Ganz aufgewühlt blickte ich auf das Display meines Handys. Wie komme ich nochmal genau zur Schule? Zoey hatte mich bereits in der Schule dem Direktor und den Lehrern in meinem Office vorgestellt, jedoch war ich noch nie die Strecke von unserem neuen Zuhause zur Schule gefahren. So tippte ich am Vorabend mit gutem Gewissen die Adresse der Donghui Vocational and Technical School in Google Maps meines Handys ein. Schmunzelnd ging ich dann – mit stolzem Gefühl mich ausreichend vorbereitet zu haben – ins Bett.
Tja, jetzt stand ich da, im wahrsten Sinne des Wortes mitten in der Sackgasse eines Wohnviertels.
Zähneknirschend tapste ich zu meinem Ausgangspunkt zurück und lief gefühlte drei Stunden ehe ich an einer Bushaltestelle Schüler in weißen Hemden, schwarzen Hosen mit einfachem Schnitt und blauen Rucksäcken erspähte. Freudig jauchzte ich innerlich auf, da ich bei meinem letzten Besuch an der Schule bereits wusste, dass der Schüler dem Dresscode der Schule entsprach. Aus diesem Grund heftete ich mich an deren Fersen und ließ mich, wie ein bei einem Schwarm Forellen, mitziehen. Plötzlich bogen die Schüler links in ein Tor ein. Ehe ich es ihnen gleich tat, erblickte ich aus meinen Augenwinkeln Schüler, die stramm wie beim Militär in fünf Reihen direkt hinter dem Eingangstor standen, die Gesichtszüge eisern und starr. Dem vordersten Mädchen wurde ein pompöser Blumenstrauß beigelegt und eine Karaffe umgelegt, was darauf gestickt wurde, konnte ich aufgrund meiner Kurzsichtigkeit nicht erkennen.
Erschrocken und gelähmt vor Überforderung stakste ich hastig, ohne vor dem Tor zu halten, weiter, in voller Hoffnung es gebe noch einen Nebeneingang. Nachdem ich ein Weilchen erfolglos am Schulzaun entlang schlenderte, liefen mir zwei verunsicherte Schüler entgegen, die wahrscheinlich zuspät kamen, wie ich am Einsetzen der patriotischen Marschmusik entnahm. Ähnlich wie ich vermutete versuchten sie in den Nebeneingang zu gelangen, der anders als der Haupteingang nicht von älteren Schülern besetzt ist, um Zuspätkommer aufzuschreiben und anzuschwärzen. Zu meinem Glück öffnete der Hausmeister den Beiden zwar bestimmend, dennoch einfühlsam das Schultor. Bei meinem Anblick stutzte dieser kurz und ein Schwall unverständlicher chinesicher Fragen folgten. Mit meiner verzweifelten Antwort „wo shi laozi“ / „Ich bin Lehrerin“ gab er sich letztendlich zufrieden und gewährte mir meinen Zutritt. Zu dieser Zeit standen alle pünktlichen Schüler und auch einige Lehrer auf dem Sportplatz und absolvierten unter Kommando und Begleitung einer fröhlich trällernden Musik ihre dreißig minütige morgendliche Gymnastik. Zwischenzeitlich führte mich Helene, die Sprachbereichsfachleiterin, zum Lehreroffice im dritten Stock. Dort wurde ich nochmals kurz vorgestellt und bekam einen persönlichen Arbeitsbereich zugewiesen. Später schleppte ein Schüler einen Computer mit benötigtem Zubehör heran und erklärte mir aufgrund des bröckelnden Englisch angestrengt, dass ich vor neun und zwischen elf und dreizehn Uhr die Möglichkeit habe im Internet zu surfen. Wenn ich mich während diesen Zeiten bei QQ oder MSN anmelde, kann ich nichtsdestotrotz die Chatprogramme auch außerhalb der Zeiten nutzen. Mit dieser Festlegung möchte die Schule die Kommunikation zwischen den 200 Lehrern fördern, jedoch potentielle Ablenkung vorbeugen.
Pünktlich um halb acht wurden in jedem Klassenraum die Fernseher eingeschaltet. Darauf folgte eine halbstündige Moralpredigt von einem Lehrer, der die letzte Woche reflektiert und auswertet. Er berichtet was positiv und negativ war, appelliert und motiviert dabei gleichzeitigt. Unterbrochen wurde seine Rede durch die Schulklingel, die meiner Meinung nach zunächst ungewöhnlich klingt. Aus Deutschland sind wir entweder rattelnde Klingeln oder Kurzmelodien gewöhnt, die zur Pause einläuten. Hier in China – oder zumindest an meiner Schule – werden Klavierstücke eingespielt und zu jeder Stunde ein anderes.
An der Donghui-Schule, wo Berufs- und Oberschule (Gymnasium) ineinandergelegt sind, gibt es über 2000 Schüler, von denen derzeit ca. 25 Schüler in der zehnten und elften Klasse Deutsch lernen. Die Schüler bekommen die Möglickeit zwischen sprachlichen Schwerpunktklassen (Englisch, Deutsch und Japanisch) zu wählen, wobei sie Deutsch und Japanisch nur zwei Jahre lernen, da im letzten Jahr der Fokus sehr stark auf die Abschlussprüfungen gelegt wird und nur noch Mathe, Chinesisch, Englisch und Sport belegt werden.
Nun saß ich auf meinem Bürostuhl und beobachte neugierig das Geschehen um mich herum. Einige Lehrer schauten gebannt auf ihren Computerbildschirm und scrollten mit ihrer Maus nach unten oder oben. Andere blätterten konzentriert in Büchern und Heften rum und markierten sich mit einem Stift diverse Schlüsselwörter. Diese Tätigkeiten wurden in regelmäßigen Abständen von Schülern unterbochen, die Schulhefte hereintrugen, den Lehrern nach unverständlichen Sachverhalten fragten oder Fremdsprachentexte diesem laut vorlasen. Das Lehrerzimmer ist hier ein direkter Kontaktpunkt zwischen Lehrer und Schülern. Die Atmosphäre wider meinen Ewartungen persönlich, aufgeschlossen und angenehm.
Heute war dabei noch ein besonderer Festtag für alle Lehrer in China. 10.09. ist „Tachers Day“. Schüler nutzten die Pausen, kamen ins Office und verteilten ihre Präsente an ausgewählte LehrerInnen. Auch ich erhielt drei Rosen und ein Bildchenhalter. Zunächst wusste ich nicht wie mir geschah und dachte anfangs, es sei normal den Lehrern jeden Tag etwas zu schenken.
Am selben Tag sollte ich mich der zehnten Klasse vorstellen. Da man um meiner verkorksten Stimme wusste, wurde mir ein Mikrofon zugeteilt. Man hängt sich ein Band um, an dem baumelnd ein kleiner lautsprecher hängt und man selbst in so eine Art Headset spricht, ähnlich wie man es aus dem Callcenter kennt. Natürlich findet man sich persönlich albern, wie ein Touristenführer mit Mikrofon und Lautsprecheranlage vorgeführt auf dem Lehrerpodest zu stehen. Nichtsdestotrotz hat niemand darüber geschmunzelt als ich im sechsten Stock aus dem Fahrstuhl stieg und Richtung Klasse stolzierte. Vor dem Klassenraum blieb ich schüchtern stehen und versuchte aufgeregt aus dem Blickwinkel der Schüler zu verschwinden. Was werden sie über meine Stimme denken? Werden sie mich äußerlich überhaupt als „Deutsche“ akzeptieren? Beruhig dich Lien, es sind nur Kinder, die paar Jahre jünger sind als du. Bevor ich tmen konnte, wurde ich bereits mit einem Finger von hinten angestubst. Ehe ich mich umdrehte, vernahm ich nervöses Gekicher hinter meinen Rücken. Die halbe Klasse stand hinter mir und musterte mich gespannt. Einzelne Mädchen gingen grinsend auf mich zu, fragten mich nach meinem Geburtstag, meinem Lieblingssnack, woher ich komme und sonst noch was ihnen ihr Englisch-Wortschatz erlaubte. Winkend luden mich die Schüler in das Klassenzimmer rein, erkannten meine Verunsicherung, nahmen mich am Arm und schoben mich sanft rein. Die zehnte hatte bis jetzt nur eine Woche Deutschunterricht gehabt, wodurch ich meine Selbstpräsentation größtenteils auf Englisch halten musste und Frau Wang hier und da einiges auf Chinesisch wiederholte. Die 90 minütige Schulstunde wurde nach 45 min durch die Pausenmelodie unterbochen. Daraufhin setzte eine mir bis dorthin unbekannte Melodie ein, die zwitschernd: „yi, er, san, si, wu, liu, qi, ba …“ („eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht…“) sang. Alle Schüler saßen ruhig auf ihren Stühlen und begannen zu der Musik ihre Augengymnastik. Dazu massierten sie zunächst den oberen Nasenrücken und anschließend die verschiedensten Augenpartien. Fasziniert schaute ich fünf Minuten zu, dann setzte bereits die Klaviermelodie zur nächsten Stunde ein.