Bin ich jetzt im Orient?

An der Uni habe ich in kulturtheoretischen Zusammenhängen bereits mit dem „Orient“ zu tun gehabt. Mit dem Wort verbinde ich mehr eine Stimmung als einen „Ort“: weite Ferne, Märchen. Der „Orient“ existiert in meiner Vorstellung nur innerhalb von Büchern oder Phantasie, nicht aber in der Realität.

Jetzt jedoch, in Duschanbe, wurde ich mehrfach darauf verwiesen, dass ich mich nun im „Orient“ befände und hier einige Dinge einfach anders liefen. Mit Verweis auf den „Orient“ wurden mir beispielsweise die seltene Kundenfreundlichkeit im Gastronomiebereich erklärt oder an meine Bereitschaft zum geruhsamen Warten appeliert. Ich zweifle daran, dass sich eines dieser Phänomene dadurch erklären lässt, dass ich nun im „Orient“ bin. Was soll dieser „Orient“ auch sein? –

Ein geographischer Raum mit Grenzen? Wenn ja, wo hört er auf, wo fängt er an? Und lassen sich die oben genannten Merkmale denn in diesem gesamten Raum finden?

Ist es ein Raum, der durch eine gleiche Geschichte geprägt wurde? Wenn ja, wie weit muss ich zurückgehen, um den „Orient“ zu finden? Kann die Geschichte erklären, warum z. B. die kundenausgerichtete Servicementalität hier nicht so verbreitet zu sein scheint?

Oder heißt „Orient“ nur, dass die Menschen hier ein anderes Aussehen haben, eine persische Sprache sprechen und einige Kleidungsstücke irgendwie „fremd“ – nicht europäisch – sind? Und wird alles andere, was irgendwie auch „fremd“ ist, durch den Rückgriff auf den „Orient“ erklärbar, verständlich, akzeptierbar zu machen versucht?

Mir ist entgangen im „Orient“ zu sein: Es fehlen die märchenhaften Gestalten, Musik und Tanz. Es fehlt auch die täglich empfundene Fremdheit, denn hier leben Menschen so wie ich.

Edward W. Said (1935-2003) hat mit seinem Werk „Orientalismus“ (1978) die Entstehung des „Orients“ durch Zuschreibungen aus dem Westen erklärt und als Projektion entlarvt. Damit hat er einen wichtigen Beitrag zu Literaturwissenschaft, Ethnologie und Kulturtheorie geleistet.

Ich also bin in Duschanbe angekommen. „Orient“ – das ist für mich kein realer Ort. Wie sollte er auch, gibt es für uns alle doch immer einen Raum „östlich“ von uns (Orient von lat. oriens „Osten“, „Morgen“, von oriri „aufgehen“).

Nachtrag:

Biographie von Edward W. Said