Einzug der Herbstlichkeit

Langsam kommt die Lust, mehr zu schreiben – als den Blog, Erfahrungen, die festgehalten werden. Ein Roman? Drehbuch? Vielleicht. Warum nicht? Ich habe wieder begonnen, über Kunst nachzudenken, bereits in der Woche zuvor eingeleitet durch die Lektüre, nun zum zweiten Mal, des einführenden Kapitels der Dialektik der Aufklärung, „Begriff der Aufklärung“ und fortgesetzt in der Beschäftigung mit Filmtheorie. Ein sehr schönes Büchlein hatte die Institutsleiterin, Julia, man duzt sich ja im Institut, in ihrem Büroschrank stehen: „Texte zur Poetik des Films“ mit ganz großartigen Beiträgen aus der Frühzeit des Kinos von u.a. Hugo von Hofmannsthal, Alfred Döblin und Kurt Pinthus. Dieses ausgeliehene Exemplar hat in mir langsam, so oft ich eben Zeit zum Denken außerhalb des unmittelbaren Erlebens habe, die bekannten Gedanken wach gerufen, Überlegungen zur Poetik, zu Sprache und Format des Films. Gleichzeitig habe ich zu Beginn der Woche von einem Essaywettbewerb der Leipziger Zeitschrift Edit erfahren, Einsendeschluss 15.12.2015, und plötzlich reiften diesbezüglich in mir Ambitionen… Es bedeutet: In Schüben und sukzessive erwacht mein alter Geist, der von allem Erleben und der Müdigkeit zunächst gelähmt war, wieder und gibt mir ein Gefühl des Künstlertums, zeigt mir diese Ideale auf, welche ich mir in den letzten zwei Jahren aufgebaut habe, gibt mir also freien Mut zum Weitermachen, Weiterdenken. Ja, wenn ich nur frischen Wind in den durch Schule schlaffen Segeln gesucht hätte, dann könnte ich jetzt nach Hause zurückkehren, wenn sich das Erleben dem Geist unterordnet, die Eingewöhnungsphase spürbar dem Gesetzten weicht, der Routine. Ich habe mich für die Radikalkur entschieden, nicht den seichten Weg leichter Veränderung. Selbstverständlich kein Grund, nicht alten Pfaden zu folgen, geistig, denn gerade in den Bereichen der Kunst werden alte sehr schnell zu neuen Wegen und Kreuzungen tun sich auf, weil das Auge wieder sieht, was vorher nur der Körper gespürt hat. Wohin will ich? Das vermag ich nicht zu sagen und besser ist es. Ich lasse mich lenken, werde freilich keinen Roman schreiben in dem Jahr, und wahrscheinlich auch kein Drehbuch – die Zeit, so ist das, rennt und selbst wenn sich die Eindrücke mir in Zukunft nicht mehr aufzwängen werden; ich suche nach ihnen, ich werde gerne arbeiten, weil diese Arbeit Möglichkeiten zeigt und Welten, die ich zuvor nicht erträumt habe, ich werde keine Lust haben, der Zeit hinterher zu rennen und am Ende mit vollem Kopf und platzenden Ideen nach Hause kehren. Zwischendurch wird kaum Freiraum für mehr bleiben als Träumen und Planen. Das ein oder andere Gedicht wird sicher entstehen, die ein oder andere Geschichte, hingekritzelte Visionen, Exposés werde ich mitnehmen von hier, aber ein fertiges Produkt? Ich bezweifle es.

Es ist eine volle Woche gewesen, voll geistiger Stärkung und körperlicher Schwächung, aber vielleicht sage ich das nur aus Willkür, Liebe den Widersprüchen gegenüber. Bemerkenswert in jedem Fall die Temperatur, die montags mit Kälte begann – Die Uhr vor dem Goethe-Institut, auf die ich aus meinem Fenster provozierend hervorragende Sicht habe, zeigt elf Grad an, aber ich glaube ihr nicht. Diesen Sommer, meint Shomansur, der Sekretär der Institutsleitung und mein Gegenüber bei der Arbeit, habe sie auch einmal 64 Grad angezeigt. Vielleicht ist das Gehäuse von der Sonne erwärmt. Man sieht seinen Atem fast, es ist kalt. Abends kann man kaum mit dem Pullover rausgehen und die Füße verlangen nach dicken Socken. Aber auch das legt sich – der Dienstag erwartet mich mit blauem Himmel, voller Sonne und nicht zu kalter Luft. Im Gegenteil – die Frische erweist sich als erholsam, angenehme Kälte auf der Haut; man genießt das Wetter und sieht mit hoffnungsfrohem Blick das Thermometer am Mittwoch auf 22 Grad klettern, ignoriert die Unzuverlässigkeit der Goethe-Uhr, die übrigens Werbung einer Telekommunikationsgesellschaft trägt, und denkt an Sommer. Ein Irrtum, fatalerweise, als der Donnerstagmorgen mit hoch zugezogenem Pullover, ein Glück der mit Kragen, beginnt – sechs Grad sagt die Uhr, und ich laufe abends ein Stück im straßenerleuchteten Dunkel, Hände in den Taschen. Es ist schön, die erste Kälte, als einsamer Spaziergänger neben den Autos und Laternen; heute Nacht soll es Frost geben. Man glaubt es ohne Frage. Doch was am Tag zuvor noch Romantik, Lebenslust und Zuversicht war, wird freitags zunehmend verdrießlicher. Die Temperatur bleibt ähnlich, das Wetter auch, und im Kopf, in den Beinen und den müden Augen macht sich die Achterbahnfahrt der Woche bemerkbar. Wenigstens geht die Heizung ab heute, wobei Elmira doch kürzlich noch meinte, sie starte ihren Dienst – zentral – erst am „01. oder 15. November“. Mir soll es recht sein, das Bett ist warm und der Morgen des Samstag schlägt mich mit einem Himmel solch brutal leuchtenden Blaus, dass es kaum zu begreifen ist. Die Luft über der Haut ist wärmer, die erstmals übergezogene Jacke tags unnötig, verbreitet aber einen zufriedenen Schauer inneren Wohls und von Sicherheit. Der zweite Wetterschock der Woche – heute sitze ich wieder im T-Shirt vor meinem Computer, bei offenem Fenster, selbstverständlich blauem Himmel und wundere mich, warum ich immer noch nicht krank geworden bin. Zugegebenermaßen, die Sonne macht viel aus, und als ich heute Geld wechseln wollte, den Spaziergang zum Basar unternahm, war der Pullover recht am Platz. Etwas durcheinander hat mich das Auf und Ab doch hinterlassen und so stocke ich vor dem Haufen an Notizen, die ich mir für diesen Eintrag gemacht habe. Ich hoffe, ich bekomme sie alle unter einem Hut.

Die Programmabteilung hatte wieder einen Gast eingeladen, Barbara Heinrich aus Berlin mit ihrem Mann Peter Anders. Sie sollte einen Workshop für die zukünftige Direktion der Taschkenter Biennale 2016 halten. Diese Biennale gibt es unregelmäßig seit den Neunzigern und wird vom Staat (wie auch sonst…) getragen. Die Kuratorin und Kunstwissenschaftlerin sollte also den auf internationalem Parkett eher unerfahrenen Künstlern und Kuratoren an sechs Abenden, die dann zu Nachmittagen wurden, Aufbau und Management einer Großausstellung wie z.B. einer Biennale an internationalen Standards nahe bringen. So hatte ich das Vergnügen, allen Sitzungen in Arbeitszeit beizuwohnen und… nun, ich habe eine Vorstellung von der Organisation der zukünftigen Leipzig-Biennale. Ach nein, das Konzept ist ja viel zu mainstream für die Stadt. Außerdem brachte es den Vorteil, dass ich, nachmittags nun kontinuierlich beschäftigt, nicht in die Verlegenheit kam, aus Zeitüberschuss die Kinderfilme weiter zu gucken. Nicht, dass man es mir übel nimmt, aber meine Motivation, „Rettet Raffi[ein Kuscheltier]!“ oder „Rico, Oskar und das Herzgebreche“ zu sehen, hält sich doch in Grenzen. Und ich habe meinen sechsten Wochenendarbeitstag hinter mir.

Arbeit wurde sowieso zunehmend durch Vergnügen ersetzt, die Schleife fängt beim Workshop and und zieht sich im Essen zu. Gleich am Montag kam Julia zur Mittagszeit mit Jacke und Tasche durch mein Büro: Ob ich mitkommen wolle, eine usbekische Regisseurin lade zum Essen ein. Etwas perplex ordnete ich meine Sachen und folgte getrieben. Mal ehrlich, wie soll man da Nein sagen? Kamara Kamalova ist eine 76-jährige usbekische Regisseurin, die beim „Schlingel“ 2014 den Publikumspreis erhielt und mit dem Institut bei unserem Kinder- und Jugendfilmfestival „Shumbola“ zusammengearbeitet hat. Da das Institut irgendwie auch in den Film verstrickt war, lädt sie zum Essen ein – Julia, Ravshan und alle, die mitkommen wollen. Ich will. Am Ende komplettiert die Runde lediglich der „Fahrer“ des Instituts, Zafar, nur vier Jahre älter als ich, der sich ebenso über die plötzlich Gelegenheit freut. Die Wohnung ist in einer guten Gegend, wir hätten kaum mit dem Auto hinfahren müssen. In ihre kleine Wohnung tretend, begrüßt sie uns eifrig und geleitet uns zum reichlich gedeckten Tisch auf dem ausgebauten Balkon, in ein zweites Wohnzimmer verwandelt. Sie zeigte uns ihre Preise, aus Moskau und einige kleinere, die ich vergessen habe (so perplex war ich, noch immer), und ein Foto von ihrem Besuch bei einem Filmfestival im Iran in den Siebzigern… Zu sehen ist der Schah und seine Schahbanu; jawohl, derjenige, welcher das Land kulturell öffnete – die Regisseurin erzählte von Frauen mit tiefen Ausschnitten und Tanz und Trank wie in Hollywood – und welcher von der islamischen Revolution überrollt wurde. Dem Chomeini folgte. Der sich für einen gemäßigten Islam und für eine demokratische, dezentralistische und soziale Gesellschaft aussprach. Freilich hat nicht der Islam daran Schuld, was dann geschah – der Schah wollte seine Gesellschaft in Sphären führen, für die er sie nicht genug vorbereitet hatte. In solchem Moment obsiegen traditionelle Kräfte.

Aber das Essen! Usbekisches Norin (dünne Nudeln mit Rind), Kaviar, Sülze, die Russen so mögen, in Soße eingelegter Wels, phantastisches Rindfleisch, sehr deutsch schmeckend, in dunkler Soße, dazu natürlich Brot und einfacher Salat – als Vorspeise. Anschließend wurde Plov aufgetischt; dazu Saft und usbekischer Weißwein – nicht mein Geschmack, sehr süß, klebrig und mit einigen Umdrehungen, doch nur der Fahrer kam tatsächlich darum herum, zu trinken. Dem Nachdruck dieser Regisseurin war es schwer zu entkommen und nachdem alle beteuerten, sie müssten noch Leute treffen, Wichtiges arbeiten und ich irgendwie übrig blieb, hätte ich um ein Haar noch Wodka trinken müssen – kurz nach 14 Uhr. Spätestens als sie meinte, sie habe noch eine Torte, stöhnten wir und bekamen tatsächlich nur Gebäck zum Nachtisch. Selten, muss ich sagen, habe ich so gut gegessen, ein Festmahl aus dem Nichts, sozusagen, währenddessen ich auch irgendwie nur mit halbem Hirn da war und mit dem anderen immer noch am Schreibtisch saß. Auf dem Rückweg erfuhren wir durch Julias Handy, dass unsere Concept Note, damit der Antrag auf das EU-Projekt, abgelehnt wurde – zu wenig Punkte in gruselig aufgespaltener Tabelle, klassifiziert im Protokoll als „ungenügend“. Schade, aber: Wer hat die Chance, an einem solchen Antrag mitzuarbeiten?

Bezaubernderweise sollte dies nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich an einem gedeckten Mittagstisch gerufen wurde; bereits am nächsten Tag war es wieder soweit. Gong, die Glocke klingt und hechelnd stürzen die Hunde zu Tisch. Ich gebe zu, die Woche war ein wenig sehr dekadent. Barbara Heinrich sollte einige Teile ihres Workshops mit den Ausrichtenden an der Hochschule „Kamoliddin Bekhzod“ für Malerei und Design wiederholen und erfuhr zum Auftakt von Julia, Ravshan und mir offizielle Begleitung. Wie erwartet wurden wir, inklusive dem Übersetzer, ins Direktorenzimmer der Universität eingeladen, auf hohe Stuhle gebeten und bekamen gezuckerten, schwarzen Instantkaffee serviert – aus außerordentlich hübschen Tassen. Das Zimmer selbst, klein in der Fläche, glich ziemlich genau meiner Vorstellung eines sowjetischen Direktorenzimmers und sein Inhaber, witzig, grinsend, wohlgeformt, der eines usbekischen Direktors. Nach dem nun zum zweiten Mal rezipierten Einführungsvortrag über Biennalen wurden wir in einem Schwung vom Direktor zum Essen eingeladen. Mit den Frauen fuhr er in seiner schwarzen Limousine voraus, Zafar folgte mit dem Rest. Ziel: das „Labi Hauz“, in dem wir ein vorbestimmtes Menü bekamen: köstliches, fettigstes Blätterteigbrot, Suppe, Salat, Schaschlik. Highlight dazu: süßer, usbekischer Rotwein – in etwa Traubensaft mit Alkohol, aber ganz fein und ohne eine Spur im Kopfe zu hinterlassen. Wodka blieb aus; der Direktor musste ja selbst noch arbeiten.

Dafür steckte ich später in der Woche meine Nase zu tief in ein… sagen wir, Getränkegeschäft, um einen Blick auf die Preise zu werfen. Mit großem Hallo vonseiten der Herren, die drinnen saßen, musste ich gleich, wie es immer so ist, Auskunft geben über mich, mein Leben… Das kommt mir schon normal vor und angenehmer ist, man erzählt es Leuten auf der Straße als den Polizisten in der Metro. Ich sage ihnen, inzwischen zum dritten Mal, ich sei 23. Und immer noch meinten sie, der Bart mache halt älter. Am Ende muss ich das Angebot, einen der Wodkas zu probieren ablehen: Es ist mittags und ein Probeschluck sind 50 ml. Vielleicht steige ich demnächst auf 25 Jahre um und gebe mich als abgeschlossener Student der Religionswissenschaften aus.

Apropos Alkohol – der Leipziger Allasch, den ich als Mitbringsel anbieten wollte, und der kleine Rigas Balzams, tatsächlich eine Flasche für Besonderes, liegen unangetastet in meinem Koffer und warten noch. Keine Sorge, ich trinke nicht viel, nur bei Gelegenheit – solche bietet sich ab und an – so auch diese Woche am Freitag, als ich vor dem Abschiedsessen (s.u.) der Gäste im Hotel Uzbekistan warten sollte, während sie eine Stunde hatten, sich fit zu machen. Zum Zeitvertreib empfahlen sie mir die kleine Bar im obersten, 27., Stock, abgesondert vom Restaurant, von der aus man einen weiten Blick über den Amir-Temur-Platz hat. Ansonsten verbrachte ich die Zeit mit der einsteigenden Lektüre des Adorno-Aufsatzes „Der Essay als Form“, wobei ich nicht lange brauchte zu kapieren, dass damit natürlich der wissenschaftliche und nicht literarische Essay gemeint ist. Spannend trotzdem, wie Adorno den Essay als Bewusstsein gegen die, wie er es nennt, „positivistische“ Tendenz der sachlichen Welterklärung setzt. Ich habe seitdem nicht weiter gelesen. Der Aufstieg im Fahrstuhl in den 26. Stock ging schnell voran – alles sieht sauber und ordentlich aus, mir gefällt das Hotel, entgegen den vom Reiseführer mit dem Wort „Ostalgie“ geschürten Erwartungen. Vielleicht ist das auch schon wieder Retro. Eine Treppe muss man noch per Fuß nehmen, bis dorthin reicht der Fahrstuhl nicht. Hinter einer zahnarztweißen Tür verbirgt sich ein Vorraum, ich frage mich, wo das Restaurant ist und störe kurz ein Brautpaar, das sich gegen jene Tür photografieren lassen will, aus der ich gerade trete. Ich entschuldige mich, gehe einfach geradeaus – und gelange prompt an die schwach beleuchtete Bar. Der Mensch, einsam, einige Wodkas und Weine, Säfte stehen herum – er schaut auf den Fernseher, amerikanische Action. Ich störe ihn beim Gucken und frage nach usbekischem Wodka – verschiedene für einen Euro. Ich nehme den neuen. Nicht besonders, aber okay. Bei so viel Fett, das ich hier zu mir nehme, könnte ich ab und zu einen vertragen… Mit Blick auf den Amir-Temur-Platz, den Kreisverkehr mit seinen bis zu acht Spuren. Auf diesem Ring kann jeder irgendwie fahren; hier ist genügend Platz für alle. Den Straßen nach vorne folgend, steht in der Ferne das weiße Senatsgebäude, fast europäisch oder amerikanisch-klassizistisch, und nicht weit davon die goldene Weltkugel am Unabhängigkeitsplatz, auf der das einzig verzeichnete Land ein überdimensioniertes Usbekistan ist. Die Selbstsicherheit, sich so zu präsentieren, haben sie. Und immer ist noch genug Platz, der besuchenden Nation zu schmeicheln. So war wohl dieses Wochenende eine Delegation japanischer Politiker zu einem Staatsbesuch angereist – davon jedenfalls künden die im Duo gehängten Fahnen Usbekistans und Japans, die nun alle zehn Meter die großen Straßen der Stadt zieren. Hinweisschilder auf zentrale Orte und Wege wurden aufgehängt; überall, wo es wichtig zu sehen ist, werden Reparaturen durchgeführt – auf meinem Weg in die Stadt sehe ich Arbeiter an einer Ampel, an einem Zaun auf dem Mittelstreifen und an Laternen. Auch der Alaiskiy-Basar wurde in den letzten Tagen renoviert; ein Tross an Mensch und Maschinen stand herum und bohrte, hämmerte, schweißte – auch für den japanischen Besuch, jedenfalls nach Elmiras Aussage. Es erinnert mich an Lettland, als mir erzählt wurde, wie in den Neunzigern die Straße zum Flughafen durch den maroden Rigaer Osten mitsamt den anliegenden Fassaden renoviert wurde, weil der damalige amerikanische Präsident den Staat besuchen kam. Während ringsum der Zerfall sich fortsetzt.

Apropos: Der Kurs des usbekischen Sum ist bekannt dafür, je nach Baumwollernte oder Dollarkurs, erheblich zu schwanken. Am Samstag bekam man für einen Euro über 6000 Sum – ein Anstieg von 10% in einer Woche, gefolgt von einer leichten Krise im Goethe-Institut. Wie man noch seine Miete bezahlen solle… Momentan also drückt die Regierung ihren „offiziellen“ Kurs also um eine satte Hälfte gegenüber dem realem Wechselkurs. Jeder Ausländer freut sich, weil er für sein Geld mehr kaufen kann und jeder Einheimische wird bleich, weil ein hoher Kurs die Herabwertung seines Geldes bedeutet – an unserer Pinnwand in der zweiten Etage des Instituts hat jemand den Kurs in A4 aufgehängt. Das Gehalt der Mitarbeiter wird grundsätzlich in Sum ausgezahlt, aber in Euro berechnet. Zur Umrechnung muss der offizielle Kurs herhalten. Je höher die Differenz zum Schwarzmarkt, desto weniger der eigentliche Wert des ausgezahlten Geldes. Ein Beispiel: Bei 6000 Sum pro Euro verdient der Sekretär des Goethe-Instituts immer noch seine 700 € im Monat – nach offiziellem, künstlichen Kurs. Er bekommt es in 3000 Sum pro Euro – die Hälfte des realen Kurses. Praktisch ist sein Geld soviel wert wie mein Freiwilligengehalt, 350 €. Und ich bekomme noch Kindergeld. Allein mein staatlicher – deutscher – Anspruch macht mich reicher als den Sekretär der Institutsleitung – selbst, wenn der Kurs nicht so hoch ist, jetzt umso mehr. Das ist unglaublich und macht demütig vor den Leuten.

Nach einem so bedauernswerten Thema, die kritische Seite, geht es nun weiter mit Beiläufigem, das ich nirgendwo untergebracht habe: Ich bin – Lebenstraum – in einem Lada gefahren, Elmira lässt ihre Wohnung – nicht die, in der wir leben, sondern die gegenüber, die irgendwie auch ihr gehört – renovieren (ich höre immer, wie sie sich mit den Arbeitern streitet; ein Temperament fährt die auf…) und bis einschließlich Samstag hatten wir wieder nur kaltes Wasser, weil der neue Hahn in der Küche unbedingt bei heißem Wasser stecken bleiben musste und nicht ausgehen wollte. Weswegen Alisher das Warmwasser kurzerhand abdrehte. So blieb es eine Woche und aus fünf werden elf Kaltduschen – ich fühle mich wie ein Held. Ach ja, und ich war, die Einladung von Kamara ausgenommen, dreimal im Restaurant in dieser Woche. Zweimal eingeladen, das dritte Mal eher gefragt, verwirrt, mitgetapst und landete dann im Restaurant, wo ich gar nicht hinwollte. So was passiert halt, dann muss das Budget für einen kurzen Augenblick herhalten. Zweimal eingeladen, sagte ich – Bekhzod, zum ersten. Das nächste Mal am Freitagabend, zum Abschluss des Biennale-Workshops. In einem Etablissment, das Carlsberg-Bier serviert; gewohnt dekadent also. Anwesend drei der besonders aktiven Teilnehmerinnen des Workshops, welche sowohl Barbara Heinrich als auch das Institut seit einiger Zeit kennen, sie selbst mit ihrem Künstler-Mann Peter Anders, Ravshan, Julia, ich als Delegation des Instituts und: „einer der wichtigen usbekischen Künstler“. Weißbärtig, lange Haare, Witz und Ernst zugleich im Gesicht, gesunde Figur – ihm wurde seit wohl schon einiger Zeit ein Reiseverbot verhängt; im Inland darf er nicht ausstellen. Ein Dorn im Auge der hiesigen lupenreinen Demokratie also. Und was er erzählte! Von einer Ausstellung in Berlin 2011, der einige Tage mit „viel zu trinken und Marihuana“ folgten, von seiner letzten längeren Reise, nach New York, irgendetwas mit 50 Jahre Woodstock und eine Fahrt, wenn ich es richtig verstanden habe, per Auto nach L.A.

Den Anfang machte „warmer Salat“, ein Nudelgericht, auf den kalter Salat mit Tomate und Zwiebeln folgte, daneben eine Brotauswahl. Anschließend wurde eine Palette ausgewählter appetizers serviert, eine Zusammenstellung an Manti (kleine Teigtaschen), eine Pfanne überbackener Pilze, und schließlich als Hauptspeisen je eine Pfanne Tofu und in Mehl gelegtes, gebratenes Rind, sowie Hühnerfrikadellen und kleine Hähnchenkeulen. Da jedes Gericht zweimal gebracht wurde, kamen wir zehn Leute nicht annähernd durch. Es blieb ein angefressener Berg Essen, was mal wenigstens ein Tunnel hätte werden wollen, und ein dicker Bauch – der Wodka zum Verdauen blieb aus. Am Ende, müde wie ich war, konnte ich nicht mehr als dem usbekischen Künstler bei seinem rauschenden Monolog zuhören, an die stille Künstlerin, starre Zuhörerin, neben mir gerichtet, der wie ein Wasserfall aus seinem Bart blubberte, dabei immerwährend die dröhnende Kulisse des Restaurants, Feierlaune, Freitag Abend, offene Räume im Hintergrund… Ein wenig kalt wurde es auch, der Nebenraum war wärmer. Kaum mehr als Wörter konnte ich mitnehmen von dem, was der Alte so anscheinend Schönes zu erzählen hatte, manchmal blickte er mich direkt an, manchmal verzog er das Gesicht zu einem Lächeln; dann funkelten seine Augen und er, sicherlich, erzählte von Widerstand und einem Leben, das er hatte, das er liebt. Es gibt Menschen, solch einer war er, bei denen jedes Wort Bedeutung gewinnt und schwer wirkt, ganz ohne dass dies die Intention des Redenden darstellt, ganz unabhängig vom Verständnis der Wörter, Symbole, einfach bedeutend – Erfahrungen, Erzählungen über Kunst und die Welt, und gerne hätte ich das verstanden, was er erzählte, mit diesem Lächeln immer wieder, das ihn irgendwie darüber stehen ließ. Keine Bekümmerung darüber, dass er nicht zu seinen Ausstellungen im Ausland reisen und das Inland ihn nicht sehen darf. Ein junges Kunstwerk von ihm, das demnächst in Berlin zu sehen sein wird, ist ein Teppich aus politischen Witzen. Erkenntnis der Woche: Man trifft hier verdammt viele interessante Leute.

Für die Eindrücke sind neun Stunden Schlaf zu wenig. In der nächsten Nacht, der zu heute, schlief ich fast zwölf, und nun ist gut. Nur nicht hier, auf dem Blog; ein paar Zeilen bleiben mir noch – so abrupt möchte ich niemanden entlassen. Es ist vielleicht sogar Zeit, einmal zu schweigen, ohne danach gleich mit doppeltem Aufgebot zurückzukehren. Wer weiß, was die Tage bringen – und wie schnell sie vergehen; wie viel Zeit dann noch bleibt. Es ist vielleicht illusorisch, eine Woche zu schweigen – noch, denn noch lohnt es sich nicht.

Zur Werkzeugleiste springen