Arbeit, Müh, Taschkent (1)
Es sind zwei Wochen vergangen, stürmischer und geschmeidiger als ihre Vorgänger – und im ersten Teil außerordentlich arbeitsam, weshalb ich den üblichen Soll, ein Beitrag pro Woche, nicht erfüllen konnte und kann. Es geht hier um mehr Zeit und der Text ist lang, wirklich lang – ich habe ihn aufgeteilt; am Anfang steht die erste Woche.
Die Tage beginnen schneller zu drehen. Ihre Achse; mein Kopf, gar nicht schwindelfrei, der sich lieber umblickt, staunend, auf alles vor und hinter seinen Augen, als jammernd über die Stunden zu ziehen, dunkle Gewitterwolken vor sich her treibend. Nun, ich habe genug zu tun. Mittwoch zehn, Freitag elf, Samstag und Sonntag je neun Stunden im Büro (inkl. schneller Mittagspause) – das EU-Projekt fordert seine Opfer. Der Dienstag nächste Woche ist dafür frei für mich. In drei Wochen an fünf Wochenendtagen im Büro – die Statistik kann sich sehen lassen. Wird aber nicht in gleicher Weise fortgesetzt werden; jetzt z.B. ist erstmal Ruhe. Die Institutsleiterin und der Chef der Programmabteilung sind in Chemnitz beim „Schlingel“, um Kinder- und Jugendfilme für unser Festival Ende April zu sichten. Im November wieder, meinte sie, würde ich am Wochenende arbeiten – und für den Moment war es nicht die schlechteste Beschäftigung. Wer darf schon an einem EU-Antrag mitschreiben? Der Antragstext, an dem wir – die Institutsleiterin und der Leiter der PASCH-(Partnerschulinitiative)-Abteilung, die beiden Köpfe des Projekts – die meiste Zeit gearbeitet haben, wurde von den zwei Projektkoordinatoren in vier Tagen auf Russisch geschrieben, ohne vorheriges Konzept – 17 Seiten – und für uns von einem ganzen Team in nochmal so vielen Tagen ins Englische übersetzt. Von dieser Grundlage ausgehend, haben wir im Prinzip jene Arbeit geleistet, für welche die Autoren keine Zeit hatten: die genaue Überlegung, was zu schreiben sinnvoll ist, was die EU hören will, damit wir das Geld bekommen, und was eigentlich dieses Projekt so großartig macht, dass es sich von alle anderen Einreichungen abhebt – sowohl, was Prägnanz als auch Wichtigkeit angeht. Grob: es geht um „Menschen mit eingeschränkten körperlichen Fähigkeiten“ und Seminare, die sie weiterbilden, um Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Inklusion zu erhalten und im besten Fall als Multiplikatoren zu fungieren. Denn bisher gilt anscheinend, was in meinem Reiseführer die Überschrift „Behinderte“ rechtfertigt: „In Usbekistan ist nichts behindertengerecht gebaut, und Behinderte nehmen am öffentlichen Leben nicht teil.“ Erlebnisreich, diese Aufgabe mitzugestalten, bis zur Abgabe des Pakets mit den vier Exemplaren zu begleiten – das ist dann schon Montag und gehört eigentlich in die nächste Woche; kontinuitätsbewusst passt es hier besser. Nicht nur durfte ich mit den beiden anderen zu diesem Zweck zur „Delegation of the European Union to the Republic of Uzbekistan“ fahren, sondern wir kamen auch zur rechten Zeit, um eine Privatführung durch die Räumlichkeiten geboten zu bekommen, die sich im „International Business Center“ eine Etage mit der Weltbank teilen. Der Mann, der uns empfing, und die Institutsleiterin kannten sich irgendwie, sodass er gleich eine spontane, kurze Führung angeboten hat. Beim Herausgehen merke ich: die einzige Zugangstür hat einen Handsensor. Wie auch immer der funktioniert, er sieht cool aus – und sicher. Der Mann erzählte uns noch, wie die Sektion „Finanzen und Verträge“ (oder so) ganz aufgeregt sei, weil wir als Antragsteller an die EU diese heiligen Hallen doch nicht einfach so betreten könnten… Im Anschluss zogen wir den Feierabend vor und setzten uns bei Bier und Steak in ein gutes Restaurant – eingeladen von der Institutsleiterin. Ein für mich, muss ich sagen, überaus angenehmer Abschluss, der weit über meinem Praktikantenstatus lief.
Ein Witz dazu am Rande: Als die beiden Vertreter des Goethe-Instituts auf dem Vorbereitungsseminar zu Gast waren, meinten sie zu uns, wir könnten ruhig auf den Status „Freiwilliger“ beharren, denn wir seien, im Unterschied zu Praktikanten, von deutschen Steuergeldern bezahlte, priviligiertere Praktikanten (das war jetzt meine Formulierung) als die Praktikanten, die es beim Goethe-Institut auch gibt. Es macht, möchte ich darauf antworten, gar keinen Sinn, hier auf irgendwelchen Begrifflichkeiten zu beharren. Ich werde Praktikant genannt, als Praktikant vorgestellt und höchstens Insider kennen den Unterschied zum Freiwilligen. Ehrlich gesagt, mir ist das relativ egal, solange ich weiterhin so gut behandelt und bezahlt werde. Roughly.
Sieben Tage zurück, wieder Montag: Betriebsausflug, Team-Building. In den Bergen, gute zwei Stunden Fahrt von Taschkent – schon die Fahrt dorthin ein Erlebnis. Hätte ich ununterbrochen aus dem Fenster gefilmt, es wäre ein fantastischer Film gewesen. Im Stile Straub-Huillets, aber die zerfurchte Seelenlandschaft usbekischer Gesellschaft – so viele Bilder, so viele Sujets, jedes einzelne könnte ein Film sein: in der Stadt riesige, leere Sowjetbauten, bunt und futuristisch, breit und Maul offen aufstrebend, der Straße entgegen gähnend, mit offenen Treppenhäusern, verbretterten Fensterlöchern und die Farbe verwaschen – so traurig wie eindrucksvoll. Liqour-Stores, kleine Märkte und Drogerien lösen die Stadt auf, bringen ihren Rand näher. Überall wird gebaut: Beton, dreckige Farben, wie zufällig vermischt, kreieren eine fremde Atmosphäre. Babuschkas auf der anderen Seite, die mit dem Finger nach unten auf ein Taxi nach Taschkent warten; noch sind es die Ausläufer der Großstadt, der wir entfliehen; langsam wird es spannend. Ein Eselkarren mit zwei alten Männern anderer Generation zieht seinen Weg in die Gegenrichtung, ich sehe ihm nach, solange ich kann. Kleine Häuslein, Gärten, „allotments“ am Wegesrand, immer in Sammlungen, dann isolierte, enge Gehöfte, alt und gedrängt, eine Stadt auf 400 m²; davor Männer in Schwarz und mit Bärten. Ringsum weite Fläche, bis auf die Platanen am Straßenrand. Immer wieder vor den Gärten und Höfen gehen Menschen ihrem Tageswerk nach, und ich bestaune sie, diese Unordnung, alles wirkt spontan, und sie selbst so alt, gebeugt, sind wahrscheinlich nicht sonderlich betucht – arbeiten aus Notwendigkeit, nicht Freude, und mit etwas Glück liegt die Freude in diesem Leben. Ein Rind am Asphalt, friedlich grasend – nicht das letzte auf der Fahrt. Noch häufiger sieht man diese Reihenhäuser, zehn nebeneinander, drei Reihen, alle modern im gleichen Stil, helle Fassade, hässlich gleich. Auf der Rückfahrt erfahre ich, dass irgendeine usbekische Volksbank sie dorthin gesetzt hat, und nicht nur in der Nähe von Taschkent, sondern im ganzen Land. Reihen hoher Platanen sind mir angenehmer. Und immer wieder diese Menschen dort… Ummauerte Siedlungen, wie mittelalterliche Städte, aber moderner: aus Lehm, Stein, Plastik, Holz und alt, Dreck und Rost. Wieder diese Spontaneität, Sandstraßen, Staub, Strom und Gas verlaufen oberirdisch in weit verzweigten Leitungen, Masten, die aus dem Erdboden ragen wie Stangen. Ein klappriges Auto fährt durch den Staub, als sich eine der schnurgeraden Wege meinem Blickfeld öffnet, Kinder spielen – sie sehen wie Kinder aus. Uns kommt ein sowjetisches Fahrzeug entgegen, mit Pferdeanhänger – einem Anhänger jedenfalls, auf dem die Pferde dem Fahrtwind geöffnet stehen, ihre Mähnen flattern. Ostautos passieren uns häufig – hier wie in der Stadt sind sie ein üblicher Passant. Kleine Industrieanlagen, später eine größere. Chemie, sie sehen aber still gelegt aus. Brachflächen mit Wasserlachen, kleine Flüsse, Inseln, Rinnsale zwischen den Bächen, mal steppenartig einfach hohes Gras, dann kurzhalmige Wiesen, auf denen friedlich Ziegen, Schafe, Rinder grasen. Einmal, zwischen den Pfeilern einer teilweise oberirdisch nach Kasachstan laufenden Pipeline, Pferde am Bächlein, über dessen Brücke wir rauschen. Pferde und Rohre begegnen uns auf der Fahrt noch mehrmals. Eine Landschaft wie karge Winter, zerrüttet, kalt, feindlich, obwohl es warm ist. An einer Lache, die wie passieren, stehendes Gewässer unter so vielen in dieser mondzerfurchten, endlich nassen Landschaft, sitzt einsam ein Angler, sein Sowjetwagen wartet auf der morgendlichen Wiese mit offenen Türen. Und im Fernen die Berge, die erst kaum mehr als Sandhügel waren, Ausläufer des Tian-Shan, das in Kirgistan zuhause ist und dann nach China weiterwandert.
Kurze Einblicke in ferne Leben, meistens Armut, immer Alltag; ich fahre an ihren Gesichtern vorbei und lasse mich fangen von diesem Ausblick in ein Dasein, das ich in ähnlicher Form zwar in Filmen gesehen habe – Armut in Mexiko (Bunuel), Italien (Pasolini), Deutschland (Rosselini), Russland (Tarkowskij) und im „Dritten Kino“ – hier aber ist es echt und flieht rasch vor meinen Augen vorbei, ohne mich mehr zu berühren als für diesen einen Moment, nur ein Ausdruck, ein Blick, keine Bewegung, ein Bild dieser fremden Spannung, die ihnen Leben ist. Und irgendwann vereinzeln sich die Zeichen der Wohnhaftigkeit, Bewohnbarkeit, die karge Landschaft nimmt überhand und die Berge rücken vor. Wir nähern uns dem Rand Usbekistans, der Grenzen Kasachstans und Kirgistans – ich schreibe und halte meine Kamera bereit – noch dauert es, bis wir ankommen.
Die Fahrt die Serpentinen hoch, die Berge – glücklicherweise sind die Straßen auch hier breit – bringen Erinnerungen hoch an die Auffahrt zum Kraterrand des Vesuv – warum? Der Vergleich hinkt. Vielleicht eine ähnliche Erwartung – nein, falsch, die Landschaft, Fremdheit, Spontaneität, die mich sogar in Taschkent an Italien hat denken lassen. Und die Pflanzen hier, in den Bergen, ähneln tatsächlich der Vegetation um den neapolitanischen Golf. Unnötig zu erwähnen, dass Anschnallen überflüssig ist. Die Straßen werden schlechter – auch das wie im südlichen Europa, das ich kenne. Doch irgendwann wird jeder Vergleich mit Italien obsolet – die Berge! Wie sie über diesen See hinausragen, kleine Orte hier und da, Hotels oder Wohnungen – ein Naherholungsgebiet für die betuchtere Stadtgesellschaft – nicht umsonst wohnt der Präsident in Nähe, und nicht umsonst hat sich der Avenue Park, unser Ziel, diesen Platz ausgesucht, ein Hotel mit Freizeitanlage zu errichten. Ich bestaune die Bergketten, auf die man von hier direkte Sicht hat – unten ein Strand, an dem ich leider nicht war.
Wir haben eine Hand voll Zimmer, um unsere Taschen abzustellen, dann geht es los zum Frühstück. Eigentlich wurde zum Beitrag zum Buffet aufgerufen, das muss ich wohl verpasst haben. Genug ist trotzdem da, und dank des Frühstücks, das ich mit Elmira in der Wohnung hatte, kann ich mich darauf beschränken, süße Kleinigkeiten zu naschen und Kaffee zu trinken. Ich bin gerade am Überlegen, ob ich doch etwas Herzhaftes essen soll (wann wird wohl das nächste Essen stattfinden?), da ruft mich einer, der Techniker, ITler am Institut, und fragt mich, ob ich Wodka möchte. Im ersten Moment ein wenig verblüfft, kann ich weder ja noch nein sagen – eindeutiges Zeichen, mitzukommen, auf den Topchan – eine Art ausladendes Bett mit einem Tisch in der Mitte, um den man sitzt, liegt, mit speziellen Kissen, die Grundlage jedes sommerlichen, feuchtfröhlichen Miteinanders. Ich durfte diese Art Essgelegenheit bereits am zweiten Tag meines Aufenthalts genießen, als ich mit dem eingeladenen Fotografen (s. vorherige Einträge) abends bei der Institutsleiterin eingeladen war und wir australischen Weißwein getrunken haben. Stattdessen, pünktlich um Zwölf, der erste Wodka des Tages. Wo es in Deutschland heißt, kein Bier vor Vier – zu allem Überfluss kam dieser Spruch später am Tag aus einem der usbekischen Münder, zu mir gewandt – „Sagt man in Deutschland so, ja?“ Aber was macht schon ein kleines Wässerchen… Oder anderthalb. Hätte ich gewusst, was nun dieses „Team-Building“ heißt, ich hätte auch mehr vertragen.
„Team-Building“ ist, wenn sich Erwachsene wie Kinder benehmen (dürfen) und das lustig finden. Basteln, Malen, sich Sticker auf die Haut kleben und verkleiden, Wettbewerbsspiele à la Sackhüpfen (in den Verkleidungen) spielen – bloß die Zuckerwatte hat gefehlt. Und all jene Vergnügungsfahrten, wie man sie vom Jahrmarkt kennt. Dafür gab’s gefärbtes Zuckerwasser mit Kohlensäure, das wir wett trinken durften. Immerhin konnte man verwirrt am Rand stehen und sich aus dem meisten raushalten. Einen Esel musste ich führen, der arme, der überhaupt nicht so schnell wollte, wie die blöden Menschen wollten, dass er wollen sollte. Geführt wurde die ganze Aktion von einer als Indianerhäuptling verkleideten, halbwegs jungen Dame, während der Beschäftigung ihrer Zöglinge immer wieder ihre Schminke überprüfend, deren metallisch laut verstärkte Stimme mich manchmal an Schwarz-Weiß-Bilder und Sowjetpropaganda erinnert hat. Man möchte ja aber solchen Berufen nicht die Existenz absprechen. Bestimmt lustig, irgendwelchen Erwachsenen dabei zuzusehen, wie sie im Wettrennen rote Smileys auf ein Blatt Papier malen – welche Gruppe am Ende die meisten geschafft hat – wie sie beim Tauziehen umfallen oder beim Hockeyspielen mit einem Melonenluftball und Besen statt Schlägern sich gegenseitig über den Haufen rennen. Oder einfach blöd verkleidet herumlaufen; ich habe das Beste draus gemacht, indem ich nichts gemacht habe. Bei der letzten Aufgabe, einem Knobelspiel – wie bei der Mathe-Olympiade – konnte ich mich, dank der locker gelassenen Zügel durch unsere Indianerhäuptlingin, weitgehend von der Gruppe absentieren und u.a. den Pool der Anlage bewundern – im Hintergrund massiv die kahlen Berge in zahlreichen Brauntönen, als Grenze zwischen hier und da, Rand des Geländes, eine Reihe hoher Platanen, und dann das Becken – leer gepumpt, inzwischen, aber dieses Blau der Kacheln ergänzt die Situation zu einem denkwürdigen Fotomoment – mein Apparat liegt im Zimmer. Mir muss es reichen, den Blick mit meinen Augen zu erfassen und zu behalten. Ich gehe näher, um das Becken herum, um von der kleinen Steinmauer auf die Berge zu schauen, da bemerke ich die Bar am hinteren Rand des Pools – dass dort eine war, hatte ich schon wahrgenommen, aber jetzt sehe ich erst, wie – die Bar ist so gebaut, dass man von außen gar nicht herankommt – bestellen kann man nur auf blau gekachelten Hockern, die sich nun weit aus dem Becken empor strecken – wenn der Wasserstand die sommerliche Höhe hat, kann man schwimmen und, bei entsprechendem Verlangen, sich auf diese Hocker im Wasser setzen und einen Drink bestellen. Vermutlich leere Dosen und Flaschen stehen noch im Regal – Glenfiddich, weiterer Scotch, auch Jack Daniels und Jim Beam – wahrscheinlich auch anderes als Whiskey, so sehr habe ich nicht darauf geachtet.
Froh, dass das ganze vorbei war, dachte ich nun an jene Spaziergänge, zu denen Möglichkeit gegeben werden sollte und ja, die sollte es geben– aber erst nach dem Mittagessen. Also (nach ausgiebigem Abwaschen der Malfarben aus dem Gesicht) auf den Topchan gepflanzt und irgendwie landete ich wieder bei den richtigen Leuten, sodass es nicht lange dauerte, bis erneut angestoßen wurde. Salate und Brot standen bereits, Schaschlik sollte auch folgen, in drei Gängen: Hammel, Rind und Huhn, jeder begleitet von noch einem Schlückchen und noch einem Schlückchen… Genug, um (ich schließe mich kurz aus) mit dem weiblichen Nachbar-Topchan zu flirten und Sprüche herüberzuklopfen – den Reaktionen nach zu urteilen, müssen von der Gegenseite einige ganz solide Antworten gekommen sein. Als ich lache, fragt mich jemand, ob ich das denn verstünde – tue ich nur sehr eingeschränkt, obwohl es immerhin auf Russisch und nicht Usbekisch ist. Ein anderer Deutscher, der PASCH-Leiter am Institut, meint daraufhin grinsend: „Um den Inhalt dieser Konversation zu verstehen, muss man sich ja nur die Menge an getrunkenem Wodka anschauen.“ Am Ende waren es zwei Flaschen (gerade mal um Vier – Zeit, Bier zu trinken). Aber der Schaschlik war lecker. Und, ehrlich, geschadet hat es mir nicht und zu viel war es auch nicht. Damit hatte sich allerdings mein Spaziergang erledigt und ich konnte die wunderschöne Landschaft einmal mehr aus dem Busfenster beobachten und – fotografisch festhalten. Was bei dem Straßenzustand keine allzu einfache Aufgabe war. Und wieder diese Bilder: Ein malerischer Sonnenuntergang – kurz und intensiv, wie Sonnenuntergänge hier sind – ein Schäfer mit auf den Rücken gespannten Gewehr, der seinen Tiere über die Furt begleitet; Kinder, die vor abendlich roter Industriekulisse, verstaubtes Abendlicht, einsam am glitzernden, verheißungsvollen Fluss auf erdiger Wiese Fußball spielen; später der Taschkenter Fernsehturm, der zwölfthöchste der Welt, der über der Ebene aufragt, obwohl noch weit, weit weg; ein sowjetischer „Wolga“ mit sechs Kisten Trauben auf den weiß-schmutzigen Körper geschnürt – im halb offen stehenden Kofferraum viele weitere; dann voll mit Kürbissen und anderem Gemüse beladene Kleinsttransporter, die irgendwo nach Hause wollen; am Ende Stau am Rand der großen Stadt, und Verlängerung der Fahrtzeit. Als ich einmal aus dem Fenster sehe und mir die Autos anschaue, bemerke ich: einen Heuwagen, einen Tanklastwagen, einen Kleintransporter – und sieben Chevrolets. Die gibt es hier wirklich oft. Verständlich wird das, wenn man weiß, dass in Andijan eine Fabrik von Daewoo, südkoreanischer Vater der Marke Chevrolet, stationiert ist, und diese Autos also billiger sind als andere, Importe. Natürlich endete der Tag nicht im Stau, sondern mit der obligatorischen Müdigkeit, und der Aussicht auf den Dienstag, Arbeitstag, mit vielen Kleinigkeiten zu klären wegen des EU-Projekts, und noch viel mehr Arbeit, nachdem sie geklärt waren. Nun, da sie geklärt sind, reicht es mir, oben auf das Ergebnis verwiesen zu haben. Der Prozess ging relativ unaufgeregt vonstatten – ich durfte schließlich einen ganzen Absatz („Methodology“) alleine überarbeiten, d.h. im Prinzip neu schreiben – wie wir uns eben die Definition von „überarbeiten“ zurecht gelegt hatten. Samstag, bereits stumpf vom ständigen Bildschirm-Glotzen, wurde ich nach der Arbeit gleich von der Institutsleiterin und ihrem Mann zu einer Party eingeladen – jemand feierte Abschied. Sie wollte eigentlich nach Deutschland, aber die usbekischen Behörden hatten ihr für dieses Land, in dem schon ihre Schwester lebt, keine Ausreisegenehmigung erteilt – jetzt geht sie nach Australien. Diese Feier fand in jener Deutschen-WG statt, in der auch die andere Leipzigerin (s. vorheriger Beitrag) wohnt, und wurde deswegen stark von Deutschen frequentiert – Gruppenbildung war unvermeidlich. Immerhin trifft man interessante Leute: so den Japanisch-Dolmetscher, der von einem Auftritt mit seiner Band kam und während des Wodkatrinkens von Karma sprach (auf Englisch), oder die deutsche Mitarbeiterin im Goethe-Institut Berlin, die einige Wochen in Taschkent war und demnächst fest im Oman arbeiten wird. Glücklicherweise scheint es kurzfristig keinen Unterschied zu machen, ob ich zehn oder fünf Stunden schlafe – am nächsten Morgen war ich nicht müder als sonst. Sonntag mein erster Stromausfall – aber auch der nur angedeutet, irgendein Wackelkontakt, und ganz unaufregend. Alle wichtigen Dokumente, an denen wir gerade gearbeitet hatten, blieben intakt und bald stellten sich rechnerübergreifender Laufwerkzugriff und Internetverbindung von selbst wieder her. Allerdings hatten wir am Tag zuvor in allen Räumen des Instituts kein Wasser – naja, bis auf den Aufenthaltsraum. Wozu der PASCH-Leiter kommentierte: „In diesem Haus gibt es unklare Zusammenhänge.“
Ich bin froh, dass mir einiges zugetraut wird, ich vor Herausforderungen in verschiedener Hinsicht gestellt werde. Als am Freitag der nächsten Woche, 09.10., die stellvertretende Institutsleiterin, ebenfalls eine Deutsche, mich dem neuen Verwaltungsleiter vorstellte, tat sie das mit den Worten: „Der schlaueste Praktikant, den wir je hatten, habe ich gehört.“ Da bleibt einem nur, das Schmunzeln, aus Schmeichel und Belustigung ob solch direkter Worte, zu unterdrücken und sich zu fragen, wie man diesen Eindruck hinterlassen haben könnte.