Okay, ich muss zugeben, dass es noch nicht ganz die Hälfte von meinem Freiwilligendienst ist. Zum Glück sind erst 4 meiner 10 Monate um. Das bemerke ich immer, wenn ich einmal im Monat zu easypay gehe um meine Rechnungen zu bezahlen.
Aber mit der Sonne, die den Frühling ankündigt und der großen Veränderung, Präsenzunterricht, fühlt es sich so an, als ob mein Freiwilligendienst noch einmal ganz anders wird. Von neuem beginnt.
Nach 10 Städten/Orten, die ich nun gesehen, nachdem ich alle Freiwilligen besucht habe und bald die neuen Freiwilligen kommen, habe ich gerade sehr Lust eine Zwischenbilanz zu schreiben.
Typisch Deutsch habe ich es hinbekommen meine fake-Tupperboxen in ganz Bulgarien zu verteilen. Die kommen ganz schön rum.
Okay das war ein komischer Fakt am Rande. Jetzt geht es aber richtig los. Ich habe so Lust zu schreiben!
Ein halbes Jahr bin ich jetzt schon in der Fremde! Aber kann man eigentlich Fremde sagen? Schließlich habe ich mich hier so schnell eingelebt, Freunde gefunden und so fremd oder anders sind die Menschen hier nicht. Es gibt genauso wenig eine typisch bulgarische Person, wie es eine typisch deutsche gibt. Wir sind eben alle Menschen und da kann es durchaus sein, dass man sich mit einer Person einer anderen Nationalität besser versteht, als mit einer anderen deutschen Person.
Mittlerweile habe ich eine so tiefe Verbundenheit zu Bulgarien entwickelt, wie ich sie für Deutschland nie verspürt habe. Obwohl ich mich, seit ich im Ausland bin deutscher fühle. Aber wenn ich hier durch die Landschaft fahre, von oben auf eine Stadt blicke, dann spüre ich mein Herz schneller schlagen. Meine Liebe beim Anblick der Landschaft, Sonnenuntergänge, Dörfer und Städte ist wirklich groß. Und der Gedanke, dass ich im Sommer wieder gehe bringt mich dazu, mir alles ganz genau einprägen zu wollen.
Trotz meiner großen Bulgarienliebe merke ich aber auch, wie gut es tut, wenn man sich manchmal auf Deutsch unterhalten kann, ohne darauf zu achten möglichst verständliche Sätze zu bilden. Sieben, mir zuvor völlig unbekannte Deutsche, sind für mich hier zu einem Heimatgefühl, einer Ersatzfamilie geworden, mit der ich mich immer austauschen kann. Wir erleben Bulgarien zusammen auf ganz unterschiedliche Art und Weise.
Wie schnell man sich doch an eine neue Umgebung, neue Situationen und Gegebenheiten gewöhnen kann. Klar, es gibt echt viele Unterschiede und es macht total Spaß sich auszutauschen und neues zu erfahren. Allein dadurch, dass ich nun kyrillische Schrift lesen kann und ein wenig Bulgarisch, kann ich so viel mehr verstehen und habe ganz neue Möglichkeiten, meine Umgebung scheint dadurch vertrauter.
Eine Schülerin der 8. Klasse hat mich gefragt, ob die Kinder in Deutschland anders sind. Gute Frage. Aber wenn ich mir hier so die Klassen anschaue, dann erinnere ich mich an meine eigene Schulzeit zurück und kann sagen, dass es mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt. Die Entwicklungsschritte sind ähnlich, bis zu einem Punkt, ab dem man in Deutschland mehr Möglichkeiten und bessere Zukunftschancen hat als hier.
Es ist schon verrückt. Vor einem halben Jahr hatte ich wirklich so gar kein Bild von Bulgarien und mittlerweile kann ich mich so gut mit dem Land und den Menschen identifizieren. Mir gefällt die Lebenseinstellung nicht so verkrampft und penibel zu sein, sondern alles etwas lockerer gesehen. Davon habe ich mir auf jeden Fall eine Scheibe abgeschnitten. Eine große Scheibe. Was mir besonders gefallen hat ist ein Satz den Soner letztens zu mir gesagt hat: „In Bulgarien sind die Menschen deshalb so vielseitig interessiert, weil sie alles selbst machen. In Deutschland ruft man schon jemanden an, um eine Glühbirne zu wechseln.“ Das ist meist für die Menschen eher Zwang als Interesse, aber es wird in etwas so nützliches wie Lebenskompetenz umgewandelt. Sehr inspirierend und etwas wonach wohl immer mehr Menschen, die den Luxus der Wahl haben, streben wollen.
Alles Fremde wird zur Gewohnheit. Früher fand ich Plattenbauten echt schrecklich und nun wohne ich selbst in einem Block und der Anblick des grauen Monstrums hat nichts mehr hässliches für mich. Ich liebe die Kontraste Bulgariens: Ein Wohnblock und im Hintergrund der Sonnenuntergang – Plattenbauromantik. So schnell gewöhnt man sich an den Anblick und lernt ihn sogar zu lieben.
Seit ich hier bin, habe ich auch schon mehr über Deutschland gelernt, als vor Ort. Unsere Regierung und generell die Möglichkeiten, die wir in Deutschland haben. Mir ist aufgefallen, wie kulturell vielfältig und offen Deutschland ist.
Auch in Bulgarien gibt es viele Einflüsse aus Asien, dem Balkan, Griechenland. Alles ist vermischt und es ist schwer zu bestimmen von wo nun was herkommt. Es gibt viele gesellschaftliche Probleme (Rassismus, Müllberge, Korruption), ein Staatsoberhaupt gegen das viel demonstriert wird, aber auch sehr viele junge ambitionierte Menschen und wie gesagt eine große Vielfalt.
Ich trinke bulgarisches Bier aus 2 Liter Plastikflaschen, wohingegen die typische deutsche Glasflasche fast schon so schick wie ein Weinglas wirkt. Ich esse griechische Oliven, schaue türkische Filme und Serien, höre russische Musik, tanze auf bulgarischen Partys zu Chalgaliedern Balkantänze, spreche in meinem Alltag ein kaudawelsch aus Deutsch-Englisch-Bulgarisch, vermisse deutsche Duschen und manchmal auch die Straßen in Deutschland, die man praktisch mit geschlossenen Augen entlanglaufen kann, wohingegen man hier aufpassen muss wo man hintritt. Ein kleines Abenteuer.
In meiner westlichen Blase, in der ich aufgewachsen bin und nach der auch hier viele streben, habe ich „kulturelle Einflüsse“ aus Großbritannien und den USA gehabt, alles andere habe ich gar nicht in betracht gezogen. Das ist schon eine ziemlich beschränkte Sichtweise gewesen bei der mir viel entgangen ist.
Ich kenne jetzt Bulgarien in verschiedenen Jahreszeiten. Oh und wie ich mich auf das Lebensgefühl der Bulgaren im Frühling freue! Eine karge felsige Landschaft im Westen und weite Flächen im Osten. Städte und Dörfer, Arm und Reich, Weltoffenheit, Fortschritt, Korruption, Tradition, Fleischnation und Veganer. Das Land der Kaffeeautomaten, einer großen Auswahl an Joghurt, Straßenhunde und Katzen überall. Hauptbeschäftigung: spazieren gehen, andere Menschen im Zentrum des Geschehens treffen. Vieles ist oberflächlich, Aussehen spielt eine große Rolle (es gibt auch wirklich sehr viele bildhübsche BulgarInnen), körperliche Betätigung und Hilfsbereitschaft sind super wichtig. Ich bin beeindruckt von den Englischkenntnissen der Schüler. Wirklich amazing!
Unter meinen persönlichen Begegnungen waren viel mehr positive als negative.
Ich habe gemerkt, was es für einen Unterschied macht, ob man nun Urlaub an einem Ort macht, oder wirklich dort wohnt, der Ort zur Heimat wird, auf Zeit. Auf manchen Luxus muss ich verzichten und doch habe ich so viel Freiheit wie nie zuvor. Ich verdiene mein eigenes Geld, wohne im Zentrum einer Stadt und muss meine eigenen Entscheidungen treffen, meinen Alltag und meine Zukunft gestalten. Manchmal mache ich mir selbst Zeitdruck, denke ich mache zu wenig und verpasse irgendetwas. Aber dann reicht es schon einfach vor die Türe zu gehen und die neuen Eindrücke aufzusaugen.
Das Eisbergmodell der Kulturen passt wirklich treffend. Ich würde sagen mittlerweile bin ich unter der Oberfläche angekommen, verstehe Dinge, die man nur versteht, wenn man eine Weile hier ist, aber bei weitem habe ich noch nicht alles entdeckt und verstanden.
Bulgarien hat so vieles zu bieten. So viele Sehenswürdigkeiten, Geschichte, Natur.
Wenn ich so an kulturweit denke und deren Mission, dan würde ich sagen: Ziel erreicht, bei mir. In den letzten vier Monaten habe ich so viel neues gelernt, einen riseigen kulturellen Austausch, europäische Verbundenheit und ein Zusammengehörigkeitsgefühl erlebt, dass ich vorher nicht so verstehen konnte, wie ich es jetzt fühle.
Meine Lust auf Neues, weitere Reisen, wurde gestärkt, aber entschleunigt. Es braucht eben Zeit um an Orte zu gelangen. Ob mit dem typischen Kleinbus, dem Zug oder einer Mitfahrgelegenheit, ob in die Hauptstadt Sofia, den beliebten Urlaubsort Varna oder die für mich klischeehafteste Stadt Bulgariens Haskovo: die Strecke dorthin ist schon spannend. Was liegt auf dem Weg? Vorfreude, Träumereien, Pannen, Kontakt zu anderen Menschen, Dinge, die schiefgehen und Planänderungen werden nachher zu den besten Geschichten.
Kontakte in ganz Europa zu haben, ein Netzwerk, bringt so viel Sicherheit und neues Wissen. Allein auf unserem Kontinent gibt es so viele unterschiedliche Kulturen und doch kann man sich als Europäer identifizieren. Ich kann es zumindest besser, als mich als Deutsche zu sehen.
Für mich waren so viele Länder Europas früher unsichtbar. Ich dachte an die typischen Urlaubsländer Frankreich, Italien, Spanien, aber Europa ist so viel mehr und die Länder so anders, wenn man nicht zur Hauptsaison dort ist.
Natürlich hat es auch viel mit der eigenen Einstellung und Glück zu tun, wo man letztendlich landet, mit welchen Leuten man zu tun hat und mit der eigenen Lebenssituation.
Meine Erfahrungen sind nicht repräsentativ, sondern genauso individuell, wie die Erfahrungen von allen anderen. Das ist es ja, was alles erst so besonders und schön macht.
Die Zeit zu haben ein ganzes Land zu bereisen, von Einöde zu Hauptstadt, oder besser gesagt, sich die Zeit zu nehmen. Warum habe ich das eigentlich nie so exzessiv in Deutschland gemacht? Bald habe ich mehr von Bulgarien als von Deutschland gesehen. Ich denke ein Punkt sind auf jeden Fall die Bahnpreise in Deutschland, aber Deutschland hat auch noch so vieles zu bieten, was ich nicht kenne. Distanz spielt hier eine kleinere Rolle. Ich lerne es mehr Geduld zu haben und alles geschehen zu lassen. Alles ist gut, so wie es ist. Natürlich ist es auch von Vorteil, dass man Übernachtungsmöglichkeiten hier im ganzen Land hat.
Alleine zu wohnen hat mir viel offenbart. Über mich, was ich will, was mich glücklich macht, was ich zum Leben brauche, dass ich viel zu viel besitze, wie man aus wenig viel machen kann, was meine Ziele sind, was ich vermisse. Wie man allein mit Rückschlägen und Problemen umgeht, dass man sich trotzdem immer auf sein Umfeld verlassen kann, Unterstützung bekommt, wie wichtig zwischenmenschliche Beziehungen sind, weil ich der Überzeugung bin, dass andere Menschen die größte Wissens- und Lernquelle sind. Wie wichtig es ist eine Alltagsroutine zu haben, dass man manchmal auch Dinge machen muss, auf die man absolut keine Lust hat. Und auch, dass es super schwierig ist zwei Leben unter einen Hut zu bekommen, sich zu verändern und trotzdem niemanden zu vergessen, Kontakte zu pflegen. Ich dachte das gelingt mir besser, aber ich lerne dazu.
Ich merke schon jetzt, wie ich mich verändert habe, neue Situationen mir nicht mehr so viel Angst machen, ich besser im improvisieren werde.
Ich habe so viele Unterschiede auch innerhalb von Bulgarien erlebt. Von mit uran verunreinigtem Wasser, über Filterkanne, bis super leckeres Quellwasser. Luxusvillen und Hütten aus Blech. So viele zerfallene Gebäude, Bauruinen und neue Plattenbauten. Monumente, Denkmäler, Statuen ohen Ende. Einen trostlosen Zoo, mit depressiven Tieren, der mich sehr mitgenommen hat, alte Autos, Pferdewagen, Motorräder und SUVs. Menschen, die mich inspiriert haben, Ausblicke, die mich bewegten. So viel Freude, Gespräche und Inspiration.
Habe mich geborgen gefühlt auf der Rückbank eines bulgarischen Autos und doch tatsächlich in diesem Moment wurde ich so an Autofahrten aus der Kindheit, auf dem Heimweg von einer Familienfeier erinnert. Das hätte ich nicht gedacht.
Ich bin zu jeder Tages und Nachtzeit Zug gefahren. Habe die schlammigsten, dornigsten Abkürzungen genommen, kreative Problemlösungen entdeckt.
Ich bin so fasziniert vom Lichtermeer der Städte, von der rauen, felsigen Natur, den wilden Flüssen, den Dörfern in den Bergen. All diese Erfahrungen kann man, das ist meine Überzeugung, in jedem Land machen. Also auch in Deutschland.
So jetzt habe ich wohl alles rausgeschrieben, mein innerer Monolog hat ein Ende, auch wenn es vielleicht ein bisschen durcheinander ist und ich manches einfach nicht so formulieren konnte, wie ich es fühle. Im Moment verspüre ich eine große Lust auf die wärmere Zeit, bin wohl gerade ziemlich euphorisch.
Jetzt muss ich mich ein wenig beeilen um noch rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Die Sonne scheint und ich habe gerade kreativen Überschuss!