Simts dienas Latvija: 100 Tage zwischen Meer und Mehr

Der 100. Tag im Amt. Für viele Regierungen dieser Welt ist das Tag ein Tag der Wahrheit. An diesem Tag können Regierungsvertreter_innen in der Presse lesen, im Fernsehen sehen und im Radio hören, wie ihre bisherige Leistung bei den Menschen ankommt. Sie müssen sich bewerten lassen, ihre erste Schonfrist ist abgelaufen, ab heute ist der Welpenschutz passé, nun heißt es: Farbe bekennen, Gesicht zeigen.

Lichterfest

Lichterfest

Auch für mich war gestern der 100. Tag. Natürlich nicht im Amt, aber im Land. Kein wirklicher Tag der Wahrheit, aber dennoch ein erster kleiner Meilenstein, der nachdenklich macht. Die ersten 100 meiner zu erwartenden 341 Tage Lettland sind vorbei. Fast ein Drittel meiner Zeit hier, verschwunden irgendwo zwischen Arbeit, Freund_innen, Sport, Sprachkurs und Masterarbeit. Ein seltsames Gefühl.

Wettkampf, sich mit anderen messen, hat durchaus etwas Produktives. Er spornt zu immer neuen Höchstleistungen an, fordert Menschen, überfordert sie manches Mal. In diesem Fall jedoch möchte ich mich nur mit einer einzigen Person messen: Mit dem Menschen, der ich gestern war, dem Menschen, der ich war, bevor ich entschied, für ein Jahr nach Lettland zu ziehen. Können hundert Tage wirklich etwas ändern? Was sind schon hundert Tage von neuntausendfünfundsechzig, der Zeit, die ich nun schon auf der Erde herumspaziere und Sachen mache? Die Wahrheit ist: Hundert Tage sind nichts und doch können sie einen Unterschied machen.

Schwarzhäupterhaus & Ich

Schwarzhäupterhaus & Ich

Ich bin nach Lettland gekommen ohne ein konkretes Ziel. Ich bin keine Regierung, die sich ein bestimmtes Programm gesetzt und gesagt hat: Wenn A dann B und daher möchte ich C entwickeln, um ABC zu erreichen. Es war mehr ein vages Gefühl, ein diffuser Wunsch. Mehr ein „ich möchte sehen, was mich erwartet, wenn ich nicht mehr warte, sondern sehe„. Ich möchte etwas sehen. Etwas erleben. Etwas lernen. Etwas werden, nicht einfach nur etwas sein.

In den letzten hundert Tagen hatte ich drei verschiedene Mitbewohner_innen. Menschen kamen und gingen, blieben wenige Tage, wenige Wochen oder ganz, ständig treffe ich unbekannte Menschen, ständig verschwinden bekannte Gesichter wieder. Sie alle hinterlassen Spuren, was manchmal negativ, doch zumeist positiv ist. In den letzten hundert Tagen habe ich das erste Mal seit Jahren wieder begonnen, regelmäßig Sport zu treiben und bin verblüfft, dass ich mich noch immer an meinen Plan halte.

In den letzten hundert Tagen habe ich begonnen, Lettisch zu lernen und so langsam merke ich, dass ich Fortschritte mache, dass ich Gespräche immer häufiger verstehe und zumindest simpel kommunizieren kann. Etwas, das mir hilft, hier anzukommen und mich mehr und mehr heimisch zu fühlen.

Masterarbeit

Masterarbeit

In den letzten hundert Tagen bin ich von nahezu absoluter Unwissenheit in Microsoft Excel zum Fast-Vollprofi mutiert. Zahlenkolonnen, die während des Studiums eher mein natürlicher Feind waren, sind nun etwas ganz Natürliches, etwas, an dem ich paradoxerweise sogar Spaß habe. Plötzlich merke ich, wie ich aus Statistik tatsächlich Erkenntnisse für meinen Alltag und auch meine Arbeit gewinnen kann. Theoretisch war mir das ja schon immer klar, doch Theorie und Praxis…wem sage ich das. Dennoch bleibt Statistik ohne Theorie und Denken nichts weiter als eine Ansammlung von Zahlen, davon bin ich auch weiterhin überzeugt.

In den letzten hundert Tagen bin ich schnurstracks kurz vor Ablauf der 90-Tage-Frist zur Migrationsgehörde gegangen, habe mit meiner Arbeits- und Krankenversicherungsbestätigung gewedelt und gefragt, wie und wo ich jetzt anmelden kann, dass ich hier lebe. Erwartet hatte ich einen bürokratischen Irrgarten, verwunderte Blicke und Fragen, warum ich denn bitte nun erst komme, Sprüche, dass das ja ganz schön knapp und die Aussage, dass ich hier generell falsch sei, weil ich zuerst den Passierschein A 38 brauche. Bekommen habe ich lediglich die Frage, ob ich ein simples Papierdokument oder eine richtige, lettische ID Card möchte. Verwunderte Blicke meinerseits. ID Card? Ohne lettische Staatsbürgerin zu sein? Ja, das geht – zum Spottpreis von 14€, zumindest verglichen mit dem, was ich in Deutschland für meinen letzten Personalausweis berappt habe. Es ist völlig unsinnig, so eine ID Card nur für ein Jahr zu kaufen. Es bringt keine großartigen Vorteile. Ich habe also folgerichtig eine bestellt – übermorgen kann ich sie endlich abholen und freue mich wie ein kleines Kind.

Lieblingsplatz

Lieblingsplatz

Hundert Tage. Einen konkreten Plan für die Zukunft habe ich noch immer nicht. Die Masterarbeit ist noch nicht fertig. Ich spreche noch immer nicht fließend Lettisch. Ich sehe noch immer nicht aus wie jemand, der seit Jahren regelmäßig Sport macht. Doch erste Ideen für die Zukunft nach kulturweit habe ich. Ich merke Tag für Tag, wie auch die Masterarbeit Fortschritte macht, quasi aus den Kinderschuhen herauswächst und langsam in die Pubertät kommt – sie wird jedoch schnell erwachsen werden müssen, es wird eine kurze und harte Jugend, ich muss aufpassen, dass sie nicht ausreißt. Ich kann an den Geräten die Gewichte erhöhen und ja, wie gesagt, ich kann auf dem Level eines zweijährigen Kindes in Lettisch kommunizieren.

Und das, was meine ID Card mir bald schwarz auf so etwas ähnlichem wie weiß bescheinigen wird, fühle ich auch: Ich bin angekommen. Und das ist eine gute Bilanz für die ersten, magischen hundert Tage. Endlich 100. Yeah.