Erschöpfung eines Europäers
Die erste Woche ist vorbei – eine voller Müdigkeit, Begegnungen, Erlebnissen, neuen Eindrücken, die auf mich niederprasselten, dass mir ganz blumig wurde, eine Woche voller Durchfall und Bauchschmerzen. Das ist hier normal, und was soll ich sagen, mit meinem selbst in Deutschland hin und wieder versagenden Magen. Sie sagen, ein, zwei Wochen geht das so für die armen Ausländer – ich hoffe, dass es bald nachlässt – es wird langsam anstrengend, bei allem außer Brot und Kefir mit Schmerzen zu reagieren – nein, so schlimm ist es nicht, oder zumindest: Ich merke, dass es besser wird.
Die Tage hier strengen mich sehr an. So sehr, dass ich abends oft zu müde zum Schreiben bin – selbst wenn ich will, Fragmente für den nächsten Blog – die Worte fallen wie Stein, mein Hirn, eine einzige breiige Masse, zieht sich über das Papier und lässt die Silben wie schwarze Augen scheinen, die mich anstarren, mir zuflüstern: Du kannst nicht mehr; mach das morgen. Mehr als in Leipzig flattern mir am Tag Worte, Satzfetzen durch den Kopf, die ich später vergessen habe. Die Anstrengung: es ist einmal die Großstadt – ich bewege mich bis jetzt ausschließlich in zentralen Bezirken – mit all dem Lärm, den ich nachts auch durch geschlossene Fenster höre, den Abgasen, die mir beim Lüften meines Zimmers entgegen wehen und jeden Stadtspaziergang begleiten. Ruhe gibt es nur im Büro, in dem ich letzte Woche überraschend selten war. Am Donnerstag fand die Eröffnung einer Arno-Fischer-(Fotografie-)Ausstellung in der Galerie der Nationalbank von Usbekistan statt, zu der ein Fischer-Schüler und Fotograf, Frank Gaudlitz, eingeladen war – deshalb war ich jeden Tag der Woche dort – Vorbereitungen, praktische Hilfe etc. Ungefähr Ähnliches wird einen der beiden großen Teile meiner Arbeit am Goethe-Institut ausmachen – Programmarbeit, Veranstaltungsmanagement, wenn man so will. Der andere Teil wird aus Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bestehen – davor, weil das so viel mit dem Computer zu tun hat, graut es mir ein bisschen. Im Institut habe ich einen prominenten Arbeitsplatz – gegenüber des Sekretärs, direkt neben der Institutsleitung – jener der ehemaligen, zur Zeit unbesetzten PR-Stelle.
Dieser erste Punkt meiner Arbeit hier, Begleitung der Vorbereitungen zu oben genannter Ausstellung (natürlich bin ich erstmal kaum mehr als mitgelaufen) hat Ausblicke gezeigt, die mir größtenteils gefallen haben… Nach der Ausstellung hat das Institut alle Beteiligten aus den eigenen Reihen und von der Gallerie zum Essen in ein kirgisisches Restaurant eingeladen. Jenes Essen, das vorab, hat mir glücklicherweise nicht viel Schmerzen bereitet – und war nebenbei ziemlich gut. Solche Abendessen sind faszinierend – man hat mit Leuten zu tun, die zusammen die ganze Welt bereist haben; ausgenommen, fast schon symbolisch: Afrika. Da sitzt die Institutsleiterin: in den Niederlanden studiert, drei Jahre Moskau, zwei Jahre Peking, vier Jahre Novosibirsk, seit zwei Jahren in Taschkent. Dazwischen in ihrer Tätigkeit alles Umliegende bereist. Da ist der eingeladene Fotograf: zehn Jahre jede Saison einige Monate in ganz Russland, fünf Jahre Osteuropa, anschließend zehn Jahre jeden Winter in Südamerika, besonders: Bolivien und Peru. Länder, die er geografisch besser kenne als Deutschland, sagt er. Da ist ein Videokünstler aus Samarkand ukrainischer Abstammung, der ausgiebig Osteuropa bereist, u.a. zwei Jahre lang den Sommer in Lettland verbracht hat, viele Jahre in Großbritannien lebte und auch in Mittelasien weit herum gekommen ist („Ah, you know, Ashgabat is more real, but Astana is like: We want to be more European than Europe“). Dazwischen Usbeken, deren Umgangssprache noch immer Russisch ist – selbst untereinander reden sie nicht immer Usbekisch. Was mir kleintellerrandigem Deutschen das nicht imponiert hat! Ich, der ich immerhin mit Asien den dritten Kontinent betreten habe, Deutsch und Englisch fließend spreche, der ich mal Lettisch fließend beherrscht, Latein, Russisch und Französisch zu lernen begonnen habe… Obwohl ich nicht weiß, ob ich ernsthaft zu solcher Runde dazugehören wollen würde, ob diese Abstecher ins Unbekannte, in die Welt, mir nicht genügten, ob ich nicht lieber bequem in meinem Leipzig sitzen und von dort urteilen würde – ich musste die ganze Zeit an dieses mit solchem Lebensstil verbundene, übermäßige Fliegen, diese Umweltbelastung, denken…
Mein Gewissen wird hier ständig konfrontiert – das hört nicht bei fehlender Mülltrennung und dem omnipräsenten Nestlé auf (selbst die russische Schokolade, die ich zum Preis zweier großer Weißbrote gekauft habe, ist von Nestlé Rossija) – der Abgasgeruch, das Wasser (eine schmerzfreie Experimentierzone; hatte ich nicht irgendwann im Geounterricht gehört, Usbekistan sei unter den Ländern mit höchstem Pro-Kopf-Wasserverbrauch?), die Plastiktüten wie in den USA – nur, was viel Geld kostet, damit wird gespart… Irgendwann scheint der Punkt gekommen zu sein, an dem einem das egal wird – man kann nicht jeden Schritt überprüfen, untersuchen – das wäre schon wieder eine eher deutsche Angelegenheit. Ich sollte mich vielleicht mehr entspannen, als unbedarfter Jugendlicher aus der Welt-Schutzzone Europa auch nicht so schnell urteilen. Wir verdienen auch hier ganz gut unser Geld – Firmen wie Nivea, Nestlé sind kräftig vertreten – und haben ihren Preis. Anders ist es bei den Autos – man könnte meinen, Daewoo habe mit seinem Chevrolet Matiz (bzw. Spark) einen Musterhit gelandet – hier fährt er überall, und das meine ich wortwörtlich, herum. Die großen, grünen Stadtbusse allerdings sind von Mercedes-Benz. Ansonsten besteht das öffentliche Verkehrssystem aus kleinen, grünen Bussen und den noch kleineren Marschrutkas – neben dem Wodka ein weiteres charmantes, russisches Überbleibsel. Metro bin ich leider immer noch nicht gefahren, weil ich erst seit Freitag meine Registrierung habe – immerhin musste ich doch kein Geld dafür zahlen, wie ich anfangs dachte. Sehr praktisch sind wirklich private Taxis, also beliebige Fahrzeuge, die neben dem an der Straße Wartenden anhalten, um ihn gegen etwas Geld irgendwohin zu bringen. Funktioniert ausgezeichnet. Und ja, es ist – außer vielleicht nachts – sicher.
Stärker als in Lettland, aber mit ähnlichem Bewusstsein, spürt man auch hier den Reichtum besonders Deutschlands, wenn man die Wohnungen sieht, die Einkäufe – ja, man kann hier durchaus billig leben, nur wenn man auf bestimmte Produkte nicht verzichten möchte, muss man zahlen – Brot, Wasser, das Gemüse auf den Märkten, Grundnahrungsmittel wie Reis sind günstig zu bekommen; Schokolade und Süßigkeiten, Kosmetikartikel und Kleidung werden zur Luxusware.
Manchmal, während dieser anstrengenden Woche, musste ich mich sehr zusammennehmen – einfach, weil die Erschöpfung überhand zu nehmen drohte. Im Endeffekt war ich dennoch jeden Tag im Büro, habe jeden Tag mitgemacht, zumindest für ein paar Stunden. Es ist ein unschätzbarer Wert, sich selbst zu etwas zwingen zu können – trotz Bauchschmerzen zur Arbeit zu fahren, weil ich weiß, sie gibt mir mehr, als sie mir abverlangt, trotz Müdigkeit tief im Fleisch den Marsch anzutreten, durch elend lange Straßen laufen, ohne zu wissen wo man ist und wie man dort ankommt, wo man hin will – ich hatte von Beginn an die falsche Richtung eingeschlagen – ja, zur Not lässt man sich mit einem privaten Taxi nach Hause fahren, schläft in zwei Nächten mehr als 24 Stunden, ist danach wieder auf den Beinen, ohne zu bereuen – Erfahrungen sind gut, tun gut, mir, der eingelullten Seele aus dem Luxuszirkus Europa. Es stimmt schon, wir sind dort drüben wie in einem Kokon, ganz weit weg; es ist ein Glücksfall für mich, dieser Festung den Rücken zu kehren; es ist eine Notwendigkeit, dass es alles zurückfällt – Marie Antoinette kann nicht ewig stehen und sagen: Wenn sie kein Brot haben, sollen sich Kuchen essen. Dabei ist das erst der Anfang – und ich verstricke mich wieder in apokalyptischen Szenarien. Ich glaube, ich habe sie in der letzten Woche vermisst. Es ist gut, dass ich wieder anfange zu denken in dieser stickigen Luft, dass ich endlich aus dem goldenen Käfig Europa krieche und einen Eindruck davon bekomme, was wir noch ignorieren. Es tut mir gut, ich spüre es schon jetzt, und dieses Gefühl des Sich-Öffnens wiegt alle Bauchschmerzen auf; bis zum erneuten Augenblick des Schmerzes, in dem ich am liebsten nur schlafen würde, tief und lang… Ich realisiere, ich bin nun ein Einzelner, die nächsten zwölf Monate, elf ja nur noch, wenn ich eine frühere Abreise einplane (das ist der Fall; mein Nachbereitungsseminar fängt am 27. August an); endlich alleine! Es bedeutet schon Freiheit, hier zu sein, sein zu dürfen und diesen Status zu haben – das Goethe-Institut hat Status, erlaubt sich Sachen.
Die Ignoranz Europas ist ja nur die eine Seite – auf der anderen stehen eben Dienste wie kulturweit, die vielleicht tatsächlich daran interessiert sind, die Welt zu retten, falls ich mir diese plakative Äußerung herausnehmen darf. Ja, ich kann. Ich war sicher etwas naiv, in meiner Bewerbung zu schreiben, diese gemeinschaftlichen Dienste bereiteten den Boden für so etwas wie den Weltfrieden – darum geht es vielleicht gar nicht mehr, dieser Traum ist vielleicht der Realität von etwas gewichen, das sich so schwindelerregend fortpflanzt, so riesige Türme stapelt, die alle auf ihren Ingenieur, den fatal geirrten aufgeklärten Europäer herabzustürzen drohen… Nicht, dass ich falsch verstanden werde: Nicht Europa gilt es zu retten, sondern darum, den Rest der Welt vor jener Verblendung zu behüten, welche Europa heimgesucht hat, den Menschen vor jener Hybris zu warnen, die seine Festung, sein zurückgezogenes, kleines Stück Erde Stein für Stein, alle eigene Arbeit, Kunst und Wissenschaft, abträgt, und zum Steinbruch anderer macht. Man kann darüber viel philosophieren und ich nehme mir einiges heraus, diese Behauptungen so an die Oberfläche platzen zu lassen, ohne Hintergrund und Vorwort; immerhin ist es direkt, spontan, unzensiert hierher gespült; das ist mir viel wert.
Etwas lag mir noch auf der Zunge: es hat auch mit Distanz zu tun: Ich fühle mich hier eher wie solch europäische Künstler im Exil, dem selbstgewählten, das ihn fasziniert, inspiriert, zu dem er sich aber jede Heimlichkeit versagt; seine Loyalität gilt dem Zuhause, in das er zurückkehren wird. Wie ein Korken schwimmt, tanzt, er mit der fremden Masse, um für sich und seine Arbeit Gewinn daraus zu ziehen – das war in Lettland anders; in jene Kultur habe ich mich herzlich hinein gegeben, sie gleichsam gelernt, verstanden. Ich fürchte, auch wenn es für Mutmaßungen etwas zu früh ist, hier wird es anders. Das Goethe-Institut ist wie eine Insel: sicher, trocken, aber in gewissem Sinne von der Bevölkerung, dem Land, dem Leben, isoliert. Nun, der Vorteil ist, dass ich nicht gleich einem dritten Land meine Heimat versprechen muss… Das Jahr wird schnell vergehen und am Ende stehe ich wieder da und muss mich neu orientieren in meiner Heimat, hoffentlich Leipzig – mal sehen, was die Zeit so bringt. Ihr Vergehen hat hier etwas Magisches, Surreales – mehr als die Tage unterscheiden sich die Ereignisse; alles fließt, aber nicht wie panta rei, sondern eher wie Schnee fällt – langsam, schwer, nach unten – oder diese traumreichen Nächte, aus denen ich aufwache und die zum Kontinuum der Schwerelosigkeit gehören. Diese erste Woche war wie eine wuchtige Abteiltür, die zugezogen wird. Jetzt sitze ich hier, weiß nicht viel mehr darüber, wer oder warum ich bin, kann mir immerhin inzwischen vorstellen, wo ich bin – in Taschkent, einer Stadt, die tatsächlich schon – vorsichtig – diesen Sehnsuchtsschimmer beginnt auszustrahlen, diese Aura der Wehmut, der ich so gut in Lettland begegnet bin. Ich habe für mich nichts geklärt, doch sehe, dass ich mich nicht durchs Gebüsch schlagen muss, vor mir ein Weg liegt, den ich gehen kann. Das Goethe-Institut ist ein Anker, eine Basis, von der ich nicht viele Schritte gehen muss – meine 20 Jahre sind kein Garant für Sicherheit; dass ich sie dennoch habe, dafür bin ich dankbar.