Arbeit, Müh, Taschkent (2)

Nun ist es Oktober. Ereignisse aus der Vergangenheit kommen plötzlich hoch – am 13.10.2014 habe ich meine Fahrprüfung bestanden, am 18. sind wir in die USA gereist – und das ist jetzt ein Jahr her? Dinge werden Vergangenheit, nehmen Abstand, die eben noch so lebendig und nah vor meinen Augen flackerten – und wenn ich daran denke, wie dieser Moment, dieses Taschkent, bald auch nur Schatten und Erinnerung sein wird… Lebenslange Prägung, aber was einmal war, wird nicht wieder. Immer diese Müdigkeit, die mich vom Schreiben abhält, oder es zu einem Kampf gegen alle Worte, die nicht kommen wollen, gegen alle leeren Zeilen, macht… Dabei ist es schon das einzige, was ich außerhalb des Instituts mache – Blog schreiben.

Hier sitze ich, sowjetische Betonschönheiten vor Augen, Riesenhaftigkeit, Unheimlichkeit, schaue auf die Welt und denke über die Schnelllebigkeit der Tage nach. Diese Woche ist viel passiert – und viel vorbeigegangen. Samstag und Sonntag habe ich mit kleinen Ausflügen und mit dem Schreiben verbracht – Ausflüge in das Taschkent, das ich noch nicht kannte, verborgenere Winkel als die Sehenswürdigkeiten und üblichen Checklistenziele, welche von den Touristengruppen innerhalb eines Tages abgewandert werden. Habe mir Schuhe gekauft. Alisher meinte, sie reichten nicht für den Winter und ja, es sind nicht mehr als Halbschuhe. Ich bin optimistisch. Wenn nicht so viel Schnee fällt; denn Kälte lässt sich aushalten. Winterstiefel habe ich zu Hause, will ich nicht neu kaufen müssen. Vor acht Jahren, meinte Elmira, gab es einmal viel Schnee. Letztes Jahr dagegen nur für einige Tage – hier in Taschkent zumindest. Wer weiß, wie es in Ulan-Bator sein wird, wenn ich im November dorthin reisen werde – das Zwischenseminar von kulturweit wird dort stattfinden und ich rechne mit Kälte, Schnee vielleicht, ja – und die Reise selbst, über die Berge, dann Bischkek in Kirgistan. Ich hoffe, sie reichen und wenn nicht, muss ich mir andere besorgen, auch das wird mein Budget nicht umbringen. In den ersten drei Wochen habe ich durchschnittlich zwei Euro pro Tag ausgegeben – das ändert sich jetzt, wo der Alltag näher rückt, und ich weiß, dass ich nicht sparen muss. Man verliert diese vielen Scheine genauso schnell, wie man mit ihnen überschüttet wird; und bei weitem nicht alles ist billig hier – man kann aufpassen, dann sind zwei Euro pro Tag genug, exklusive besonderer Ausgaben, Shoppingtage etc. Die zwei Euro übrigens schließen das Mittagessen ein – nicht jeden Tag esse ich auswärts, bei so viel Außerregulärem, bisher drei Mal pro Woche. Ab knapp über einem Euro kann man beim „Tartaren“ essen – Suppe und Brot. Eine volle Mahlzeit mit genügend Auswahlmöglichkeit: Pelmeni, Borschtsch, Lagman, Lapscha oder Tefteli – bis auf Letzteres habe ich alle probiert; Lagman,dicke Nudelsuppe mit Fleisch und Gemüse, und Pelmeni, in Hühnerbrühe, sind meine Favoriten. In den Tagen der EU-Arbeit haben wir dagegen den Schnellimbiss vorgezogen: Somsa; 1500 Sum das Stück (schwarz: 5000 Sum = ein Euro), zwei sind eine volle Mahlzeit. Alternativ wird auf dem Alaiskiy noch Lavash als Fast Food angeboten, ein gerolltes Fladenbrot mit Fleisch vom Dönerspieß, Chips (!) und Gemüse – ist aber mit 7000 Sum teuer. Vielleicht war’s nur Ausländerpreis.

Um noch einmal den Bogen zum Beginn der Woche zu schlagen, jenem Montag, an dem ich in der „Delegation of the European…“-und-so-weiter war, hat mich die Institutsleiterin gleich in ihrem Auto mitgenommen – weil meine Wohnung praktischerweise auf dem Weg zu ihrer liegt. Im Zentrum der Neustadt, plötzlich, sahen wir vor uns einen Tross unheimlicher Fahrzeuge einbiegen, den sie dann überholte: Zwei Wagen verschlagenen Eisens, selbst die Räder scheinen aus Stahl. Bucklig, brutal, wie sie die Straße entlang rollen, verhalten aggressiv und unruhig: Braun in Braun, Metall an Metall mit dicken Nieten. Vorneweg Polizeischutz mit Sirene, hintan ein unauffällig dunkelgrünes, wahrscheinlich sowjetisches, wie die Wagen, Äquivalent zum Militär-Jeep mit drei zivil gekleideten Männern an Bord. Warum ich die Männer erwähne? Es ist eine Mischung aus Unsinn und Gefährlichkeit, diese Polizeipräsenz hier – die Männer müssten sich nicht in Zivil kleiden, ihre Zugehörigkeit zu dem blaulichtbegleiteten Geheimnistransport ist evident. Dass sie es trotzdem tun, wirkt unheimlich. Genauso sinnentleert sind jene Taschenkontrollen an den Zugängen zur Metro, die manchmal auch Unterführungen sind, die ich daher benutzen muss: Der Polizist fordert mich auf, meinen Rucksack zu öffnen. Ich mache das größte Fach auf, er sieht hinein und entdeckt einen Pullover, streift mit seinem Piepser einmal unten am Boden entlang, es piept und ich darf gehen. Polizeikontrollen an Parkplatzzufahrten: Man wird aufgefordert, die Heckklappe zu öffnen, der Beamte sieht einen Koffer und schließt den Deckel. Solche Aktionen sind ermüdend – man könnte alles in die Metro schmuggeln, solange es klein genug ist unter einem Pullover zu verschwinden und evtl. noch unten gepolstert, damit der Piepser nicht anspringt. Wenn man eine Bombe auf einen Parkplatz schmuggeln will, packt man sie in einen Koffer. Das sind Alltäglichkeiten, deren Sinnlosigkeit ihnen einen Grad von Gefährlichkeit verpasst – denn sinnlos heißt in dem Kontext Willkür. Es ist eine Demonstration von Macht, und dem Gefühl der Unterlegenheit entkommt man nicht – nicht jedenfalls, wenn man am öffentlichen Leben teilnimmt. Es wirkt ein wenig wie „Wir könnten euch jederzeit festnehmen.“ – eine Drohmaßnahme. Wie die Gerüchte, die mir Alisher erzählt hat: in Chilonzor, einem Taschkenter Bezirk, würden jetzt Menschen, die sich nicht ausweisen können, von der Straße weg festgenommen, um die Sicherheit des turkmenischen Präsidenten, der zur Zeit zu Besuch ist und in der Nähe weilt, zu garantieren. Ähnlich sieht dem die Sperrung von Skype. Tja, funktioniert eben gerade nicht im Staate Usbekistan. Aus technischen Gründen, versteht sich. Und was ist mit der seltsamen Verkündigung Elmiras letzten Sonntag: Montag bis Freitag nur kaltes Wasser. Warum? Der Staat oder die Stadt stellt den Bezirken fünf Tage lang das Warmwasser ab, um „für den Winter zu sparen“. Aha. Und am Ende ließ Alisher auf zwei Kanälen das Wasser laufen, fast eine Stunde lang. „Um die Rohre zu reinigen“, die jetzt fünf Tage nicht durchflossen worden sind. Aha. Immerhin, ich habe bemerkt: Eiskalt duschen ist grundsätzlich machbar. In derselben Zeit waren es draußen konstant über 30 Grad. Typisch Oktober.

Nach der stressigen Zeit mit dem EU-Antrag hatte ich mich dazu entschieden, mir am Dienstag ausgleichend frei zu nehmen und mich wieder etwas zu bewegen. Der Ausflug zum Chorsu-Basar hatte mir gut gefallen und nun wollte ich die alte Bausubstanz Taschkents genauer kennen lernen: mein Ziel war der Hast-Imam-Komplex im Norden der Altstadt, ein Platz, auf dem noch drei historische Bauten stehen. Mit der Metro zu fahren, ist immer noch nervig: Einer der Polizisten fragte mich diesmal, ob ich verheiratet bin. U menja zheny net. Und warum nicht? Auf dem Rückweg auch: Es gibt nichts Schöneres als ein Plauderstündchen mit Polizisten im Dienst. Ich will es ihnen nicht wirklich übel nehmen – auf den Basaren bin ich immerhin auf ähnliches Interesse bei Fleischhändlern, Passanten gestoßen. Ich wollte nicht wieder beim Markt beginnen, also fuhr ich mit der Metro eine Station weiter: Tinchlik. Aus den Kellern ans grelle Tageslicht stolpernd, erstmal stehen bleiben und die Orientierungslosigkeit abbauen. Sie vermindert sich nicht, auch nicht nach einem Blick in den Reiseführer, der diese Straßen hier nicht kennt – sie sind außerhalb seines Blickwinkels. Ich bin ja spontan und lauflustig, also marschiere ich in die beste Richtung los – eine lange, breite Straße mit Mittelstreifen, aus dem diese hohen Laternen empor ragen, die immer ein bisschen an Auswärts erinnern. Ich gehe auf der linken Seite, große Betonplatten, baumgesäumt wie die andere, an einem militärisch bewachten Schuppen mit herumstehenden LKWs vorbei, die sich bald verbreitet und in eine gewaltige Ebene öffnet – rechts die Straße, welche sich immer weiter von mir entfernt, je weiter ich gehe, dort vorne irgendwo eine Kreuzung, man sieht Plattenbauten in der Ferne, und eine Werbetafel. Zwischen mir und der Straße aufgeschüttete, umgegrabene Erde – ein Arbeiter schippt den ersten Haufen ab. Der Gehweg wird zu einer kleinen, asphaltierten Straße, deren linken Rand Schaschlik-Buden säumen; rechts bleibt der Schutt. Erst als ich die Querstraße erreiche, die sich weiter Richtung rechts bei den Plattenbauten mit jener anderen, der ich gefolgt bin, kreuzt, steht rechts ein Marktstand, der Melonen und Kürbisse anbietet – riesige Exemplare. Links kleine Läden; ich biege in diese Richtung ab, wo es am belebtesten aussieht – und erreiche sobald einen kleinen Markt: Brot, Schaschlik, ein wenig Gemüse und Obst. Ich trete auf das Gelände, schlendernd, hätte fast Lust, Brot zu kaufen, ohne wirklich Hunger zu verspüren, nehme links das kleine Tor in diese Gasse an Lehmhäusern, Schlagschatten – alles beige hier, spannend. Der Schatten macht das Foto kaputt, also gehe ich tiefer hinein, neugierig. Einige Mete weiter nun doch: rechts in einem dunklen Loch bäckt ein Pärchen Brot in einem kleine Ofen, um es draußen zum Verkauf zu stellen, in einer menschenleeren Gasse. Die beiden sind mir sympathisch und ich würde sie gerne unterstützen – ich schaue hinein, das ungezwungene Lächeln des Mannes überzeugt mich vollends. Sie sucht mir ein besonders gut aussehendes Stück heraus – für 1000 Sum, das fast zu heiß zum Anfassen ist. Zum Glück gibt es ja diese schwarzen Plastiktüten. Ein Drittel des Preises vom Brot auf dem Alaiskiy und geschmacklich eines der besten – ich überlege, ob ich den Weg noch einmal auf mich nehme, nur für dieses Brot, das ich verzehre, während ich die Einfachheit bestaune, die eintönigen Oberflächen, die schlechte Straße, fast menschenleer, viele sind sicher arbeiten, einige Handwerker auf den Dächern. Ich gehöre nicht hierher, fühle mich fremd, so mit meinem Rucksack, meiner Kameratasche, in Hemd mit Goethe-Kuli in der Brusttasche. Westler. Ich merke, wie die Situationen meine Kameras überfordern – die Lehmhäuser, „Slums“ – das ist keine seichte Touristenfotografie; ich sehe das Leben selbst, welches mehr fordert als rasch gescannte Pixel, den Blick eines Amateurs oder schöne Linien und Formen – das hier abzubilden, müsste ein Profi ans Werk und ich, leider, muss vor der Riesenhaftigkeit dieser Erde passen. Wie eine Reise in eine andere Welt hat sich das ausgenommen – Faszination pur, die ich dank der Leere beinahe ungestört auskosten konnte, ohne Scham, Hektik – ohne das Gefühl, ich müsste hier dringend raus. Ich will hier raus, aber noch lasse ich alles auf mich wirken, weil es so stark ist. Ich stelle mir das Leben hier vor und fühle mich reich und ignorant. Irgendwann bin ich wieder auf einer Straße, habe das ärmliche Viertel verlassen und denke mir, was ich dann zu solchen in Sierra Leone, Botswana, Indien sagen würde – man muss nicht immer gleich das Extrem sehen. Ein Junge in Schuluniform läuft zu mir vor, sagt etwas auf Usbekisch und als ich meine, Ja ne ponimaju, rennt er zurück zu seinen zwei Kumpels. Nacheinander kommen beide in der gleichen Art zu mir, laufen neben mir her, sagen aber nichts. Mir macht das nichts; bald biege ich an einer großen Kreuzung links ab, da sind sie schon nicht mehr hinter mir. Ich komme an barock nachempfundenen Gebäuden mit davor gedrungener Menschenmasse vorbei und wundere mich. Ich bin lange genug gelaufen, meine Schuhe sind nicht die besten und brauche eine Art Pause – schon fliegen die Eindrücke eher mechanisch an mir vorbei – was auch der Eindrucksvielfalt in dem Viertel zuvor geschuldet sein mag. Jedenfalls marschiere ich zur nächsten Bushaltestelle, die nicht lange auf sich warten lässt und nehme den erstbesten Kleinbus, auf dem „Chorsu“ steht – denn da wollte ich ja eigentlich hin, zum Hast-Imam-Komplex. Zuerst fand sich kein Sitzplatz für mich, doch die Fahrt sollte dauern und ich konnte bald etwas ruhen. Denn der Bus fuhr an sich, wie ich später bemerken sollte, ein Stückchen in die entgegengesetzte Richtung, wendete und fuhr dann Richtung Basar – nicht direkt, sondern mit Umweg: einmal komplett durch die Bo’ston-Mahalla. Mahallas sind Wohngebiete, Viertel, die eine eigene administrative Struktur besitzen und ziemlich verbreitet in Taschkent – so lassen sich Dinge auch einfacher kontrollieren… Also einmal durch enge Straßen, enge Kurven, unasphaltiert, abenteuerlicher Fahrstil des Fahrers, bis wir genau dort wieder herauskommen, wo wir eingebogen sind. Die Straße, sehe ich später, ist genau jene, die sich schon von der Wohnung, in der ich lebe, bis zum Basar zieht – und anscheinend noch ein ganzes Stück Richtung Norden geht. Vorbei an der Metro Tinchlik (ein Rechteck!), an schicken Kleidungsgeschäften, Juwellieren und mehreren (!) Supermärkten (für einen von denen bekam ich Tage darauf an der Haltestelle des Alaiskiy Werbung in die Hand gedrückt) vorbei bis zum Südrand des Basars, an der Kukeldash-Medrese. Mein Ziel liegt nördlich des Trubels, ich schätze aber den Südrand als Orientierungspunkt. Also einmal quer über das Treiben und Kaufen, mit kurzem Zwischenhalt nur auf der Toilette. Verwirrt, am Nordrand, stand ich nun, den Reiseführer in der Hand, die Realität vor Augen, und fragte mich, wo jene Straßen aus dem Buch hier zu finden seien. Da Zeit war, nur die Überlegung nicht, folgte ich einfach dem Weg, um ein grünanlagenumführtes Gebäude mit kreisrundem Grundriss und mit der nur englischsprachigen Aufschrift „Ministry for Public Education of the Republic of Uzbekistan“ zu entdecken. Die Treppen nach oben konnte man besteigen – ein Blick über Taschkent! Der nicht im Reiseführer steht und kostenfrei ist! Der Blick öffnete sich über den riesigen Chorsu-Basar, den Dunst, die Stadt, und tatsächlich, Richtung Norden, konnte ich die Minarette einer Moschee im typisch alten, beige gekachelten Stil entdecken – und obwohl mir der Reiseführer immer noch nicht weiterhelfen konnte, hatte ich nun eine Richtung. Eine Frau sprach mich an, interessiert, was ich lese – den Reiseführer, was heißt Reiseführer auf Russisch? – fragte mich ein wenig aus und am Ende bedankte sie sich für das Gespräch. Was für Aussichten als Europäer, so gehuldigt zu werden! Und ich denke wieder an das Viertel, das ich durchschritten habe. Ich verlasse den Turm und schlage jene Richtung ein, die mir mein Blick von oben diktiert. Laufe an einem neousbekischen Bauwerk vorbei, dahinter ein älteres, wieder ein ähnlich armes Viertel, ich überlege hinein zu gehen, tue es nicht. Die nächste Querstraße erlaubt den Blick nach links auf die Minarette, die ich gesehen habe, und ich freue mich, dass ich mich nicht verlaufen habe. Folge dem Ruf der Türme, große Betonplatten, auf denen ich gehe, hohe Bäume, aber kaum Schatten. Rechts reichlich verzierte, futuristische Plattenbauten. Irgendwann – endlich – komme ich an: Der Hast-Imam-Komplex ist ein weiter, neu angelegter Platz mit drei historischen Gebäuden – ein begehbares (wahrscheinlich mit Eintritt) Bauwerk in der Mitte, an den Seiten hier die Moschee – gewaltig – dort die Medrese Barak Chan. In ihr wird allerlei Kunsthandwerk verkauft: Koranständer, Holzschatullen, Keramik und Porzellan, Wasserpfeifen, Tonfiguren, Gemälde, Wandteller – schick, aber teuer. Den Rückweg trete ich, schon etwas zerrupft, tatsächlich durch das Viertel an, das mir aufgefallen war. Der Eindruck, den es hinterlässt, ist weniger stark als der des ersten, vermutlich auch meiner schwindenden Aufmerksamkeit, Kapazität mitzudenken, geschuldet. Mit noch mehr Eindrücken, Ballast, muss ich mich dringend setzen und finde bei oben genanntem Rundbau, im Rücken den Basar, einen erhöhten Treppenabsatz im Schatten. Zehn Minuten sitze ich da, den Reiseführer in der Hand, und praktiziere wohl so etwas wie erholsamen Wachschlaf – gelesen habe ich in der Zeit jedenfalls nicht. Auf dem gegenüberliegenden Absatz sitzt ein Mann im Anzug und telefoniert leise auf Russisch. Als ich irgendwann bemerke, dass ich trotz des Buches in der Hand nicht lese oder mir diese aufgeschlagene Karte ansehe, schlage ich es zu und mache mich wieder auf, bereits deutlich frischer – wie viel zehn Minuten Sitzen (im Schatten!) ausmachen; es ist erstaunlich. Mein Weg führt mich durch den Basar zur Metrostation; ich kaufe auf dem Weg fast ein kleines Tuch und tatsächlich grünen Tee und habe anscheinend noch genug Energie, nur bis zum Supermarkt zu fahren und den 15-minütigen Rückweg mit neun Litern Wasser auf dem Arm anzutreten. So werden 20 draus. Das erste Mal koche ich, in der Wohnung angekommen, für mich selbst: ganz einfache Tomatensuppe mit vielen Kräutern und fühle mich gleich viel wohler. Wie jeden Tag falle ich abends erschöpft ins Bett, stehe am nächsten Tag aber deutlich erschöpfter auf.

Andere Ausflüge führte ich am Wochenende durch: Samstag einfach eine mit dem Schuhe-Kaufen verbundene Wanderung entlang des Kanals Anhor, der die Stadt durchzieht, am Sonntag eine aufregende Exkursion an den südöstlichen Rand Taschkents, wo die Ausfallstraße weiter ins Ferganatal führt, zum Qoyliq-Basar. Erneut packt mich gleich die Fahrt – diesmal in der Marschrutka, diesen Gefährten, in denen man fast Platzangst bekommt, mit dem Rucksack auf dem Schoß, im vollen Auto, dazu Kinder, die keinen extra Platz bekommen… Ich meine aber die Vorstadt, Häuser, Zäune, aufgeplatzte Straßen, die Elektrischka (Vorstadtbahn), deren Gleise die Straße noch huckliger und zerfurchter machen; alles sieht alt aus; ich fühle mich in die Achtziger hineinversetzt. Tatsächlich scheint die Hälfte der Autos aus dieser Zeit zu stammen – oder aus einer noch früheren. Die Menschen, Läden sehen aus, wie in der Zeit stehen geblieben. Jene Chevrolets, die auch herumfahren, wirken selbst wie im falschen Film und man ärgert sich ein bisschen über die eingeschränkte Sicht aus den Marschrutka-Fenstern. Auch Qoyliq selbst, bzw. der zentrale Ausgangspunkt zahlloser Marschrutkas bei Qoyliq kommt wie eine Baustelle daher. Die Marschrutka nimmt die Abfahrt, nach rechts und über loses Geröll, Sand, wie ein aufgerissener und nicht wieder zugeteerter Fahrweg, zu den Überdachungen, wo sie anhält und ihre Fahrgäste entlädt. Ich sehe mich um, etwas perplex. Ein Chaos ist das hier! Nicht nur unter den Dächern, auch weiter vorne parken kleine Busse, Marschrutkas, alle durcheinander, wo eben Platz ist… Ich gehe ein Stückchen nach vorne, habe keine Ahnung, wo ich bin und wo der Basar ist, da tauchen auf der anderen Seite der Querstraße, welche von jener nach Fergana brückenartig überschlagen wird, hohe Hallen auf, fast wie ein ausgebrannter Jugendstil-Bahnhof, auf denen in großen, grünen Lettern „Qoyliq bazari“ zu lesen ist. Ein wenig taumle ich zwischen den quer stehenden Bussen und Autos auf dem dreckigen Sandboden umher, vielleicht ist es inzwischen auch Beton. Ich gucke mich um und es dauert, bis ich die Unterführung entdecke, direkt an der Querstraße, verstellt von weißen, hohen Fahrzeugen. Ich bin froh, dem Gerammel und Chaos des Busparkplatzes entkommen zu sein, denn die Unterführung ist leerer. Doch der Basar an sich, muss ich schnell erkennen, ganz und gar nicht. Wenn Chorsu der große Bruder ist – weitläufig, riesenhaft, mächtig, stolz und unerbittert – dann ist Qoyliq der kleine – auch gewaltig in Größe und Vielfalt, aber eng, unaufgeräumt, rasant und fluchend, dreckig – ein großartiges Terrain zum Bestaunen der Fremdheit. Und eines, vor dem man sich als Westler gerne abschottet und ein wenig froh ist, dort weg zu sein. Hier dominieren die Lebensmittel, Pflanzen gibt es nur wenige, Souvenirs und Handwerkskunst fast keine, und umringt wird die große Halle von kleinen Läden: meist Imbisse oder drogerieartige Geschäftchen. Hier ist vieles günstig zu haben, am Ende gehe ich mit Keksen, getrockneten Aprikosen (köstlich!), Zahnpasta, Lepjoschka und drei Granatäpfeln, nachdem Elmira gesagt hat, sie habe schon seit Jahren keine mehr gekauft, weil sie so teuer seien. Zugegeben, 50 Cent pro Stück scheint nicht wirklich teuer, aber dieses Jahr war die Ernte schlecht und, ehrlich gesagt, das sieht man den Früchten auch an. Gegessen haben wir sie noch nicht, der Granatapfel ist eine hier sehr präsente Frucht. Die getrockneten Schalen, sagt Elmira, seien gut gegen Durchfall, wenn sie als Tee aufbereitet werden. Wie gesagt, ich war froh, den Basar verlassen zu können, nach gut zwei Stunden Lärm, Gedränge, rohen Fleisches und lebendigen Fischen, habe mir aber dennoch vorgenommen, zurückzukommen – um Gewürze zu kaufen, noch einmal dieses Chaos auszukosten, bevor ich es in Deutschland nie wieder sehen werde – ein bisschen die Hirnmasse dehnen, die Reize überfordern, bis ich dazu die Gelegenheit nicht mehr haben werde. Und auch hier gilt: Sicher gibt es schlimmere Basare in Südasien, Südamerika, aber immer nur relativ zu dem, was sein könnte, zu denken, halte ich für keine besonders schlaue Sache. Ich schätze mich glücklich, dieses Chaos hier kennen zu lernen und wer mir von mehr Chaos erzählt, bitteschön. Dieses hier ist mir Herausforderung genug. Als abends Elmira und Alisher nach Hause kommen, stelle ich fest, dass ich gar nicht den ganzen Basar gesehen habe – hinter der Kreuzung geht es weiter: Kleidung, Werkzeuge und „für Renovierung“. Ein Grund mehr, wiederzukommen.

Wenn das EU-Projekt am Montag in Sack und Tüten war und ich am Dienstag frei hatte – was habe ich dann Mittwoch bis Freitag gemacht? Grundsätzlich: mich mit dem Intranet des Goethe-Instituts auseinander gesetzt, „Organisation“ und „Arbeitsgrundlagen“, d.h. was ist das für ein Verein, was wollen die, was machen die, wie machen sie es und wie sollen sie es machen – von der Zielvereinbarung mit dem Auswärtigen Amt über „Planung von Umzügen“ bis Personalaktenordnung habe ich alles gelesen. Zumindest die Einleitungen. Man merkt sehr schnell, wann nicht mehr weitergelesen werden muss; Sätze wie „Der Grad der Zielerreichung ist wesentliches Kriterium für den Erfolg“ flirren einem vor den müden Augen, pdf-Dokumente über die verwendete Abrechnungssoftware überspringt man guten Gewissens, aber immerhin gibt es unter „Kultur“ spannende Themen, Links, Texte und ein bisschen Inspiration, welche die Mühsamkeit der „Arbeitsgrundlagen“ irgendwie wett macht. Vielleicht habe ich die Aufgabe auch etwas zu genau genommen und hätte nur einen Bruchteil davon lesen sollen… „Das Präsidium hat folgende Aufgaben:“ Danke, nächstes Kapitel. Solche Tage gefallen mir – kaum etwas passiert, man liest und vergisst einige Dokumente, nur um sie gelesen und vergessen zu haben (das ist dann theoretisches Wissen, wie in der Schule), schaut aus dem Fenster in die abendgerötete Stadt, den Verkehr, lässt die Gedanken schweifen, entspannt, lässt die Ablenkung im Internet durch Artikel, Nachrichten, E-Mails geschehen und lehnt sich zwischen Mittagessen und Sonnenuntergang bei einem Kaffee aus der Maschine der Institutsleiterin zurück – solche Tage müsste es immer mal geben – nach Zeiten angesammelten Stresses und fehlender Ruhe bei sich sein… Die Leidtragenden sind Augen und Rücken, abends kündigen beide regelmäßig ihre Müdigkeit an – wenn der Rest des Körpers zu zäh ist aufzugeben, melden sie sich als erste krank. Das ist okay, wenn es meiner Gesundheit und gedanklicher Regung dienlich ist – und das ist es; ich schlafe und sie regenerieren ihre geschundenen Zellen… Bis zum Morgen, dann beginnt alles wieder von vorn.

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