Der erste Tag

13.09.2015

Ich bin angekommen. Die erste Nacht war trocken, warm. Obwohl jetzt der Himmel bedeckt ist, kriecht die Temperatur in meinen Körper. Es ist Viertel vor Eins hier; Alisher (24) schläft wieder, die Mutter Elmira (52) ist weg. Sie sprechen beide exzellent Deutsch, keine Verständnisprobleme also. Ich dachte heute morgen, ich benötigte Instruktionen für dieses fremde Land, aber das war wieder zu Deutsch gedacht. Ich bin noch müde, vom Flug und von der Nacht – halb Zwei usbekischer Zeit sollten wir in Taschkent landen, von Leipzig über Tschechien und Bulgarien nach Istanbul (Umsteigen, Warten), dann über Sochi und am Südrand dessen, was mal der Aralsee war, entlang in die Wüste, einen kurzen Schlenker durch Kasachstan, um Kurs auf meine neue Heimatstadt zu nehmen. Ein sternklarer Himmel, dies Warnleuchten an den Tragflächen und auf dem Grund Lichtpunkte, die mir sagen: Da wartet etwas auf mich. In der Tat muss ich das Land neu entdecken, vom Flughafen angefangen: Der erste Soldat überwachte bereits den Einstieg in die Mercedes-Shuttle-Busse; unter den Leuten Touristen und Damen mit langen, bunten Kleidern, Plastiksäcke und –tüten. Die Fahrt fühlte sich vertraut an, vorbei an den Flugzeugen der staatlichen Uzbekistan Airways in den Landesfarben Grün, Weiß, Blau, zur Passkontrolle. Die Damen mit den langen Kleidern und meine Sitznachbarn, die im Flugzeug auf Russisch miteinander gesprochen hatten, liefen zu jenen vier Schaltern: Für usbekische Bürger; den größeren Rest zog es zu jenen zweien: Für ausländische Bürger. Auf Usbekisch, Russisch, Englisch. Die Kontrolle vollzog sich ohne Probleme; ich hatte schon Angst gehabt, weil der Beamte in Leipzig zu mir meinte, hoffentlich erkennen sie dich auch in Taschkent – mein Passfoto scheint aus einer anderen Zeit; vor Lettland.

In dem Saal dahinter ein schwer zu erfassendes Durcheinander an Menschen, Plastiktüten, Koffern – die kamen tatsächlich bald auf den Fließbändern angerollt. Die Zollerklärung, entgegen den von Reiseführern und Internetseiten geschürten Erwartungen, bereitete mir wenig Sorgen – hoffentlich klappt die Ausreise genauso gut. Was rede ich, das sind elf Monate bis dahin… Auf die (englische) Frage an einen der herumlaufenden Beamten zuvor, wo ich diese Zollerklärungen überhaupt bekäme, drückte der mir einen Stapel von 30 Exemplaren in die Hand – falls einer von euch welche braucht… Trotzdem dauerte der Prozess und gegen halb Drei zog ich meinen Koffer aus dem Gebäude an die rauchwarme Stadtluft. Überhaupt hatte ich im Verlauf des Tages den Eindruck, dass Abgase einen ungesunden Anteil an der Luft hier haben. Unter einem Baldachin mit mindestens 20 Metern Abstand zum Flughafengebäude (die durften nur einbahnig überquert werden) riss sich eine rufende Menge Taxifahrer um die Touristen, hier und da lugte auch eine Tafel mit einzelnen Namen. Meinen entdeckende, folgte ich Alisher durch die Masse auf den Parkplatz zu seinem Auto. Mit der Frau vor der Schranke, als er aus einem Bündel Geldscheine die Gebühr bezahlte, redete er Russisch.

Die kurze Fahrt glich eher einer Need-for-Speed-Reise – Ampeln und Vorfahrtsregeln gibt es zwar, aber an der Existenz von Tempolimits und Spurbegrenzungen hatte ich auch im Verlaufe des Tages mehrmals Grund zum Zweifeln. Letztere gibt es nicht überall, z.B. auf dem riesigen, kreisverkehrartigen Rund vor meinem Fenster. Die Stadt scheint stark befahren zu sein, Sonntag war das kein Problem, und nachts hatten wir die gigantischen Straßen (es gibt sonst auch kleine) fast für uns alleine. Die Diversität der vorbeifahrenden Autos ist beeindruckend – BMW-SUV’s, japanische Kleinwagen, 90’er-Jahre-Limousinen, Busse und Kleinbusse, einige Ostalgiekarossen und einen Traktor mit Strohladung habe ich bereits aus diesem Fenster gesehen. Weiß und Silber beherrschen das Treiben; die praktischsten Farben für den Sommer. Direkt gegenüber ein Blinkschriftzug und das Grand Mir Hotel. Sichere Gegend, höchster Stock – vierter oder fünfter. Hellhörig, Plattenbau. Nur ruhig ist es nicht, wohl keinen Tag in der Woche.

Alisher hat mir nachmittags und abends die Stadt gezeigt – per Auto. Einige Male nur sind wir ausgestiegen und herumgelaufen, so an einem Park in der Nähe des hoch aufragenden Fernsehturms und am Amur-Timur-Platz, dem zentralen Punkt der Stadt, dessen 200-jähriger, schattenspendender Baumbestand vor einigen Jahren zugunsten von kontrollierbaren Bäumchen und Sträuchern abgeholzt wurde, und wo auch jenes kaum genutzte Regierungsgebäude steht, für dessen Errichtung der Staat deutsche Handwerker gefordert und nur teilweise bezahlt hat. Im Sommer, so Alisher, könne man sich hier gar nicht aufhalten. Wiederholt wurden es in diesem Jahr fast 60 Grad in Taschkent – unvorstellbar für mich.

Vor dieser abendlichen Spazierfahrt war ich zum Essen eingeladen; bei der alzheimererkrankten Oma. Gekocht, abgewaschen haben die Frauen (Elmira und die Frau ihres Neffen, Alishers Cousin), die sich dabei auch nicht helfen lassen wollten, während die Männer sich um die 88-Jährige gekümmert oder fern gesehen haben. Extra für mich wurde ein englischer Kanal gewählt: Russia Today. Beim Essen lief dann eine Castingshow – DSDS auf Russisch. Ich war froh, dass ich im Anschluss die Comedians (ebenfalls Russisch) nicht verstanden habe. Froh war ich auch, dass ich von meinem ersten usbekischen Abendessen nicht gleich Bauchschmerzen bekommen habe – obwohl traditionelle, ausgelesene Speisen auf dem Tisch standen, denn Alisher hatte Geburtstag, was ich erst beim Anstoßen verstanden habe. Ohne Wodka. Dann aber auch ohne Messer. Eigentlich wurde alles, außer der Kartoffelsalat, mit der Hand gegessen, so auch die bei den anderen Mahlzeiten, die ich zuvor mit Alisher eingenommen hatte: Drei-Uhr-Nachts-Schmaus und Frühstück. Während das bei Brot und Wurst keine Rolle spielt, war ich nun doch dankbar über ein ohne Nachfrage gereichtes Messer, mit dem ich mir die Aufnahme von kleinen, weichen Teigtaschen (fleischlos gefüllt!) erleichterte – sehr lecker, ich schätzte mich glücklich, solch Festtagsessen gleich zu Anfang miterleben zu dürfen.

Ein anderes Kapitel hier ist die frisch vom Vorbereitungsseminar aufgedrückte Idee der Nachhaltigkeit. Nestlé überall, besonders auffällig das „Pure-Life“-Wasser, dessen rücksichtslose Gewinnung zur akuten, großen Dürre in Kalifornien beigetragen hat. Jetzt steht eine Flasche in meinem Zimmer. Mülltrennung gibt es nicht, Leitungswasser ist billig (und nicht trinkbar). Als Alisher kurz vor dem Abwaschen noch mal ins Nebenzimmer verschwand, ließ er das Wasser in den Abfluss laufen. Die Luft erwähnte ich bereits – die Abgase. Immerhin habe ich Geld gewechselt – bin nun im Besitz eines ganzen Stapels an Scheinen und fühle mich reich. Naja, fast. Morgen muss ich versuchen, mich registrieren zu lassen – ein unerwarteter Kostenpunkt, der nötig ist, damit ich z.B. Metro fahren darf und eine usbekische Karte für mein Handy kaufen kann.

Jetzt ist der Tag zu Ende, ich habe bestimmt einiges vergessen, das ich nicht sofort nachliefern werde. Im Idealfall schiebe ich in einer Woche ein Paket nach; bis dahin erlebe ich erst einmal die Stadt, die Gesellschaft, die erste Arbeit… Es fällt, so merkte ich deutlich, schwer, ganz am Anfang nicht in Stereotype zu verfallen, deshalb hüte ich mich, zu bald wieder zu schreiben. Die Stadt, um mal einen Antitypus zu verteidigen, finde ich wunderschön. Ja, ich bin kein Mensch der Großstadt, aber Paris, Neapel, Chicago, Rom fand ich trotzdem schön – wie lange sich das hier hält? Taschkent ist keine europäische Großstadt und auch keine US-amerikanische, und dass hier keine zehn, sondern zwei Millionen Menschen wohnen, macht es einmal erträglicher. Die Straßen sind breit und von hohen Bäumen gesäumt. Die neousbekischen Bauwerke ragen in den Himmel wie Traumfänger – trotz ihrer Einsamkeit strahlen sie eine Sicherheit aus, die sie sich vor all den zerbrechlichen Altstädten im mediterranen Raum behaupten lässt. Es ist keine typische Schönheit, kein Charme, eher eine Zurschaustellung von irgendetwas; eher expressiv und abwehrend als introvertiert und einladend. Mir gefällt das; ich sehe diese Bauten als Zeugnisse kontemporärer Stadtkultur. Taschkent, so kommt es mir vor, erschafft gerade seine eigene Schönheit, zwischen Sowjetwahnsinn und usebekischem Stolz.

Es ist schwer, das Erlebnis eines einzelnen Tages, in all seiner Niedrigkeit an Bedeutung und Reichtum an Eindrücken, wiederzugeben. Jetzt, abends, ist es wenigstens kühl. Ich sitze ich hier und denke, wie kann ich nur ein Jahr hier bleiben? Vielleicht sollte ich doch die Wohnung wechseln – nicht jetzt, aber wenn ich mich eingewöhnt habe. Ein riesiges Zimmer, während Alisher und Elmira auf Sofas schlafen. Und irgendwie geht es doch, denn die Zeit geht noch immer Sekunde auf Sekunde und ich bin immer noch der Körper, den ich aus Deutschland kenne. Letztendlich präsentiert sich mir mein Gepäck in diesen Minuten als gänzlich unpassend, triefend vor Unwissenheit und Überfluss, denn nun merke ich, was ich wirklich bin – nicht das Zeug, in dem ich spazieren gehe, nicht, was ich lese, sondern wie ich mich fühle, die Integrität als Ich. In diesen Minuten weiß ich nicht mal, ob das so stimmt.

Eins sehe ich sicher: Ich bin eingetreten in eine neue Zeit und auch wenn ich mich in Momenten wie diesen zurück wünsche, in das bestimmte, bittere, heimatliche Deutschland, weiß ich doch, hier bleibe ich und dieser Zwang wird mich verändern.

2 Kommentare

  1. Wolfgang GLEBE · 25. März 2016

    Hallo Felix,

    bin auf Deinen Blog gekommen, weil eine Bekannte mich gewarnt hatte: fahr bloss nicht nach Shahrisabz, da siehste nix mehr, da wird alles kaputtgemacht.

    Nun ja, Dein Bericht bestätigt das.

    In 1 Woche brechen wir zu unserer 2-wöchigen reise nach USbekistan auf, auf dem programm stehen die Klassiker Khiva, Buchara und Samarkand.

    Haste noch’n guten Tipp für’n paar Ausflüge?

    Merci vielmals

    Deinen vollstândigen Blog lese ich nach der Rückkehr, da hab ich mehr Bezug dazu. Scheinst aber nicht schlecht zu schreiben, liest sich flüssig, ich schreibe ebenfalls.

    Salut

    Wolfgang

    • Felix Jueterbock · 4. April 2016

      Ich war gerade wieder auf Reise und das in den Hotels gebotene Internet war nicht einmal für einfachste Verbindungen zu gebrauchen. Deshalb mag die Antwort etwas spät kommen…
      Shahrisabz ist andererseits gerade deswegen spannend – die Umstrukturierung einer Stadt zu beobachten, dieses Klima radikaler Veränderung auf Zwang… Ich habe ja selbst wenig Ausflüge abseits der besuchten Städte gemacht. Bei Interesse an traditionellem Handwerk und Leben kann ein Besuch des Ferganatals (Margilan, Rishtan, Andijan) spannend sein, ansonsten auch Ausflüge in einen der Nationalparks, z.B. das Nuratau-Gebirge bei Samarkand – bei genügend Zeit vielleicht ein Ausflug nach Karakalpakstan von Urgench (Khiva) aus oder in die Wüste bei Navoi… All diese Dinge haben aber noch nicht ihren Weg in meine Agenda und meinen Zeitplan gefunden, deshalb kann ich wenig mehr darüber sagen als der Reiseführer oder das Internet es tut.
      Grüße,
      Felix

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