Über besorgte Mütter

Alternativtitel: Bisherige Geschehnisse, Teil 2

Platzangebot?!

Datum: 16. April 2024

Ort: Nowa Iwiczna, Polen (und mein E-Mail-Postfach, auf das ich von da aus zugreife)

Dienstag. Ein dunkler und wolkiger, leicht regnerischer Dienstag. Die Winterjacke muss wieder her. Früh morgens fahre ich mit dem Lokalbus zur Post, um dort einen Brief nach Deutschland abzugeben – meine Bank möchte eine schriftliche Bestätigung, dass ich ausschließlich in DE steuerlich ansässig bin. Da die polnische Post bekannt für ihre Verspätungen mit regulären Briefen ist, muss es ein Einschreiben werden – umgerechnet 5 Euro. Danach gehe ich zu Fuß zu meiner IJFD-Einsatzstelle. Die 8b der örtlichen Grundschule ist nicht anwesend, ebenso Englischlehrerinnen A. und E. –  daher war am Morgen auch genug Zeit für den kleinen „Ausflug“ zur Post und ich muss erst um 9:40 anfangen. Dann eine Deutschstunde, Englisch, nochmal Deutsch. Um 12:40 ist Schluss, ich gehe zurück zum Haus meiner Gastfamilie. Was ich dort mache, keine Ahnung mehr. Wahrscheinlich erstmal ins Zimmer, an den Laptop, Urlaub planen – „Majówka“, die erste Maiwoche mit zwei Feiertagen und drei Brückentagen, ist nicht weit.

Gegen 15:40 erreicht eine Mail mein Postfach.

Absender: bewerbung@kulturweit.de

Titel: „Ihre Bewerbung für den Freiwilligendienst kulturweit“

Ich erinnere mich an den Bewerbungszeitplan, der in voherigen Mails und in der Timeline auf der Webseite erwähnt wurde: Zusagen werden zwischen dem 16. April und 28. Juni versendet – Absagen am 16. April.

Ich klicke auf die Mail.

„Rückmeldung bis: 23.04.2024

Hallo Rebecca […],

wir freuen uns sehr, Dir einen Einsatzplatz für einen Freiwilligendienst mit kulturweit mit Beginn zum 1. September 2024 anbieten zu können.“

Okay. Durchatmen, Rebecca! Du nimmst dieses Angebot jetzt sofort an!

Jetzt!

Oder…?

Ich denke erst einmal darüber nach. Die Entscheidung muss schließlich wohlüberlegt sein.

Oder muss sie das?

Leider habe ich eine schlechte Angewohnheit: Wenn eine Entscheidung zu treffen ist, denke ich so viel darüber nach, dass es mir immer schwerer fällt, diese zu treffen. Was ich dann tue? Ich frage andere Leute, was sie wählen würden. Und leider bin ich ziemlich beeinflussbar, was das angeht. Auch wenn im Kopf eine Stimme schreit: Nein, wähle das andere!

Ich lenke mich erstmal ab. Die Entscheidung kann ja noch eine Woche warten.

Jedoch kommt der Gedanke an die Entscheidung immer wieder ins Gehirn.

Was tun?

Mama anschreiben?

Oh Gott, bloß nicht. Sie wird es mir rausreden wollen.

Aber es wäre doch nur verantwortlich, ihr davon zu erzählen.

Tief einatmen.

Tief ausatmen.

Das Handy in die Hand nehmen.

WhatsApp öffnen.

Den Kontakt „Mama“ raussuchen.

Wie erzähle ich es ihr?

Direkt oder indirekt?

Mit Herzchen- und Küsschenemojis oder ohne nichts?

Mir kommt eine Idee für eine Frage als Anfang, die ich sowieso früher oder später fragen müsste: Meine Familie plant, wieder Urlaub in Brasilien, der Heimat meiner Mutter, zu machen. Ganz konkret wurde es dabei noch nicht, allerdings fiel schon mehrfach das Wort Dezember. Wenn ich das Platzangebot annehme und bis Februar weg bin, müssten wir es verschieben bzw. ich könnte nicht mitkommen.

Also:

„😘

Mãe

Hattest du schon konkret geplant, wann wir nach Brasilien fliegen?“

Zwei Minuten später die Antwort:

„Ich habe zwar noch nicht gebucht aber ich wünsche mir dass wir im Dezember fliegen können 😘“

Hm. Was jetzt?

„Okay, weil folgendes

Ich habe heute eine Zusage für etwas bekommen, und habe jetzt eine Woche Zeit zu entscheiden ob ich das annehme oder nicht

Falls ich mich dafür entscheide, wäre ich September bis März nächsten Jahres wieder weg“

Bis Februar, fällt mir dann ein, aber egal.

„Work and Travel?

Oder Volunteer“

„>Oder Volunteer
Ja

Wir können auch darüber telefonieren, wenn du kannst, es wäre leichter alles zu erklären 😅“

„Cool, aber wäre super toll wenn du zuerst dein Abi machen kannst 🤗 und nach Ma

Ja

Gerne“

 

Kennt ihr das, wenn man etwas sofort bereut, gesagt zu haben, nachdem die Antwort kommt?

Es gibt nämlich ein großes Problem:

Mama enttäuschen tut sehr weh. Und um Mama nicht zu enttäuschen, müsste jetzt wohl erstmal ein Abi (das ich nicht habe, da ich noch nicht einmal die Oberstufe besucht habe) her. Zugegeben, ich hatte in der Vergangenheit mit dem Gedanken gespielt, einfach so die Externenprüfungen für die allgemeine Hochschulreife abzulegen – theoretisch ist es möglich, sogar ohne vorherigen MSA. Allerdings hat sich meine Mama wohl mehr für die Idee begeistert, als ich. Diese Prüfungen finden in Hamburg zweimal im Jahr statt, einmal im Frühjahr, einmal im Spätsommer/Herbst. Um an der nächsten Prüfung teilnehmen zu können, muss ich also im August, September, November und Dezember in Hamburg sein. Um an der Prüfung danach teilnehmen zu können, im Januar und April.

Würde jetzt halt beides nicht mehr möglich sein.

Na ja, ist jetzt auch erst einmal egal. Mama anrufen, dann versteht sie es vielleicht besser.

Böser Fehler.

Es wäre im Nachhinein einfacher gewesen, ihr bis zur Ausreise das Einsatzland zu verschweigen, als ihr Gejammer im Telefonat auszuhalten, als ich ihr sagte, dass es nach Indien gehen würde.

Dazu müsst ihr wissen: Sie ist nicht erst seit kurzem dauerbesorgt über ihre Kinder. Nachdem ich mit 18 Jahren eine Woche alleine Urlaub in New York City gemacht hatte, hatte sie mich am Flughafen begrüßt, als wäre ich nach Jahrzehnten zurückgekehrt, als hätte ich knapp ein schlimmes Ereignis überlebt, als wäre ich gerade erst geboren worden. Am Tag meiner Rückkehr war der wasserreichste Wasserfall der Welt nicht etwa im Kongo zu finden, sondern in Deutschland, in Hamburg, am Flughafen vor dem Ankunftsbereich, von den Augen meiner Mutter runter fließend. Gleiche Situation, als ich etwas mehr als ein halbes Jahr später nach einer dreiwöchigen Interrail-Tour zurück kam. Auch wenn ich nach Dates mit meinem Exfreund mit dem letzten Bus spätabends nach Hause fuhr statt am frühen Abend, und – ganz schlimm! – als ich das erste Mal bei ihm übernachtete. 10 Monate weit weg von ihrer Tochter zu sein war schon schwer genug für sie, wie kann ich ihr das noch ein zweites Mal antun? Vor allem, wenn man eben nicht mal so spontan hinfliegen kann, falls etwas ist?

Und das, meine lieben Freunde, ist einer der Gründe, warum ich mich für einen weiteren Freiwilligendienst im Ausland entschieden habe. Versteht mich nicht falsch, ich habe Mama sehr lieb, aber etwas Abstand von ihrer Überfürsorglichkeit tut gut.

Zurück zur Geschichte: Das Platzangebot wurde einen Tag später angenommen, ohne das Wissen von Mama.

Mama war so offensichtlich und offensiv besorgt, dass ein Block her musste. Dieser wurde erst am 19.04. aufgehoben. Dann herrschte wieder Friede, Freude, Eierkuchen – jedenfalls so gut, wie es ging.

Und schon wieder ein Cut

Es gibt doch mehr zu erzählen als erwartet hahaha. Im nächsten Teil (oder im übernächsten, oder über-übernächsten, you know): Komische UTC-Offsets, Sympathen und Unsympathen, ein verspäteter Bus, untereinander unabhängig denkende Konsulate und mehr.

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