Versuch der Rekonstruktion eines barocken Lebens

Zeit, über meine Zeit zu reden. Die letzte Woche war in dem Sinne einzigartig, dass sie dunkler und klangloser in den Untiefen der Erinnerung versank als alle zuvor. Sie, erstmalig, obwohl doch so schleichend angekündigt, zog an mir vorbei, ich blind, und konnte keinen Eindruck von ihr gewinnen, muss dies erstmalig aus dem Gedächtnis kramen, gleichsam rekonstruieren, wie in dem tollen Roman von Claude Simon. Ein Rekonstruktionsversuch ist dieser Blog. Einige Szenen fallen mir sofort ein: der betrunkene Russe, der mit mir abends im Taxi saß – nicht als Fahrer, sondern als zweiter Fahrgast – und mir erzählte, wie er sich in Malaysia mit irgendwelchen Finnen geschlagen hat, weil sie Putin kritisiert hatten. Das Ensemble, welches wohl organisiert die Proben und ein gemeinsames Essen einen Tag vor Ankunft des jungen deutschen Komponisten und Dirigenten ansetzte. Der Deutschlehrertag in Usbekistan, in einer Schule mit winzigen Klassenräumen, 2300 Schülern in fünf Jahrgängen und einer authentischen Sowjetturnhalle. Der deutsche Botschafter kam, der Schweizer verspätete sich und als die Eröffnung bei offener Tür vollzogen wurde, schallte von fröhlich singenden Kindern auf der Bühne das „Flieger-Lied“ heraus. Zu Beginn der Reden rauscht eine Grundschulklasse vorbei; vergeblich scht die Lehrerin wie gestochen herum – ein Klatschen von innen und die Saaltür wird zugezogen. Ich darf draußen bleiben und den Goethe-Stand betreuen.

Aber nicht nur, weil die Woche so schnell vorbei war, ich mich freitags nach ihr umdrehte und überlegte, was mit ihr geschehen war, schreibe ich erst jetzt – wo doch alle vorigen Beiträge mit Ausnahme des Chorsu-Specials an Sonntagen verfasst wurden. Es ist ebenfalls der Beginn meiner großen Reise, die am Mittwoch beginnt, und der ein eigener Beitrag angemessen ist. Ziel: das kulturweit-Zwischenseminar in Ulan-Bator. Ich werde in drei Urlaubstagen mit dem Sammeltaxi von Taschkent aus in das Ferganatal fahren – fruchtbarste Gegend des Landes, Zentrum des Islam in Usbekistan und Zankapfel zwischen den Stans der Usbeken, Tadschiken, Kirgisen, auf deren Staatsgebiet ebenfalls Teile des Tals liegen. Bei Andijan werde ich die Grenze zu Kirgistan passieren – gespannt auf diesen Übertritt; ob er mir Schwierigkeiten bereiten wird. Mit dem Taxi kann man selbstverständlich nicht hinüber und als Usbeke wird man nicht gerne gesehen. Die usbekische Seite ist Tag und Nacht geöffnet (theoretisch), die kirgisische bis Sonnenuntergang. Wer Pech hat, muss im Grenzgebiet die Nacht verbringen – Abenteuer pur und muss nicht sein. Ich als Deutscher darf visumsfrei passieren; gleich hinter der Grenze beginnt Osch, wo ich einen Tag verbringen möchte, falls es geht. In den nächsten zwei Tagen muss ich Bischkek, die kirgisische Hauptstadt, erreichen. Das Sammeltaxi braucht zwölf Stunden, die Strecke geht bis auf 3800 Höhenmeter und durch einen berüchtigten Tunnel – bei Radfahrern mehr noch als bei Sammeltaxireisenden. Bei starkem Schneefall dauert es länger – die Strecke geht tendenziell bergauf. In Bischkek wartet am Samstag um vier Uhr morgens der Flieger in die mongolische Hauptstadt, den ich gemeinsam mit zwei weiteren kulturweit-Freiwilligen besteigen werde – einmal angekommen, haben wir das Wochenende Zeit, die Stadt zu erkunden, bis Montag 15 Uhr das Seminar beginnt. Die Woche wird dann wieder „kulturig“, feucht-fröhlich und didaktisch-methodisch – aber: Ein Ausflug in die Steppe ist geplant. Länger kann ich leider nicht bleiben, im Anschluss muss ich am Samstag meinen Flieger nach Bischkek nehmen und von dort am Sonntag weiter in das gute Taschkent reisen. Nicht nur ist diese Reise sehr ökonomisch gegenüber den alternativen Flugverbindungen nach Ulan-Bator über Moskau, Peking oder Seoul – v.a. ist sie ein Abenteuer. Auf die Taxis sollte Verlass sein.

Was habe ich während der Woche gemacht? Bin ich, wie Antoine Montès, durch den Ort gestolpert, habe Begegnungen verfolgt und Menschen verloren, aus den Augen, aus dem Sinn? Wohl nicht. Es gab eine durchschnittliche Menge an Arbeit – die Filmreihe: Bildrechte, Blue-Rays in der Zentrale, Dialoglisten u.a. Ich habe wohl ein oder zwei Tage so gut wie durchgängig arbeiten müssen – nein, das ist falsch. Dienstag habe ich bestimmt durchgängig gearbeitet. Aber Mittwoch sind wir nachmittags bereits zur Schule gefahren, um den Deutschlehrertag vorzubereiten – und aus Bauchschmerzen bin ich früher von dort gegangen. Donnerstag war ich ab Acht einige Stunden und wieder am Ende einige Stunden dort – in der Zwischenzeit, im Institut, muss ich etwas gemacht haben, aber nicht allzu viel. Bestimmt habe ich meine Unterkunft in Osch gebucht oder… – freitags bin ich früher gegangen, um mich auszuruhen und habe noch abends einen Film für die Filmreihe gesichtet. Also habe ich ab Mittwoch keinen Tag durchgängig gearbeitet; Dienstag war der einzige. Nun, da hatte ich jedenfalls Jour-Fixe der Programmabteilung und war damit beschäftigt, alle Kleinigkeiten zu sortieren. Oder war das der Dienstag in der Woche zuvor? Seltsam. Und Montag, was war Montag? Ich kann mich nicht erinnern, ich könnte etwas erfinden. Montag war ich Schlittschuhlaufen auf dem Taschkenter Meer – ein Stausee in der Nähe der Stadt. Und dann sind wir durch den Wald gelaufen und haben Vögel gezählt. Hier gibt’s keinen Wald. Also die Platanenalleen entlang und mich wie in Russland gefühlt. Gerade heute wieder dachte ich mir im Aufsteigen der hundertzwanzig Treppenstufen zur Wohnung, jetzt könnte ich auch in Russland sein, das würde ich nicht merken. Draußen ist es anders, die Wohnung ist anders und meine Telefonnummer ist anders, aber in diesem Moment wäre kein Unterschied – das Treppenhaus. Was war Montag? Wenn es für immer ein Geheimnis bleiben wird, dann war es wohl nicht sonderlich wichtig. Vielleicht bin ich durch den Stolz gestolpert – ich genieße das Herumfahren, von einem Job zum nächsten: sich wichtig fühlen, wenn man nicht nur in seinem Büro sitzt, sondern hier und dort ist – und wenn es nur zwei Orte sind – um sagen zu können: ich muss jetzt gehen, ich habe keine Zeit und etwas Wichtigeres vor als Sie, wenn Sie verstehen. Man kommt sich top vor oder hochwertig und fühlt sich bei der Gelegenheit als überlegener Europäer. So weit her ist es doch nicht mit unserer Expertise, dass wir herumlaufen können und uns wichtig machen. Ich laufe mit und versuche gar nicht erst so zu tun als ob ich mich wichtig fühlen würde, aber ich könnte es. Könnte so tun, meine ich. Die Möglichkeit des Gefühls als ob hebt schon den Glauben an die eigene Unsterblichkeit. Und wenn nicht, dann wenigstens an die Importanz, die man als Europäer inne hat – wie einen Status – besonders muss man sich ja nicht mal fühlen, besonders ist man hier. Und alle schauen auf zu dir, oder zumindest mit Achtung, Hochschätzung. Wenn ich mir vorstelle, wie wir mit unseren Ausländern umgehen, dann könnte ich kotzen. Aber es fühlt sich so gut an. Man ist ja kein Griesgram und schlägt den jungen Mädchen, Jungen das Foto mit dir nicht ab; man versucht höflich, lästige Leute abzuschütteln, die Deutschunterricht von dir wollen oder besser, ein Stipendium für einen unbegrenzten Aufenthalt im Himmel, id est: Deutschland. Ich weiß nicht – manchmal empfinde ich das als sehr befremdend, dieses gleichzeitige Bewusstsein: Ich bin fremd und muss mich anpassen, zu der Erkenntnis: Die Leute sind geil auf Deutsche als Deutsche und ich bin Deutsch genug, um als Bote des oder Hoffnung auf Himmel gebrandmarkt zu werden. Oder so ähnlich. Es ist schwieriger, die Gedanken zu schreiben als sie zu denken. Immerhin schreibe ich und der Fluss schwemmt so manches heraus, was sonst stecken bliebe. Vielleicht wird der Text bei der Überarbeitung besser.

Wurde er nicht.

Im Vorfeld meinten einige aus der kulturweit-Privilegiertenriege, sie hätten Angst vor der Deutschenblase – gerade beim Goethe-Institut, wo die Vermittlung deutscher Sprache, Kultur und Gesellschaft Aufgabe und zentrales Anliegen ist. Ja, Luxus, Internationalität, Meetings, Geschäftsessen, Deutsch reden, die eigenen Kultur und Geisteshaltung durchbringen können/sollen und keine körperliche Arbeit verrichten: Es ist eine Blase, ganz sicher. Wenn ich ehrlich bin, und auch das rührt eher aus Faulheit als aus Notwendigkeit, bin ich froh, so deutsch eingebettet zu sein. Einer aus meiner Schule, der wie ich, nach der zehnten Klasse, ein Jahr im Ausland war, meinte, als ich ihm von diesem Jahr erzählte: Toll, dass du dich das noch mal traust. Denn es ist ein Trauen, Wagnis, ein Sprung ins Kalte, Nasse, Fiese, große Unbekannte und nur blind ist es leicht. Ich war blind, blind und taub durch Wasserfälle an Schulunterricht, Tafeln, Hausaufgaben und Schwemmen an Zetteln, Hirnwäsche, Einebnung der individuellen Gestalt, sodass ich vergessen hatte, wie es war. Jetzt, da ich wieder spüre, dass ein Auslandsjahr Stress ist, viel Schlafen und Anstrengung, zu verstehen und zu reden, Anstrengung des Körpers, durch all diese plötzlich fremden Räume wie in einem Film zu laufen und nicht zu kollabieren unter der simplen Andersartigkeit; Anstrengung des Geistes, das Leben zu begreifen, wie es hier möglich ist, wo ich es nicht kenne und es trotzdem ist wie zu Hause – Anstrengung des Geistes, ein fremdes Leben zu verstehen, einzutauchen: Was für eine Erschöpfung ein Auslandsjahr bedeutet, gibt man sich hinein, das hatte ich vergessen. Ich bin jemand, der sich vertieft, hinein gibt. Das ist der Grund, so bin ich froh – es gibt eine Blase, in die ich mich zurückziehen kann. In der ich unverletzlich bin und in Sicherheit vor allem Fremden, wenn es über mich herein bricht. Es ist bequem und es schaudert mich – schon wieder diese Bequemlichkeit, ich werde sie nicht los, aber vielleicht macht das auch nichts. Irgendwann werde ich schon gezwungen sein, sie abzulegen. Kein neuer Kulturschock, wenn die Umstellung des Körpers der ersten Woche – die Erschöpfung eines Europäers – nicht Schock genug war, keine neue transzendentale Selbserfahrung, Selbstentdeckung, Neuentdeckung, Wiederfindung des Lebens, wie in Lettland. Immerhin – an meinem alten Ich kann ich so festhalten. Letztendlich bleibt die Denkerfahrung, erstes Arbeitserleben, Eintauchen in kulturmanagementale Sphären und Leute kennen lernen, von denen ich nicht einmal geträumt habe – Kängurus, z.B.

Was war Montag? Heute war Montag, aber an heute kann ich mich noch gut erinnern. Wir waren essen, abends, aber nicht mit den Leuten oder an dem Ort, mit denen und wo ich morgens noch dachte, essen zu gehen. Ich war den ganzen Tag nicht dort, wo ich dachte sein zu müssen: im Institut, seltsamerweise. Julia rief morgens an und meinte, die Botschaft erwartete mich zum Vorlesewettbewerb in einer halben Stunde, als Jurymitglied. Nun, auf diese eine Mail habe ich nicht geantwortet, das war ein Fehler, und so hatte man gedacht oder angenommen – ach, hat Heinar nicht für dich mit…? Das tut mir Leid, aber es war auch nicht schlimm. Die einzige Verzögerung, die sich ergab, dass ich meine Mails erst später lesen konnte und sowohl dienstlich als auch persönlich war das wohl ein sekundäres Problem. Hinter – nein, primäres Problem, aber sekundär in seiner Wichtigkeit. Jetzt verzettle ich mich live und schreibe auch noch mit – so ist das, wenn man nur noch im Schreiben denkt; ich denke ja gar nicht nur noch im Schreiben. Der Vorlesewettbewerb ist ein gigantisches Spektakel, zu dem Schüler mit amtlich festgeschriebener Begleitperson aus allen Teilen des Landes – Nukus, Samarkand, Buchara, Navoiy, Andijan, Urganch, Termez, Taschkent – eingeladen werden, um zehn Minuten vorzulesen. In meinem Fall vor Juroren, die erst am selben Morgen von ihrem Glück als Part der Jurorschaft erfahren haben. Nicht schlimm, wir waren ja zu zweit und in den Pausen gab es Kuchen, Kaffee und Pizza, Unterhaltungen und das Diplomaten-Lyzeum. Ein Hingucker, wie alle usbekischen Schulen, nur ist diese einer der besten des Landes – grau in braun, die üblichen, nach vorne offenen Toiletten, nur Löcher aus Keramik und eine Schnur zum Spülen, ohne Sitz und Papier; man möchte hier nur die Pissoirs benutzen. Der Saal ein Chaos, im Aufbau toll, irgendwo hinter der Ausstellung zum Ende der DDR, neben leeren Kaffeedosen auf dem Belarus-Klavier versteckt sich, auf der Bühne, ein Wasserkocher an einer Steckdose. Funktioniert nicht – wie der im Juryzimmer, den wir an drei Ecken vergeblich versucht haben anzustecken. Wir nehmen ihn trotzdem mit, ich fühle im Boden ein nachgebendes Brett und denke mir, hoffentlich ist das eine alte Versteck-, Souffleur- oder Bespitzelkabine und kein Loch unter dem Teppich. Wie bin ich hierher gekommen? Ich bin noch ganz durcheinander. Die müde, glatte Morgenfahrt durch den sanften Nebel der Stadt, europäische Straßenzüge, sattes Grün und eine Senke hinab, als sich die Sonne noch hebt – wie spät ist es? Ich komme nicht zu spät. Außen eines dieser Spruchbänder von Islom Karimov, geliebter Präsident, und der Titel des hellgelben Brutalismusbaus. Ich werde durchgelassen und komme an; es ist befremdlich, wie so oft, man geht in ein unschönes Haus, renovierbedürftiges, wirklich hässliches, in dem noch so viele Schüler unterrichtet werden, und erfährt im ironischen Zwischentalk, wie die Regierung Geld in interaktive Whiteboards statt weiße Wände und Toiletten investiert, aber weder Beamerbirnen, noch, im Idealfall, Strom liefen kann. Man achtet sehr auf darauf, nur das Beste fürs Land zu geben und will gesehen werden, wie man hilft. Die Hypokrisie des Stifters, der beim Akt der Donation mit festgefrorenem Lächeln fotografiert werden will. Dabei liegen die Turnhallen brach, hier in den Lyzeen sind die Schüler hübscher gekleidet, in Uniform, als ihre Schule aussieht. Und es ist eins der besten des Landes. Man prahlt mit äußerlichem Wohlstand, bläht den Bauch auf und sagt, seht her, wie gut es mir geht. Man putzt das image, um am Inhalt nichts zu ändern, und innen verrotten die Menschen. Ein Junge, meinte eine der Mitjuratoren, kam und sagte auf, wie Korruption und Misswirtschaft sowjetisches Erbe seien, das moderne Usbekistan diese Makel überwunden habe und dafür nun angesehen sei – in der ganzen Welt. Indoktrinierung von Beginn an. Selbst die Klugen unter ihnen sind wahrscheinlich der Meinung, Usbekistan sei jedem Erdbewohner ein Begriff – ob nun aufgrund von Gastfreundschaft, Baumwolle, getrockneten Früchten oder den „Human Rights Watch“ reports über Menschenrechtsverletzungen. So ist es hier; wenn jemand fragt, dann könnt ihr antworten.

Ich sagte essen – eigentlich war eines geplant, mit dem jungen, deutsche Komponisten und Dirigenten Jonathan Stark – 20 Jahre, mein Alter, und weil ich abreise, kann ich ihm nicht begegnen, verpasse sein Konzert mit dem usbekischen Ensemble und seine Abreise. Schade, aber nichts zu machen, das Essen wurde per SMS abgesagt und keine Stunde später hatte ich die Einladung zu einem neuen – das ging schnell. Im „Bavaria Plaza“ veranstaltete die Deutsche Botschaft eine große Runde, in der sich Lehrer, Juroren und Teilnehmer noch einmal die Hand gaben, um bei Wurst mit Kraut und Kartoffeln, sowie einem herrlichen Apfel-Nussstrudel mit Vanilleeis dieses große Ereignis passieren zu lassen. Ein Haufen Wind um nichts – zehn Minuten Präsentation, und einige kannten schwerlich den Autor des selbst gewählten Textes. Aber Prüfungen – das läuft hier anders. Die Leute sind mit Fleiß dabei, freuen sich. Urkunden über bestandene Sprachlevel oder Vorlesewettbewerbe sind wie Auszeichnungen höchsten Ranges, Träger des Stolzes, der Zukunft; man gehorcht und freut sich, gehorchen zu dürfen. Es ist und bleibt eine Diktatur und die Kinder bemitleide ich, die stolz hier lernen. Obwohl ich mit DaF (Deutsch als Fremdsprache) nicht sonderlich viel am Hut habe, kam mir meine Sprecherfahrung zugute, als ich einem motivierten Lehrer Tipps für seine C1-Prüfung geben sollte. Ich sprach von Körperhaltung, Auftritt und Bewusstsein des Vorzutragenden – viele der Schüler hatten ihren Text zur Präsentation auswendig gelernt und verstanden jenen zum Vorlesen nur halb. Gehorsam und stures Lernen. Doktrin und Repression. Während voranschreitender Stunde bauten sich zwei Musiker ihre Welt auf: ein abgehalfterter Rockstar, der in das Restaurant mit „Dress Code“ in Jeans und lässigem Pulli erschien und ein alternder E-Gitarrist. Ihre Rhythmen beschränken sich auf das Notwendigste, und beide sind sichtlich gelangweilt von dem, was sie spielen. Erst später, als der Rockstar „Lay Down Sally“, französische Schlager und einiges an Blues singen darf, wirkt er mehr wie in seinem Element. Der Raum, zu dem er singt allerdings ist leer.

Nach dem Essen bleibe ich mit Cedric, dem DAAD-Lektor in Taschkent, seiner Frau und einem deutschen ZfA-Lehrer aus Fergana noch und höre ihnen interessiert beim Reden zu – wenn sie über Usbekistan und die Welt quatschen. Über den Ruhrpott und Exklaven Europas – in Riad, wo die Entsandten ein eigenes Viertel haben, um das die vollumschleierten Frauen wogen, innen ist Bikini-Zeit. Die Lektorenstelle in Pjöngjang ist wieder frei und man lädt Leute nach Hongkong, um sie vor einem Publikum reicher Eltern Englisch reden zu lassen und wählt einen von ihnen zum stellvertretenden Schulleiter. Usbekistan zählt noch nicht zu den ganz harten Orten der Welt, aber das Hören, Fluchen, Staunen, Beißen, Jammern überall in und um mir – es ist kein Platz der Sonne, wenngleich das Wetter es so glaubhaft machen will. Für Jahre ist das kein Ort zum Bleiben und alle hier Geborenen sind zu bemitleiden. Was für ein Leben, hinter verschlossenen Türen, in Potemkinschen Dörfern, und immer jemand, der einem den Weg sagt. Ganz zu schweigen vom Komfort – Toiletten, Internet, Hygiene…

Doch ist das nicht zu viel verlangt? Frage ich mich manchmal, wenn die Leute darüber jammern. Ist es das – wenn alle Welt Internet hat und man selbst im Goethe-Institut vor einer Filmdatei sitzt, die man einfach nicht herunterladen kann? Ist es das, wenn man Jahre hier verbringen muss und sieht, wie es anders geht und weiß, dass man hier nicht sein muss? Ein Jahr, was für eine Möglichkeit, was für ein Leben – einmal ausprobieren, flink in die Gesellschaft huschen und den Blick wagen, kurz untertauchen und rasch wieder raus aus dem Mist, wie in einem Traum und hinterher sitze ich und sage: Wenn ich das alles nicht erlebt hätte… Was für ein Mensch ich dann wäre… Drum lasst mich dankbar sein und still, die Augen erhebend; es gibt noch mehr zu erzählen.

Als Tag der Stille begann der heilige Sonntag dieser Woche, gesegnet, durch eiskalte Straßen, die schön und leer taglicht leuchteten und Frieden versprachen, und wuselte mitten in den Quylik-Basar hinein, als ich getrocknete Früchte für das Seminar kaufte, ein Kilo gelbe Möhren für mein Reisgericht und ein Kilo Limonen für Elmira für den Winter für den Tee. Als ich mit Rucksack, der zurrte, zwei Kilometer hin und zurück wanderte, um den Abfahrtspunkt der Taxis gen Osten, Fergana und Andijan, zu sehen und mich in Acht nehmen musste, nicht gleich zu fahren – die Aggressivität dieser Leute, dieses wilde Fletschen nach Kunden, wahrscheinlich braucht es Härte, die ich nicht habe. Wenigstens den Preis sollte ich drücken können, und nicht gleich den ersten aggressiven Hund, der auf mich zugerannt kommt, weil er sich ein Geschäft erhofft. Ich kenne die Preise von vor ein paar Jahren – muss mich orientieren und darauf beharren, was mir nicht zu teuer erscheint. Muss mich rüsten und werde schon gerüstet genug aussehen, mit meinem kleinen Rucksack und meiner Tasche – „Halldòr Laxness. Nobelpreis für Literatur“ – den Brustbeuteln, die ich umhaben werde… Und nachher, als ich mit der Marschrutka 136 zurück gefahren bin, mit einem der älteren Exemplare, furchtbar fauchend auf der Strecke, im Anfahren mit einem so umfassenden Rütteln der Metallkarosse, das ich mich beim siebten Mal beinahe bekreuzigt hätte – Quylik, ein Paradies der Autofahrer, alles voll und eng und Menschen irgendwo über die Straße, weil es keine Ampeln gibt – und von allen Seiten drängeln sich Autos nach allen Seiten, unsere alte Emma spuckt Dampf, rattert tüchtig und irgendwann ist auch wieder freie Fahrt und kaum Autos auf den fünf Spuren einer Richtung. Farg’ona Road, hier werde ich am Mittwoch herunter düsen – in die Gegenrichtung, freilich. Ich blicke in diese Welt dort draußen und die Scheibe symbolisiert nur, was mich wirklich von ihr trennt – ich bin und bleibe Deutscher, Europäer, ob nun durch die Blase hier oder meine identitätsstiftende Lettland-Reise vor zwei, drei Jahren, und verstehe so etwas nicht wirklich. Die Straßenbahnbrücke, neben jener für Autos, mühliche Marschrutkas und schleichende Traktoren, sieht aus wie in Bauarbeiten befindlich – das ist sie nicht; sie wird befahren. Auch die Schienen Richtung Bahnhof, was für Gleise – so eingedellt, zerquetscht, dass überhaupt noch Wagen darauf fahren können… Die Aussicht! Ich genieße die Strecke, sie zeigt mir genau das, was ich will, noch viel mehr wenn ich, wie gestern, neben dem Fahrer sitze. Man schaut auf das wahre usbekische Leben, unverstellt und nur durch diese Scheibe von ihm getrennt, die leider noch so viel mehr symbolisiert… Und abends habe ich keinen Film geschaut – obwohl ich wollte, aber war um halb Sieben zu müde, wollte um Neun ins Bett und habe lieber gelesen. Stimmt nicht – nur im Bett, als es bereits halb Zehn war, habe ich gelesen – und vorher? Nun, es wird wohl ein Geheimnis bleiben, für euch für immer.

Froh sollte ich sein, dass ich vergessen kann, und ruhen kann, ohne immer die Woche im Kopf zu haben, und wenn sie einmal entschwindet, so war sie es nicht wert, verbreitet zu werden; bemitleiden sollte ich die Naturgewalten, Usbeken und alles Unsterbliche um mich herum, mich mit meinem Deutsch-Sein in Usbekistan zufrieden geben, mit meinem sterblichen Ich-Sein und meiner Dekadenz – die den Moment nicht krümmer macht, mich nicht ärmer, während ich Beauvoir und Adorno lese – wie glücklich bin ich, zu vergehen, zu altern – ich bin noch so jung! Es ist kaum zu fassen – nicht ewig flatternd und rasend wie der Wind, der alles zerfährt und immer seine Bahnen zieht, niemals ruht, altert oder zerbricht: „In Kürze würde er sich von neuem eingenistet haben und uns bis zum nächsten Sommer begleiten. Bald würde er von neuem als Sturm über die Ebene brausen, die letzten roten Blätter von den Weinstöcken reißen, die unter ihm sich krümmenden Bäume vollends entlauben, eine entfesselte Kraft ohne Ziel, dazu verurteilt, sich ohne Ende, ohne Hoffnung auf ein Ende zu erschöpfen, des Nachts in einer langen Klage stöhnend, als jammere sie, als beneide sie die schlafenden Menschen, die hinfälligen, vergänglichen Geschöpfe um ihre Möglichkeit des Vergessens, des Friedens: das Privileg zu sterben.“

In diesem Sinne: Hier sind die Bilder, setzt sie zusammen…

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