08:56 Uhr. Langsam geht in Riga die Sonne auf. Endlich Sonne! Endlich Sonne? Falsch. Eigentlich bemerke ich es nur daran, dass der wolkenverhangene, graue Himmel etwas heller wird. Dass es möglich ist, in den Straßen ohne künstliches Licht auszukommen. In unserer Erdgeschosswohnung ist es leider trotzdem dunkel – das bisschen Licht der Welt dort draußen reicht nicht aus. Ich bin träge. Vor einer Stunde habe ich mich aus dem Bett gequält. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass der Winter hier mich tatsächlich so stark beeinflusst, immerhin ist auch in Kiel und Hamburg die Sonne erst vor einer halben Stunde aufgegangen, immerhin ist es dort zur Zeit auch nicht so viel wärmer und vermutlich auch nicht so viel heller. Warum also habe ich plötzlich das Gefühl, dass mir Tageslicht fehlt? Ein Mysterium, das ich noch zu klären hoffe. Gerade habe ich mir mein Müsli gemacht: Nüsse mit Haferflocken und Schoko-Sojamilch. Endlich habe ich diese gefunden, drei Monate der Suche haben ein Ende.
09:10 Uhr. Ich verlasse das Haus. Ich bin spät dran, viel zu spät eigentlich. Noch immer nicht allzu energiegeladen, noch immer nicht wirklich fit, noch immer nicht wirklich wach und ganz sicher nicht motiviert, irgendetwas zu tun – abgesehen von Schlafen, vielleicht. Aber ich muss, denn es ist Montag.
9:30 Uhr. Montag bedeutet: Drei Stunden Lettischkurs, von 9:30 bis 12:30. Drei Stunden, ein Kurs mit fünf Menschen, abgesehen von meiner Mitbewohnerin und mir alle russische Muttersprachler_innen. Meine Mitbewohnerin spricht fließend Russisch. Doch ich kann dem Unterricht folgen, denn die Lehrerin spricht auch fließend Deutsch. Eigentlich ein großes Glück. Das Problem ist, dass ich oft nicht verstehe, was die anderen übersetzen, fragen oder untereinander reden. Dadurch geht mir viel vom, ich nenne es mal „Lerngefühl“, verloren. Andererseits freut mich jeder neu gelernte lettische Satz umso mehr, denn das bedeutet auch, dass ich besser mit den anderen kommunizieren kann, mehr über sie erfahre und sie mehr über mich. Denn Lettisch ist jetzt, bis auf zwei Ausnahmen, die einzige Sprache, die wir alle gemeinsam haben. Das motiviert.
11:00 Uhr. Zehn Minuten Pause. Alles in mir schreit nach Kaffee, ich muss dringend wach werden. Im Gruppenraum ist es unglaublich warm, was einen Gegensatz zu den Temperaturen in meiner Wohnung und auch im Büro darstellt. Das Prinzip „Zwiebellook“ habe ich mittlerweile perfektioniert – es ist überlebensnotwendig, um nicht a) zu erfrieren oder b) sich wie in der Sauna zu fühlen. Gestern war ich mit Sophie mal wieder am gegenüber liegenden Ufer der Daugava, den Rückweg haben wir zu Fuß angetreten. Danach ging es ins Fitnesstudio. Mir tun Muskeln weh, von denen ich zuvor nicht einmal wusste, dass ich sie habe.
11:10 Uhr. Zurück im Kurs. Ich bin mal wieder eine der schlechtesten, ein ungewohntes Gefühl. Wäre das hier Mathe oder Physik, Kunst oder Musik, es käme mir bekannt vor. Doch im Sprachenlernen war ich immer relativ schnell und relativ gut. Mit Lettisch tue ich mich schwer. Sieben grammatikalische Fälle, die ich immer wieder durcheinander werfe. Zum Vergleich: Im Deutschen gibt es vier. Ich stelle fest, dass ich allein mit den Begriffen „Akkusativ“ und „Genitiv“ kaum etwas anfangen kann. Im Deutschen und im Englischen habe ich längst vergessen, was damit gemeint ist, ich nutze Sprache nach Gefühl. Zu Beginn brauche ich ein grammatikalisches Grundgerüst, eine Art Rahmen, innerhalb dessen ich mich bewegen kann. Dann aber kommt das Gefühl, wie der Rahmen genau aussieht, wird unwichtig, was zählt, ist das Bild. Ich weiß, ich muss mich gedulden. Nur: Geduld ist wirklich nicht meine Stärke. Ich habe entschieden, mir einige lettische Kinderbücher zu kaufen, um ein besseres Gefühl für die Sprache zu bekommen. Ich will nach diesem Jahr wirklich Lettisch sprechen können, zumal ich die Sprache sehr schön finde.
12:30 Uhr. Der Kurs ist zu Ende. Heute war es eigentlich kaum anstrengend, es hat sogar Spaß gemacht. Aber ich bin immer noch müde. Als ich an der Ampel stehe und den Menschen um mich herum zuhöre, bemerke ich jedoch, dass ich bei den meisten Gesprächen mittlerweile verstehe, worum es geht. Manchmal verstehe ich die Sätze auch komplett. Ein kleiner Glücksmoment, er sagt mir: Du bist auf dem richtigen Weg. Auch wenn das Sprechen schwer fällt, weil mir nicht immer die richtigen Konjugationen einfallen wollen, Verstehen ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Nicht aufgeben.
13:00 Uhr. Nach dem Kauf des obligatorischen Gebäcks für die Mittagspause im Supermarkt, komme ich am Hauptgebäude der Technischen Universität an. Vorbei am Wachpersonal, vorbei an den Flaggen, nach rechts abbiegen, ins Treppenhaus, vier Stockwerke in die Höhe laufen. Diesen Weg gehe ich mittlerweile wie auf Autopilot, was zur Folge hat, dass ich ständig in andere Menschen hineinrenne. Langsam laufen ist übrigens auch nicht meine Stärke. Fünf Stunden Büroalltag liegen jetzt vor mir, es gibt noch viel zu tun, bevor es über Weihnachten nach Deutschland geht. Langsam werde ich wach, langsam bin ich motiviert – schließlich ist es Tag.
15:41 Uhr. Sonnenuntergang. Es wird wieder dunkel. Es wird schnell dunkel. Gefühlt ist jetzt tiefste Nacht. Ich bin wieder müde. Doch ich beiße mich da jetzt durch, ich bin noch im Büro und es gibt natürlich noch immer viel zu tun. Die Arbeit macht mir Spaß und auch das werte ich als großes Glück.
18:00 Uhr. Feierabend. Ich packe meine Sachen, ziehe meine Jacke an, werfe meinen Schal über, schalte das Licht aus, die Alarmanlage ein, schließe die Tür ab, gehe vier Stockwerke nach unten, gehe vorbei an den Flaggen und am Wachpersonal, ziehe die Tür auf und trete hinaus. Kalte, klare Winterluft schlägt mir entgehen, ich kann meinen Atem sehen. Ich kann ihn auch hören, denn ich habe mich beeilt. Ich bin verabredet.
18:35 Uhr. Ich bin zu spät, zum zweiten Mal an diesem Tag. Ich war um 18:30 Uhr mit Sophie vor der russisch-orthodoxen Kirche im Zentrum verabredet. Denn neben besagter Kirche befindet sich ein Weihnachtsmarkt. Nachdem wir am Sonntag bereits den Markt in der Altstadt erkundet und keine gebrannten Mandeln, keinen Glühwein mit Amaretto und keinen Lebkuchen ausfindig machen konnten, versuchen wir jetzt hier unser Glück – leider ohne durchschlagenden Erfolg (man kann aber auch vermuten, dass wir zumindest in der Altstadt einfach nicht genau genug hingesehen haben). Dazu muss man sagen: Weihnachten ist hier nicht ganz so präsent wie in Deutschland. Viel weniger Weihnachtsschokolade in den Supermärkten (erst recht nicht im September!), kleinere Weihnachtsmärkte, aber Unmengen an schön (ich sage nur: Lichterketten!) und auch weniger schön (ich sage nur: blinkende Rentiere!) geschmückten Straßenzügen. Ich empfinde das als angenehm (abgesehen von den blinkenden Rentieren!). Riga zeigt sich offensichtlich auch im Winter von seiner besten Seite. Dort, wo ich absolute Dunkelheit und deprimierte Menschen erwartet hatte, erlebe ich tausende Lichter und noch immer unglaublich hilfsbereite, freundliche Menschen (auch wenn mir das jetzt wieder keiner glaubt).
21:00 Uhr. Zuhause. Ich bin müde. Es ist schließlich seit fünf Stunden und zwanzig Minuten tiefste Nacht. Dennoch gehe ich nicht schlafen. Denn ich bin erstens hungrig und zweites habe ich ein Date mit meiner Masterarbeit. In einer Woche fliege ich nach Deutschland. Gerade eben habe ich den Ryanair-Checkin-Parcours erfolgreich bewältigt und als Preis meine Bordkarte erhalten. Ich freue mich sehr darauf, meine Lieblingsmenschen wiederzusehen, diejenigen, die ich in den letzten Wochen sträflich vernachlässigt habe. Deshalb muss es mit der Arbeit jetzt gut voran gehen, denn ich will diese kurze Zeit genießen. Silvester werde ich schon wieder Zuhause sein. In Riga.
1:10 Uhr. Ich bin müde. Als Fazit des Tages bleibt mir jedoch: Keine Dunkelheit ist absolut, irgendwo gibt es immer Licht. Man muss es nur finden. Das bedeutet für mich: Keine Müdigkeit ist absolut, irgendwo gibt es immer Energie. Man muss sie nur finden. Riga macht mir beides leicht – trotz Winter (der im Übrigen momentan recht warm ausfällt) lebe ich gern hier. Gute Nacht, Welt!