielraum gönne ich mir, es ist immerhin Advent und wird Weihnachten, wenn hier das auch nichts besagen mag. Passend zu höheren Ausgaben werden die Produkte teurer und immer tun sich neue Gelegenheiten auf, Geld auszugeben für mir wohltätige Zwecke, sprich: in unmittelbarer Nähe zu mir haben zwei weitere Cafés eröffnet, die hervorragenden Kaffee anbieten und auch Kuchen, Menüs zum Frühstück und warme Mahlzeiten – fast wie in Leipzig, nur die Inneneinrichtung, poliert und gewachst, auf heimisch gemacht, aber trivial künstlich, und die Straße draußen erinnern einen an das Usbekistan, das man in den ersten Monaten kennen gelernt hat.

Die letzten Tage waren warm. Am 01. Januar ging ich noch mit Mantel aus. Am 02. flüchtete ich mich mit nichts als Hemd und Hose in den idealen Schatten und mein Zimmer verwandelte sich zum frühen Nachmittag, wenn die Sonne frontal durch die Scheiben fällt, in eine Brutstätte. Zentralheizung schaltet sich nicht aus. Am Vortage, durch die wenige Bewegung und wenig Vitamine, befielen mich abends ein leichter Schüttelfrost und kleine Bauchschmerzen, weswegen ich mich früh ins Bett legte. Mein Körper zwang mich also, spazieren zu gehen – bei diesem herrlichen Wetter, wenn es nicht Januar wäre. Erst am Abend zog sich der Himmel zu und versprach, wenn nicht Schnee, so doch Minderung der brutalen Sonne. Zwei Masken – das Alpha und Omega, obwohl niemand gestorben ist: Im Alltag tauchen sie auf und umspinnen den Menschen, der sich auf sicherer Bahn wähnt. Seit November, Dezember gibt es vermehrt Erdbeben, die uns meist sehr leicht durchrütteln, sodass man aufhorcht, zögert und wieder an die Arbeit geht, unsicher, ob überhaupt etwas war. Doch gelegentlich knallt und ruckelt es – abgesehen von jenem Beben, von dem ich in Termiz aus dem Schlaf geschreckt bin, war kürzlich eines nahe Taschkent, das uns beim Frühstück erwischte und einen ordentlichen Ruck durch alle Glieder verursachte, dabei nicht leiser war als der Autounfall, den ich aus offenem Fenster in 30 Meter Entfernung beobachtet habe. Eine unruhige Zeit also, die dieser Beitrag spiegelt, da ist es gut, wieder zu arbeiten, nun bereits drei Wochen. Wenn ich dann zurück ins Goethe-Institut komme, ist es, ich sagte es bereits einmal, wie an einem Hafen zu landen – hier ist alles ruhig und das wenige zu Tun trägt mich ohne viel Aufhebens durch die unwinterlichen Wintertage, hier bin ich sicher – vor Islamisten, Polizisten und dem Staat. Ein Gewinn – dieses Jahr. Ich denke, es war die zweitbeste Entscheidung meines Lebens, dieses verkrustete Europa zu verlassen – nach jener ursprünglichen, aus der alles gewachsen ist, das erste Mal zu gehen, Lettland.

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