Das hier ist meine Einschätzung nach einer ganzen Weile hier zum gesellschaftlichen, politischen und sozialen Klima, das sich mir in Santiago präsentiert. Ich habe keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit, aber ich habe mich um eine wirklichkeitsnahe Darstellung bemüht, wie ich es nach gut zehn Monaten in Santiago de Chile empfinde.
Ich wusste schon bevor ich nach Chile kam, dass das Land arm ist. Nicht entwicklungslandarm, aber auf keinem Fall auf dem Niveau einer Industrienation. Dass der Mindestlohn für einen Monat Vollzeitarbeit bei 280 Euro liegt und selbst das noch häufig unterschritten wird, hat mich vielleicht schockiert, aber nicht überrascht – die Armut schon.
Nicht die Armut an Vermögen und materiellen Gütern, sondern die Armut an Wissen, Bildung, Kultur, Interesse. Und was das in einer Gesellschaft anrichten kann, hat mich nicht nur überrascht, sondern in Teilen auch entsetzt.
Eine ähnliche Idee wie Humboldts Bildungsideal hat es in Chile wohl nie gegeben. Bildung wird funktionalisiert, Wissen nach Nützlichkeit bewertet und was nicht standhält, fliegt aus dem Lehrplan. Der Geschichtsunterricht hat bei der Reform in den 2000er Jahren nur mit Mühe überlebt. Heute fällt es den Schülern mit denen ich Unterricht habe schwer, selbstständig sich den Inhalt eines Briefes auszudenken. Nicht bloß auf Deutsch, sondern selbst auf Spanisch. Scheinbar nie gelernt.
Das Resultat solcher Bildungspolitik sind Menschen, die zwar willig und auch recht billig sich als Arbeitskräfte ausbeuten lassen, aber ein Buch nur dann in die Hand nehmen, falls sein Inhalt in irgendeiner Prüfung verlangt wird. Die organisierte Arbeiterbewegung in Deutschland hat schon vor 150 Jahren angefangen, neben besseren Arbeitsbedingungen auch Bildung für die benachteiligten Schichten zu fordern und politische Mitbestimmung, doch in Chile war die Entwicklung anders.
Überhaupt, die politische Mitbestimmung. Bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr lag die Beteiligung bei unter 30%. Aber trotzdem wird über die Arbeit der (von ihnen?) gewählten Regierung hergezogen. Die hält man ohnehin wahlweise für kriminell, korrupt oder grenzdebil oder gleich alles zusammen. Es scheint noch nicht richtig angekommen zu sein, dass die Diktatur seit über zwanzig Jahren vorbei ist und dass die Regierung nicht schicksalsgegeben, sondern abwählbar ist. Doch Mut oder Lust sich einzumischen, sei es in Form von Initiativen, neuen Bewegungen oder schlichtweg der Wahrnehmung der bürgerlichen Ehrenrechte des aktiven und passiven Wahlrechts? Im größeren Stil alles Fehlanzeige.
Natürlich, die Studentenbewegung, die vor allem im Jahr 2011 auch in der deutschen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erhielt. Sie ist zumindest noch in Resten vorhanden. Nicht, dass ich nicht mit ihren Zielen sympathisieren würde, (als die CDU nach dem Wahlsieg 2005 Studiengebühren in NRW einführte, habe ich auch dagegen demonstriert) aber es reicht eben nicht nur aus, gebührenfreie Bildung zu fordern, sondern der Protest braucht auch die Erklärung, wer – wenn nicht die Studierenden selber – diese bezahlen soll. Außer einen Verweis auf die Kupfermienen des Landes kommt da aber kaum was. Was soll man davon halten?!
Im Gegenzug stellt man sich jedoch in der Auseinandersetzung mit dem Präsidenten Boliviens um Meereszugang für sein Binnenland mit dümmlich-nationalistischem Gehorsam hinter den sonst so verachteten Präsidenten, bereit jeden Zentimeter chilenische Küste zu verteidigen. Der Gedanke, dass die Grenzen Südamerikas überwiegend von den Spaniern gezogen wurde und willkürlich sind, kommt scheinbar nicht auf. Lateinamerikanische Solidarität genauso wenig.
Für mich ist die Situation in Chile vor allem ein anschauliches Beispiel dafür, wie es in einer – aus meiner Sicht – gebildeten, aufgeklärten, gerechten Gesellschaft nicht zugehen sollte. Für mich persönlich kann ich Lehren daraus ziehen, wie ich meine Lebensumwelt beeinflussen möchte, damit sie nicht droht, ähnliche Probleme zu bekommen wie ich sie hier sehe. Gerade wegen solcher Erfahrungen empfinde ich meine Zeit im Ausland als wertvoll und denke, dass es möglichst vielen jungen Menschen ermöglicht werden soll, solche zu sammeln.