Von Schluchten, Burgen und den kleinen Dingen

„Im März 2015 verschwanden vier junge Menschen in den Wäldern von Sigulda, Lettland, beim Versuch, die Hügel der Region zu erklimmen und Burgen zu besichtigen.“

Jenseits der Zivilisation...

Jenseits der Zivilisation…

Ein Rascheln der Blätter. Umgeknickte Zweige, mitten auf dem Weg. Gespenstische Stille. Eigentlich wolltest du mit deinen Freunden einen Ausflug zu einem Burgmuseum machen. Doch nun stehst du in einem Wald mitten in Lettland und weißt nicht, welchen Weg du nehmen sollst. Zu deiner Rechten kannst du die Ruinen einer alten Burg vage erkennen, zu deiner Linken führt ein schmaler Weg hinab ins tiefe Tal. Der Weg, dem ihr gefolgt seid, führt nur noch tiefer in den Wald. Orientierung? Keine. Schilder? Träum weiter. Du musst dich auf deine Sinne verlassen. Nach einigem Hin und Her beschließt ihr, doch zuerst in Richtung Ruinen, in Richtung Zivilisation zu gehen und die Wanderung hinab ins Tal etwas zu verschieben.

Sigulda Castle

Sigulda Castle

Ihr folgt einen Trampelpfad den Berg hinauf und fragt euch, ob ihr auf diesem Wege überhaupt Richtung Ruinen kommt oder nicht vielmehr zurück in den kleinen, verschlafenen Ort. Doch Fehlanzeige: Als ihr schon nicht mehr damit rechnet, tun sich Treppenstufen vor euch auf – ihr landet mitten zwischen den Burgruinen. Damit findet die Beschaulichkeit des Ausfluges ein Ende, euch beschleicht das untrügliche Gefühl, hier nicht allein zu sein. Doch statt der Hexe von Blair beziehungsweise von Sigulda erwarten euch nur andere Tourist*innen, bewaffnet mit Kameras statt Besen. Die Aussicht ist fantastisch, daher nutzt ihr die Zeit, euch mit Blick auf das Tal, das es zu bezwingen gilt, auszuruhen und wie jede*r gute Tourist*in Fotos zu machen. Alles normal, alles ist super, alles ist awesome. Beim Hinausgehen stellt ihr fest, dass ihr euch durch den Trampelpfad tatsächlich am Eingang vorbeigeschmuggelt und den Eintrittspreis erspart habt. Ups…;)

Verschnaufpause...

Verschnaufpause…

Bei einem Blick auf die Karte, die ihr zum Glück anders als die Studierenden in den Wäldern von Burkittsville nicht weggeworfen habt, stellt ihr fest, dass der Weg durchs Tal ziemlich lange dauern würde. Ihr überlegt. Abenteuer, mitten durch den Wald, auf die Gefahr hin, bei Einbruch der Dunkelheit dort festzustecken und den letzten Bus ins Herz von Riga zu verpassen? Oder doch lieber auf den touristischen Pfaden verweilen und die Seilbahn auf die andere Seite nehmen? Klare Sache: Seilbahn.

Blick aufs Gauja-Tal

Blick aufs Gauja-Tal

Völlig ausgehungert kommt ihr dort an. Angesichts der Seilbahn und der Menschen um euch herum fühlt es sich plötzlich doch wie die wagemutigere Variante an. Dann geht alles ganz schnell: Die Seilbahn kommt, ihr steigt ein und…die Aussicht auf das Tal entschädigt für jede Warterei. Erst im Nachhinein erfährst du, dass die Bahn letzten Sommer stecken blieb und einige Menschen stundenlang darin fest saßen. Glück gehabt. Auf der anderen Seite erwartet euch ein altes, halb zerfallenes Sanatorium. Dieses liegt heute jedoch nur auf eurem Weg: Ihr folgt eurer Mission, ihr wollt zur alten Burg Turaida. Die Aussicht auf etwas Essbares treibt euch an. Erst durch den Wald, Serpentinenwege entlang, dann geradeaus der Straße folgend.

Gutmannshöhle

Gutmannshöhle

Was unspektakulär, geradezu langweilig klingt, entpuppt sich jedoch als richtige Entscheidung: Plötzlich stoßt ihr auf eine Höhle aus rotgelbem Buntsandstein, die Gūtmaņa ala. Entstanden ist sie, wie das Gauja-Tal insgesamt, während der letzten Eiszeit. Sie ist nur etwa 10 Meter hoch und wirkt daher – verglichen mit Höhlen beispielsweise im Harz – fast schon winzig. Doch es ist ein sagenumwobener Ort: 1601, während des Polnisch-Schwedischen Krieges, soll es in der Gegend Schlachten gegeben haben. Eine der wenigen Überlebenden war das Mädchen Maija („die Rose von Turaida“). Ihre Schönheit fiel zwei polnischen Offizieren auf, doch sie ließ sich nicht auf die beiden ein. Daher lockten sie sie mit einem Trick in besagte Höhle. Um ihre Jungfräulichkeit zu retten, behauptete sie, ein verzaubertes Halstuch zu haben und forderte die Männer auf, sie mit ihrem Schwert zu erschlagen – dank des magischen Tuches würde ihr nichts passieren. Die beiden taten wie geheißen – doch das Mädchen starb, das Tuch vermochte nicht, sie zu retten.

Auf weiter Flur

Auf weiter Flur

Mit dieser Geschichte im Hinterkopf betretet ihr die Höhle, auf der Suche nach dem Spirit der damaligen Zeit. Leider findet ihr nur in den Sandstein geritzte Kritzeleien vor. Interessant zwar, da einige recht alt (sprich: 30 Jahre) zu sein schienen, aber nicht gerade der Atem der Geschichte. Weiter geht es also Richtung Burg – an der Schnellstraße entlang den Berg hinauf. Mit jedem Schritt denkst du daran, was dich oben wohl erwartet…hoffentlich Essen. Angekommen musst du jedoch feststellen: Ein schickes Burgrestaurant gibt es nicht, nur eine alte, sowjetische Kantine, bei der du lieber Verzicht übst.

Tschüss, Sigulda!

Tschüss, Sigulda!

Also geht ihr direkt auf das Burggelände zu, auf zum Turm, vorbei an alten, halb verfallenen Gebäuden. Das hier hat schon mehr mit dem Geist der Geschichte zu tun. Wer mag hier gelebt haben? Was mag an diesem Ort passiert sein? Mit dem festen Vorsatz, mehr über die Geschichte Turaidas zu erfahren, beendet ihr den Ausflug nach Sigulda an der Bushaltestelle, esst 5€-Kekse, freut euch auf die verdiente Pizza in Riga und verfolgt den Lauf der Sonne gen Westen. Ein aufregender, schöner Tag geht zu Ende. Ihr fandet zwar keine „Sigulda Witch“, doch aber einen wunderschönen Flecken Lettlands – und das ist wohl auch besser so ;).

Zusammengefasst: Sigulda ist eine Reise wert, sollte es euch einmal nach Lettland verschlagen. Danke an Bahar, Lars und Tarik für einen coolen Ausflug und ein noch cooleres Wochenende – war schön, euch hier zu haben!

Gelände der Burg Turaida

Gelände der Burg Turaida

Ein Gedanke zu „Von Schluchten, Burgen und den kleinen Dingen

  1. „Everything is awesome“ war ja wirklich das Motto 😀
    Toller Artikel: Auch wenn ich dabei war, war es spannend, ihn zu lesen.
    Danke auch an dich & Tarik :-*

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