Der Nordosten Chinas – eine Reise in die Vergangenheit

Betriebsferien: Ende Januar bis Ende Februar

Art der Ferien: Winterferien

So stand es in meiner Stellenbeschreibung, die ich im März 2011 bekommen habe und bereits da stand fest, dass ich die Zeit nutzen würde, um mir China anzuschauen. Was genau, das stand erst im Dezember fest – und auch da nur die erste Station: Beijing, die Hauptstadt. (Ich schreibe das lieber dazu, denn eine chinesische Studentin, der ich von meinen Ferienplänen erzählte, hielt es offenbar für nötig, mich über die Besonderheit dieser Stadt zu belehren: „Ah, Peking. Das ist die Hauptstadt von China.“ Den Kommentar spare ich mir jetzt lieber.)

Dass zu Beijing, Chinas Hauptstadt (!), aber noch Chenge, Haer’bin, Tai’an und Qufu dazukamen, habe ich meiner Mitfreiwilligen Johanna zu verdanken. Sie hatte nämlich wesentlich genauere Pläne als ich und war bestens vorbereitet. Danke Jojo!

Eigentlich bin ich schon seit dem 7. Februar wieder in Shanghai; dass der Bericht erst jetzt kommt, verdanke ich dem Shanghaier Visumsbüro. Deren seltsame Entscheidung bescherte mir eine lange Woche, in der ich hauptsächlich damit beschäftigt war, auf Anrufe zu warten, Dokumente zu besorgen, Tickets zu buchen und vor allem rote Stempel zu sammeln – und sie bescherte mir einen sehr unerwarteten Kurzurlaub in Hong Kong! Doch dazu später. Das wichtigste ist, dass ich wieder auf Festland China angekommen bin und nicht zurück nach Deutschland fliegen musste!

Genug geschwafelt, jetzt will ich von dieser wunderbaren Reise erzählen!

Beijing (17. bis 28. Januar)

Das Abenteuer „Nordchina“ begann aber nicht erst am 17. Januar sondern schon ein paar Wochen zuvor mit dem Ticketverkauf. Nach mehrmaligem gescheitertem Versuch, ein Zugticket zu ergattern, gab ich mich schließlich geschlagen und fuhr kurzerhand zum Shanghaier Fernbusbahnhof. Meine erste Adresse gab es leider nicht mehr, aber an der Shanghai Railway Station wurde ich fündig. Und zwar nicht nur mit einem Busbahnhof, sondern auch mit einem Ticket. Keine 10 Minuten nach Ankunft hielt ich ein Busticket Shanghai-Beijing für den 16. Januar in der Hand und war absolut fassungslos. Sollte das jetzt tatsächlich so einfach gewesen sein??? Irgendwie traute ich dem Ticket nicht so ganz und glaubte erst daran, als ich zwei Wochen später wirklich im Bus saß.

Aber was heißt saß, ich lag in meinem Bus! So bequem hatte ich mir die Fahrt im Leben nicht vorgestellt! Anstelle von Sitzen war der Bus mit drei langen Reihen von schmalen Stockbetten eingerichtet, sodass ich 16 Stunden später am Dienstagmorgen frisch und ausgeschlafen in Beijing ausstieg, meinen Rucksack schulterte, die Taxifahrer abwimmelte und mich auf die Suche nach einer U-Bahn machte.

„11 Tage in Beijing??? Was macht man so lange dort???“

Tja…

In den ersten Tagen erkundeten wir verschiedene Hutong-Viertel (胡同 „Hutong“ = enge Gasse) mit ihren Sehenswürdigkeiten wie dem Lamatempel, Konfuziustempel, Bell- und Drumtower … und schafften es auch einmal, uns ,wie im „Lonely Planet“-Reiseführer als Highlight empfohlen, in diesen schmalen, grauen Gassen zwischen den chinesischen ein- bis zweistöckigen Häusern die Orientierung zu verlieren. Bis sich ein freundlicher junger Chinese unser erbarmte und uns den Weg zurück zur Straße erklärte. Während unserer Streifzüge trafen wir auch auf die „Drei-Hinteren-Seen“. Zugefroren, werden diese im Winter zum Treffpunkt aller Beijinger. Egal ob zu Fuß, auf Schlittschuhen, auf auf Bretter oder Kufen geschraubten Stühlen oder sogar auf fahrradähnlichen Apparaturen – hier vergnügen sich Groß und Klein!

Nachdem wir die Hutongs in Beijings Altstadt genügend erkundet hatten, uns im so gut wie menschenleeren Sommerpalast ins vorletzte Jahrhundert zurückversetzen lassen und im alten Sommerpalast die Vorbereitungen auf das chinesische Frühlingsfest angeschaut hatten, brachen wir am fünften Tag zu unserem ersten Tagesausflug auf. Ziel: Die große Mauer bei Mutianyu, ca. 90 km nordöstlich von Beijing. Wie geplant verließen wir um 5.45 Uhr vor den  verschlafenen Augen der sehr erstaunten Hostelmitarbeiter unsere Unterkunft, erwischten eine der ersten U-Bahnen und standen gegen 6.30 Uhr unweit des berühmten Tiananmen-Platzes auf der menschenleeren Straße. Nein, nicht ganz menschenleer. An einer Bushaltestelle trafen wir längerer Suche auf ein paar Arbeiterinnen und fragten sie nach dem Beijing Sightseeing Bus Center. Leider konnten sie uns auch nicht weiterhelfen. Aufgeben? Wir doch nicht! Optimistisch stiegen wir wieder in die U-Bahn und fuhren zum zweiten Busbahnhof. 7.00 Uhr. Da, der Bus 916! Ja, wir schaffen es!!! „Taxi?“ Nein, wir wollen kein Taxi, wir haben eben unseren Bus gefunden! „Bu jong, xie xie! Women zuo gonggongqiche!“ „Ah, wo wollt ihr hin? Mutianyu?“ Äh, ja…? Mit dem Bus 916, oder? „Ihr müsst mit dem Bus fahren, der fährt schnell! Der hier ist sehr langsam.“ Okay…? „Der fährt bis Huairou. Dann mit Taxi weiter.“ Wir dachten, da fährt auch ein Bus? „Nein, nein! Kein Bus! Ihr müsst mit dem Taxi fahren. Hier ist der schnelle 916. Schnell einsteigen, er fährt gleich los!“ Ähm, Johanna…? Wollen wir vielleicht doch…? Ja…, ich glaube auch…

Und das war das Ende unseres Ausfluges zur Mauer. Stattdessen meldeten wir uns abends im Hostel für die Tour am nächsten Tag an, die auch wirklich sehr schön war. Drei Tage später fanden wir übrigens heraus, dass der Beijing Sightseeing Bus Center 20 Meter entfernt von den Arbeiterinnen gewesen wäre…

Anstatt den Tag – und vor allem das Wetter – ungenutzt verstreichen zu lassen, fuhren wir schließlich zum 香山, dem Duftberg. Eine wundervolle Entscheidung! Schon das Dorf am Fuße des Berges war toll. Steile, gepflasterte Straßen gesäumt von niedrigen, kleinen Häuschen; eine Frau, die unter großen Dampfwolken Pfannkuchen macht; nicht weit davon ein Baoziverkäuferin, deren Teigtaschen ebenso so dichte Dampfwolken fabrizieren; vor uns erhebt sich der Duftberg. Eine gemütliche, entspannte Atmosphäre und – Ruhe. Das ganze unter einem strahlend blauen Himmel bei klirrender Kälte. Nach vielen, vielen Treppenstufen und noch mehr Pausen kommen wir oben auf dem Gipfel an und können endlich auf die andere Seite sehen. Noch mehr Berge! Natur!  Ich weiß, das klingt alles ziemlich pathetisch, aber nach 5 Monaten eingeschränkter Sicht durch Hochhäuser, die überall den Blick versperren, kam mir die Weite hier geradezu paradiesisch vor! Gut, das Industrieviertel, das sich mit seinen qualmenden Türmen von Norden her ins Bild schob, war weniger paradiesisch, aber das konnte ich gut ausblenden. Auf der anderen Seite bot sich ein toller Blick auf Peking, wo wir sogar den Sommerpalast ausmachen konnten. Ein Wunder – am Tag zuvor im Sommerpalast ließ der Smog gerademal eine Sicht von 50 Metern zu!

Nach einer schönen, langen Wanderung kamen wir abends k.o. und durchgefroren im Hostel an und gingen gleich schlafen. Denn am nächsten Tag, Sonntag, hieß es wieder früh aufstehen. Um 7.00 Uhr sollte unsere Mauertour mit einem leckeren Frühstück im Hostel beginnen!

Die große Mauer – ich muss sagen, sie hielt alle Versprechen.

Voller Erwartung stapfen wir noch mit Muskelkater vom letzten Tag in den Beinen viele, viele Treppenstufen hoch. Um eine Biegung, um noch eine – und dann liegt sie vor uns! Ca. 8m hoch ragt sie vor uns wie eine Festung empor. Ein paar mehr Stufen und endlich stehen wir oben. Nach vorne fällt der Blick auf eine wilde Berglandschaft, auf deren entfernten Hängen weitere Wachtürme auszumachen sind, nach links und rechts erstreckt sich die chinesische Mauer. Sehr, sehr ästhetisch schlängelt sie sich über die Bergkuppen, Ton in Ton mit den umliegenden blätterlosen Bäumen und ockerfarbenen Steinen. Ein solch fotogenes Bauwerk habe ich selten gesehen. Während unseres Spaziergangs auf der Mauer kann ich mich nur zu gut vorstellen, wie hier vor vielen, vielen  Jahren die Wachen des Kaisers patrouillierten und nach feindlichen Mongolen und anderen Ausschau hielten. War Gefahr im Anmarsch, zündete die Wache ein großes Feuer auf seinem Wachturm an, das Zeichen wurde vom nächsten Turm aufgenommen, vom nächsten und nächsten und in Windeseile kam die Nachricht in der Hauptstadt an und erreichte den Kaiser.

Selbstverständlich waren die drei Stunden, die uns unsere Führerin großzügig gewährte, viel zu wenig. Gelohnt hat sich der Ausflug trotzdem auf jeden Fall. Ein Zitat von Mao: „Wer die große Mauer nicht bestiegen hat, der ist kein Mann.“

Am selben Abend begann das chinesische Frühlingsfest, 春节chūnjié oder auch das chinesische Neujahr. Die Chinesen haben neben dem internationalen Kalender noch ihren eigenen, den Mondkalender. Somit findet ihr Sylvester auch nicht am 31.12. statt, sondern am letzten Tag des Mondkalenders, in diesem Jahr am 22. Januar. Bereits in Shanghai hatten mir mehrere Leute versichert, dass an diesem Fest, dem Familienfest in China, die Straßen wie leergefegt sein würden. Ich will auch nicht behaupten, dass ich das nicht geglaubt habe, aber mit so leeren Straßen hatte ich dann doch nicht gerechnet. Es war wirklich niemand mehr unterwegs, abgesehen von ein paar Polizisten, die fröhlich zuguckten, wie 3- und 4-jährige Kinder Böller und andere Feuerwerkskörper anzündeten. Selbst die U-Bahn-Stationen waren wie ausgestorben und in den U-Bahnen saßen nur ein paar traurige Chinesen, die endlich auf dem Weg nach Hause waren oder vielleicht an ihre Familien dachten, die in diesem Moment zusammensaßen und ein Festessen verputzten. Auf der verzweifelten Suche nach etwas essbaren landeten wir schließlich bei McDonalds, dem einzigen Restaurant, das noch offen zu haben schien. Auch hier war die Stimmung eher gedrückt. Aber wir hatten durch die großen Fenster einen guten  Blick auf all die Feuerwerke, die ständig überall zwischen den Hochhäusern explodierten. Schließlich fuhren wir zurück ins Hostel. Um Mitternacht schien ganz Peking zu explodieren. Durch unsere zweiseitigen Fenster hatten wir einen ausgezeichneten 180°-Blick auf die umliegenden Hutongs. Ohne Unterlass blitzte es und bunte Raketen erleuchteten die Hochhäuser im Hintergrund. Besonders aus den schmalen Gassen der Hutongs stiegen ständig neue Raketen auf. Ein Feuerwerk, wie ich es noch nie erlebt habe!!! Aber nicht umsonst sind die Chinesen die Erfinder des Feuerwerks!

Am nächsten Tag, Neujahr nach dem Mondkalender, waren sie plötzlich wieder da. Dicht an dicht schoben sich die chinesischen Familien mit feierlich herausgeputzten Kindern jeden  Alters zusammen mit uns durch die riesige Tempelanlage des Himmelsaltars. Sonst nicht gerade der Fan von großen Menschenmassen, machte mir das Gedränge an diesem Montag (und den folgenden Tagen) gar nichts aus. Es herrschte eine tolle Stimmung, alle waren gutgelaunt und der Himmelsaltar erstrahlte blendend weiß im Sonnenschein. (Der ganze Rauch vom Feuerwerk hatte sich doch tatsächlich wieder verflüchtigt, ich hätte es nicht für möglich gehalten!)

Am 2. Tag des Mondjahres schauten wir uns einen weiteren Tempel an, diesmal taoistisch. Auch hier zahlreiche Menschen, die Räucherstäbchen anzündeten, mit Münzen auf einen großen Gong zielten, bereits von tausenden von Händen blankgeriebene Wandreliefs noch blanker rieben und mit geschlossen Augen und ausgestreckten Armen auf eine Drachenstatue zuliefen, um diese dann genau zu betasten. Wir vermuten, dass bringt alles Glück. Seltsamerweise befanden sich auf dem – zugegeben, ziemlich großen Gelände – auch eine ganze Armee von Polizisten, die aber irgendwie nichts zu tun zu haben schienen. Zumindest waren einige vielmehr damit beschäftigt, uns „Weißen“ fasziniert hinterherzustarren oder sich gegenseitig im Schwitzkasten zu halten. Vielleicht ein Ausflug der Polizeischule?

Mittwoch früh standen wir um 7 Uhr morgens zwischen ca. 100 chinesischen Reisegruppen auf dem berühmten Tiananmen-Platz, um uns das morgendliche Flaggenhissen und die Soldaten anzuschauen, die sich laut Reiseführer mit exakt 108 Schritten pro Minute bewegen und mit jedem Schritt 75cm zurücklegen. Leider konnte ich nicht nachzählen, da die Displays der Digitalkameras vor mir zu undeutlich waren. Das war nämlich der einzige Weg, über den ich wenigstens etwas vom Geschehen jenseits des Gitters erahnen konnte. Na ja, zumindest haben wir den Tag nicht verschlafen. Danach stand die verbotene Stadt oder auch das „Palastmuseum“ auf dem Programm. Dank Johannas sehr ausführlichen Reiseführers sind wir beide jetzt Experten, was wolkentanzende-Drachen-Reliefs, zylinderförmige Aufsätze, die Zahl 3 und ihre Potenzen, Giebelfiguren und kaisergelbe, doppeltraufige Walmdächer angeht.

Am Donnerstag fuhren wir mit Linienbussen für insgesamt ca. 50 Eurocent zu den 80km nordwestlich von Peking gelegenen Ming-Gräbern. Ein Tal mit 9 Kaisergräbern. Plötzlich wieder fast allein genossen wir das schöne Wetter und die schöne Landschaft. Jojos Reiseführer sorgte für den kulturellen Beitrag. (Auch hier gibt es Walmdächer und Opergefäße!)

In den letzten beiden Tagen klapperten wir noch alle übrigen Punkte unseres Programms ab und am Samstag bestiegen wir nach 11 Tagen Extrem-Sightseeing in Beijing ein Bummelzug ins 250 km entfernte Chengde.