Die ganze Stadt ist auf den Beinen, wohin man schaut sieht man Menschen in Trachten, in der Altstadt, im Supermarkt, die Busse sind verstopft, Tallinn ist doppelt so voll wie sonst. Einmal alle 5 Jahre gibt es diese Art von Feierstimmung, einmal Chaos in Estland. Der Anlass nennt sich „Eesti Laulu- ja tantsupidu“, das estnische Sänger- und Tanzfest und mit den Mitfreiwilligen in Tallinn hatte ich das Glück, es dieses Jahr erleben zu dürfen.
Vom 4. bis 6. Juli dauerte die riesige Veranstaltung mit knapp 20 000 Sängern und Tänzern und über 150 000 Zuschauern. Über die genauen Zahlen habe ich bereits verschiedenes gehört oder gelesen, aber es war auf jeden Fall eine beeindruckende Masse an Menschen auf einem Fleck, gerade für ein Land, das sowieso nur 1,3 Millionen Einwohner zählt.
Los ging es für mich und eine Freundin am Freitagabend mit dem Tanzfest im Kalev-Stadion, ganz in der Nähe meiner Wohnung. Randvoll gefüllt mit Publikum und Teilnehmern bekamen wir zwei Stunden eine wunderschöne, choreografisch und organisatorisch wahnsinnig beeindruckende und für mich völlig neue Darbietung des estnischen Volkstanzes zu sehen. Es ist schwer zu beschreiben, man muss es eigentlich gesehen haben: Bei live gespielter und gesungener Musik bewegen sich Hunderte, teils Tausende Tänzer, dabei sind sowohl Kinder, als auch Senioren, Gruppen aus allen Teilen des Landes, die die gleichen Tänze einstudieren mussten, durchs Stadion. Und das nicht nur synchron, sondern, indem sie sich immer wieder neu anordnen, man von oben die Muster erkennen kann, die die Tänzer bilden und die sich alle paar Sekunden ändern. Hut ab vor den Choreografen, wie sich das organisieren lässt, ist für mich immer noch kaum vorstellbar und ich musste an die Eröffnungsfeiern olympischer Spiele denken, live hatte ich etwas Derartiges noch nicht gesehen.

Tänzer soweit das Auge reicht, in einer der Gruppen waren auch einige meiner Kollegen vom TSG dabei.
Das Sängerfest bestand dann aus zwei Konzerten, ein vierstündiges am Samstagabend und ein siebenstündiges den ganzen Sonntag über. Am Samstag war vor dem ersten Konzert außerdem der Umzug von der Innenstadt zur Sängerwiese, mit allen Teilnehmern und dementsprechend sehr lang. Pünktlich zum Sängerfest hatte sich endlich wieder richtiges Sommerwetter eingestellt, sodass Estland sein erstes Konzert dann ohne Regen im perfekten Sonnenuntergang, das zweite dann tagsüber bei sengender Hitze genießen konnte. Am ersten Tag wurden hauptsächlich ältere, patriotische Lieder vorgetragen, die wie die Tradition des Sängerfestes selbst von großer historischer Bedeutung für Estland sind. Für das Land, das im Laufe seiner Geschichte fast durchgehend von anderen Mächten besetzt war, dienten der Gesang und das Sängerfest, das zum ersten Mal 1869 statt fand, als eine Form des Widerstands gegen die russische Besatzung und trug zur Entwicklung eines estnischen Nationalgedankens bei. Ähnlich war es bei der Unabhängigkeitsbewegung von 1986 bis 1991, die in Estland gänzlich ohne gewaltige Auseinandersetzungen ablief und die oft als „Singende Revolution“ bezeichnet wird. Vor diesem Hintergrund war das blau-schwarz-weiße Fahnenmeer im Publikum und die für Ausländer teilweise zunächst etwas befremdliche überschwängliche Begeisterung von Publikum und Chören angesichts der patriotischen Lieder deutlich verständlicher (;
Aber auch für uns Freiwillige war das Sängerfest persönlich von großer Bedeutung. Viele waren extra dafür noch geblieben und aus ganz Estland noch einmal zusammen gekommen. Einige habe ich an dem Wochenende zum letzten Mal gesehen. Und selbst für Leute wie mich, bei denen das Jahr noch nicht ganz vorbei ist, leitete, wie eine andere Freiwillige es beschrieb, dieses Event doch unweigerlich die letzten Wochen eines unglaublich ereignisreichen Jahres ein.
Bevor ich jetzt zu sentimental werde und bevor ich es ganz vergesse, möchte ich aber auch zum Mitsommerfest noch ein paar Worte verlieren. Mein Geburtstag wird hier nämlich anders als in Deutschland vom gesamten Land gefeiert. Jaanipäev heißt der Johannistag am 24. Juni hier und in der Nacht davor wird im ganzen Land in den Familien gegrillt, in den Dörfern Lagerfeuer gemacht und bis zum Sonnenaufgang aufgeblieben. Der ist hier im Norden um diese Jahreszeit schon in den frühen Morgenstunden und komplett dunkel wird es die ganze Nacht nicht.
Ich war mit einer größeren Gruppe in Maarja Küla, einem Dorf, in dem ausschließlich Menschen mit Behinderung, einige Freiwillige, die wir bereits kannten, und zeitweise Sozialarbeiter wohnen. Im März war ich schon einmal dort gewesen, aber dieses Mal hatte ich noch mehr Gelegenheit das Projekt und einige der Bewohner kennen zu lernen. Das fand ich sehr spannend. Die Tage im Dorf insgesamt waren dafür umso entspannender, es tut doch immer gut, aus der Stadt herauszukommen.
Soweit erstmal wieder von mir, ich freue mich wie immer, von euch zu hören!











