Wir schreiben den 5. Februar 2015. Es ist 3:30 Uhr in der Nacht. Riga schläft, alles ist ruhig, fast schon friedlich. Doch Moment – wirklich alles? Nicht ganz. In einer Wohnung nahe dem Zentrum geht das Licht an. Übermüdet quäle ich mich aus dem Bett, packe meine restlichen Sachen, mache mich fertig und verlasse das Haus. Hektisch mache ich mich auf den Weg Richtung Opera Hotel, um den Shuttle zum Flughafen nicht zu verpassen. Normalerweise würde ich mir den zusätzlichen Stress sparen und wie alle anderen normalen Menschen auch den Bus nehmen. Doch um diese Uhrzeit ist hier nichts normal, erst recht nicht der ÖPNV. Um mir das überteuerte Taxi zu sparen, nehme ich um 5:10 den Shuttle Richtung RIX.
Es ist 5:40. Ich betrete den Flughafen Riga, noch immer übermüdet, aber erleichtert. Die erste Etappe ist bewältigt. Zielsicher steuere ich die Sicherheitskontrolle an. Ich habe zwar endlos viel Zeit, wozu aber später mit den anderen Reisenden Schlange stehen. Natürlich läuft alles wunderbar, niemand möchte meinen Laptop kontrollieren „weil das Soll heute noch nicht erfüllt ist“, niemand ist der Meinung, dass ich irgendwie verdächtig aussehe. Etwas einsam stehe ich nun vor den Gates – so leer habe ich es hier noch nie gesehen. Zeit für Kaffee. Und wenn man schon mal sitzt, kann man doch auch noch etwas arbeiten…denke ich mir, klappe den Laptop auf und schreibe mal eben das Fazit zu meiner Masterarbeit, um das ich seit Tagen einen weiten Bogen mache. Zufrieden steige ich ins Flugzeug – auf nach Deutschland!
Wir schreiben den 12. Februar 2015. Es ist 09:38. Ich sitze im Zug nach Kiel, meine fertige Masterarbeit in dreifacher Ausfertigung und digitaler Form im Gepäck. Wenn nun nichts mehr schief geht, bin ich in rund 2,5 Stunden frei. Müde und genervt, aber frei. Auf Nimmerwiedersehen, Universität! (Wobei…ganz sicher ist das nicht ;). Bereits am Bahnhof holt mich eine Freundin ab. Der Plan ist: Zum Prüfungsamt, abgeben und dann ab in die nächste Bar zum wohlverdienten Cocktail. Nach einem halben Jahr Abstinenz zurück in Kiel zu sein, ist ein besseres Gefühl als erwartet. Meine Arbeit, die ich mich nun von der ersten Themenfindung bis zur Abgabe ein Jahr lang gequält, begeistert, ge- und überfordert hat: Abgegeben. Ein besseres Geschenk zum 25. Geburtstag hätte ich mir nicht machen können.
Wir schreiben den 15. Februar 2015. Seit zwei Tagen bin ich zurück in Riga. Ihr wisst schon, die Arbeit ruft. Mit Alltag hat es allerdings wenig zu tun, dass ich gerade schon wieder mit einem Koffer in der Hand Richtung Busbahnhof renne und wie immer viel zu spät dran bin. Ich bin auf dem Weg nach Tallinn – die Stipendiat*innenauswahlreise kann beginnen. In den nächsten Tagen wird sich zeigen, wer aus Estland, Litauen und Lettland ein Stipendium für ein Masterstudium in Deutschland bekommt. Irgendwann nachmittags kommen wir in Tallinn an, es gilt, die Auswahlkommission aus Deutschland zu begrüßen, im Hotel einzuchecken, sich auf die Auswahlen vorzubereiten und mit dem Deutschen Botschafter zu essen. Ein ganz normaler Sonntag also, nur ohne Tatort.
Es ist der 16. Februar 2015. Früh mache ich mich auf den Weg in die Universität Tallinn, in der heute die Auswahlen stattfinden, um alles vorzubereiten. Später plaudere ich ein wenig mit den Kandidat*innen und bin beeindruckt. Ich kann mich nicht erinnern, am Ende meines Bachelorstudiums so genaue Pläne und Ziele gehabt zu haben. Noch später am Tag blicke ich allerdings mit Sorge zur Uhr. Es ist spät, wir müssen unseren Flug erwischen. Denn heute soll es noch – mit Umweg über Riga – weiter nach Vilnius gehen. Wie ihr vielleicht schon gelesen habt, war ich von Vilnius das letzte Mal wenig begeistert. Es erschien mir viel zu grau, viel zu erdrückend. Doch wie mit vielem im Leben braucht es manchmal mehere Anläufe zum Glück. Wir werden also sehen. Gegen Abend denke ich mir zunächst einmal: Aufwachen in Tallinn, Mittagessen in Riga und einschlafen in Vilnius, alles an nur einem Tag – ich habe wirklich Glück mit meiner Einsatzstelle.
Wir schreiben den 17. Februar 2015. Ich befinde mich in Vilnius, das sich – als hätte es geahnt, dass es vermutlich nur eine zweite Chance bekommen wird – von seiner besten Seite zeigt. Die Sonne scheint, alle Menschen, die mir begegnen, sind mehr als freundlich. Auch sehe ich dieses Mal andere Dinge und bekomme dank Menschen, die sich hier bestens auskennen, einen anderen Einblick. Ich muss ehrlich sagen: Mein Favorit bleibt Riga, dicht gefolgt von Tallinn. Aber Vilnius ist in meiner Erinnerung nun nicht mehr der düstere Ort irgendwo im Süden, sondern eine Stadt, die auch ihren Charme hat. Am Abend steht wieder einmal ein feierliches Essen an, in der Residenz der Deutschen Botschafterin. Wieder einer dieser völlig normalen Tage, versteht sich.
Wir schreiben Hier. Heute. Jetzt. Seit einigen Tagen bin ich zurück in Riga. Zunächst stand das feierliche Ende der Auswahlen an. Ihr ahnt es: Essen mit der Deutschen Botschafterin. Nun jedoch hat mich der Alltag wieder. Theoretisch. Heute ist mein erster regulärer Arbeitstag seit zwei Wochen. Nur ist nichts mehr so, wie es vor zwei Wochen war. Ich habe plötzlich Zeit. Ich kann wieder Leute treffen, zum Sport gehen, privat Bücher lesen, Filme sehen, in Ruhe kochen, besser Lettisch lernen, mich weiterbilden, mich mit meinem Fernstudium befassen, ich muss nicht mehr nach Arbeit nach Hause hetzen…kurzum: Meine Masterarbeit ist weggefallen und ich merke so langsam, wie sehr sie mich in den letzten Wochen vereinnahmt hat. Dennoch: Bis diese Informationen in meinem Kopf ankommen, werden wohl noch einmal so viele Wochen ins Land gehen, wie ich diesen Blog nun schon vernachlässigt habe.
Hallo! Ich folge deinem Blog schon seit einiger Zeit, nicht zuletzt, weil ich mich auch bei kulturweit beworben habe. Ich war ein Semester in Vilnius, also kann ich deine Meinungsänderung gegenüber der Stadt nur begrüßen;) Ich bekam heute eine Mail vom DAAD, dass ich für die Stelle in Riga geeignet sei und wurde zum Telefoninterview geladen. Kannst du mir vielleicht erzählen, was da auf mich zukommt? Da wäre ich sehr dankbar!
Grüße aus Marburg, Sandra
Freut mich zu hören! Ich schreibe dir nachher noch eine Mail