Die 20. Öffentliche Schule Tbilisi auf einen Blick: Mit fünf Jahren eingeschult, landen die Kinder erst im Grundschulgebäude, bis sie in der fünften Klasse in das Haus der Oberstufe wechseln, das etwa zwei Minuten zu Fuß entfernt ist und der Ort, an dem sich mein Arbeitsalltag hier hauptsächlich abspielt. Man hat mir gesagt, hier würden an die tausend Schüler unterrichtet werden. Ich bezweifle, dass irgendjemand in der Lage ist, diese Zahl genau anzugeben, wahrscheinlich ist sie überhaupt nicht dokumentiert. Viele gehen eher sporadisch zur Schule, auf wichtige Prüfungen bereitet man sich meistens mit Privatunterricht vor. Irgendwie besteht neben der offiziellen also auch noch eine inoffizielle Schule, die nebenbei eine wichtige zusätzliche Einnahmequelle für die Georgischen Lehrerschaft darstellt. Wer allerdings die Schulpflicht sucht, schaut am besten auf der Jungentoilette nach, dem besten Versteck der Schule, denn da würde niemand freiwillig suchen. Ein durchschnittliches Lehrergehalt beträgt ca. hundertfünfzig Euro im Monat und selbst der Verdienst derer, die durch besonders gute Examensergebnis herausragen, verliert sich irgendwo unterhalb der Dreihundert – Euro – Grenze. Meine zweihundert Euro Gehalt, plus, offiziell zum Taschengeld verniedlichten, hundertfünfzig Euro, plus Kindergeld heben mich damit finanziell in die obere Georgische Mittelschicht. Das erscheint auf den ersten Blick lächerlich gering und es berechtigt auch sicher nicht zu einem Westeuropäischen Lebensstandard, schon gar nicht dem eines Lehrers, und doch nagt niemand hier am Hungertuch. Aber zu behaupten, dass diese Kleinstgehälter keinen Einfluss auf das Georgische Schulsystem nehmen, wäre gelogen. Kleine Fronten innerhalb des Kollegiums, Tratsch und Hinterlistigkeit sind hier spürbarer als in Deutschland, wenn auch an meiner Schule deutliche weniger als, wie mir erzählt wurde, an anderen, wo es oft zu Anschwärzungen und Denunzierungen ungeliebter Kollegen wegen irgendwelcher lächerlichen Kleinigkeiten bei der Schulleitung kommt, wobei es letzten Endes gar nicht so sehr auf deren Vertreibung abzielt, sondern auf die Beschmutzung ihres Rufes. Damit haben vor allem entsandte Deutschlehrer zu tun gehabt. Auf den Korridoren schleichen während des gesamten Schultages Wächter durch die Gegend, die Mandaturi, unscheinbar und ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Ihre Aufgabe ist es, kurz zusammengefasst, auf den Fluren für Recht und Ordnung zu sorgen, was ihnen in etwa so gut gelingt wie dabei respekteinflößend zu wirken. Kommt dem Gar nicht schon sehr nahe. Sie haben was von Schlossgespenstern, denen jemand die Bettlaken vom Kopf gerissen hat. Trotz ihrer heutigen glanzlosen Erscheinung, scheinen sie vor ein paar Jahren ziemlich gefürchtet gewesen zu sein, denn als Micheil Saakashvili, der sich gerade frisch an die Macht revolutioniert hatte, der Korruption, die man bis dahin als de – facto Hauptwirtschaftszweig einiger Beamten bezeichnen könnte, den Kampf ansagte, hatten sie vor allem den Zweck zu erfüllen, den Lehrern auf die Finger zu schauen – und wenn notwendig zu hauen! Ihr Gehalt übersteigt das der Lehreranscheinend sogar, nur nebenbei angemerkt. Da steigt sie auf wie heiße Luft, die Motivation seinen Beruf mit Leidenschaft auszufüllen! Man habe manchmal das Gefühl, dass einige es sogar begrüßen würden, wenn die Schüler mal wieder nicht kämen, sagte mir mal ein Deutschlehrer, das ist leicht verdientes Geld. Den Schülern kann man’s kaum verübeln. Die Schule wirkt, als wäre sie einmal Lazarett für Georgische Kriegsverletzte, Paintballanlage oder Filmkulisse gewesen, oder vielleicht auch von allem etwas. Löcher im Boden, in der Decke, zählbar nur noch die Stellen, an denen der Putz nicht abbröckelt, Strom nur in einigen Klassenräumen vorhanden. Wer hier zum ersten Mal durchwandert wird von dem Gefühl ungläubigen Humors begleitet, denn Charme hat sie aufjedenfall, aber eher als Filmset. Wer setzt sein Kind zum Buddeln ins Katzenklo? Geld für vollverglaste Polizeistationen, die Transparenz im wahrsten Sinne des Wortes symbolisieren soll, ist zehn Meter entfernt anscheinend zur Genüge vorhanden. 

Zwischen Lehrern und Schülern besteht dieses merkwürdige Verhältnis aus persönlicher Vertrautheit a la Küsschen – links – und – Küsschen – rechts – zum – Abschied auf der einen Seite und das sowjetische Aufstehen wenn der Lehrer das Klassenzimmer betritt auf der anderen. Gleichzeitig geht deren Einfühlsamkeit in Richtung null. Subjektiv betrachtet, hatte ich, außerhalb des Kreises der Deutschlehrer, nicht das Gefühl, dass mir auch nur das leiseste Interesse entgegengebracht wird, abgesehen von dem Georgischen Getuschel, wenn ich am Tisch nebenan in der Cafeteria sitze. Als sich kurz vor meiner Ankunft in Tbilisi eine Schülerin der zwölften Klasse umbrachte, weil sie seit längerem unter Depressionen litt, gegen die sie nicht mehr ankam, wurde das in der Schule nicht zum Thema gemacht. Ich kann mir also vorstellen wie unter diesen Umständen der Unterrichtstalltag eines Georgischen Schülers schmeckt: Trockener als der Staub an der Decke. Auffällig ist auch, dass es mit Robert insgesamt zwei männliche Lehrer an der Schule gibt, wobei einer davon in Rente ist. Für die männlichen Schüler, gibt es da wenige Identifikationsfiguren geschweige denn Ansprechpartner.
In der letzten Zeit hat mich das über meine eigene Schulzeit nachdenken lassen. Denn würde dauerhaftes Schwänzen nicht durch Strafen wie Schulverweis, morgens um halb acht von der Streife zur Schule gebracht werden oder schlichtweg das vorzeitige Ende der Möglichkeit einer Karriere, wäre der Druck weg, der dir jeden Morgen auf subtile Weise einflüstert, dass diese allmorgendlichen Wiederholungen irgendwie Sinn machen, wer wäre noch regelmäßig anwesend gewesen? Definitiv nicht diejenigen, die ihre Zukunft nicht in diesen engen vier Wänden, in der die Gesellschaft sie suchen lässt, finden können. Darin besteht für mich der große Unterschied zwischen den beiden Systemen, ohne, dass ich hier eins von beiden in irgendeiner Weise glorifizieren will! Auch wenn sich in diesem Land eine Perspektivlosigkeit und Trägheit (speziell unter Männern) eingestellt hat, die deprimieren kann wenn man sie sich zu Herzen nimmt, ist Deutschland für mich definitiv nicht das Paradebeispiel von dem es zu lernen gilt! Aus meinen zwölf Schuljahren kann ich ca. sieben Lehrer aufzählen, die mir im Gedächtnis geblieben sind und die ich ganz schlicht als gut bezeichnen würde, weil sie ehrliches Interesse an meiner Persönlichkeit hatten und den Knoten in meinem Kopf , der mich daran hinderte ihrem Unterricht für mehr als zehn zusammenhängende Minuten zu folgen nicht durch Minusse im Mündlichen, rhetorischen Blindgängern über meine Zukunft oder ähnlich wirkungslosen Mitteln zu lösen versuchten, sondern mir zuhörten, ohne mich in die Ecke zu drängen. Zwei davon haben meine Persönlichkeit aktiv beeinflusst, und zwar nur weil ihre Eigene stark genug ausgeprägt war um einen bleibenden Eindruck in mir zu hinterlassen. Das ist in meinen Augen das Ideal, das ein Lehrer anzustreben hat, anstatt die reine Wissensvermittlung zu propagieren und praktizieren, die sowieso nur durch ihr entgegengebrachtes Interesse gewährleistet werden kann! Und diesem Wort kommt hier ohne Frage eine andere Bedeutung zu als ich sie in Deutschland kennengelernt habe. Ich habe Schüler und Ehemalige kennengelernt, die bis zu fünf Sprachen sprechen, das mit achtzehn – bis zweiundzwanzig Jahren, und zwar aus reiner Wissbegierde, teilweise selbst angeeignet oder durch den selbstfinanzierten Privatunterricht gefördert. Es ist als würden den meisten Schülern nur die richtigen Förderer fehlen um ihr volles Potenzial zu entfalten. Es ist merkwürdig, dass mir das sooft soviel größer vorkommt als in Deutschland, dieses Interesse und dieser Hunger zu lernen wobei sich gleichzeitig schon früh eine gewisse Lethargie ausbreitet, die dem in so krassem Gegensatz gegenübersteht.

Mündliche DSD – Prüfungen der neunten Klasse, die Themenwahl war freigestellt (Man beachte Zoroastrismus und Goethes Faust)
Augen wieder auf Deutschland: Wenn ich sehe, wer so alles direkt nach Schulabschluss ins Studieren überfließt, ohne das Leben in Ansätzen kennengelernt zu haben, kann ich mir vorstellen, das diese immer schon geringe Zahl an Menschen, die zu einem Großteil mit dafür verantwortlich sind, die Persönlichkeit von Kindern zu formen in Zukunft weiter abnimmt. Wie soll jemand, der das Leben nur aus Gesprächen kennt andere darauf vorbereiten? Im Rahmen von „Jugend Debattiert“ fand vor kurzem eine interessante Debatte zwischen den Deutschlehrern Robert und Sofo auf der einen Seite, der Klasse auf der anderen Seite statt, das Thema: „Sollten Schulschwänzer in Zukunft bestraft werden?“. Umso interessanter, da die Schüler die Pro – Seite vertraten während beide Lehrer ihnen Contra gaben. „Die stärkste Waffe um Schüler in der Schule zu halten ist Angst.“ sagt Irakli irgendwann. In der Klasse ist es still, die meisten scheinen mit den Gedanken in der Pause zu sein, manche nicken nur zustimmend. Es ist das am härtesten zu knackende Argument, das die Pro – Seite bis jetzt hervorgebracht hat, alle anderen wurden von Roberts Seite aus überzeugend vom Tisch gefegt, denn im Grunde hat er Recht, auch wenn er diese Meinung noch für ca. vier Minuten vertreten muss, exakt bis zum Klingeln der Pausenglocke. Droh ihnen mit Schlechten Noten, Rausschmiss, vergeudeter Zukunft, sozialem Verfall, Polizei – egal was, jeder springt auf etwas anderes an, und du kettest sie an die Schule.
Hör ihnen zu, interessier dich für sie, lass sie dir widersprechen und sich an dir abarbeiten, träumen und nicht zuhören, sie werden in der Lage sein, das zu schätzen.









