„We are old, we are young, we are in this together
Vagabonds and children, prisoners forever“(New Model Army, Vagabonds)
Es ist schön, wenn wir einen Ort finden, den wir unser Zuhause nennen können. Ich bin jedoch der Meinung, dass wir nur wissen, wo wir Zuhause sind, wenn wir fortgehen. Man muss nicht immer in die Ferne blicken, um das Gute zu sehen, aber manchmal muss man die Ferne erkunden, um das Gute zu erkennen. Manchmal reicht es nicht, an einem Ort zu verweilen und langsam mit ihm zu verwachsen, manchmal müssen wir uns bewegen, um zu wachsen. Ich glaube fest daran, dass jede noch so kleine Reise Menschen verändert und ich glaube fest daran, dass das etwas Gutes ist. Dass es gut ist, sich mit sich selbst, den eigenen Vorstellungen, Ideen, Werten zu konfrontieren. Nirgendwo sonst geht das so gut wie in der „Ferne“.
Gerade auch deshalb habe ich mich wochenlang auf mein kulturweit-Zwischenseminar gefreut. Wobei, das ist glatt gelogen. Zuerst habe ich mich gar nicht gefreut, denn statt wie ursprünglich gedacht nach Polen zu fahren, wurde das Seminar für mich nach Estland verlegt. „Estland…ja, nett, aber da kann ich doch auch so jederzeit mal hinfahren…“, ging mir durch den Kopf. Dann allerdings erhielt ich eine E-Mail, die zu einem Freudenschrei im Büro des DAAD in Riga führen sollte (das ich in diesem Moment glücklicherweise für mich allein hatte): Wir würden während des Seminars mit der Fähre von Tallinn nach Stockholm fahren – und natürlich auch wieder zurück. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in Estland, noch nie in Schweden und abgesehen von dem Mini-Katermaran zwischen Emden und Borkum sowie der Mini-Staten-Island-Ferry in New York auch noch nie auf einer Fähre. Die Freude war groß, doch die Erwartungen waren es ebenso. Erwartungen haben es bekanntlich an sich, enttäuscht zu werden. Doch abwarten und Kaffee trinken…
Step #1: Riga – Tallinn
Früh morgens ging es für uns, d.h. Louisa, Sophie und mich mit dem Fernbus auf nach Tallinn; vier Stunden Fahrt quer durch das Baltikum lagen vor uns. Das ist der Vorteil: Die Wege hier sind relativ kurz, viele Wege führen über Riga in die Welt. Der Bus war zwar luxuriöser als die meisten Fernbusse, gern aber hätten wir mehr Ruhe gehabt – das Adjektiv „müde“ erfasst nicht einmal ansatzweise meine Stimmung an diesem Tag. Dennoch kamen wir irgendwann im eisigen Tallinn, hoch im Norden, an. Oder besser gesagt: Nicht in Tallinn, sondern am Stadtrand. Also auf zu den Taxen, auf in die Innenstadt, orientieren, essen, Motivation finden und los: Ab zum Fähranleger!
Step #2: Tallinn – Stockholm
Ich war auf alles vorbereitet, für alles gerüstet: Kleines Schiff, winzige Kabinen, Grabeskälte auf und unter Deck, überteuerte Preise und Langeweile. Doch auf das, was mich tatsächlich erwartete, war ich nicht gefasst: Ein ziemlich großes Schiff, winzige Kabinen mit Dusche, Grabeskälte auf Deck und sommerliche Temperaturen unter Deck, überteuerte Preise und ein umfangreiches Freizeitangebot. Mir schwante, dass ich die dicken Winterschuhe und -pullis wohl lieber erst einmal im Koffer lassen würde, ebenso wie die Bücher, die ich in Erwartung besagter Langeweile natürlich auch alle quer durch das Baltikum geschleppt hatte. Natürlich wurde auch gearbeitet, immerhin war ja Zwischenseminar und nicht Ponyfreizeit, aber das eigentliche Highlight der ganzen Tour war dann doch das Buffet. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal – tagelang – so viel gegessen habe und ich fürchte auch, das wird ein böses Nachspiel haben. Fitnessstudio, ich komme, versprochen!
Step #3: Stockholm
Stockholm also. Die Erwartungen waren groß und in diesem Fall konnten sie tatsächlich nicht ganz erfüllt werden. Vermutlich lag das nicht wirklich an der Stadt sondern vielmehr am städtischen Wetter: Viel, viel Sonnenschein Regen und gefühlte 30 -20 Grad, großartig ätzend! Dennoch machten wir uns zunächst einigermaßen geschlossen auf den Weg vom Fähranleger in die Altstadt. Lässt man den Regen außer Acht, so ist diese tatsächlich ziemlich schön. Ich habe mir zwar fest vorgenommen, weniger Vergleiche zu ziehen, aber andererseits denke ich auch, dass man vergleichen muss, um zu verstehen. Im Altstadt-Battle zwischen den europäischen Hauptstädten, die ich bisher gesehen habe, mischt Stockholm bisher nicht ganz oben mit, aber schön ist es dennoch.
Step #4: Stockholm – Tallinn
Essen – Karaoke – Essen – wenig Schlaf – Essen – Ankunft.
Step #5: Tallinn
Im Gegensatz zu Stockholms (natürlich, wie gesagt, dennoch schöner) Altstadt mischt das Stadtbild Tallinns in meiner persönlichen Favoriten-Liste sehr wohl ganz oben mit: Mittelalterliches Flair durch gefühlt uralte Gemäuer, ein bisschen gruselig des Nachts, ein bisschen wie im Film am Tage, ein bisschen verzaubernd zu jeder Zeit, ein bisschen besonders dank der verschneiten Kulisse. Damit kann ich nun stolz behaupten, alle drei baltischen Hauptstädte zumindest einmal kurz, zwischen Tür und Angel, gesehen zu haben und überrascht zu sein, wie unterschiedlich sie alle doch sind. Tallinn, wir sehen uns definitiv wieder!
Step #6: Tallinn – Riga
Alles in allem kann ich sagen: Meine hohen Erwartungen an das Seminar im ebenso hohen Norden sind fast alle erfüllt worden, was mich ebenso überrascht wie freut. Die Diskussionen mit den anderen Freiwilligen, den Teamer_innen, den Vertreter_innen von Partenerorganisationen und kulturweit, sie alle haben etwas in mir angestoßen, mich wieder ein Stück weit verändert. Wie sehr und inwiefern, das wird sich zeigen. Sicher ist jedoch: Die Ostseeküste(n) weiter zu erkunden hat etwas meditatives, das Meer zu sehen und zu fühlen ist noch immer und vermutlich auch immer, immer wieder eine einzigartige Erfahrung. Count your blessings!