Genauso schnell, wie die Zeit zum Vorbereiten verstrich, vergingen auch die letzten zwei Tage zu Hause. Von meinen Freunden habe ich mich zum Glück schon verabschiedet, bevor ich nach Berlin aufgebrochen bin. Die beiden letzten Tage hatte ich reserviert für meine Familie und fürs Packen.
Und plötzlich war es auch schon Dienstag. Ein letztes Mal in gewohnter Umgebung aufwachen, den Motor des Autos starten und die schöne Landschaft genießen. Es wurde ernst. Pfiat di Allgäu, tschüss Heimat, bis bald meine lieben Freunde und Familie.
Mein Gepäck wurde im Bus verstaut, die letzte Person umarmt. Und dann: Panik machte sich breit.
Was mache ich hier? Wieso habe ich das wirklich getan? Ist das die richtige Entscheidung? Ich fahre in die Ukraine ohne die Sprache dort zu sprechen – kann das gut gehen?
Doch was sollte ich jetzt noch dran ändern können? So viele Menschen warteten auf mich, freuten sich vielleicht sogar ein kleines Bisschen. Also gut. Dann los.
Morgens um kurz nach fünf. Die ersten Meter in dem Land, wo ich die nächsten Monate verbringen sollte, waren sehr, sehr dunkel. Kein Licht, nirgendwo. Ich schlief noch eine kurze Zeit. Als ich wieder aufwachte, bot sich mir eine absolut magische Atmosphäre: ein in lila gefärbter Himmel, Bodennebel in der hügeligen Landschaft, Hecken, Sträucher – und in der Ferne ein paar Hochhäuser. Leise hörte ich die Ukraine in mein Ohr flüstern „Herzlich willkommen, liebe Marie“. Glücklich und zufrieden lehnte ich mich noch einmal zurück, schloss die Augen und versuchte zu begreifen, dass all dies nun tatsächlich Realität wurde.
Schon bald war der Bus in Lviv angekommen, wo ich abgeholt wurde. Ich traf meine Gastfamilie und Betreuerin zum ersten Mal – und die Begrüßung hätte nicht herzlicher, nicht schöner ausfallen können. Noch etwa eine Stunde mussten wir nach Drohobytsch fahren, die Stadt die mein Zuhause werden sollte. Ich bezog mein Zimmer, frühstückte mit allen ganz gemütlich, packte meine Sachen aus. Mit einem ausgiebigen Spaziergang wurde mir meine neue Umgebung gezeigt. Nach einer kurzen Verschnaufpause hatte meine Gastschwester eine Freundin eingeladen, die es nicht erwarten konnte, mich endlich zu treffen. Zusammen besuchten wir ein kleines Café und unterhielten uns eine ganze Weile. Zum Abendessen gab es Schnitzel, was ich ziemlich amüsant fand, da ich nicht damit gerechnet habe, dass man das hier kennt. Aber das ist nicht das einzige Mal, dass ich von den österreichischen Spuren überrascht wurde 😉 Gegen Abend machte sich zunehmend dann Müdigkeit breit, die noch von meiner zwanzig Stunden langen Busfahrt kam und ich ging früh schlafen.
Am nächsten Tag, meinem ersten Schultag, traf ich viele neue Menschen. Lehrerinnen der Schule, die Direktorin, Schüler und Angestellte. Alle zwei Minuten kam jemand neues in das Zimmer meiner Betreuerin, mit der ich einige wichtige Dinge zu besprechen hatte. So herzlich, so liebevoll und so freundlich wie hier, wurde ich wirklich noch nirgendwo empfangen. Alle waren so unglaublich dankbar, hoffnungsvoll und überschütteten mich mit so vielen Komplimenten, wie ich mein ganzes Leben noch nicht bekommen habe. „Schön, dass du endlich da bist, wir haben seit dem Tag an dem wir wussten, dass jemand zu uns kommt, sehnlichst auf dich gewartet.“, war nur einer der Sätze, die ich an diesem Tag zuhauf zu hören bekam.
Nach einer ausführlichen Schulführung war ich sehr beeindruckt. Was diese Schule alles für ihre Schüler möglich macht – vorbildlich! Zahlreiche Fahrten nach Polen, Deutschland oder Österreich, um Sprachkenntnisse zu vertiefen, Auszeichnungen in den Bereichen Sport, Technik und Sprache, aber noch wichtiger: das Gefühl, jeder Schüler ist für die Schule wichtig, egal für was er oder sie sich interessiert.
Weil mich vor allem die Deutschlehrerinnen noch etwas besser kennen lernen wollten, wurde ich zu einer Kaffeepause eingeladen und durfte zum ersten Mal ukrainische und Drohobytscher Spezialitäten probieren. Sehr, sehr lecker!
Als wir mit der Kaffee- und Teepause fertig waren, gingen wir in eines der Deutschzimmer, wo eine fünfte Klasse darauf wartete, dass der Unterricht losging. Eigentlich wollten wir nur kurz etwas aus dem Raum holen. Doch nachdem meine Betreuerin den Kindern erklärte, wer ich bin, kam ich nicht mehr so schnell von dort los. Ich war umringt von Fünftklässlern, die mir viele Fragen stellten. „Woher kommst du?“ „Was ist dein Lieblingsessen?“ „Was ist deine Lieblingsfarbe?“ „Was ist dein Lieblingstier?“ Natürlich habe ich alle Fragen geduldig beantwortet, aber die Kinder waren trotzdem enttäuscht, als plötzlich die richtige Lehrerin kam und ihnen auf Ukrainisch zu verstehen gab, dass der Unterricht jetzt anfinge und ich leider gehen müsse. Später erzählte sie mir, wie aufgeregt die Kinder plötzlich waren. Sie haben gefragt, ob ich denn auch einmal in ihren Unterricht mitkäme und waren sehr verwundert, dass sie mich ja wirklich verstehen konnten, obwohl ich nicht ihre Sprache, also Ukrainisch, gesprochen habe.
Der Höhepunkt des Tages, auf den sich viele schon freuten, war eine Schulkonferenz. Eingeladen wurden die neunten und elften Klassen, die zehnten waren auf einem Ausflug und konnten deswegen leider nicht teilnehmen. Diese Konferenz wurde nur wegen mir organisiert, damit mich die Schüler etwas besser kennenlernen konnten. Eine Stunde lang sollte ich über mein Leben in Deutschland, meine Hobbies und alles Mögliche drum herum erzählen und mich den Fragen der Schülern stellen. Eine Frage war beispielsweise, ob die Schulkinder bei mir zuhause anders aussehen, als die in der Ukraine. Ich beantwortete diese Frage mit nein und fragte zurück, ob ich denn anders aussehen würde, als die Menschen dort. Im Allgemeinen waren die Schüler der Oberstufe wesentlich schüchterner, als die Fünftklässler, die mir gar nicht genug Fragen stellen konnten. Aber das wird sich mit der Zeit schon geben, versicherten mir alle Lehrerinnen.
Nach diesem Tagesordnungspunkt gab es eine kleine Überraschung für mich: ich wusste, dass ich noch alle Deutschlehrerinnen der Schule treffen sollte, doch diese übertrafen sich wirklich selbst. Ich ging in eins der Zimmer, in denen sonst der Deutschunterricht stattfand und dort fand ich eine riesige Tafel, an der bereits einige Lehrerinnen saßen. Der Tisch war schön gedeckt mit Brot, Wurst, Käse, Trauben, Süßigkeiten, Oliven, Kaffee, Tee und Nachtisch. Ich war echt total überwältigt, sowas habe ich nicht erwartet. Am Computer lief deutsche Musik von Gestört aber Geil und Materia bis hin zu Bosse. Das war mit eine der verrücktesten Sachen, die ich bisher erlebt habe, denn diese Musik habe ich bisher nur in Deutschland mit Gleichaltrigen gehört. Und jetzt in der Ukraine, mit Lehrerinnen in jedem Alter, die Deutsch als Fremdsprache unterrichteten. Irgendwie cool 🙂
Als wir mit Essen und Aufräumen fertig waren, hat mir meine Betreuerin noch einmal in der Stadt gezeigt, wo ich was einkaufen kann und wir waren in einem kleinen Café, das sie mir gerne zeigen wollte. Dort gab es Tee aus Kräutern aus den Karpaten und Apfelstrudel. Nach einem kleinen Abendspaziergang durch die älteste – und auch wunderschöne – Straße in Drohobytsch, machte ich mich auf den Weg nach Hause.
An Tag drei meines Aufenthalts erwartete mich ein Ausflug zu drei entfernten Schlössern. Schon auf dem Schulweg wurde ich von einigen Schülern mit „Hallo! Wie geht’s dir?“ begrüßt, was mich sehr erfreute. In der Schule fand zum ersten Mal ein Wandertag statt und ich durfte mit einer achten Klasse und drei Deutschlehrerinnen mitfahren. Allein schon die Busfahrt war ein Erlebnis. Als mich meine Betreuerin fragte, ob ich jemals schon in solch einem Bus mitgefahren sei und ich verneinte, fing sie an zu Lachen und fragte, ob ich bereit sei, für ein Abenteuer. Zuerst verstand ich nicht ganz, denn alles war ja in Ordnung, der Bus war nur etwas älter und kleiner, als die, die ich von Deutschland kenne. Aber nach ein paar Kilometern umfuhr der Bus eine Baustelle, vor der einige Autos an einer roten Ampel warten mussten. Der Fahrer setzte den Blinker. Anstatt zu warten und wie alle anderen Autos über die Brücke zu fahren, fuhr er durch den Graben über den sie führte. Dieser Weg war mit Schlaglöchern gesäumt und natürlich nicht geteert. Die Insassen des Buses wurden etwas durchgeschüttelt und mir wurde mit einem Zwinkern erklärt, dass man hier beim Autofahren wenigstens nicht einschlafen kann. Ja, die Straßen seien furchtbar, aber man muss das mit Humor nehmen. Immer mehr fing ich an, diese lebensfrohen Menschen, die ich bisher kennen lernen durfte, in mein Herz zu schließen.
Als ich abends wieder nach Hause kam, war meine Gastschwester immer noch auf ihrem Ausflug in den Bergen, der noch bis zum nächsten Tag dauern sollte. Ihre Mutter spricht weder Deutsch noch Englisch, ich kann bisher nur wenige Wörter auf Ukrainisch und so kam uns eine Übersetzungsmaschine zu Hilfe, damit wir uns grob verständigen konnten. Es gab Kartoffeln mit Fleischpflanzerl zum Essen. Wieder etwas Bekanntes – und unglaublich lecker!
Liebes kulturweit-Team und alle Menschen die mir im Vorbereitungsseminar gepredigt haben, dass man mit Vorurteilen aufpassen solle und sie am besten aus dem Weg räumen sollte, wenn möglich… Es tut mir leid, aber ein Stereotyp ist nicht nur richtig, es ist die reine Wahrheit, wenn nicht noch mehr. Man sagt, die Ukrainer seien ein gastfreundliches Völkchen. Für das ganze Land kann ich das natürlich noch nicht sagen, aber die Menschen, die ich hier kennen lernen durfte, haben mit Sicherheit die Gastfreundschaft erfunden! Noch nie in meinem Leben bin ich so herzlich, so freundlich, so zuvorkommend und so liebevoll aufgenommen worden. Danke an alle, die mir alle Bedenken vom Beginn der Reise sofort genommen und mir Mut gemacht haben. Es ist mir eine Ehre, euch alle kennenlernen zu dürfen.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – Hermann Hesse
Coole Story, freut mich das du so einen guten Start hattest. Wenn es da immer so gutes Essen gibt , komm ich auch mal vorbei. Weiterhin ganz viel Spaß ,liebe Grüße ^^ . Ps. : Wir gehen heute auf die wiesn.
Ich wurde eh schon gefragt, ob mich nicht mal jemand besuchen kommen möchte 😉 also los! Und viel Spaß euch <3