Stūra māja – Das Haus an der Ecke

Wer mich kennt, wird sich bei diesem Titel für einen Blogbeitrag wohl verwundert die Augen reiben: Seit wann interessiert sie sich denn für Architektur? Hat sie nicht immer gesagt, sie interessiere sich mehr für Menschen, Politik, Geschichte, Musik und Literatur als – nun ja – für alte Häuser? Hat sie. Und daran hat sich auch nichts geändert.

Denn das sogenannte „Corner House“, „Haus an der Ecke“ oder, wie es auf Lettisch heißt, „Stūra māja“ ist nicht einfach nur ein Haus. Nein, es nicht einmal besonders schön anzusehen. Es ist das Gebäude, das noch zu Sowjetzeiten den KGB in Lettland berherbergte. Ein Haus, mit dem viel Leid und vor allem auch viel Angst verknüpft ist. Sich das anzuschauen, mag man makaber finden. Ich aber bin nicht nur von Natur aus neugierig, sondern möchte die Dinge verstehen. Um die Gegenwart zu verstehen, muss man oft noch mal einen Schritt zurück in die Vergangenheit wagen – im Privatleben wie auch in der Geschichte.

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Ursprünglich 1912 als Wohnhaus gebaut, wurde das „Stūra māja“ zu Sowjetzeiten zu einem mehr als unangenehmen Ort. Während des Zweiten Weltkrieges, genauer gesagt: 1940, wurde Lettland von der Sowjetunion besetzt. Von 1941 bis 1945 wechselte sich diese noch mit den Deutschen ab, bis Lettland dann von 1945 bis 1990 zur „Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ wurde. 1990 erklärte Lettland seine Unabhängigkeit, was die Sowjetunion 1991 schließlich akzeptierte. Während der Zeit von 1945 bis 1991 nutzte der sowjetische Geheimdienst KGB das „Haus an der Ecke“ als Zentrale in Lettland.

Es ist ein strahlend schöner Tag, an dem ich mich gemeinsam mit einer anderen kulturweit-Freiwilligen aufmache, mir das Haus anzusehen. Die Sonne scheint, es ist warm, Vögel zwitschern, die Menschen machen sich auf zum Wochenend-Shopping, zum Spaziergang, zu einem Kaffee oder Tee in einem der vielen Straßencafés. Gute Stimmung in Riga, das Wetter tut sein Möglichstes.

Wir laufen also die Straße entlang und stehen plötzlich an besagter Ecke, direkt gegenüber dem KGB-Haus. Es ist eine viel befahrene, belebte Hauptstraße mitten im Zentrum der Stadt, nicht weit von den vielen Kirchtürmen der Altstadt. Wir kreuzen die Straße, gehen um das Gebäude herum auf den Hinterhof. Ein mulmiges Gefühl macht sich breit. Was erwartet mich hier? Will ich mir das wirklich antun? Und: Wie kann es sein, dass hier, mitten im Zentrum einer Großstadt, jahrelang Menschen gefoltert wurden?

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Trotz aller plötzlich aufkeimenden Bedenken betrete ich gemeinsam mit einer Touri-Gruppe und der Führerin den Keller des Gebäudes. Was nun folgt, erinnert mich stark an das ehemalige Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, das einige von euch sicher auch schon besucht haben. Enge, schier endlose Flure, düstere Atmosphäre, kaum oder zu viel Licht, erst recht kaum oder kein Tageslicht. Ein viel zu kleiner Innenhof, überall Stacheldraht, Gitterstäbe, Auffangnetze.

An den Räumlichkeiten hat sich seit damals nicht viel geändert: Die lettische Polizei nutzte das Gebäude zwar bis 2007, vieles ist jedoch „erhalten geblieben“. Gefangene wurden damals in großen Gruppen in viel zu enge Zellen gepfercht, hygienischen Zuständen ausgesetzt die jedem Menschenrecht spotten, physisch misshandelt und vor allem psychisch gefoltert. Ich erspare euch die Details mit Absicht, ich denke, wir alle können uns ganz gut vorstellen, wie das abgelaufen sein wird.

Was mich aber am meisten erschüttert hat, war nicht nur der Blick in die Vergangenheit, sondern der Blick auf die Gegenwart. Denn noch immer werden vielerorts Menschen in viel zu enge Zellen gepfercht, hygienischen Zuständen ausgesetzt, die jedem Menschenrecht spotten, physisch misshandelt und psychisch gefoltert. Überall auf der Welt, variierend im Ausmaß. Das ist das eigentliche Drama: Dass wir nicht aus der Geschichte lernen. Dass wir einfach nicht aus der Geschichte lernen.

Das „Corner House“ ist noch bis zum 19.10. für Besucher_innen geöffnet, danach wird es erst einmal wieder geschlossen. Wann und ob es wieder geöffnet wird, ist ungewiss.

Nebenbei: Ich habe mit voller Absicht keine Bilder der Zellen oder der Innenräume hochgeladen, weil mir das einfach zu makaber erschien.

Ein Gedanke zu „Stūra māja – Das Haus an der Ecke

  1. Du sprichst mir Wort für Wort, Silbe für Silbe aus der Seele, Katja. Erst vor Kurzem habe ich mit einer amerikanischen Freundin das deutsche Schulsystem mit der amerikanischen verglichen und mal wieder gemerkt, dass wir das Fach Geschichte völlig uneffektiv gestalten. 1 Jahr Griechen, 1 Jahr Römer, 1 Jahr Aufklärung, 6 Jahre WWII. Was wir dabei vergessen: 1. Es gibt noch mehr Länder, noch mehr Diktatoren, noch mehr Revolutionen, noch mehr Epochen außerhalb Deutschlands oder Europas. 2. Wir lernen Fakten, lernen aber nie Schlüsse zu ziehen. Das kriegen auch Politiker nicht hin, weil es nicht schon in der Schule gelehrt wird. Wenn wir den Aufstieg Hitlers durchnehmen, warum sehen wir die Parallelen heute bei Erdogan nicht? Lehrer behaupten immer, Geschichte sei so wichtig, um aus unseren Fehlern zu lernen. WER lernt denn wirklich?

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