Woche zwei ist nun vorbei. So ganz mental angekommen bin ich hier noch nicht, wobei ich mich durchaus trotzdem schon sehr wohl und auch ein bisschen zuhause fühle. Doch noch ist einfach zu wenig Alltag – was mir aber im Moment ganz gut gefällt, denn so bleibt keine Zeit für Heimweh oder andere komische Gefühle. Zu viel Neues passiert jeden Tag. Und das liegt nicht am ukrainischen Lifestyle oder daran, dass das Leben hier nicht planbar ist, nein. Lediglich ich habe mich noch nicht an mein neues Leben hier gewöhnt. Weder an meine Rückkehr in die Schule, die Lautstärke der Schüler und vor allem der Schulglocke, noch an die unglaublich liebevolle Betüttelung hier. Oder meinen neuen Job… Aber was bin ich denn jetzt eigentlich?
Um diese Frage genauer zu beantworten muss ich etwas ausholen und von meiner ersten Woche hier erzählen. Die ersten Tage in der Schule habe ich mit hospitieren, also Unterrichtsbesuchen, in verschiedensten Klassen verbracht. Von der ersten bis zur elften war alles dabei – und die Schüler hätten nicht unterschiedlicher sein können. Schon beim letzten Mal habe ich kurz über meine Beliebtheit bei den Jüngeren geschrieben. Doch wie sieht das ganze jetzt nach einer Woche aus? Nun ja, eigentlich nicht sehr viel anders. Während die achte bis elfte Klasse meistens relativ schüchtern reagiert, wenn ich irgendwo anwesend bin – natürlich werde ich immer und überall super freundlich gegrüßt und angelächelt, aber mehr dann auch meistens nicht – rasten die Kleineren förmlich aus, wenn sie mich sehen. Über den ganzen Schulgang wird dann lauthals „Guten Tag Mariiiiiiie!!“ gebrüllt und bevor ich mich umdrehen kann, befinde ich mich auch schon in Mitten einer Horde Kinder, die mich erwartungsvoll anschaut. In solchen Momenten frage ich mich dann immer: Was ist denn hier los? Und wie bin ich in so kurzer Zeit zu solch einem Superstar geworden?
Als ich diese Woche bei einer siebten Klasse im Unterricht war, haben die Kinder schon bevor die Stunde losging laut durcheinander gerufen und mich die verschiedensten Dinge gefragt. Weil die Lehrerin die Aufregung um meine Person natürlich auch bemerkt hat, ist sie auf die Kinder eingegangen und wollte fünf Minuten des Unterrichts opfern, damit mir die Schüler Fragen stellen können. Klar, dass sie den Satz nicht mal fertig sprechen konnte, weil schon die Diskussion losging, dass doch fünf Minuten nicht reichen, um mich zu meinem gesamten Leben zu befragen. Wir beide mussten sehr lachen und haben dann eben zugestimmt, dass auch 10 Minuten in Ordnung wären. Diese Zeit wurde ausgenutzt! Mit einer Frage nach der anderen wurde ich bombadiert, sobald eine beantwortet war, rissen die Kids wieder die Hände nach oben oder nahmen sie gar nicht runter, damit sie auch ja nicht vergessen wurden. Ich war auch echt erstaunt, was für einen Wortschatz und für ein hohes Niveau in Deutsch mich erwartete. Alles wollten sie wissen: wo ich herkomme, wie viel Ukrainisch ich schon kann (das beinhaltete lustigerweise auch einen Applaus der ganzen Klasse, als sie mich baten einmal „Guten Appetit“ zu sagen und ich das wohl komplett ohne Akzent betonen konnte), was meine Hobbies sind, wie meine Zukunft so aussieht, ob ich lieber weiterhin in der Ukraine leben würde oder ob ich wieder nach Deutschland will und so weiter. Die Stunde ging rum wie im Flug und auch danach wurde ich wieder erstürmt und musste noch alles beantworten, was vorher zu kurz gekommen ist.
Mit der Oberstufe ist das schon alles etwas anders. Hier sind die Stunden meistens sehr viel länger, alle sind mucksmäuschenstill und keiner will etwas sagen. Auch werde ich eher beäugt, wie ein exotisches Tier, wie etwas das irgendwie anders und doch gleich ist, wo man aber durch Betrachten noch herausfinden muss, wo denn der Unterschied ist. Reden ist hier eher eine schlechte, meistens aber eher gar keine Option. Und wenn es unbedingt sein muss, dann auch wesentlich lieber auf Ukrainisch, so dass die Lehrerin übersetzen muss. Plötzlich weiß nämlich niemand mehr die einfachsten Worte auf Deutsch. Alles vergessen. Aber auch dafür hatte ich einen Masterplan. Ich machte einfach das, was ich sehr gut kann: Mich zum Affen. Mit Spielen, wo man wild den ganzen Körper schüttelt und dazu singt oder eine Kuh beziehungsweise auch den dazugehörigen Stall verkörpern soll. Hat geklappt, die nächsten Stunden waren schon besser, die Lehrerin begeistert und die Schüler etwas aufgeschlossener 😉
Auch mein erstes Abenteuer habe ich diese Woche erlebt. Mit meiner Betreuerin war ich am Donnerstag in Lviv, der Stadt, wo mich mein Bus aus Deutschland abgekippt und wo alles hier angefangen hat. Unser Auftrag war schnell erledigt und da wir eh schon mal dort waren, haben wir noch ganz in Ruhe die ganze Stadt zu Fuß erkundet, wo wir auch andere Deutsche trafen, die uns an unserer Sprache erkannt haben. Wie immer kam auch leckeres Essen nicht zu kurz, auch wenn das Lokal in das wir eigentlich gehen wollten, nicht mehr existierte. Spontan haben wir dann eben beim Nachfolger gegessen, was ich ohnehin ziemlich gut fand, weil die Küche hauptsächlich ukrainische Spezialitäten anbot.
Also habe ich zum ersten Mal Uswar probiert, ein typisch ukrainisches Getränk, das aus getrockneten Früchten und Honig hergestellt wird. Zum Essen gab es einen Salat mit Blauschimmelkäse, Tomaten, Gurken und gekochten Pflaumen sowie Reiberdatschi mit Pilzrahmsoße – viel, viel besser als mit süßem Apfelmus! Wenn ich jetzt schon eine Aussage über die ukrainische Küche treffen kann (denn auch Borscht und Wareniki habe ich diese Woche bereits gegessen), dann dass ich sie absolut liebe! Ganz mutig habe ich mich auch an Salo gewagt und ein Stückchen probiert. Alle die mich kennen werden sich jetzt ganz schön wundern, denn zuhause habe ich mich bei jedem kleinsten Fitzelchen Fett geweigert, das Fleisch oder den Schinken zu essen. Obwohl diese Spezialität hier nämlich Speck oder Schinken heißt, besteht sie doch nur aus Fett. Fett, das nach Schinken schmeckt und irgendwie die Konsistenz von Butter aus dem Kühlschrank hat. Aber ich bin stolz auf mich, ich zieh das hier voll durch, was ich mir vorgenommen habe: alles probieren was es zu probieren gibt.
Nach dieser kleinen Stärkung sind wir sicherlich noch zwei, drei Stunden herumgelaufen und mir wurde alles Mögliche im Zentrum der Stadt gezeigt. Da wir ziemlich viel gelaufen sind, war es bald auch noch Zeit für einen kleinen Stopp in einem Café, dass mir meine Betreuerin ganz unbedingt noch zeigen wollte. Hier gönnten wir uns noch ein kleines Dessert, welches wirklich vorzüglich schmeckte: gebackene Birne mit Vanille- und zweierlei Fruchtsoßen. Als wir auch dieses kulinarische Highlight verputzt hatten, war es langsam wieder Zeit für die Heimreise. Mit der Tram machten wir uns auf den Weg zum Hauptbahnhof, wo wir mit dem Bus wieder zurück nach Drohobytsch fahren wollten. Mit dem Zug wäre das auch gegangen, aber der Bus ist doch etwas schneller… Dachten wir 😉
Als wir unsere Tickets kaufen wollten, meinte die Frau am Schalter, dass wir noch schnell in den Bus einsteigen sollen, der bereits in wenigen Minuten abfährt, so würden wir uns eine halbe Stunde warten sparen. Kurz sind wir im Regen über den unübersichtlichen Busbahnhof geirrt, wo gefühlt 20 Busse kreuz und quer durcheinander standen. Einige Minuten später hatten wir den richtigen auch entdeckt und durften noch mitfahren. Es dauerte einige Zeit bis wir Lviv wieder verließen, da der Busfahrer fast nur im Schritttempo gefahren ist, um noch weitere Menschen einsteigen lassen zu können. Hier verdienen die Busfahrer nämlich pro Fahrgast. Als wir endlich auf der Autobahn waren, fielen mir auch schon bald die Augen zu, so müde war ich von der Erkundungstour.
Nach etwa einer Stunde wurde ich dann wieder etwas wacher, da der Bus zu stehen schien und die Leute sich plötzlich immer lauter unterhielten. Es war Stau. Wie auch schon beim letzten Mal, ist der Fahrer erst einmal ausgestiegen, um zu schauen, was eigentlich genau los war, wieso wir standen und keiner mehr fahren konnte. Allerdings war die Schlange der Autos so lange, dass man auch nicht sehen konnte, wann und wo dieser Stau zu Ende war. Etwa eine Viertelstunde später setzten sich alle Fahrzeuge in Bewegung, allerdings nur für wenige Meter. Die ersten Fahrgäste fragten, ob sie aussteigen könnten, um den restlichen Weg zu Fuß zu laufen. Natürlich war das kein Problem und der Busfahrer öffnete die Tür. Nach einer Weile hatte er allerdings auch keine Lust mehr zu warten und manövrierte den Bus zuerst vor, dann zurück, um halb im Graben, halb auf der Straße an den stehenden Autos vorbeifahren zu können. Es gab ein kleines Hupkonzert und spätestens jetzt waren wieder alle Insassen des Buses hellwach. Unser Fahrzeug war aber nicht das einzige, das es mit dem Umfahren versuchte, und so gab es bald zwei parallele Schlangen, die auf die Weiterfahrt warteten. Manche Autofahrer überholten die Ansammlung an Autos, Bussen und LKWs nun noch auf der Gegenfahrbahn, was zu einem gewissen Chaos führte. Meine Betreuerin und ich fanden das alles aber eigentlich ganz amüsant. Eine gute Stunde war vergangen und wir erreichten nun endlich die Baustelle, die wohl für alles Übel verantwortlich zu sein schien.
Der Fahrer versuchte, aus seinem Bus alles rauszuholen, was rauszuholen ging. Auch in der Ukraine sagt man zu Rasern, dass die fahren wie Michael Schumacher – darüber haben wir uns bereits auf der Hinfahrt unterhalten. Natürlich wussten wir nicht, dass wir an diesem Tag noch die Bekanntschaft mit einem Vertreter dieser Sorte von Fahrern machen würden. Mit einer enormen Geschwindigkeit rasten wir also durch Dörfer, machten Vollbremsungen, um Menschen ein- und wieder aussteigen zu lassen, fuhren mit Vollgas wieder los und wurden durcheinander geschüttelt. Es fühlte sich an wie auf einem Schiff bei starkem Wellengang, was auch durch die Straßenschäden verstärkt wurde. Doch diese Raserei brachte nicht nur dem Fahrer nichts, der ohnehin schon viel zu spät dran war, sondern auch sein Bus beschloss zu protestieren.
Der Motor ging aus und das einzige was dann noch passierte, war, dass wir langsam dem Straßenrand entgegen rollten und schließlich stehen blieben. Jegliche Neustartversuche blieben erfolglos. Kurzerhand stieg der Fahrer aus, holte eine Tüte mit Klamotten die er sich überstreifte und begann, seinen Bus wieder zum Laufen zu bringen. Fluchend, weil das nicht so recht klappen wollte, beantwortete er sein ständig klingelndes Handy und die Fragen der Fahrgäste, was denn nun eigentlich los sei. Nachdem wir eine gute Weile gewartet haben und es nicht so schien, als würde der Bus heute noch irgendwo hin wollen, riefen wir meine Gasteltern an, die uns abholen wollten. Da die Fahrt von Drohobytsch bis zu dem Ort, wo wir standen ungefähr dreißig Minuten dauerte, durften wir wieder einmal warten. Darin waren wir ja jetzt schon geübt. Kurz bevor mein Gastvater ankam, entschied sich der Bus dazu, den Streik zu beenden und der Motor ratterte wieder fröhlich vor sich hin. Trotzdem stiegen wir aus und warteten auf unser Privattaxi. Belustigt erzählten wir von unserer abenteuerlichen Fahrt und unserer Begegnung mit dem Michael Schumacher der Ukraine.
Drei Stunden und 15 Minuten dauerte die 80 km lange Heimfahrt von Lviv nach Drohobytsch. Und meine Betreuerin versicherte mir mehrmals, dass so etwas normalerweise nie vorkommt und sie das in ihrem ganzen Leben zum ersten Mal miterlebt hat. Der Zug, mit dem wir nicht fahren wollten, weil er ungefähr zwei Stunden, statt den geplanten eineinhalb Stunden gebraucht hätte, war wahrscheinlich längst angekommen. Aber was wir alles verpasst hätten! Nicht nur das kleine Abenteuer, auch zahlreiche kleine Lacher hätten wir nicht erlebt. Und am Ende sind wir ja doch noch zu Hause angekommen 😉
Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen. – Matthias Claudius