Aus dem Wachschlaf

Es hat mich einiges an Geld und Überlegung gekostet, aber die Lust auf Abenteuer überwog, sodass ich Ende Dezember den Zug nahm, auf zu neuen Ufern, dem berühmten Buchara und ans Ende der Welt – Termiz, an der usbekisch-afghanischen Grenze. Eine Grenzreise, sicher, nicht nur an Kriegsländer.

Uzbekistan Airways fliegt beide Städte an, doch ich entschied mich in gewohntem Trotz der Bequemlichkeit und aus Gründen der Stressverminderung für den Zug bzw. das Sammeltaxi. Die Strecke Taschkent-Buchara fährt man für 15 Euro angenehm durch den Schlaf – 22 Uhr setzte sich das schwerfällige Ungetüm aus Sowjetzeiten in Bewegung und etwas nach Sieben am Morgen, nach dumpf-löchrigem, warmem Schlaf, kamen wir am Ziel zum Stillstand. Ich hatte einen Platz im Viererabteil gebucht und diese Entscheidung ist sicher dem Großabteil vorzuziehen – alternativ kann man auch privat zu zweit schlafen. Aber wenn man nur einer ist… Die Waggons durchläuft ein schmaler Gang, dunkles Braun wie aus DDR-Filmen, der Geruch nach gewachstem Holz (tatsächlich?) und übliche Zugfenster – breit, mit einem Spalt zum Öffnen. Links liegen die Abteile mit je vier Kojen, zwei oben, zwei unten, alles in dunklem braunem Holz, weinroten, harten Matratzen und goldbraunen Bezügen über Kissen und Matratze. Ein Klacken wie aus alten Zeiten, Geruch wie ehemals und eng – Nostalgie, ein echtes Gefühl der Fremde in Zeit wie Raum. Nur die Leute sind modern und dass die Schlafbezüge in Plastesäcken verteilt werden; dass es Cola zu kaufen gibt und – nun, das war früher sicher bereits so – Wodka und Woda. In den Zug gelangt man über genau einen Einstieg pro Wagen, der je von zwei Uniformierten bewacht wird – die Person wird bestätigt in Billet und Pass; man darf eintreten – Kontrollen im Bahnhofsgebäude sind zwar weit entfernt von dem Stress am (Auslands-)Flughafen, aber obligatorisch. In das Gebäude kommt nur, wer ein Ticket hat. Innen findet eine Gepäckdurchleuchtung und eine Registrierung statt, das Ticket bekommt einen Stempel. Erst dann darf man fahren. Das alles geht schon in gewohnter Kontrollmanier vor sich und ich erwarte nicht mehr, dass sie etwas finden, habe die Furcht verloren, trotz aller Vorsicht, unschuldig Illegales zu begehen – die Angst, die untertänig macht. Der Zug ist voll, hält an einigen Stationen während der Nacht, an denen er Leute ein und aus lässt – in Buchara sind wir dann zwei, ein ansässiger Student und ich. Aus dem leichten Nebel steigen wir durch die Dunkelheit, ankündigende Dämmerung, von Licht geblendet und den Schatten bedeckt – hinter dem Tor schon schreien die Fahrer und wollen uns mitnehmen, doch er geleitet mich an den sicheren Parkplatz und verschafft mir ein günstiges Taxi in die Stadt, die einige Kilometer entfernt von ihrem Bahnhof liegt. Ich bin angekommen – im zweitsagenumwobensten Ort Usbekistans, einst mächtiges Handelszentrum Mittelasiens, dort, wo Träume vermutet werden. Es hat eine Art von Magie, morgens über den zentralen Platz zu laufen, wo dutzende Hotels sich einquartiert zu haben scheinen – der Inhaber des kleinen, privaten „Sukhrob Barzu“ empfängt mich im Schlafrock an der Statue des Hodscha Nasreddin und geleitet mich einige Meter nur weiter in das Hotel. Einen schönen Innenhof durchquerend, steigen wir die Treppen hoch auf die Empore und dort liegt mein Zimmer, eines von circa 12, einladend eingerichtet mit weichem Doppelbett, kleinem Bad und warmen Farben, Teppichboden und sanftem Licht. Nach einer unruhigen Nacht auf ratternden, springenden Gleisen verspricht das Bett ein wenig Ruhe, bevor der Tag auf mich wartet, einer von zwei. Doch lange kann mich nichts im Zimmer halten – bereits um Neun bin ich wieder auf der Straße, energiegeladen, motiviert und bestimmt, die Stadt zu durchschreiten, mit dem nötigen Willen und der Sonne auf meiner Seite.

Den historischen Rundgang kann der Reiseführer übernehmen oder im besten Fall soll der Reisende selbst sich ein Bild machen – meine Eindrücke folgen nicht linear dem zentralen Weg, den alle Touristen laufen, die sich nicht in den Gassen und Pfaden der bewohnten Altstadt verlaufen will – auf dem aber bin ich hin und her gewandert, meinen Freiraum, meine Alternativen suchend. Beginn ist das Labi Hauz, ein Wasserbecken (Hauz) in dem früher gebadet wurde, von dem Trinkwasser geholt und verkauft wurde… Freilich kein stehendes Wasser, das ihn füllte, als Mittelpunkt der Wasserversorgung floss das Wasser dutzende Kanäle entlang, heute wie damals aus dem Amudaryo, dem ich bis nach Termiz folgen sollte – fast, denn einen Schlenker macht er ins heutige Turkmenistan. Einige Gebäude schmücken den Platz, am beeindruckensten vielleicht die Medrese Nadir Devon Begi, die eigentlich eine Karawanserei hatte werden sollen und phantastische Ziermalereien über dem Eingangsportal besitzt – fast zoroastrisch anmutende Vögel, figürliche Malerei, ungeachtet des islamischen Bilderverbots. Einen Winkel weiter, bevor der Besucher durch eine schmale Gasse schreiender Souvenirverkäufer gejagt wird, öffnet sich ein weiter Platz, auf dem eine Ausgrabungsstätte den größten Raum einnimmt. Nebenan steht Magoki Attori, deren wundervolles, einzigartiges Portal original aus dem 10. Jahrhundert erhalten ist – Ranken, Zeichen, Muster schmücken den Backstein, der sich doch so viel besser hält als unser Sandstein, dessen selbstzerstörerischer Kraft der Mensch nur in lächerlich geringen Versuchen begegnen kann. Magoki Attori – wohl Mittelasiens ältest erhaltene Moschee – liegt einige Meter unter dem heutigen Straßenniveau. Sie beherbergt ein Teppichmuseum – schöne Stoffe, seltsam zusammengetragen, doch der Ort hat sich seine Heiligkeit bewahrt. Es scheint so still und friedlich, als wäre der Wanderer Goethe, eine verschütt gegangene Antike entdeckend. Als wäre diese Zurschaustellung etwas erst noch zu Eröffnendes, als wäre sie nicht selbst schon Eröffnung, gemacht für Zuschauer, Exhibition der Kultur. Doch im Alleinsein, Zwiegespräch mit den weiß renovierten Mauern, bewahrt der Schein eine Basis, der Raum Heiligkeit. Es erinnert mich an Rom – auch hier Heiligkeit neben Ausgrabungsstätten, viel tiefer als die Stadt heute, und dort liegen sie, Baudenkmäler, während drumherum der Verkehr zischt und rauscht. In Buchara rauscht kein Verkehr, hier hört die Straße auf und der Bummler ist die lästigen Maschinen los – bekommt dafür die Marktschreier an den Hals. Was es nicht alles zu erwerben gibt! Zur Touristensaison muss dieser Ort tatsächlich dem alten Handelszentrum gleichen, wenngleich die Preise unverschämter und die Produkte von geringerem Alltagsnutzens sind. Schönheit gibt es dennoch im Überfluss. Zwischen Seidenschals, Teppichen, Stoffen per Meter und Kleidung wühlt man sich vergebens durch und es erwarten das Auge Keramik, oft handbemalt, Schnitzereien und Gebrauchsgegenstände aus duftendem Holz, oft Ulme, Messer und Scheren, solche in Vogeldesign, also mit Schnäbeln, Brotstempel für das traditionelle Lepjoschka, Susani – bestickte, dünne Teppiche – oder Tischdecken, bemalte Holzschachteln, alte Bücher in arabischer Schrift, Metallschmuck, metallene, türkische Kaffeeservice, Handtaschen und –täschchen, Kupferteller mit filigranen Motiven, Koranständer, aber auch profane Souvenirs wie bemalte Magnete, Bilder und Postkarten, bedruckte T-Shirts, Figuren aus Keramik, Ton oder Holz, Münzen und sicher noch einiges mehr, das ich gar nicht fassen konnte… Eine Unmenge an Arbeiten, und in der Altstadt finden sich zahllose Verkäufer, die ihre Produkte oder einen Teil selbst handwerklich herstellen und sie sich teilweise untereinander verkaufen.

Außerhalb der Altstadt liegt jenes andere Gebäude, welches mich ähnlich beeindruckt hinterlassen hat wie die alte Moschee: das Samanidenmausoleum aus dem frühen zehnten Jahrhundert, in solch mathematischer Perfektion gebaut, es verschlägt einem glatt den Atem. Ein Quader mit Kuppel, kommt es unscheinbar daher, doch all die Ornamente, Verzierungen lassen den Einfluss verschiedener Religionen durchscheinen – zoroastrische Motive vor den Zeichen des Islam und innen erkennt man, wie sich zwischen den Steinen am Fenster Malteserkreuze formen, wie ein versteckter Hinweis auf christliche Vergangenheit. Die Horden Dschingis Chans, dessen Einmarsch mit der Geschichte Choresmiens verbunden ist, sollen dieses filigrane Bauwerk übersehen haben, weil es als Teil eines bereits jahrhundertealten Friedhofs unter Erdhügeln verdeckt war. In Sichtnähe steht die „Quelle Hiobs“ – Chashma-Ayub. Der Legende nach wanderte der jüdische Prophet in Zeiten großer Dürre an diesen Ort, der damals noch nicht Buchara war und ließ hier eine Quelle sprudeln; das Volk baute ihm später ein Mausoleum mit einem symbolischen Sarg. Die Quelle existiert immer noch und ihr Wasser wird Kranken gereicht – es reinigt die Seele. Hier freilich packt mich die Legende mehr als das Gebäude.

Viel gibt es in der Altstadt Bucharas zu sehen – auffallend die großen Medresen, von denen sich zwei, in brüderlichem Zwist vereint, provozierend dicht gegenüber stehen: Ulugbek und Abdulasiz Chan. Erste ist aus dem 15. Jahrhundert, ehrlich und edel, bewusst der islamischen Gebote. Der Bauherr Mirzo Ulugbek, ein Enkel Timurs und Förderer, Bewunderer der Wissenschaften, des Geistes, hat so ein Bauwerk geschaffen, dessen anbetungswürdige Ruhe und Reinheit in den Bauwerken des Westens seinesgleichen sucht, dessen Eingang gleich zwei wundervolle Sprüche ziert, die ich allerdings vergeblich selbst entziffern zu versucht habe, ich muss aus dem Reiseführer zitieren: „Das Streben nach Wissen ist die Pflicht eines jeden Moslems und einer jeden Moslime.“, und: „Möge für den Kreis der in der Bücherweisheit bewanderten Menschen die Pforte des göttlichen Segens jederzeit geöffnet sein.“ Möge für den Kreis der in der Geschichte bewanderten Menschen diese Kathedrale des Glaubens niemals verrückt oder zerstört werden. Wie zur sinnlichen Provokation baute Abdulasiz Chan im 18. Jahrhundert sein Gegenstück an die andere Straßenseite – ein Gigantikum, mächtig, mit ihren Türmen, schillernd, mit ihren Verzierungen am Eingangsbereich. Ein Flaggschiff des Lebens, der Ausschweifung und Sinnlichkeit. Glaube liegt nicht im Wissen, hier steht der Beweis. Spöttisch beugt sie sich über ihren älteren, feineren Bruder und fragt ihn, was seine Weisheit sage, wenn der Krieg ausbricht. In ihrer seligen Kühle zeigt sich Ulugbek unbeeindruckt von dem Werben des Bruders – die Jugend sprießt diesem aus dem Gesicht und der Glaubensstreit zwischen Geist und Körper, Mentalem und Materie, Gedanke und Tat, den die beiden darstellen, ist lange noch nicht ausgefochten. Ein wenig abseits, unbeteiligt an diesem welterschütternden Schauspiel, breitet die Medrese Miri Arab ihre goldenen Schwingen aus und zeigt sich ganz im Gewand der adligen Dame, so mächtig, so distinguiert beschmückt zeigt sie sich und wendet ihre schönste Seite dem Publikum zu, während das Unsichtbare kahl bleibt und schlicht. Hier studieren noch immer junge Erwachsene den Koran, selbst während der sowjetischen Besatzung lief der Hochschulbetrieb – ununterbrochen seit dem 16. Jahrhundert. Jede einzelne der Medresen ist beeindruckend wie die großen gotischen Kathedralen und zu den verzweifelt hungrigen Souvenirhändlern und Krämern spannt sich erneut die himmelweite Schlucht zwischen Profanität und Heiligtum, Distanz und Ergriffenheit, die wohl niemals, an keinem Ort der Erde zu schließend ist, es sei denn, es sei das Paradies.

Direkt gegenüber von Miri Arabs hübscher Seite steht ein uneinheitliches Ensemble: das Minarett und die Moschee Kalon. Der Turm ist eines der bekannten Wahrzeichen Bucharas und beherrscht die Altstadt von weitem. Einige dutzend Meter hoch ist das grandiose Bauwerk aus dem zwölftem Jahrhundert, und seine Erbauer dachten sicher an den Turm von Babel, als sie ihrer Stadt solch Wunderwerk verpassten. Dschingis Chan soll, als er den Blick an die Spitze schweifen ließ, seine Mütze verloren haben und beim Aufheben derselben sich unfreiwillig, schicksalhaft vor dem Minarett, so vor Allah, verbeugt haben. Nie musste der ritterliche Chan sich vor jemandem verbeugen und so schauderte er schicksalsgläubig und beließ das Minarett, das sonst seinen Schergen zum Opfer gefallen wäre – so die Legende. Legenden blühen in Städten wie diesen, wie auch in Chiwa, wo niemand mehr da ist, sie zu berichtigen und das Volksherz glüht in den Gedanken, ihrer Stadt sei Würde erwiesen worden. Es geht darum, den Nationalstolz zu bewahren. Die Moschee ist bedeutend jünger, aber ebenfalls imposant – als zweitgrößte Mittelasiens beherbergt sie einen weiten Hof und breite Gänge herum, sodass man einige Minuten in dieser Heiligkeit spazieren gehen kann – zumal hier alles restauriert ist, im Gegensatz zum Beispiel zur Medrese Abdulasiz Chan, die innen aussieht wie Bilder nach dem Krieg – nur in Farbe. Ein Ort, an dem sich die Händler um mich schlagen.

Buchara ist Märchenort, Kindertraum und Sehnsuchtsstätte wie Arkadien, eine bunte Legende und unsterblich in den Annalen von den Wissenschaften und Künsten – einerseits. Andererseits ist es Zeichen einer touristbestimmten Stadt: Alle wollen mein Geld. Als Tourist unter vielen, im Mai oder September, mag man sich vor den Marktschreiern, Souvenirhändlern in die Masse flüchten, in der man schwimmt – als einzelner steht man wie der Leuchtturm auf Amrum und zieht die Insekten an wie Stroh das Feuer. Mittendrin versucht man, den Zündlern, Flammen auszuweichen, die oft auf letzter Stufe brennen, ihre Produkte um jeden Preis verkaufen wollen. Ein rasendes Nein!, wenn doch einmal jemand überschlägt und mich einholt. Die Scheine fliegen durch die Gegend und irgendwie vergeblich der Versuch, sie festzuhalten. In keiner Relation das ausgegebene Geld zu Taschkent – zwei knappe Wochenbudgets verlieren sich am ersten Tag, davon ein halbes als Spende an die jüdische Gemeinde zur Renovierung ihrer Synagoge – s.u. Fies wickeln sich die Stricke um den Wanderer, der gutgläubig sich helfen, führen lässt, um anschließend ebenso tief zu fallen, wenn der Gegenüber den getanen Gefallen wieder einfordert. Gleich morgens am ersten Tag, nach kurzer Ruhe im Hotel, machte ich mich auf in den Westen der Stadt und kam dort an, wo Hiob Prophet und Wohltäter war. Vor dem Gebäude, die Batterien meiner unverschämt rasant Energie schluckenden Kamera wechselnd, sprach mich nun – wie alle hundert Meter – ein Passant an und fragte mich, die typischste Frage: Woher? Ich antwortete ihm gewissenhaft, aus Deutschland und war nicht schlecht erstaunt, als mein Gegenüber begann, mit mir Deutsch zu reden. Etwas eingerostet, weil er hier mit niemandem spricht – im Winter zumindest. Ulugbek sein Name. Er kann auch Französisch. Und natürlich Russisch, Usbekisch und weil er Bucharaer ist, auch Tadschikisch. Von Beruf spielt er Kniegeige in einem 40 Mann starken Orchester und lehrt am Konservatorium Musik. Und – verkauft CDs, DVDs an Touristen, weil ihm alles nichts nützt und er seine Familie nicht ernähren kann. Außerdem gibt er Stadtführungen und zu einer solchen hebt er an, bringt mich zu jener Quelle und in das Samanidenmausoleum – übrigens ein wirklich einzigartiges Baudenkmal – erzählt Geschichten und Geschichte, zeigt mir die alte Mauer und das einzig verbliebene Tor, redet über Kultur und Kunst und geleitet mich noch entlang des Bolo Hauz, einer Moschee aus dem 18. bis 20. Jahrhundert, zum Ark, der einstigen Festung und redet, redet, redet – ich freue mich und fotografiere. Zur Zeit des späten Chanats war der Ark eine kleine Stadt in der großen Stadt – auf einem künstlichen Hügel, die Residenz des Emirs beherbergend. Viele Neider, zuletzt die Bolschewiken, machen der Großteil der Festung unbegehbar, Schutt und Geröll ist alles, was von einstigen Straßen zu sehen ist. Um den Eingang nur ist ein Teil rekonstruiert und restauriert. Innen besuchen wir die Hauptmoschee und die Reste des Thronsaals, das Heimatkundemuseum und Ulugbek will mir im Anschluss noch die Altstadt zeigen, da sage ich Nein. Als Dank für die deutsche Führung kaufe ich ihm etwas ab und hoffe inständig, dass er nicht im Nachhinein noch Geld für die Führung verlangt. Am nächsten Tag will er mich in seinem Auto in die Umgebung mitnehmen, mir die Sommerresidenz des Emirs zeigen, eine Nekropole und einen magnetischen Pilgerort der Muslime, plus noch „zwei kleine Orte“. Ich überlege es mir, noch in Geberlaune, denn 30 Euro sind ein Freundschaftspreis und mir gefällt die Art, wie er erzählt – eine Bildungsreise, klassisch, wie Goethe in Italien, so stelle ich es mir vor. Ich überlege es mir, sage ich ihm und er begleitet mich zum Hotel, damit ich das Geld holen kann, mit dem ich seine Verkäufe bezahlen wollte. Auf dem Weg beginnt er von Neuem und ich bin latent überfordert von dem, was er spricht. Immerhin hatte ich zwei kurze Nächte hinter mir. Es erfolgt der Abschied, endgültig.

Die Probleme dieser Stadt, im Winter, wenn niemand Geld hat, verfolgen mich – doch ich bin wacker genug, nachdem ich mit Ulugbek erst die Neustadt erkundet habe, mich nach einer kurzen Mittagsruhe erneut raus zu wagen. Die Option der Umgebungstour noch im Kopf, will ich auf Nummer sicher gehen und alles Sehenswerte an einem Tag durcharbeiten, durch die über die letzten Woche so satt gemachten Hirnnerven zu jagen, dass diese elektrisiert und eifrig ihren Dienst gefälligst antreten. Ich überschätze sie leicht. Hierein gehe ich, dortein, schaue mir alles an, wie ein Holzmeister arbeitet und lasse mir von einer Frau ihre wunderschönen Seidenschals zeigen, denke über Neujahrsgeschenke für Alisher, Elmira etc. nach und halte mich viel zu lange bei Leuten auf, die alle das eine wollen: mein Geld. Und dabei kann ich es ihnen nicht einmal übel nehmen, sie sind darauf angewiesen – eine Frau in der Medrese Abdulasiz Chan bricht vor meinen Augen fast in Tränen aus, geht auf über die Hälfte zurück und bittet mich so eindringlich, so ehrlich emotional, dass mir ganz schlecht wird und ich, endlich draußen, ein schlechtes Gewissen verkneifen muss. Wohl sämtliche dieser Akteure haben noch kein Geschäft gemacht heute – um halb Drei. Noch – bin ich zu müde oder hochmütig? – kann ich alles schlucken, habe noch nicht genug und reiße wieder die Straßen ein, laufe, schaue auf alte Münzen, Embleme aus Sowjetzeit, arabische Bücher aus dem 19. Jahrhundert – Verse – die er für 15 Euro verkaufen will. Und doch – als ich erneut vor dem Minarett Kalon stehe, diesem gigantischen Werk, und der zweitgrößten Moschee Mittelasiens, da packt mich die Müdigkeit, ich fühle mich klein gegenüber solchen Mächten wie der Architektur und Armut und flüchte noch vor einem alten Mann mit Goldzahn, der mir einen ganz besonders guten Handel vorschlägt und mir eine atemberaubende Sicht auf Buchara verspricht – in einem Museum; ich verstehe ihn einfach nicht, auch als er mich am nächsten Tag erneut anspricht. Auf das Minarett, den einzigen Punkt, auf den zu klettern ich bereit gewesen wäre, kann man wegen Renovierungsarbeiten nicht mehr. In der Hand halte ich einen großen Teller, handbemalt, für Plov gedacht, den ich als letztes Souvenir gekauft habe – bei einer Frau mit ihrer Tochter, die mich in ihre Werkstatt geführt hat. Nur ein einziger Händler zog mich nicht noch im Gehen zurück – ein Schnitzer und Holzkünstler, der die typischen Schatullen und Koranständer, aber auch wunderbare Spiegel und einen barocken Hocker anbot. Ihn vergaß ich zuletzt mit einem Kauf zu belohnen, den Ehrlichen, Guten – am nächsten Tag, regnerisch, blieb sein Geschäft geschlossen und ich muss mir die Tat aufheben. Es geht durch die Straßen, versucht zu erinnern, wo Ulugbek mich lang geführt hat und erfolgreich am Labi Hauz angekommen, fällt mir wieder die Synagoge ein – die wollte ich doch sehen. Die Straße, in die Ulugbek gezeigt hat, wird von einem schuttabladenden Laster versperrt. Ich muss wohl leicht verwirrt ausgesehen haben, denn einer fragt mich, wie mein Hotel hieße. Nein, spreche ich wohl, ich wollte zur Synagoge. Ach, ich bin selbst Jude, komm mit, ich zeige dir unsere Synagoge! Das Viertel streckt sich südlich vom Labi Hauz und ist von den gebliebenen Juden bevölkert – 250 sind es noch. Das Gotteshaus ist schlicht und fromm eingerichtet – unverkennbar usbekisch. Ich lasse zehntausend Sum als kleinen Obolus da. Es gibt eine zweite Synagoge, und auch dorthin führt mich der eifrige Mann – jetzt geht es durch enge Schlammstraßen, Pflastersteingassen und kahle Hauswände, einen Weg verwinkelt wie in den Altstädten präsowjetischer Zeit, den ich alleine niemals zurück gefunden hätte – ein Labyrinth. Schließlich kommen wir an ein ebenso unscheinbares Haus wie jenes zuvor, ganz in der Nähe sogar einer jüdischen Schule, an der Hebräisch unterrichtet wird. Größer als die erste und mit einer 1500-jährigen Tora bildet sie das Herz der Gemeinde und – beständig ein an mir vorbeifließendes Russisch redend – führt er mich sogar zum Rabbiner und lässt mich segnen. Auf dem Rückweg platzt es. Er hat dem Rabbiner gesagt, ich würde eine Spende hinterlassen für die Gemeinde und der würde im Gegenzug für mich und meine Zukunft beten vor der offene Tora. Nur für mich, es sei ja nur für mich und mein Wohlergehen.

Man kann sich nicht vorstellen, wie mir auf einmal alle Müdigkeit des Tages in den Kopf schießt. Halb unbewusst, automatisch gebe ich ihm den Großteil meines Geldes, lasse ihn zählen und ihm noch den mickrigen Rest als er, versichernd, jenes Geld käme der Gemeinde, der Renovierung des älteren Gotteshauses zugute, noch ganz wehmütig um eine Spende für ihn und seine Familie bittet. Möge es ihm zu Gutem gereichen und möge mir dieser Faustschlag in die Magengrube nicht böse aufstoßen. Völlig fertig ziehe ich von dannen, einige Meter noch bis zum Hotel und liege, bewegungslos, lustlos. Den armen Ulugbek muss ich enttäuschen – die Lust auf weitere Abenteuer ist mir fürs Erste vergangen.

Der zweite Tag, nach guter Nachtruhe, bringt Erleichterung, löst die Spannung um einen Grad, sodass ich mich wieder freier fühle, obwohl das Wetter den Charakter von Dänemark angenommen hat – Wind treibt die Wolken rasch an der Sonne vorbei, deren Licht nun krasse Schatten bringt und angenehme Wärme. Später ist der Himmel vollends zugezogen und Regen nieselt auf mein unbedecktes Haupt. Ich lasse mir Zeit, gehe, ungeachtet des Schwurs vom Vortag, nicht mehr in die Altstadt zu kommen, durch dieselben Straßen, dieselbe Leere. Bei dem Wetter machen sich einige Souvenirhändler gar nicht mehr die Mühe, ihre Produkte auszustellen, oder bleiben ganz geschlossen. Die Verwirrung hat sich gelegt, ich erkunde Buchara nun als einen Ort, wo Menschen leben, gehe wiederholt in den Ark und zum ersten Mal in die Moschee Kalon, genieße das alte Minarett von unten und statte dem Café Wishbone einen Besuch ab, das echt österreichischen Kaffee und deutschen Kuchen anbietet – ein Gemeinschaftsprojekt, dessen deutsche Schirmherrin zur Saison anwesend ist. Dass auch die Preise durchaus deutsch sind, nehme ich gelassen hin; der Fluss des Geldes ist schon am Versiegen, d.h.: mein Hirn wehrt sich gegen die Schreie und Aufmerksamkeit. Im Gegensatz zum Vortag, da ich noch die schönen Produkte mit Freude in Augenschein nahm, bleibe ich diesen verwunschenen Stätten der Begierde heute fern – das ist auch gut so. Es endet am Abend mit einem billigen Essen in einer Choyxona – echt usbekisches Flair, so charakteristisch, dass ich mich zu einer Beschreibung gedrängt fühle. Das Gebäude besteht aus einer Konstruktion regelmäßig zu Quadraten geordneter Holzstäbe, die mit Plastikplanen bespannt sind, die ein kleines Steinhaus sowie einen Gang herum einschließt. Tische stehen in beiden Räumen, atmosphärisch ist der äußere Teil natürlich spannender – durch das Plastik ist der Stadtlärm gut zu hören und gelegentlich tropft das Wasser in einen an Ort und Stelle gesetzten Eimer. Nur die Decke ist tatsächlich aus Holz, sodass mir kein Wasser auf den Kopf fällt. Die Wände aber – durchsichtige Plastikplanen.

Nach dem Rückzug ins gemütliche Hotelzimmer schalte ich den Fernseher an und klicke mich durch russische, usbekische Kanäle. Einer jedoch ist dabei, der mich wohl fesselt: turkmenisches Fernsehen. Gesprochen auf Russisch, ist es vielleicht ein Sender zur Außenwirkung. Gerade läuft eine Sendung über den neuen Beton, den das seismologische Institut für die erhöhte Sicherheit des Präsidenten entwickelt hat – halt erdbebensicher. Die Bilder wiederholen sich dabei ständig, das Bild ist dunkel, farblich unattraktiv und kontrastarm. Ich hätte bessere Bilder filmen können und noch dazu dafür gesorgt, dass sie sich nicht ständig wiederholen. Aber schon kommen die Nachrichten: News – Independent. Neutral. Turkmenistan. Zweimal höre ich „Uzbekistan“, ständig sehe ich irgendwelche Gebäude von außen, dann von innen in gut gefüllten Sälen, in denen die Menschen den Redner begeisternd beklatschen und an dessen Wänden das Porträt des Präsidenten hängt und dann steht dort: „Prosperous Epoch of the Powerful State“ – so stelle ich mir auch Nordkorea vor. Ich schalte aus, es ist wohl nicht gut, Sender zu sehen, über die man sich nur lustig machen kann und gehe lieber ins Bett. Schlaf ist mir wichtiger als das Lächeln des Westlers über Diktatorenspielchen.

Weiter geht es am nächsten Morgen, und auch wenn ich die Sehnsucht hege, jene Monumente noch einmal zu betrachten und verinnerlichen, so bin ich fürs Erste froh, wegzukommen. Der Besitzer des kleinen Hotels schreibt freundlich noch auf, an welchen Ort mich der Taxifahrer bringen soll: der Busbahnhof, an dem jene Sammeltaxis nach Karshi abfahren, von wo aus ich nach Termiz umsteigen muss. Die dreistündige Fahrt ist unspektakulär, erneut ein bisschen teuer; die Landschaft erinnert mich stark an Illinois, als wir durch Weiten, Weiten an Nichts getrieben wurden und die Sträucher am Straßenrand höchste Erhebung in Sichtweite waren. Karshi ist eine moderne, usbekische Stadt unter vielen – dreckig, niedrig, wenig Altes. Der Fahrer, der mich davon überzeugen will, dass Usbeken gute Leute sind, möchte mich direkt dort absetzen, wo die Taxis nach Termiz weiterfahren und behauptet, nach meiner Bemerkung, ich würde gerne ein wenig in der Stadt spazieren, das sei kein Problem, der Platz liege gleich im Zentrum. Als ich während der Fahrt vorsichtig frage, wo denn das Zentrum sei – wir an einer alten Moschee, einem Park und dem Verwaltungssitz vorbeifahren – und er mir gut gelaunt versichert, das alles sei das Zentrum, bin ich gespannt auf das Ergebnis. Endlich angekommen, bestätigt mich der Inhaber einer Choyxona, bei der ich ein Mittagessen einlege, dass wir am äußeren Rand der Stadt sind, weitab vom Zentrum. Außer langen Straßen, Schlammhöfen und giftigen Autos gibt es hier nichts zu sehen. Und ob Termiz die rechte Entscheidung ist – zwei volle Stunden lang bin ich der einzige, der fahren will. Zwei volle Stunden, heißt das, warten, auf Fahrgäste – oder ich fahre allein und zahle für Vier. Ich denke an mein Geld. Und selbst als dann welche auftauchen, es ist 15 Uhr und die Dunkelheit wartet ab Fünf, muss ich noch etwas drauf legen, weil sie zu wenig haben. Mehr als ich wollte habe ich ausgegeben – alt bekannter Ruf – aber nun sitze ich wenigstens im Taxi und kann mich entspannen. Der Reiseführer verspricht eine „reizvolle“ Landschaft, die leider bald von der Dunkelheit eingeholt wird. Es geht über Berge, einen Pass, wohl 2000 Meter, denn angekommen, ist meine Flasche eingedrückt. Direkt nach Karshi sollen die ebenfalls vom Reiseführer versprochenen Gasfelder von Shurtan warten. „Kilometerweit sieht man das Gas brennen.“ Etwas unspektakulärer war es dann doch – hier und dort ein Flämmchen, während die Anlagen weit von der Straße entfernt und nur von einem Punkt gut zu sehen waren – man will eben nichts verpasst haben. Ich begreife später deutlich, warum der Busverkehr eingestellt worden ist – an zahlreichen Stellen wird die Straße umgebaut, immer eine der beiden Spuren wird zu zwei und bleibt eine Huckelpiste, die uns ordentlich schüttelt, während im Radio Modern Talking läuft. Erfreut sich extremer Beliebtheit bei hiesigen Sendern. Wie im Ferganatal begegnen wir mehreren, allerdings kleineren, Posten, je mehr wir uns Termiz in der Provinz Surxandaryo nähern. Zweimal muss ich aussteigen und mich registrieren lassen – d.h. jedes Mal die Frage, woher, wohin und der mühselige Versuch des Beamten, meinen Namen abzuschreiben. Beim ersten Mal tappe ich fast in meine eigene Falle. Daran gewöhnt, mein Alter mit 23 anzugeben, damit weniger gefragt wird, spreche ich das im Affekt auch vor dem nebenstehenden Polizisten aus – glücklicherweise auf Englisch, denn der dessen nicht mächtige Beamte notiert gerade mein Geburtsdatum in sein Heft. Dieses Abenteuer blieb mir erspart. Beim zweiten Male versuche ich den Fauxpas zu vermeiden und tue gut daran: Der Soldat, dem ich in sein mobiles Kabinett folge, trägt eine AK-47 auf dem Rücken – oder das, was ich glaube, es sei eine.

In der Dunkelheit erreichen wir Termiz; ich werde von einem Studenten der germanistischen Fakultät erwartet, der leidlich gut spricht und in großem Eifer eine Reihe von Hotels mit Zimmerpreisen zusammengetragen hat. Das Hotel Surxon wurde im Reiseführer als renoviert und preisgünstig beschrieben, das hier eingetragene „Lyuks“-Zimmer kostet 18 Euro – 100.000 Sum – pro Nacht. Ob es auch ein normales Zimmer gebe? Nein. Wir nehmen ein Taxi und fahren zu dem Gebäude, welches, etwas eingerückt, tatsächlich sehr zentral liegt. Tatsächlich gibt es auch freie „normale“ Zimmer in dem Riesenhaus und ich bitte darum, beide Sorten anzusehen – meine unleugbar deutsche Identität. Das einfache Zimmer gleicht – gelinde gesagt – der Stube des armen Bohemiens, Studierzimmer eines Friedrich Schiller. Zwei getrennte Betten, ein Schreibtisch und Stuhl machen das gesamte Interieur aus. Die Toilette läuft; die Fliesen im Bad sind stellenweise gesplittert und die Dusche sieht aus wie ein Waschbottich. Der Balkon lässt sich nicht öffnen, zusätzliche Fenster gibt es nicht. Von den Wänden hängt zerflattert die Tapete – flächendeckend. Der Student fragt mich in beflissenem Ton des Gehorchens, ob das für mich in Ordnung sei? Ich muss vor Perplexion abwehren stottern, dass ich zunächst das andere Zimmer sehen möchte. Die „Lyuks“-Zimmer unterscheiden sich bereits an der Tür – wie Prestigeobjekte erscheinen die braunen, geschliffenen und polierten Türen, deren Schloss weich klackt und an denen Nummern in Messing angebracht sind. Für den doppelten Preis gibt es ein Zimmer dreifacher Fläche, mit Parkettfußboden, Fernseher, Seidenvorhang, zwei Balkonen, einem weichen Doppelbett, vorsichtig angedeuteter Inneneinrichtung inklusive zwei Sessel, und ein sauberes Bad. Die Toilette läuft trotzdem, der Fernseher ist eine Röhre und die Balkone starren vor Schmutz. Für 18 Euro die Nacht? Ich nehme es. Schon weil es so absurd komisch ist.

Den Studenten hat mir ein Professor beigesandt, welchen ich über Kontakte aus dem weiten Goethe-Umfeld telefonisch erreichen konnte. Leider habe ich ihn nur einmal gesehen, als ich in der Eingangshalle stand, meine Haare unter der Klimaanlage fönte und darauf wartete, dass die Tür zum Frühstücksraum geöffnet würde. An der ordentlichen Portion Spiegeleier, Brot und Würstchen habe in den drei Tagen wirklich Gefallen gefunden… Den Tag über würde mich jedenfalls wieder der Student begleiten, eine Starthilfe, die ich mir gern gefallen ließ. Wir fuhren kurz hinüber zum Bahnhof, um in einer langwierigen Prozedur ein Ticket für die Rückfahrt nach Taschkent ausstellen zu lassen – es ist offensichtlich, dass sie hier weniger an Touristen gewöhnt sind als z.B. Buchara, denn am ordinären Schalter ist die Frau überfordert und übergibt meinen Fall den erfahrenen Herren, die gemeinsam die Aufgabe stemmen. 17 Euro kosten mich die 14 Stunden Fahrt, die 650 Kilometer im Schlafwagen.

Dank eines Freundes jenes Studenten, der eine Marshrutka besitzt und fährt, komme ich für kleines Geld herum, sehe das Gelände des alten, vormongolischen Termiz, Termiz-Ota, und ein ehemaliges buddhistisches Kloster aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. Zunächst geht es aus der Stadt heraus – unmöglich ohne eigenes Auto oder Taxi – und Taxis sind teuer. Deshalb bin ich dankbar, dass der junge Fahrer für 25.000 Sum seine Marshrutka auf Eis setzt und stattdessen für mich und den Studenten das Taxi spielt. Für ihn bin ich fünfzig Fahrgäste, das sieht er ganz entspannt. Die Marshrutkas in Termiz sind sämtlich die beliebten Damas-Modelle von Daewoo/Chevrolet: kleine, hohe Fahrzeuge, mit zwei Sitzbänken bestückt, sodass ordentlich bepackt acht Leute (inkl. Fahrer) hineinpassen. Wir passieren zu dritt den Posten, der das Ende der Stadt markiert und fahren ein Stück in Richtung jenes Gebirge, das ich gestern überquert haben muss – im Dunkeln eben. Linksum führt uns dann eine baumgesäumte Asphaltstraße zu einem Tor mit Parkplatz und Souvenirläden – das alte Termiz. Eintritt muss ich keinen bezahlen, nicht einmal eine Fotogebühr, was mein Herz gleich ein Stückchen weiter öffnet. Die Sonne strahlt. Es ist der 24. Dezember, Heiligabend, und ich laufe durch einen weiten Park mit einigen Bäumen und Bäumchen, wenigen Gebäuden und wenigen Menschen. Beim Frühstück hatte ich noch gefragt, welches Datum heute sei… Auf dem Gelände ist ein neues Museum im alten Stil errichtet worden – lokalgeschichtlich, das muss nicht sein. Was mich interessiert ist das alte Mausoleum Hakim al-Termiziys, dem Begründer eines Sufiordens – islamische Mystik. Angebaut und nun zu einem Klotz verschmolzen steht eine kleine Moschee. Wir ziehen die Schuhe aus und treten ein – ganz still ist es und angenehm kühl. Doch die Blicke zieht das Nebenzimmer auf sich, eben jenes Mausoleum, das in herrlichen Ornamenten bemalt ist – ein Mann sitzt vor dem durch Torbögen abgeschnittenen Gang, der auf das Grabmal al-Termiziys zuläuft und sammelt Spenden von Menschen, die vor dem Grab beten wollen. Es ist ein wahrhaft fantastischer Klotz, der mit dem umgebenden Gewölbe noch einmal heller erstrahlt – denn die Goldfarben, dieses Schwarz und Weiß ergeben eine wirklich mystische, heilige und beklemmende Atmosphäre. Ohne Zuschauer hätte ich mich sicher verneigt vor dem Marmor, der dort in seinem schimmernden Reiche steckt. Wir besuchen noch zwei weitere heilige Orte, an denen gebetet werden kann, darunter eine in den Boden reichende, natürliche Felshöhle. Um das rechteckige Gelände ist rings eine Mauer gebaut – Sichtschutz. Der Fluss ist gleich nebenan, man könnte ihn sehen und so – auf die andere Seite blicken. Was ist dort? Afghanistan, ein Land, von dessen zerstörter Seele man sich fern hält. Dieses Land ist wie ein Fluch, den der Westen gebracht hat und dort tobt Krieg; die Möglichkeit, er könnte überschwappen, wird von der Regierung nicht dementiert – es kommt gar nicht erst zur Sprache. Vor einigen Monaten noch, meint der Student, konnte man über jene Felsen dort klettern und von oben den Fluss sehen. Jetzt steht ein Stacheldrahtzaun davor. Wir schlendern noch ein wenig über die Anlage mit ihren geometrischen Wegen, den grünen Pflanzen und der Ruhe. Am freundlichsten jedoch ist das Wetter – mit offenem Mantel fühlt man sich gänzlich aweihnachtlich und genießt die Luft, die hier besser ist als in der Stadt. Draußen beherbergt der Komplex zwei oder drei Shops mit den üblichen Andenken: Taschen, Ketten, Krimskrams, Stifte und wenig lohnenswert mitzunehmen. Doch eines fällt mir ins Auge – Ketten mit Plasteperlen, darauf arabische Schriftzeichen. Sie werden zum Gebet gebraucht, muslimische Rosenkränze. Einen unbeschriebenen aus Olivenholz – das Plastik mag mir nicht gefallen – kaufe ich tatsächlich. Gebetet habe ich mit ihm nicht.

Der nächste Stopp führt uns noch einige hundert Meter in Richtung Nordwesten, bevor der Damas auf einen holprigen Weg links einbiegt, erneut Richtung Fluss. Bald öffnet sich die Landschaft zu einer grenzenlos flachen Ebene, der Weg ist ab hier für Autos gesperrt und man sieht auf die Ruinen des Fayaztepe – einst ein buddhistisches Kloster, bereits wenige Zeit nach der Erbauung zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert n. Chr. wieder verlassen. Fast sehen sie aus wie die Überbleibsel außerirdischer Einflussnahme, mit der Kuppel auf einem Podest, welche so über die Anlage ganz in beige wacht. Eigentlich steht – offenbar mit UNESCO-Unterstützung – ein Museum direkt am Parkplatz, wie die Anlage selbst ein schlichtes Lehmgebäude, ausgestattet mit schwächlichen Holztüren. Man könnte meinen, man sei im falschen Film gelandet, so sehr befremdet mich die Vorstellung eines Museums in diesem Gebäude und tatsächlich ist es geschlossen. Der eifrige Student verschwindet in Richtung der beiliegenden Häuser und kommt bald darauf zurück, der Schlüssel befinde sich in jenem Haus, und zeigt die Ebene entlang zu einem weißen Klotz, um den sich eine Herde treibt – Schafe wahrscheinlich. Und während er sich beflissen aufmacht, um den Schlüssel zu holen, treibe ich mich in Richtung der Ruinen, bereits restauriert und leer. An den Stufen des Podestes mit der halben Kugel empfinde ich es umso seltsamer, diese einst heiligen Treppen zu begehen. Es wirkt alles nicht real, fantasieanimiert und unfassbar, also tatsächlich nicht zu greifen. Von oben lasse ich den Blick über die Landschaft schweifen – rechts erneut jenes Gebirge, hinter dem irgendwo Karshi liegt, weiß und grob aufragend als wäre es das Pamir. Links beginnen einige Hügel und ich weiß, während mein Blick sich nach vorne richtet, dass dort der Amudaryo beginnt und dahinter Afghanistan. Doch unweit der Gebäude beginnt eine ausgedehnte Sperrzone, gekennzeichnet mit einem einfachen Zaun und weitab kann man einen Posten ausmachen. Später nähern wir uns über einen großen, trockenen Acker dem Zaun, bis der Student sich weigert, weiterzugehen – sehr nah sind wir noch nicht, aber ich respektiere ihn natürlich. Ich weiß halt nicht, was Gefahr ist. Im Sperrgebiet befindet sich auch ein weiteres, historisches Kloster buddhistischer Mönche, allerdings wird man es in der nächsten Zeit wohl kaum besuchen können.

Selbstverständlich gibt es auch im weißen Haus keinen Schlüssel zum Museum, es werde gerade renoviert und man wisse auch nicht, wann es eröffnet würde. Entweder haben die Arbeiten noch nicht begonnen oder sie sind beinahe abgeschlossen; dann aber sollten sie noch das morsche Holz der Tür auswechseln. Ich gehe von erstem Fall aus, das ist eher Usbekistan. Alles wird renoviert und die Oberfläche schick gehalten, während innen es brodelt und der Zusammenbruch nur eine Frage der Zeit ist – nicht hier, nicht im Museum über die Geschichte des Buddhismus in der Region. Ein reizendes Thema, nein, eines, das mich reizt, aber so muss ich mich damit begnügen, durch die Lehmwände ohne Decke zu spazieren, über den trockenen Boden und wirklich, es genügt mir. Die Anlage muss als großes Kloster geplant gewesen sein, selbst heute noch ist man von der Vielzahl der Räume beeindruck. Über die Funktionen freilich kann man nur spekulieren und als besserer Religionswissenschaftler mit Schwerpunkt Buddhismus oder als ambitionierter Archäologe könnte man die Hohlräume hier und dort, die Größe des Zimmers oder die Verteilung der Räume den Funktionen zuordnen, die es mal gehabt haben sollte. Ich bin beides nicht und so muss ich mich mit der reinen Anschauung begnügen, die nicht zu wenig ist. Fayaztepe teilt sich in zwei Hälften, die jeweils verschiedene, teilweise miteinander verbundene Räume beherbergen. Im Nordteil stehen die Wände noch mannshoch und es ist schattig-kühl. Mir fällt als erstes der übertrockene Boden auf, trotzdem in der Mitte einiger Zimmer hartnäckig Gräser wachsen. So wie der Student mir fleißig folgt – unser Fahrer telefoniert abseits mit seiner Freundin – komme ich mir einmal mehr wie der Lehrer vor, dem sein Student, der Abenteurer, dem sein Schildknappe folgt und so vom Genie seines Meisters überzeugt ist, dass er mehr nicht wagt als ihm zu folgen, die Ruhe seiner Schritte nicht durch Worte stören möchte, die sich als Nichtigkeit entpuppen könnten – so devot und vorsichtig benimmt er sich, und nicht aus Angst: aus Höflichkeit. Im Angesicht dieser Steine ist mir alle Eile genommen, alles Zittern und Zaudern – ich fühle mich frei genug, in jeden einzelnen der sehr ähnlichen Räume zu gucken und gebunden nur an den Studenten, der mir folgt. Der älter ist als ich. So nachdenklich über jene alte Kultur, die hier ihre Stunden verbracht hat, in vollem Ernst ihrer Religion und so menschlichen Umgang untereinander wie wir ihn heute führen, so nachdenklich bin ich, dass ich mir gar keine Notizen mache – im Spazieren nicht und nicht auf der Rückfahrt in die Stadt. Der Südteil ist unspektakulärer, denn wo die hohen Mauern eben noch das Leben vorzustellen möglich gemacht haben, findet man sich hier als hoher Mensch auf den Grundresten einer gestorbenen Zivilisation. Teilweise reichen die lehmigen Außenmauern nicht bis zur Hüfte. In Anlage und Aufteilung muss dieser Teil sich vom oberen unterschieden haben; hier immerhin sind fast alles Räume miteinander verbunden und wenige stehen allein. Es ist auch der kleinere Teil, an jenen nördlichen durch eine Halle beeindruckender Größe gebunden, von der auch nach Westen einige Zimmer abgehen. Sie selbst hat ein rechteckiges Format, zieht sich hin und erinnert mit den Fundamenten regelmäßig gesetzter Säulen, die bestimmt bei der Restaurierung zur Veranschaulichung eingesetzt wurden, an jene römischen Innenhöfe, die als Zentrum des Hauses sich auch dem Besucher als erstes Bild darboten. Nur ein Wasserbecken wird hier nie gewesen sein. Im Gegenteil: der Boden ist auf gleicher Ebene mit den Mauerresten und über eine gewisse Fläche vor Trockenheit aufgesprungen. Nach Osten findet sich der einzige Ausgang und man steht wieder vor der Kuppel, welche das Geschehen wohl beherrscht hat, wenigstens ihre Funktion hätte ich doch gerne erfahren. Denn ein Fenster führt in den Dom hinein und innen kann man sogar aufrecht stehen. Ein Steinklotz, der vielleicht aus historischen Gründen nicht restauriert werden sollte, steht in dessen Mitte, grau, zerschlagen, als sei er zerstört worden. Dieses rätselhafte, mannshohe Gestein hinter uns lassend, kriechen wir aus der Kuppel und machen uns auf den Rückweg.

Ein starkes Stück Geschichte lassen wir hinter uns und ich bin müde von der Luft und Sonne, denke nach und bin glücklich mit dem Tag. Später merke ich, was mir vor Ort kaum aufgefallen ist, obwohl ich keine Sonnenbrille trug – das Licht, besonders um Fayaztepe, war so stark, dass der blaue Himmel auf meinen Fotos fast grau erscheint, der Lehm vor Blendung zu einer Substanz zusammenschmilzt und meine Kamera überfordert war, die richtige Helligkeit einzustellen, bei solch gleißend verschütteter Sonne. Es macht nichts, fügt dem Ort nur eine weitere Note Irrealität hinzu und lässt mich lächeln ob der wenigen, starken Impressionen, die ich mitgenommen habe und mich so schwer daran versuche, sie auf Papier zu pressen. Obschon ich müde und wunschlos im Auto saß, wurde mir mein sehnlichster Wunsch doch noch erfüllt: An dem Posten, der die Stadt vom Land trennt, wollte der mich sehende Polizist unbedingt, dass ich mich registriere – schon wieder? Gestern, auf der Hinfahrt von Karshi, hatte ich zwei Registrierungen hinter mich zu bringen – keine aber an jenem Posten zur Stadt, nun gut. Bald sind wir auch da, werden irgendwo abgeladen und stehen da nun, unentschlossen. Der andere Student, der mich nachmittags begleiten sollte, ist verhindert, weil er irgendwo hin fahren sollte und so ist die Richtung unklar. Eine Weile staken wir noch durch die Stadt, zur Universität und einem beliebten Platz, an dem uns ein Bettler mit Robe und Weihrauchkesseln zu Spenden im Namen Allahs anfleht, verabreden uns noch für den morgigen Abend in einem Restaurant und ich bleibe mir selbst überlassen. Im Endeffekt war ich froh darüber, wieder allein sein zu können und ins Hotel zu kehren, denn zwei Stationen am Tag genügen und als moderne Stadt ist Termiz ziemlich – nun, abgefuckt, könnte man sagen. Schön ist hier nichts und die Sowjetvergangenheit ist mit Mörtel verschmiert worden, der unter den Abgasen bröckelt. Eine einheitlich graue Atmosphäre, erst recht im Winter, wenn keine Farben blühen außer das Grün der Nadelbäume, die dem Grau-Braun-Weiß auf den Straßen keinen Kontrast entgegensetzen können. Mit einem Wort: Diese Stadt verschüttet nicht gerade ein Klima der Attraktivität und so ziehe ich mich, mit der Aussicht auf einen freien kommenden Tag, ins Hotel zurück und erhole mich – Buchara hat mich müde gemacht.

Mein erster Tag alleine beginnt nach dem Frühstück. Es zeigt sich, dass es gar nicht einfach ist, in den Norden zu kommen – Sultan Saodat heißt mein erstes Ziel und liegt, wie das andere, nördlich der Innenstadt, dort, wo schon die weniger betuchten ihr Leben verbringen, wo die Häuser noch aussehen wie zusammengewürfelt, wo noch Kühe und Schafe gehalten werden und Gemüse angebaut wird – und wahrscheinlich dann auf dem Markt verkauft. Denn gleich mehrere Marshrutka-Fahrer wollen mich mitnehmen, allerdings für den sechsfachen Preis, und als ich frage, ob sie nach Sultan Saodat fahren, meinen sie nur, komm rein, komm rein. Da gehe ich lieber zurück auf die Straße und spreche eine Frau an, die möglichst wissend aussieht – die Vier, sagt sie. Die Vier war es dann auch, die mich am Rande des Wohngebiets absetzte. Dagegen hatte ich nichts, Laufen kam mir gelegen. Durch einen ersten Block Häuser, merkwürdige Zäune, an leer stehenden Platten vorbei, dann queren wir die Schienen – hier kommt man ohne kundige Hilfe schlecht aus und so begleitet mich eine alte Frau, die kein Russisch spricht, aber versteht, dass ich Tourist bin und Sultan Saodat suche. Sie ist auf dem Weg nach Hause und trägt zwei Plastetüten, von denen ich später bereut habe, sie ihr nicht abgenommen zu haben. Jene Schienen, das weiß ich von der Karte, die ich mir aus Google Earth ausgedruckt und in der ich mit etwas Arbeit die Sehenswürdigkeiten markiert habe – denn offizielle Karten gibt es nicht – jene Schienen, die links aus dem Bahnhof kommen, sind es. Ein niedriger Friedhof spannt sich zwischen zwei Gleisbetten auf, von denen das hintere nach Norden, Taschkent führt. Es sind alte, muslimische Gräber und in wenig Entfernung ragen angedeutete Ruinen empor – doch ich halte Schritt mit der Frau und mir bleibt wenig Zeit, Ursprung oder Bedeutung zu erfassen. Hinter dem Tal zeigt die Frau in eine Richtung, ich folge ihrem Blick und sie gibt mir eine usbekische Wegbeschreibung. Nach rechts, soviel verstehe ich und sie verlässt mich. „Danke“ kann ich noch sagen, so weit reichen meine mickrigen Kenntnisse. Ich spaziere also geradeaus in das nächste Wohnviertel, biege gleich rechts ab und tatsächlich – linker Hand deutet sich durch eine verwilderte Mauer und eine von Bäumen halb verdeckte Kuppel eine Backsteinwand an. Dem erdigen Pfad folgend, gelange ich der Mauer entlang zu einer schmalen Öffnung und so auf das Gelände von Sultan Saodat. Der vor mir liegende Teil ist der älteste, aus dem 10. oder 11. Jahrhundert. Eine asphaltierte Straße umgibt den Komplex, wie der Versuch alle Sehenswürdigkeiten in die Infrastruktur zu integrieren. Bei meinem Gang die Längsseite entlang bemerke ich in einiger Entfernung zwei Männer, die dort werkeln und miteinander reden. Ein schmuckes Gebäude, das Alter sieht man ihm kaum an – vielleicht sind sogar UNESCO-Gelder geflossen bei der Restaurierung. Innen steht eine Tafel, aber ich erinnere mich nur, dass dort der große Beitrag Islom Karimovs gewürdigt wurde. Und dass der englische Text übersäht mit orthografischen Fehlern war. Von der Stirnseite, dem eigentlichen Eingang, sieht man auf einen prächtigen Ayvon, der als intelligente Verknüpfung der beiden ältesten, fast baugleichen Gebäude, einem Mausoleum und einer Moschee, gebaut wurde. Zum Betrachter hin strecken sich im Anschluss zwei breitschultrige Mausoleen aus späteren Jahrhunderten. Das Ensemble strahlt eine beeindruckende Einheitlichkeit aus, obwohl es durch fünf Jahrhundert hindurch entstand – die älteren beiden sind dabei zwei der wenigen Zeugnisse, die Dschingis Chan von der vormongolischen Zeit gelassen hat. Termiz hat ihn wahrscheinlich nicht interessiert. Das alte Mausoleum viel geachteter Nachfahren Mohammeds liegt unter einer 17 Meter hohen Kuppel aus Backsteinen, die sich eindrucksvoll erhebt. Der Raum misst vielleicht zehn mal zehn Meter und ist voll gestellt mit Gräbern der engsten Verwandten. Wie in der nebenliegenden, etwas später entstandenen Moschee muss man hier seine Schuhe ausziehen; der kalte Boden ist mit Teppichen bedeckt. Ehrfürchtig stehe ich in dem hohen Raum und nebenan, in der Moschee, lasse ich mich vor dem Tuch an der Wand auf die Knie fallen und genieße den Blick an die Decke – eine solche Kuppel, aus dem 11. Jahrhundert! Ich bin aber nicht allein. Schon als ich erst halb um das Ensemble herum gelaufen war, kam mir ein alter Herr, Goldzahn, auf einem Fahrrad langsam entdecken und machte Halt. Er erzählte mir ein wenig auf Russisch, nachdem ich die üblichen Fragen beantwortet hatte, und wir setzten uns unter den Ayvon – eine dafür vorgesehene Stufe ist ebenfalls mit Teppichen ausgelegt. Wie so typisch, trägt er Pantoffeln über dicken Socken, eine große, runde Fellmütze und einen Mantel, der immer an Schlafrock erinnert. Kaum haben wir das Mausoleum, den ältesten Part, besichtigt, macht er mich auf eine Gestalt am Tor aufmerksam. Das war unser Deutschlehrer, und tatsächlich – als der ebenfalls gebrechliche Mann mit einer Heugabel über dem krummen Rücken angeschlichen kommt und der andere ihm von mir erzählt, so macht sich eine unbändige Freude auf seinem Gesicht breit. Im folgenden Gespräch umarmt er mich mehrmals und redet, redet, redet… Es gefällt mir, er spricht von sich und Deutschland und ganz ungezwungen sitze ich dabei auf den Stufen eines tausendjährigen Gebäudes, gebe einfache Antworten und genieße die angenehme Kälte. Dieser Mann – seinen Namen habe ich leider vergessen – hatte zerfledderte Turnschuhe an und ebenfalls diesen Schlafrock oder Bademantel. Er war in Leipzig, damals, 1979, für einige Monate und erzählt überglücklich, so viele Bücher habe er sich damals gekauft… Dass es eine Frühjahrs- und eine Herbstmesse gab – er spricht von Generalsekretär Honecker und vielem mehr. Ich genoss es, seinen meist sporadisch vorgetragenen Erinnerungen zu folgen, denen er versuchte die richtigen Worte zu geben – seit 15 Jahren arbeit er nicht mehr. Immerhin – auf dem Deutschlehrertag 2015 habe ich aktive Lehrer kennen gelernt, die viel weniger gut sprachen als er. Irgendwann ist selbst an diesem heiligen, ehrlich heiteren Ort die Zeit zu gehen – dem Mann wird kalt vor lauter Sitzen; da stehen wir auf. Einen kurzen Blick werfe ich noch in die jüngeren Mausoleen, doch entdecke nichts von akutem Interesse. Der Fahrradfahrer fährt kommentarlos wieder von dannen, der Deutschlehrer will mich an die Straße begleiten und mit mir auf ein Auto warten, dass mich weiter bringt. Auf dem gemächlichen Gang – seine Knie seien nicht mehr so gut, sagt er mit zittriger Stimme – merke ich, wie alt er aussieht. Wie er die Heugabel über die Schulter nimmt und seine Schritte setzt, wie er spricht und seine halbtauben Ohren. Er müsse arbeiten, sagt er, Der Mensch muss arbeiten, sonst wird er unglücklich. Überhaupt spricht er so manche lächelnd gesagte Lebensweisheit, die von einem einfachen, bäuerlichen Leben hier am Rande der Existenz, also am Rand der Welt, künden, das in seinen Zügen nicht weniger gerechtfertigt erscheint wie das des vergeistigten Anthropologen, der in seinem Turmzimmer auf die ganz großen Antworten horcht. Eine Weile sitzen wir da, in halbem Schweigen, auf dem Bordstein vor dem Gelände. Ein alter Friedhof umgebe das Ensemble, niemand wisse, wie viele dort begraben lägen – in fünf, sechs, sieben Lagen übereinander, hatte er mir vorher erzählt. Doch außer zwei Frauen in Schlappen, die einen Wagen mit einem großen Bündel Schafsfell vorbeischaffen, kommt niemand des Weges. Es ist Zeit, und ich gehe, reiche ihm die Hand zum Abschied – er schreibt mir noch einen Zettel, in dem er den Gegenüber bittet, mir die Richtung zu Kokildor-Ota und Kyrk-Kyz, meinen beiden anderen Zielen, zu zeigen – auf Usbekisch, damit ich ihn den Leuten vorhalten kann. Ich kehre mich um und verlasse den alten Mann, der nun zu seiner Arbeit schleicht – er ist erst 70.

Durch Wohnviertel gelange ich in eine gänzlich orientierungslose Situation und meine Erinnerung an frühere Wegbeschreibungen der beiden Männer hört auf. Eine Familie, die am Rand steht und mir zuguckt, frage ich spontan, auf Russisch, um Hilfe und der Vater befiehlt einem seiner Söhne, mich zu geleiten. Noch misstrauisch, er wolle Geld, von der geheuchelten Freundlichkeit Bucharas gestochen, zeigt er mir die ehemalig Herberge Kokildor-ota – Backstein, schmucklos, allein die Formen sind interessant und man kann das Dach besteigen. Ein fruchtloser Ausblick über Felder, Heime, Bäume in leichtem Nebel spannt sich auf. Dort liege die Festung Kyrk-Kyz, doch ich sehe nichts, auch nachdem ich den Baum anvisiere, den er meint. Ein Stück begleitet er mich den Asphalt entlang, grüßt hier und dort nach links und rechts, bis wir vor einem Ackerweg stehen – einer Art Deich zwischen Gärten und Häusern. Hier entlang und wenn ich die Festung sehe, dann nach rechts. Klingt einfach, ist es auch. Er will natürlich kein Geld, ich bedanke mich überschwänglich und erneut bin ich über die Hilfe froh. Die Festung ist auch von der Straße aus erreichbar, aber das weiß ich noch nicht und dies ist der kürzere Weg. Diesen Trampelpfad laufe ich entlang, mal im Schlamm, mal auf Gräsern, wo selbst die Kühe mich blöd anschauen und ich aus pflichtbewusster Höflichkeit jedem ein „Assalomaleikum“ schenke, bis sich zwischen all den maroden Häuschen und Gärten auf der rechten Seite ein Lehmbau zeigt. Nicht so festlich wie Sultan Saodat, nicht restauriert wie Fayaztepe, eingesunken liegt es da, wie ein Schiff mit zerfressenen Segeln auf Grund, wo einst Wasser war. Der Pfad, der mich rechtsum führt, läuft geradewegs auf ein Haus zu, ist keineswegs Eingang zur Festung; eine Frau und zwei Kinder begegnen mir, sie hält eine alte Nähmaschine – eine wirklich alte – und der Junge ein Holzspielzeug. Als ich mich dem weißen Häuslein nähere, das zwischen einem Zaun noch Platz lässt, die Anlage zu betreten, grüßt mich ein Mann aus dem weißen Häuslein, tritt heraus und, nach den üblichen Fragen, lädt mich zum Essen ein. So anders als das zähneklammernde Buchara, das Geld will – hier hilft man mir gerne, doch ich muss absagen. Nein, leider habe ich keine Lust auf Essen, ich werde von einer wahnsinnigen Lust gepackt, diese Ruine zu besteigen und mich in ihr zu verlieren…

Kyrk-Kyz erscheint wie eine Märchenfestung – vom Zahn der Zeit zernagt, freilich, von zwei Stockwerken auf eines bis anderthalb eingesunken und der Lehm liegt anspruchslos in der Gegend herum. Kaum den ersten Erdhügel erklommen, von einem der vier Tore direkt hinauf, mit umfassendem Blick auf den zentralen Hof, da sehe ich einen alten Mann unter den Gängen hervor gehen, der mich, als er sich umdreht und mich entdeckt, auf Englisch grüßt. Als ich die Antwort auf Russisch gebe, fragt er, ach, Sie sprechen Russisch… Ich hätte den Ort lieber für mich alleine, die sandfarbenen Wellen des Lehms, der hier Jahrhunderte liegt, wenig aufgeräumt, noch nicht restauriert – nur ein kleines Metallschild an jener der Straße zugewandten Seite kündet davon, dass dies ein kulturell begehrtes Objekt ist. „Kyrk kyz“ steht dort, und der russische Name. Dennoch zwingt mich die Freundlichkeit dazu, auf den Mann zuzugehen, den Schuttberg wieder herunter – was sich darunter wohl verbergen mag? – und die üblichen Fragen, ich gebe die üblichen Antworten. Er heißt Vasiliy, ist Russe, und meine anfängliche Hoffnung, ich könnte warten, bis er wieder weg ist, verfliegt, als er mich gastfreundlich einlädt mich umzuschauen. Ein alter Museumswärter? Nein, er hat bei der Eisenbahn gearbeitet, das verrät seine staubige Jacke. Ein bisschen seltsam sieht er aus, einige Zähne fehlen ihm, seine Socken stecken in Sandalen und besonders sauber scheint er nicht zu sein. Es hat mir neulich einer gesagt: Daran erkennst du die armen Leute, wenn sie im Winter Schlappen tragen. Es sind viele hier draußen. Er hat aber ein Haus in der Nähe und nun nicht mehr viel zu tun. Bedächtig führt er mich durch einen beeindruckenden, schmalen Gang zu einem der ehemaligen Zimmer, abgeschieden von den anderen und durch den Schutt der Zeit nun nicht besonders groß. In ihm – besser gesagt, vom zweiten Stockwerk herab – hängt ein Baum, der trist seine Äste auf dem Boden hängen lässt – kein Wunder, denn an ihnen sind zahllose schmutzige, alte Lappen und Tücher gebunden, die ihn herab ziehen. Dies sei ein besonderer Baum, fängt Vasiliy an zu erzählen. Diese Pflanze blühe zweimal im Jahr, meint er – im Herbst und im Frühling. Zweimal pro Jahr treibe er Knospen, bringe Früche – welcher Art, das vermag ich nicht zu verstehen. Während der Sowjetzeit hätte man ihn zweimal versucht zu fällen, doch er sei immer wieder nachgewachsen, und mehrere Brände habe er überstanden. Von vielen Leuten wird dieser Baum als eine Verbindung zu Gott – Allah, Krishna, egal, es gibt nur einen Gott, sagt er – bewundert. Sie kommen mit ihren Problemen hierher, binden ihr Tuch an einen der Äste und beten um Hilfe. Auch Vasiliy hat Probleme: Schmerzen hier und da, man ist ja nicht mehr der jüngste und irgendwann muss jeder sterben. Tag und Nacht komme er hierher, wann immer es ihn rufe. Für ihn ist das ein heiliger Ort – im Winter warm, im Sommer kühl, ein Hort der Geborgenheit unter freiem Himmel, aus dem es selten nur regnet. Und er erzählt mir zwei Legenden, die sich um die Festung ranken. Einst soll sie eine Mädchenschule oder ein Kloster gewesen sein, in dem vierzig Jungfrauen – kyrk kyz auf Usbekisch – gewohnt und gearbeitet haben. Die erste Geschichte ist die historisch anzunehmende, erklärt er, wonach die Jungfrauen durch einen Tunnel an dieser – er zeigt auf einen Lehmhügel – Stelle fliehen mussten, als feindliche Truppen die Festung erreichten. Die Existenz eines solchen Tunnels, der damals von hier nach Alt-Termiz geführt haben soll, sei belegt. Als zweites spielt eine Volkssage hier – eine der Jungfrauen habe sich draußen bei der Arbeit in einen jungen Bauern verliebt. Doch Männer durften die Anlage nicht betreten, weshalb die beiden sich etwas ausdachten: Jene Jungfrau sollte am Tag bei ihren Gefährtinnen bleiben, doch abends ausgehen, um vom als Frau verkleideten Bruder des Geliebten heimlich ersetzt zu werden. Einige Nächte verbrachten die beiden auf diese Weise, bis die anderen Jungfrauen Verdacht schöpften und den Bruder entdeckten – in einer Weise, die ich nicht verstand, nein, nur, dass es an seinem Haar gelegen hätte; er habe kein Frauenhaar gehabt. Im Anschluss an diesen Skandal seien die 39 Jungfrauen verschwunden und niemand hätte sie je mehr gesehen. Faszinierend, wie er erzählt. Ich bin nicht der erste, dem er hier begegnet, andere Touristen hat er begleitet, einmal einer beinschwachen Dame eine sporadische Treppe in einen der Lehmhügel gehauen, der bis zum oberen Rand der Mauer führt – hier stand, wie an den anderen drei Ecken, ein Turm. Die Mauer ist tatsächlich bis oben erhalten geblieben, auf dem breiten Sims kann man spazieren. Aber vorsichtig, alte Gebäude sind gefährlich, mahnt Vasiliy. Er wohnt seit über 40 Jahren hier, als die Frau ihn aus seiner Heimat Russland – ich weiß nicht mehr, war es Twer oder Kasan – an ihren Geburtsort geführt hatte. Nun ist die Frau tot, eines der Kinder lebt in den USA, zwei in Russland, wo auch der Rest der Familie bleibt. Er erzählt viel, doch weil inzwischen einige Zeit vergangen ist, kann ich mich an leider wenig erinnern. Am Ende ist er sehr froh, dass wieder einmal jemand kam, ihm zuzuhören, was er alles zu erzählen hat – über die Festung, das Leben hier und sonst… Er schenkt mir ein Kuriosum, das ich aus Rücksicht auf ihn nicht verraten werde, es war ihm sehr heilig – unter den Ästen jenes tuchgeknüpften Baumes hatte er es in der Erde vergraben, sorgfältig mit Laub bedeckt und darauf bedacht, beim Ausgraben keine fremden Augen zu gewähren – einen Teil schenkte er mir und sagt, es sei gut gegen Schmerzen. Ich kann ihn nicht davon überzeugen, es zu behalten, er ist glücklich und führt mich noch an die Straße. Als letztes fällt ihm mit dem Ausdruck unwahrscheinlicher Möglichkeiten ein: Sagt: Trinkt ihr? Nicht am Tage, nicht jetzt. Tja, dann… Ich werde ins Geschäft gehen und… ein bisschen trinken. Ihr habt nichts dagegen? Nein, habe ich nicht, und lasse diesen kuriosen alten Mann hinter mir, während ich auf die Straße gehe und auf die Marschrutka warte. Wer weiß, wie lange er noch hier bleiben kann. Zweimal bereits war die UNESCO hier, sie hätten Fotos gemacht. Laut seinen Aussagen sei bereits ab Januar eine Renovierung des Komplexes geplant – dann wäre ich einer der letzten, die Kyrk kyz im „ursprünglichen“ Zustand gesehen hätten und vermutlich wird es auch den Baum mit den Tüchern bald nicht mehr geben – falls die Restaurierung stattfindet. Ganz zu schweigen davon, dass der ideelle Wert dieses Kuriosums in meinen Händen um ein Vielfaches steigen würde. Der arme alte Mann – ich wünsche ihm, in seinen ehrfürchtigen Hallen sterben zu können. Eine ehrliche Haut und ein echter Mensch – der aus den Ruinen, die seit über 1000 Jahren unangetastet stehen, kein Freilichtmuseum macht, sondern lebendige Historie aus ihnen schöpft. Nun, ich werde die Geschichte von Kyrk kyz verfolgen. Vielleicht hat der Baum doch noch eine Chance – wenn er denn wirklich so widerstandsfähig ist.

Am Abend desselben Tages gehe ich mit dem Studenten in einem ganz ordentlichen Restaurant essen – das „Shymkentskoe“ Bier, kasasisch, schmeckt ziemlich gut. Merkwürdigerweise hat er mich am Ende anstandslos alles bezahlen lassen, ohne nur Geld anzubieten. Vielleicht hat er mein Angebot missverstanden, ich wolle ihm das Bier bezahlen… Sein Deutsch ist wirklich mäßig, aber was beschwere ich mich. Russistikstudenten in Deutschland haben im vierten Semester auch kein B2-Niveau. Hier sind die Schüler wenigstens mit Leib und Seele dabei – der Professor hat mir erzählt, sie wollten einen Robert-Bosch-Lektor für ihre Stadt gewinnen. Man ringt um Anerkennung, ringt um Außenwirkung. Die Lektorin, die seit September in Fergana tätig ist, meinte, ihre Universität, besonders die Fakultät natürlich, habe seitdem stark an Ansehen gewonnen. Nun, meinetwegen können sie in Termiz einen haben, schlimmer als Fergana ist die Stadt sicher nicht – zumal es diese wirklich großen alten Bauwerke gibt, die man sich von Zeit zu Zeit angucken könnte. Es dürfte dann aber kein Bartträger sein, lieber nicht. Als Ausländer wird man hier permanent angestarrt, selbst im Dunkeln, als Bartträger ich vermutlich einmal mehr. Es ist auch nicht die sicherste Stadt, am letzten Tag warnte mich einer, nach 21 Uhr auf die Straße zu gehen – wegen den „Narkomani“, den Drogenabhängigen. Ehrlich gesagt, die Miliz schreckt mich mehr. Die Polizeipräsenz ist mindestens so hoch wie in Taschkent. Am ersten Abend, auf der Suche nach einem Ort zum Essen – das ursprünglich auserkorene Restaurant war privat vermietet – griff mich ein Polizist auf, der mich dumm herum stehen sah und nahm mich keine zwanzig Meter auf seine Wache mit. Intensivst, über Minuten, studierte er dann meinen Pass, meine beiden usbekischen Visa, sowie alle Stempel und meine Bahnfahrkarte. Als ich bemerkte, die sei für übermorgen, wiederholte er gedehnt: Übermorgen? Da habe ich sozusagen noch viel Zeit etwas anzustellen. Nun, vielleicht fand er meinen Pass überzeugend, vielleicht wurde es ihm selbst zu viel und ich, brav und still am Warten, bekam meine Dokumente zurück, durfte gehen. Auch hier habe ich den kulturweit-Freiwilligenausweis als Trumpf versucht, doch leider hielt den Beamten das nicht vom minutenlangen Studieren ab. Im Anschluss habe ich für 6000 Sum (ein Euro) dekadent Somsa satt mit Tomatensauce gegessen, dazu eine Kanne Tee und einen Wodka. Nach der Menge Somsa empfehlenswert. Ein richtiges Festmahl also an Heiligabend, aber ich machte mir nichts daraus. Die Frau, die mich in ihre kleine Gaststube gelockt hatte, braucht das Geld und ich bin in Gedanken bei all denen, die sonst bedürftig sind. Allein in Termiz sind es nicht wenige, auch wenn – Gott sei dank! – die wenigsten von ihnen Souvenirverkäufer sind.

Wieder jene Menschen in bunter Kleidung mit Kindern, die ich in Osch Zigeuner genannt hatte. Ich gab zwei Kindern etwas und musste fliehen, den dreißig anderen Händen entfliehend, die sich sofort nach mir ausstreckten. Das war am Samstag, als ich eigentlich auf der Suche nach dem Ethnologiemuseum war, von welchem der Reiseführer spricht. Nach jener Nacht, in der wieder ein Erdbeben in Pakistan oder Afghanistan gerüttelt, mein Bett geschüttelt hat, sodass ich aufwachte, schlaftrunken eher an meiner Wahrnehmung zweifelte und am nächsten Tag erst fand, dass es ein stärkeres Beben war. Das Museum suche ich jedenfalls vergeblich. Drei befragte Bürger geben drei verschiedene Antworten, von denen mich keine überzeugt. Ich finde nichts und auch Straßennamen finde ich keine, geschweige denn Hausnummern. Nach den vielen leeren Händen beschließe ich, mich in meinen Bunker, ins Hotel, zurückzuziehen und nicht mehr wiederzukommen. Die Alternative wäre der Zoo gewesen, von welchen aus man – wieder laut Reiseführer – einen guten Blick auf Afghanistan hätte. Nun entscheide ich mich, dass ich keinen Blick auf Afghanistan brauche. Der Zoo liegt weit entfernt und wer weiß, ob er winters geöffnet hat. Der Fall der Museen in Termiz hat mich genug ernüchtert und so lese ich in meinem gemütlichen Sessel Heinrich Heines „Über die Religion und Philosophie in Deutschland“, was eigentlich „…nach Luther“ heißt und hoch spannend ist. Darüber wird es natürlicherweise später und irgendwann heißt es, Abschied nehmen. Ich merke, dass ich erschöpft bin, mehr als ich es mir zugestehen wollte, als ich noch Pläne für den Tag hatte – das einzige, was geblieben ist: ein Besuch des quirligen Basars. Auch das Essen stelle ich hintan; was habe ich hier noch zu suchen? Ein Fast-Food-Restaurant, das ich mit dem Studenten zwei Tage zuvor besucht hatte, bietet sich an, liegt auf dem Weg und hatte frisches Fleisch – ein letzter Happen vor der Zugfahrt, auf der ein halbes Lepjoschka und ein Liter Wasser reichen müssen. Die Brote hier in Termiz in Surxandaryo, sie schmecken wie italienisches Ciabatta. Seltsam, wo sie doch so anders aussehen.

Es ist schon vertraut, Reisen, verschiedene Orte und Wege. Den langen Bahnsteig entlang, Wagen für Wagen, noch einmal Passkontrolle und rein in das vertraute Braun des Holzes, das innen dunkel vorherrscht und so sehr an alte Fotos erinnert. Der Duft wie in den Ferienhäusern Dänemarks und die roten Betten, alles von vergangener Zeit. Wir sind nur zu zweit in dem Abteil, nicht unangenehm – mir gegenüber sitzt eine Russin aus Taschkent, deren Klienten – welcher Art auch immer – sie nach Termiz geladen hatten. Ihre Tochter studiert in München auf Englisch – beeindruckend, immer wieder die Parallelen, die in die Heimat führen. Als wir anfahren, kommt ein Mann aus dem Nebenabteil zu uns, hört, dass ich deutsch bin und setzt sich – wie so viele andere hat er gegen Ende der DDR noch dort gedient. Es sind sicher schon fünf bis sechs Leute, die mir davon erzählt haben und er erinnert sich stolz an Weimar, Leipzig, Dresden – selbst war er in Naumburg stationiert. Unser Gespräch zu dritt spannt sich auf, nachdem wir über meine Familie reden, Deutschland und die Teilung, dann geht es an die Ukraine – Krim. Beide patriotische Russen halten dafür, dass sie russisch ist, war und bleibt. Uneinigkeit herrscht trotzdem. Die Frau meint, die Ostukraine gehöre ebenfalls zu Russland und der Mann schränkt ein, dass sie zwar unlogischerweise zur Ukraine gehöre, aber eben nun deren Staatsgebiet sei – eine Zankerei, die ich nicht verstehe, ich bin ja auch Deutscher. Zuhören fällt mir sowieso leichter als Reden. Da ist noch ein gewaltiger Knoten in meinem Mund, den ich weder schlucken noch ausspeien kann. Der muss gelöst werden – wenn ich an die Arbeit denke und an das Opfer, welches gebracht werden will: das Lettische, am Fenster stehend und goodbye winkend. Am Ende, es ist bereits stockfinster draußen, gibt er – Literaturprofessor in Termiz – mir noch den Ratschlag, ich solle Tschechow lesen, seine Prosa, wenn ich die Sprache begreifen will. Bloß keine Presseartikel, die seien bloß Schrott, aber wenn ich dann fortgeschritten sei, könne ich mit „Schuld und Sühne“ weitermachen. Das stand auch im Regal in Ulan-Bator – ich aber habe mich anders entschieden… Die Nacht, die folgt, ist lang. Statt vor Hitze wälze ich mich nun vor Kälte, bis 22 Uhr wird auch Musik gespielt – Blechdosenmusik aus Blechdosenlautsprechern. Dann nehme ich mir die Decke, auf die ich erst verzichtet habe, stülpe meine Socken über die Hose, stecke mein T-Shirt unter den Bund und schlafe so sehr geruhsam, warm, mit wenigen Störungen bis zum Morgen.

Auch wenn dann alles sehr schnell geht, ich in der Wohnung bin, auspacke, einkaufen gehe, esse, schreibe – ich bleibe in einem wabernden Zustand, kaum Konzentration, auch keine Müdigkeit. Heines Schrift, die ich in Termiz unbeendet lassen musste, geht jetzt nicht. Ebenso wenig hilft der italienische Espresso, den ich mir mache oder etwas zu essen. Wie bei der letzten Reise schon kann ich mir ebenso wenig vorstellen, dort gewesen zu sein, als ich mir vorher vorstellen konnte, jemals dorthin zu kommen.

Zwei sehr gefüllte, erfüllende, erschöpfende Monate gehen vorbei. Fünfundvierzig Tage, in denen ich von Ulan-Bator bis nach Urgench, von Termiz nach Bischkek gereist bin, und zwischendurch in Buchara, Osch, Chiwa und Taschkent war, hin und her – alles in allem über zehntausend Kilometer, von denen ich immerhin dreitausend auf der Erde zurückgelegt habe. Eine Wahnsinnsstrecke, Wahnsinnsmonate – kein Wunder, dass ich müde bin. Obwohl – müde war ich auch vorher. Natürlich – es ist immer gut, zu Hause anzukommen, auch wenn es als Zuhause selbst nur temporär ist. Hier wenigstens ist es ruhig, hier wenigstens weiß ich, was und wohin, habe Alltag und Sozietät, hier wenigstens kann ich morgens aufwachen ohne mich zu Aktivität zu treiben und zu Bett gehen, ohne den Tag zu verfolgen.

 

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