Die Shumenshow

Kontraste

Die letzten Wochen waren sehr voll und abwechslungsreich. Besuch, Prüfungen, Ortwechsel. Ganz viele neue Reize.

Linus und Alex sind vor eineinhalb Wochen gekommen. Haben sehr viel gelacht als ich die Wohnung gezeigt habe. Die wundervollen Abflussgeräusche im Esszimmer. Wir waren in der Nationalbibliothek, der Uni, haben im Ala Pagrabs Folkklub 3 Liter Bier aus einem Krug getrunken und zu Livemusik Jive getanzt und Karten gespielt.

Unsere Tage zusammen hatten eine ganz klare Routine, in der nie ein süßes Teilchen fehlen durfte. Wir waren mindestens dreimal am Tag im Supermarkt. Am Freitag haben wir ein bisschen planlos im Regen den Kemeri Nationalpark erkundet. Und sind in die völlig falsche Richtung gelaufen. Ein paar Hunde auf dem Land, immer Respekt, aber es waren nur Dackel. Natürlich waren wir auch in jedem Dorfladen und haben uns leckeres Eis gekauft.

Am Samstag sind wir ganz entspannt ans Meer gefahren. Ein richtiger Sonnentag. Ich habe telefoniert und mich in die Sonne gelegt. Rundum glücklich. Weidenkätzchen gepflückt und mich dabei sehr Lettisch gefühlt, weil hier jeder mit Weidenkätzchen rumläuft, ein Karamellhörnchen gegessen und mich total entspannt gefühlt. Jedes Foto das wir gemacht haben war natürlich mit den ernstgemeinten Sonnenbrillen von Alex Vater und von uns ironisch getragenen. Ein kurzes Nickerchen zuhause und dann haben wir uns mit unseren neuen Outfits von Humana auf den Weg zum Rave gemacht. Ich habe mit Vaclav darüber geredet, dass man in der Erasmusbubble immer über verschiedene Kulturen spricht, so wie wir eben auch. Der Rave war in einem alten kommunistischen Flughafen, sehr schick. Wir haben getanzt, aber irgendwann war es mir ein bisschen zu stumpfer Techno. Zusammen mit einem Usbeken und einem Ukrainer bin ich Richtung Fluss gelaufen und habe von dort tatsächlich alleine, ohne Google maps nach Hause gefunden. Sehr stolz. Wecker gestellt und dann standen auch schon Josi und Pius vor der Türe.

Ein großes Frühstück und wir haben bei Sonne und Regen meinen Lieblingsmarkt plus Flohmarkt erkundet. Richtig schön die Beiden um mich zu haben. So viel geredet und gelacht. Josi hat uns leckeres Risotto gemacht. Am Montag war ich auf Exkursion in einer Gehörlosen Schule. Lettische Gebärdensprache lernen und zusammen mit den Kindern Tiermemory spielen. Hat mich tief beeindruckt was für eine kognitive Leistung es ist so viele Dinge gleichzeitig wissen zu müssen. Der Vortrag danach war ein bisschen langweilig. Sehr gestresst bin ich zurück in die Stadt gefahren und habe mich mit den anderen zur free walking tour in der Moskauer Vorstadt getroffen. Ein cooles Viertel, dass ich jetzt im Frühling wohl noch mehr erkunden werde.

Zusammen mit Anouk, die wir bei der tour kennengelernt haben, sind wir nochmal ans Meer gefahren. Diesmal bei Wind, Hagel, Schneeregen. Trotzdem schön. Wir waren in einem sehr absurd dekorierten Katzencafe mit gruseligen Katzenbildern und haben Tee getrunken und Karten gespielt.

Abends sind wir dann viel zu spät los um eigentlich georgisch essen zu gehen. AM Ende waren wir in einem israelischen Restaurant und haben sehr lecker eine riesige Schüssel voll Hummus mit Falafel, Baba Ganoush, Shakshuka und mehr gegessen. Das Klo sehr abgefahren in Plastik eingepackt und Nachtisch, der leider ein bisschen nach Seife geschmeckt hat. Nachdem wir eine Weile überlegt haben wann Alex und Linus am nächsten Morgen zum Flughafen aufbrechen sollten und einer Runde Lügen, ich bin so schlecht in dem Spiel, ging es wieder ins Bett. Ich habe großen Schlafentzug. Bin mittlerweile auch sehr genervt vom Autoverkehr in der Stadt und an jeder Ampel anhalten zu müssen. Am Meer war es so schön.

Am Dienstag Exkursion ins Gymnasium, einem sehr von sich selbst überzeugten Schuldirektor bei seinem Gelaber zuhören, die ESC Band von Lettland treffen, die dort zufällig gerade einen Auftritt hatte, im Matheunterricht sitzen. Abends haben Josi und Pius schön östlich Kartoffeln mit Quark, sauren Gurken, ganz viel Kraut und Kohl gekocht. Ich hoffe das gammelt nicht noch in meinem Kühlschrank!

Mittwochmorgen war ich im Teehaus Unizeug machen und ein bisschen Geo lernen. Ab in die Uni, den Test schreiben und keine Ahnung haben, ob ich den bestanden habe, oder nicht. Danach haben wir uns in der Kartellbar getroffen, 8 Cocktails getrunken zur happy hour und schlechte Musik gehört, die immer besser geworden ist. Über Zukunft gesprochen. Dann sind wir mit dem Aufzug im Radisson blue ganz hoch gefahren und haben auf die Stadt geschaut. Ganz schön schummerig so im Glasaufzug.

Lecker Nudeln mit Pesto. Habe ich seit ich in Riga bin noch nie gegessen und jetzt dreimal in einer Woche. Am Donnerstagmorgen noch Psychologieprüfung. Eine riesige Erleichterung das alles wegzuhaben. Gerade ist mein Kopf so voll mit viele Zukunftssachen und Ungewissheiten, dass es schön ist Sachen zu erledigen. Mit Pius gefrühstückt und geredet. Waren zusammen in meiner Vorlesung. Dann zurück. Mit Josi geredet. Pius und ich sind nochmal losgezogen, weil Nacht der offenen Galerien war, ein bisschen ein fail, aber so haben wir nochmal Tomaten für Nudeln mit Pesto gekauft und unsere neue Obsession Waffelkekse. Hat mir früher nie geschmeckt, immer zu sehr nach Pappe, aber jetzt richtig lecker.

In meinem Zimmer gegessen, gerätselt, Leberflecke gezählt. War sehr schön mit den Beiden.

Am nächsten morgen wieder früh aufstehen, schwarzfahren, weil ich meine Busfahrkarte verloren habe. Im Zug in den schlaf schaukeln lassen. Umgeben von Letten, endlich ein Fremdheitsgefühl. Karla in ihrem natürlichen Habitat. Das hat mir gefehlt. Daugavpils, eine gar nicht mal so kleine Stadt, die starke Bulgariengefühle in mir hervorgerufen hat. Im trostlosen Regen Richtung Markt geschlendert. Das war ein Erlebnis. Alles Russisch, Bulgarienvibes, aber ein riesiger Markt, wie ein Bazar in Istanbul. Riga fühlt sich da viel zu normal und langweilig an. Endlich nicht die ganze Zeit Deutsch hören. Fettige Kartoffelkrautgebäcke kaufen und am Busbahnhof schön unhöflich von einem Busfahrer angeschnauzt werden. Das habe ich vermisst. Ja, Erasmus ist wohl was anderes als eine Abenteuerreise. Im Reisebus übers Land. So viele sehr verlassene Häuser. Ziemlich krass. Mitten in der Pampa ausgestiegen. Gestern habe ich zum ersten Mal blauen Himmel gesehen. Sonst schwimmen wir hier in einer grauen Brühe. Neben den Straßen Wasser, von dem man nicht weiß, ob es eine Überschwemmung ist, oder ein See/Teich.

Ilze ist mir entgegengekommen. Ilze und Oskars. Und ihre fünf Kinder, von denen gerade drei dauerhaft hier leben. Ich schlafe im Zimmer der ältesten Tochter. Ständig lettische Stimmen und Gelächter um mich herum. Das genieße ich sehr. Die Liebe von Astra, der jüngsten Tochter, habe ich mir mit Schokolade erkauft. Seitdem ist sie mein kleiner Schatten und wollte sogar in meinem Zimmer auf dem Boden schlafen. Das Wetter ist ziemlich ungemütlich draußen. Ich genieße die Aussicht vom Kompostklo draußen über den Sumpf und die Birkenwälder. Im Haus ist es sehr schön warm und voll mit Dingen. Draußen hing eine geköpfte Ente als ich angekommen bin. Entenversorgung ist meine Aufgabe. Oskars ist ganz jagdsüchtig. Als Andenken an sie, habe ich einen Patronenhülsenanhänger geschenkt bekommen. Er hat mir erzählt die letzten Tage hat er nur von der Jagd geträumt. Auch, wenn ich offensichtlich nicht mit allem was hier so praktiziert wird übereinstimme, ist es schön Teil der Familie zu sein. Schach, lettisches Monopoly (die Straße in der ich wohne gibt es bei Monopoly!), Katan und Karten haben wir gespielt. Wasser holen wir an der Quelle. Jeden Abend waschen wir uns in einer schwarzen Plastikwanne. Ich genieße es so einfach zu leben. Es ist ein ganz schöner Aufwand, auf Dauer könnte ich das glaube ich nicht, aber es ist schön sich so verbunden zu fühlen mit der Natur.

Mit Astra habe ich draußen mit einer weißen Plastiktüte gespielt, wir sind auf dem Anhänger in den Wald gefahren. Die Kinder haben alle sehr coole Hobbys. Modellbau zum Beispiel. Alle sind super musikalisch. Astra, die in den Wind spuckt, flucht wie ein Scheunendrescher und mit ihrer Kinderstimme Aschenputtel auf Lettisch vorliest, habe ich schon sehr ins Herz geschlossen. Auch die Söhne, Donats und Bronislav, deren Namen ich erst weiß, seitdem ich hier auf dem kleinen Friedhof war und die Namen ausgeschrieben gesehen habe, auch. Und Ilze und den verrückten Oskars auch. Die Familie liebt Katastrophenfilme, in denen amerikanische Städte zerstört werden. Ihre Beobachtung: Palmen überleben jede Katastrophe. Alle sind sehr zuvorkommend und kümmern sich um mich. Es gibt nicht so viel zu tun. Gestern Abend habe ich Fieber bekommen und lag heute Flach, habe Erbsen enthülst und Drachenkopf Tee getrunken. Ilze schreibt online Permakultur Projekte, Oskars macht Holzschindeln. Sie kümmern sich sehr um mich. Vorhin hat mir Ilze das urtümliche Instrument Kolka gezeigt. Sehr meditativ. Habe jetzt schon ne Blase am Finger vom Spielen. Ich genieße es hier zu lesen, total fertig zu sein und neue Sachen zu probieren. Ahorn- und Birkensaft habe ich schon getrunken, Sirup aus Kieferzapfen. Kein WLAN, deshalb dieses Mal auch keine Fotos. Ich bin total auf den Moment fokussiert und denke nicht über Dinge nach, die nicht materiell existieren. Gestern wurde ich zur Oberhexe geschminkt und meine Körperteile wurden gemessen. Alles in meinem Gesicht ist 7 cm lang. Astra kann beeindruckend gut Englisch mit ihren acht Jahren.

Ich habe mich in das Chaos hier eingelebt. Trotzdem merke ich, dass es anstrengend ist immer von Menschen umgeben zu sein und man nie abschalten kann. Am Montag ist ein Konzert, meine Chance auf traditionelle Musik, aber vielleicht gehe ich schon früher und verbringe noch ein paar Tage ganz für mich. Ich habe schon lange kein Yoga mehr gemacht. Gerade fühle ich mich zu schwach. Hoffentlich geht es morgen besser. Ich will im Garten arbeiten. Heute waren allerdings Minusgrade draußen. Wir saßen drinnen, ich habe mich von Ilze in den Schlaf singen lassen und wurde von Katzen belagert.

Hier sind so viele Dinge normal, die anderswo unmöglich wären. Das gibt eine Menge Freiheit. Alles wird verwendet und repariert, überall sind Unmengen an Büchern. Ich werde die nächsten Tage auf jeden Fall noch hier genießen, auf meine Bedürfnisse achten und den Frühling willkommen heißen.

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